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Wolfgang Fortner Karl Amadeus Hartmann Zur ... - Musik der Zeit

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Melos/NZ 5/1975<br />

www.musik<strong>der</strong>zeit.de<br />

<strong>Wolfgang</strong> <strong>Fortner</strong><br />

<strong>Karl</strong> <strong>Amadeus</strong> <strong>Hartmann</strong><br />

<strong>Zur</strong> Wie<strong>der</strong>kehr seines 70. Geburtstages<br />

Vortrag in <strong>der</strong> Bayerischen Akademie <strong>der</strong> Schönen Künste<br />

Lassen wir <strong>Karl</strong> <strong>Amadeus</strong> <strong>Hartmann</strong>s Gestalt vor unserem geistigen Auge erscheinen: mittelgroß,<br />

untersetzt, etwas füllig, ein Pykniker. Er war von <strong>der</strong> Abstammung <strong>der</strong> Familie her kein eigentlicher<br />

Bayer, wenn auch in München geboren, er war nach außen hin humorvoll, manchmal auch polternd<br />

– darf ich sagen –, so <strong>der</strong> bayrischen Lebensart verbunden, nach innen verletzlich, ja zart, also<br />

doch ein Bayer, aber mit dem zarten österreichischen Herzen von Alban Berg.<br />

Rolf Liebermann sagte im Scherz zu ihm: „<strong>Karl</strong>, entwe<strong>der</strong> du schreist wie ein Jochgeier, o<strong>der</strong><br />

lispelst, daß man dich dreimal fragen muß.“ Und sein Enkel Matthias äußert als Konzerthörer bei<br />

den Werken des Großvaters: „Einmal muß man sich die Ohren zuhalten, so laut ist alles, o<strong>der</strong> es ist<br />

so leise, daß man kaum etwas hört.“<br />

So erscheint die Figur des Mannes in <strong>der</strong> Perspektive des Freundes und seine <strong>Musik</strong> in <strong>der</strong> des<br />

Enkels – scherzhaft – und kindlich beschrieben. Aber die Kombination bei<strong>der</strong> Äußerungen läßt uns<br />

erkennen, wie das Werk aus dem Wesen des Menschen emaniert. über dieses, eine bedeutende<br />

schöpferische Leistung, wird noch einiges zu sagen sein.<br />

An seinem 70. Geburtstag, noch dazu dem eines nicht mehr Lebenden, pflegt die Nachwelt einen<br />

Rückblick auf die Jugend dessen zu tun, dem unser Gedenken gilt. Auch wir sollten versuchen,<br />

diesem Brauche zu folgen, wenn auch die <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong> jugendlichen Entwicklung in <strong>Hartmann</strong>s eigener<br />

Erinnerung augenscheinlich etwas zugehängt gewesen ist. Er war nicht sehr mitteilsam über diese<br />

Lebensperiode, und wir wissen eigentlich nur, daß er nach <strong>der</strong> Volksschule mit elf Jahren in das<br />

Lehrerseminar in München-Pasing eintrat und dasselbe mit sechzehn ohne ein Patent wie<strong>der</strong><br />

verlassen hat. Danach scheint er so etwas wie eine Art Bürotätigkeit ausgeübt zu haben, denn er<br />

hat sich später einmal klagend geäußert, daß er Akten und ähnliches herumtragen mußte. Endlich<br />

scheint <strong>der</strong> Vater die Einwilligung zum <strong>Musik</strong>studium gegeben zu haben, und er studierte an <strong>der</strong><br />

Akademie in München Theorie und Komposition bei Josef Haas und im Privatunterricht Posaune.<br />

Letzteres war die gar nicht so unkluge Bedingung des Vaters für das <strong>Musik</strong>studium, denn später<br />

noch wirkte <strong>der</strong> junge <strong>Hartmann</strong> als Posaunist gelegentlich im Opernorchester mit. So lernte er die<br />

Materie von Grund auf und auch die Mentalität des Orchestermusikers kennen, was für den<br />

späteren Komponisten großer Orchesterwerke sicher von Nutzen war. <strong>Hartmann</strong> verließ die<br />

Akademie nach zwei Jahren, wahrscheinlich aus Gründen ähnlicher innerer Unzufriedenheit wie<br />

vorher das Lehrerseminar. Um so überraschen<strong>der</strong> ist es, daß <strong>Hartmann</strong>s australischer Biograph<br />

McCredie bei kürzlicher Spurensuche in alten Akten Zeugnisse von <strong>Hartmann</strong> mit sehr guten<br />

Benotungen entdeckt hat. Vielleicht waren seine damaligen Lehrer mit ihm und seinen Leistungen<br />

glücklicher als er mit ihnen, vor allem, als er begann, selbständige kompositorische Versuche<br />

vorzulegen. Ich kann mir das sehr gut vorstellen.<br />

Im Jahre 1965, also zu <strong>Hartmann</strong>s 60. Geburtstag, den er nicht mehr erlebt hat, hat <strong>der</strong> Verlag<br />

Schott ein hübsches Buch herausgebracht mit gesammelten „kleinen“ Schriften von <strong>Hartmann</strong>. Es<br />

wird eröffnet mit einer autobiographischen Skizze, die 1955 geschrieben ist. Hier erzählt <strong>Hartmann</strong><br />

von seiner Mutter, die gerne Theater spielte und eine lebendige Beziehung zur <strong>Musik</strong>, vor allem zu<br />

Wagner, hatte, und er spricht von dem ernsten, ruhigen Vater, einem BIumenmaler, und von<br />

dessen politischen und literarischen Neigungen. Unmittelbar drängt sich hier dem Leser die<br />

Parallele zu Goethes Elternschil<strong>der</strong>ung auf. Im übrigen, daß die LiebIingsschriftsteller des Vaters<br />

Maupassant, Jack London und Gogel waren, daß er Bücher über die Bauernkriege und die<br />

Französische Revolution liebte, charakterisiert den schon 1914 pazifistisch gesonnenen Vater als<br />

den des Komponisten von „Simplicius Simplicissimus“. Auf jeden Fall waren die Eltern<br />

gegensätzliche Persönlichkeiten, <strong>der</strong> streng politisch engagierte Vater und die sehr musische,<br />

religiös gebundene Mutter. Diese Eltern haben dem Sohn den Spannungsreichtum mit auf den Weg<br />

gegeben.<br />

W. <strong>Fortner</strong>: K. A. <strong>Hartmann</strong> zur Wie<strong>der</strong>kehr seines 70. Geburtstages - 1 -


Melos/NZ 5/1975<br />

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Wir sollten aber von <strong>Hartmann</strong> noch etwas über seinen ersten großen musikalischen Eindruck<br />

erfahren, er verdankt ihn einer Aufführung von Webers „Freischütz“. <strong>Hartmann</strong> schreibt davon: „Mit<br />

etwa zehn Jahren sah ich als meine erste Oper im Hoftheater den Freischütz. Das hat<br />

entscheidend auf meine Phantasie eingewirkt. Mir ging <strong>der</strong> Unterschied von dem spontanen<br />

zigeunerischen <strong>Musik</strong>machen und Komponieren auf. Ich merkte, wie an<strong>der</strong>s eine solche aus Drang<br />

und Vermögen geborene <strong>Musik</strong> klingt, und fand es neu und aufregend, mich damit<br />

auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Beson<strong>der</strong>s war es die Harmonik <strong>der</strong> Wolfsschluchtszene, die mich bezauberte<br />

und zu meinen ersten kompositorischen Versuchen anregte. Die damals entstandene<br />

kindliche Liebe und Verehrung für den ‚Fürsten <strong>der</strong> <strong>Musik</strong>’ – wie Strawinsky Carl Maria von Weber<br />

nennt – habe ich mir bis heute bewahrt. Jetzt weiß ich auch, daß die Wolfsschluchtmusik in ihrer<br />

unglaublichen harmonischen Differenziertheit, in ihren kleinen Formeinheiten, ihren<br />

Tempoverän<strong>der</strong>ungen und dynamischen Kombinationen die Ausdrucksmittel vorweggenommen<br />

hat, mit denen <strong>der</strong> wahnwitzige Herodes (in <strong>der</strong> Salome von Strauss) das Aussehen des Mondes<br />

deutet, und sogar den Expressionismus Alban Bergs vorbereitet hat. Ich denke an den Wozzeck,<br />

III. Akt, 2. und 4. Szene (Waldweg am Teich).“<br />

Die Liebe zu Alban Berg übrigens begleitete <strong>Hartmann</strong> schon seit seinem 19. Lebensjahr; da<br />

entdeckte er für sich auf einem Notenblatt das Lied <strong>der</strong> Maria aus dem Wozzeck.<br />

Auf die <strong>Zeit</strong> seines kurzen Münchner Akademiestudiums folgt ein Aufbruch in die Welt, nicht<br />

geographisch, <strong>Hartmann</strong> hat München nicht verlassen, ich meine, in die Welt <strong>der</strong> so erregenden<br />

zwanziger Jahre. Vom Eindruck dieser <strong>Zeit</strong> in ihrer Vielseitigkeit im künstlerischen Denken und<br />

Handeln ist <strong>Hartmann</strong> nie losgekommen. Er sagt: „Die Epoche drückte meinem Leben den Stempel<br />

auf.“ Vom Schauspiel und <strong>der</strong> bildenden Kunst ganz zu schweigen, begegnete <strong>Hartmann</strong> erstmalig<br />

denen, die <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> musikalisch das Gesicht gaben: Strawinsky, Schönberg, Alban Berg, Hindemith,<br />

Kurt Weill und vielen an<strong>der</strong>en. Noch nicht Anton Webern. Damals entstanden <strong>Hartmann</strong>s erste<br />

Stücke, die er für Konzerte in den Ausstellungsräumen <strong>der</strong> Münchner Juryfreien schrieb. Neben <strong>der</strong><br />

„Burlesken <strong>Musik</strong> für Bläser, Schlagzeug und Klavier“, die in <strong>der</strong> musica viva <strong>der</strong> kommenden Saison<br />

zum erstenmal in München zu hören sein wird, gibt es in dieser Reihe eine „Tanzsuite“ für fünf<br />

Bläser, ein kleines Konzert für Streichquartett und Schlagzeug, Klavier-stücke mit Jazzeinschlag<br />

und als Wichtigstes das „Wachsfigurenkabinett“, das aus fünf kleinen Kammeropern<br />

zusammengesetzt war. Sie behandeln zeitkritische Stoffe in parodistischer Manier und folgen, wie<br />

McCredie ausführt, Stilen und Methoden, die damals von deutschen Komponisten wie Max Brand,<br />

Gronostay, Hindemith, Krenek, Rathaus, Toch, Wagner-Régeny und Kurt Weill gepflegt wurden.<br />

<strong>Hartmann</strong> macht über alles das die Bemerkung: „Aber alle meine damaligen Kompositionen vernichtete<br />

ich später.“ Ich möchte hinzufügen, mit Ausnahme <strong>der</strong>jenigen, die sich eben doch noch in<br />

seinem Nachlaß gefunden haben, teilweise sogar veröffentlicht wurden, so daß ich sie hier nennen<br />

konnte.<br />

1933 hat <strong>Hartmann</strong> die für ihn denkwürdige Begegnung mit Hermann Scherchen, <strong>der</strong>en Bedeutung<br />

für ihn aus <strong>der</strong> autobiographischen Skizze 22 Jahre später so unmittelbar geschil<strong>der</strong>t wird, daß ich<br />

mir nicht versagen kann, noch einmal zu zitieren: „Erst Hermann Scherchen hat mich darauf<br />

gebracht, wohin es mit mir und meinen Kompositionen eigentlich hinauswollte. In den vielen Proben<br />

und Konzerten, in denen ich Scherchen gehört habe, fesselte er mich. Er rang stets um das<br />

Entwicklungsfähige in <strong>der</strong> <strong>Musik</strong>. Trotz aller Schwankungen seines Charakters und Intellekts zeigte<br />

er sich kühn in <strong>der</strong> Konzeption und nahm es ernst mit den Verpflichtungen seiner Mission. Seine<br />

Sensibilität und seine Disziplin, das Absurde seiner spontanen Einfälle erstarrten nie zur Formel,<br />

son<strong>der</strong>n blieben lebendiger Impuls, so daß die <strong>Musik</strong> sich unter seinen Händen zum Gleichnis für<br />

Mensch und <strong>Zeit</strong> erweiterte. Dann kam das Jahr 1933 mit seinem Elend und seiner<br />

Hoffnungslosigkeit, mit ihm dasjenige, was sich folgerichtig aus <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Gewaltherrschaft<br />

entwickeIn mußte, das Furchtbarste aller Verbrechen – <strong>der</strong> Krieg.“ In dieser <strong>Zeit</strong> arbeitete <strong>Hartmann</strong><br />

an seinem ersten Streichquartett, an dem Poème symphonique mit dem so bezeichnenden Namen<br />

„Miserae“ und an einer ersten Symphonie mit den Worten von Walt Whitman „Ich sitze und schaue<br />

auf alle Plagen <strong>der</strong> Welt und auf alle Bedrängnis und Schmach“.<br />

1934 arbeiteten Scherchen und <strong>Hartmann</strong> dann in <strong>der</strong> Schweiz am Buch „Simplicius<br />

Simplicissimus“. Scherchen hatte <strong>Hartmann</strong> öfters schon Anregungen zu Kompositionen gegeben,<br />

und durch ihn kam er auch auf die Idee, diese Oper nach Grimmelshausen zu schreiben. Aber –<br />

gab es hier nicht auch eine Erinnerung an die Liebe des Vaters zur Literatur über die<br />

Bauernkriege? Auch die Art des politischen Engagements zeigt Verwandtschaft zwischen Vater und<br />

Sohn, wenn auch verän<strong>der</strong>t durch die unterschiedlichen <strong>Zeit</strong>bedingungen. Auch <strong>Hartmann</strong>s<br />

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Engagement gerät nie in die eigentliche Politik o<strong>der</strong> folgt einer bestimmten Ideologie, son<strong>der</strong>n ist<br />

ein Bekenntnis zur Humanität die sich für ihn mit dem Freiheitsbegriff identifiziert.<br />

Das Thema Simplicius entzog sich opernhafter Bearbeitung. Der epische Bil<strong>der</strong>bogen empfing für<br />

den Text Anregungen von Brecht und Caspar Neher, die Scherchen, <strong>Wolfgang</strong> Petzet und<br />

<strong>Hartmann</strong> selbst beeinflußten. Hierdurch wurde auch die musikalische Form bestimmt: Liedstil,<br />

Tänze, Verzicht auf sinfonische Entwicklungen und Ensembles, ein Anti-Wagner und Anti-Strauss-<br />

Stück, gar nicht so entfernt den früheren jugendlichen Versuchen. Die zweite Fassung ist nicht<br />

zufällig Carl Orff gewidmet, dem Meister eines wortbedingten <strong>Musik</strong>theaters.<br />

Ich erwähnte schon das erste Streichquartett, das den ersten Preis beim Carillon-Wettbewerb in<br />

Genf erhielt. Es machte <strong>Hartmann</strong> außerhalb Deutschlands unter den Fachleuten international<br />

bekannt. 1937 entstand eine Kantate nach Gryphius für Sopran und Klavier, „Lamento“, die 1955 zu<br />

<strong>Hartmann</strong>s 50. Geburtstag von Annelies Kupper und Carl Seemann auf <strong>der</strong> Mainau in Konstanz<br />

uraufgeführt wurde. Dieses Werk war ein Destillat aus dem größeren Chorwerk „Friede Anno 48“,<br />

das seine Uraufführung erst posthum 1968 im WDR in Köln erlebte. Daß das „Lamento“ und das<br />

erste Streichquartett in unserer Feier heute erklingen können, erscheint mir deshalb so wichtig und<br />

erfüllt mich den Interpreten gegenüber mit Dankbarkeit, weil sich <strong>der</strong> eigentliche <strong>Hartmann</strong>sche Stil<br />

hier zum erstenmal als Ausdruck seines Lebensgefühls darstellt. Es mußte zutiefst pessimistisch<br />

sein, in einer <strong>Zeit</strong>, die bereit war, alles zu kränken und zu verachten, was ihm teuer und wertvoll<br />

war, sowohl Menschen als auch Dinge. Dabei gab sich <strong>Hartmann</strong> nach außen oft humorvoll, war<br />

kontaktfreudig, er vermochte den inneren Schmerz gut zu verdecken, aber er durchzieht als großer<br />

geistiger „Cantus firmus“ sein ganzes Werk.<br />

<strong>Hartmann</strong> war in jener schweren <strong>Zeit</strong> nicht allein, es gab einen Kreis guter, gleichgesinnter<br />

Freunde; ich nenne Martin Piper, Remigius Netzer, Felix Richter und Havemann, die ihn stützten.<br />

Ein sehr menschlicher Oberfeldarzt beurteilte seinen Gesundheitszustand so, daß er von <strong>der</strong><br />

Wehrmacht befreit blieb und rettete den Komponisten, auch für uns, von dem das Wesentlichste<br />

noch zu erwarten war.<br />

So gab es für <strong>Hartmann</strong> in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> des höchsten Zwangs, 1941/42, einen gewissen persönlichen<br />

Freiraum, <strong>der</strong> ihm ermöglichte, den in Maria-Enzersdorf bei Wien indessen in völliger Abgeschlossenheit<br />

lebenden Anton Webern aufzusuchen und bei ihm zu arbeiten. <strong>Hartmann</strong> sagt<br />

darüber: „Ich war in dieser <strong>Zeit</strong> sehr glücklich; trotz aller Isolierung hatte ich einen Gleichgesinnten<br />

als Lehrer und als Freund gefunden, sein Glaube an die <strong>Musik</strong> gab mir die Kraft, weiterzuarbeiten.“<br />

So lernte <strong>Hartmann</strong> Werke Weberns kennen, zeigte ihm aber auch seine eigenen Arbeiten,<br />

diskutierte an den klassischen Beispielen Möglichkeiten gegenwärtiger Formverwirklichung. Es gibt<br />

von Webern (unveröffentlicht) eine Analyse über sein eigenes Streichquartett op. 28, die er einmal<br />

für Mátyás Seiber anläßlich einer Londoner Aufführung des Stückes geschrieben hat. Hier erklärt<br />

Webern, daß er versucht habe, die Sonatenform mit <strong>der</strong> <strong>der</strong> Fuge zu verbinden. Man kann gewiß<br />

das Gemäße dieser Analyse für dieses Stück in Frage stellen, gerade o<strong>der</strong> obwohl sie vom Autor<br />

selbst stammt; sie gibt aber in gewisser Weise Aufschluß über die Verbindung Weberns zur<br />

Tradition im musiktheoretischen Denken und über die Gedankenwelt <strong>der</strong> Gespräche, die wohl in<br />

Enzersdorf geführt worden sind. Weberns eigene musikalische Sprache hat auf <strong>Hartmann</strong><br />

eigentlich niemals einen Einfluß ausgeübt, wie das bei den Jüngeren <strong>der</strong> Fall war. Der Punktstil<br />

Weberns, die geschliffenen Diamanten, wie Strawinsky das nannte, was ihn an Webern faszinierte,<br />

waren <strong>Hartmann</strong>s hochexpressivem, musikalischem Duktus zu entgegengesetzt. Aber <strong>Hartmann</strong>s<br />

formales Denken, das versucht, die Formen <strong>der</strong> .Wiener Klassik mit <strong>der</strong> Fuge zu verschmelzen, hat<br />

wohl in Enzersdorf wichtige Anregungen empfangen:<br />

„So tritt im langsamen Satz ein Iyrisches Adagio mesto mit einem dramatischen Appassionato in<br />

Kommunikation. Zugleich werden thematisch großflächige Episoden und thematisch eng verknüpfte<br />

Konstruktionen gegeneinan<strong>der</strong>gestellt und miteinan<strong>der</strong> verwoben. Den langsamen Satz, <strong>der</strong> mein<br />

Lebensgefühl am ehesten wi<strong>der</strong>spiegelt, halte ich wie in meinen übrigen Symphonien für den<br />

persönlichsten, soweit man das vom eigenen Werk sagen kann. Er kontrastiert mit seiner<br />

ausgesungenen und farbigen Homophonie zu den raschen Ecksätzen mit ihrer polyphonen Verzahnung.“<br />

Wir können die Formbil<strong>der</strong> <strong>Hartmann</strong>s allein schon an den Überschriften <strong>der</strong> Sätze aller<br />

Symphonien ablesen. <strong>Hartmann</strong> verzichtet in ihnen auf die traditionelle Viersätzigkeit ebenso wie<br />

auf die eigentliche Sonatenform. Nur in kurzer Überschau:<br />

1. Symphonie: (für Altstimme und Orchester) eine Folge von Liedsätzen<br />

2. Symphonie: einsätzig, Adagio.<br />

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3. Symphonie: 1. Adagio — Fuge (Allegro) II. Adagio.<br />

4. Symphonie: 1. Lento II. Allegro<br />

(Scherzo) III. Adagio appassionata<br />

(Hauptsatz).<br />

5. Symphonie (concertante): 1. Toccata II. Melodie III. Rondo (Scherzotyp) (Hommage à Strawinsky<br />

(!)<br />

6. Symphonie: 1. Adagio II. Toccata variata (Introduktion, Fuga 1, Thema, Fuga II, Fuga 1).<br />

7. Symphonie: 1. Teil: Introduktion und Ricercare, 2. Teil: Adagio mesto Finale: Scherzoso virtuoso.<br />

Das Ricercare glie<strong>der</strong>t sich nach einer kurzen Einleitung in: Fugato 1, Concerto 1, Finale per tutti,<br />

Coda 1, Fugato II, Concerto II, Finale per tutti II, Coda II.<br />

8. Symphonie: 1. Cantilene (Lento assai) II. Dithyrambe (Scherzo in 3 Variationen mit Fin. per tutti –<br />

Fuge u. Finale per tutti.<br />

Hier konnten nur Satztitel genannt werden; jegliche Analyse zu beginnen, würde den Rahmen des<br />

Vortrages sprengen; aber wir mögen erkennen, wie in allen diesen Symphonien komplexe<br />

Liedformen mit Großformen kontrastieren, die auf dem fugischen Prinzip beruhen. Es handelt sich<br />

bei <strong>Hartmann</strong> nicht um eine Renaissance <strong>der</strong> Barockwelt wie bei den Klassizisten, son<strong>der</strong>n eher um<br />

das Bemühen, die polyphone Dimension für seine Sinfonik zu benutzen, was, wie wir wissen, auch<br />

ein so legitimes Anliegen des späten Beethoven war. <strong>Hartmann</strong> spricht sich über sein Bemühen in<br />

dieser für ihn zentralen Frage selbst aus: „Polyphonie und Ausdruck verhalten sich zunächst<br />

antithetisch, das eine ist emotionsfeindliches Kalkül, das an<strong>der</strong>e ist kalkulationsfeindliche Emotion.<br />

Es ist ein wesentlicher Teil meiner Arbeit, diese feindlichen Elemente miteinan<strong>der</strong> zu versöhnen<br />

und einen Ausgleich zu schaffen, bei dem keines über das an<strong>der</strong>e triumphiert und sich auf Kosten<br />

des an<strong>der</strong>en auslebt.“ O<strong>der</strong> an an<strong>der</strong>er Stelle: „Ich will keine leidenschaftslose Gehirnarbeit,<br />

son<strong>der</strong>n ein durchlebtes Kunstwerk mit einer Aussage. Es braucht nicht verstanden zu werden in<br />

seinem Aufbau o<strong>der</strong> seiner Technik, son<strong>der</strong>n es soll verstanden werden in seinem Sinngehalt, <strong>der</strong><br />

gleichwohl verbal nicht formuliert werden kann.“ „Unter Berücksichtigung dessen, was oben über<br />

die Unaussprechlichkeit musikalischer Sinngehalte vorgebracht ist, könnten die Symphonien eine<br />

Bestärkung <strong>der</strong>jenigen Gegenwart bedeuten, die folgerichtig aus <strong>der</strong> Tradition geboren ist.“ Mit<br />

diesem Selbstbekenntnis des Komponisten des Unaussprechlichen komme ich zum Schluß. In<br />

unserer schnellebigen <strong>Zeit</strong> ist <strong>Hartmann</strong>s Werk heute beinahe schon Geschichte. <strong>Hartmann</strong> ist<br />

durch die musica viva allen Münchner Kunstfreunden ein fester Begriff. Seine großen Verdienste,<br />

eine Plattform für die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> <strong>Musik</strong> <strong>der</strong> Gegenwart in dieser Stadt geschaffen<br />

zu haben, sind unbestritten. Auch <strong>der</strong> 70. Geburtstag des toten Freundes verpflichtet uns, auf sein<br />

Persönlichstes hinzuweisen, und das ist sein kompositorisches Werk.<br />

Das wenige, was hier gesagt werden konnte, sollte hilfreich genommen werden für eine möglichst<br />

ständige, wie<strong>der</strong>kehrende Begegnung mit diesen Symphonien, die man nicht missen will, wenn<br />

man wirklich in sie eingedrungen ist.<br />

W. <strong>Fortner</strong>: K. A. <strong>Hartmann</strong> zur Wie<strong>der</strong>kehr seines 70. Geburtstages - 4 -

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