Eine Welt zu gewinnen! - Dr. Kai Schmidt-Soltau
Eine Welt zu gewinnen! - Dr. Kai Schmidt-Soltau
Eine Welt zu gewinnen! - Dr. Kai Schmidt-Soltau
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Land, geschweige denn Europa verließ und somit keine direkte Erfahrung mit der Kultur<br />
und Gesellschaft der Kolonien machen konnte. Also entwickelten auch die Theoretiker<br />
der Zweiten Internationale ihr <strong>Welt</strong>bild aus Berichten über die Kolonien, die aber in der<br />
Mehrzahl nicht gerade von Revolutionären verfaßt worden waren.<br />
Lenin hatte hier den Vorteil, daß er, auch durch seine Verbannungen, nicht nur Europa,<br />
sondern auch das europäische und asiatische Rußland bereist hatte. Aber auch er war,<br />
wohl bedingt durch seinen langen Aufenthalt im Exil in Europa, nicht frei von einer<br />
"europäischen" Sichtweise. So fragte er sich, im Be<strong>zu</strong>g auf die chinesische Revolution<br />
unter Sun-Yatsen: "Heißt das vielleicht, daß der materialistische Westen verfault ist und<br />
das Licht nur aus dem mystischen, religiösen Osten leuchtet? Nein, gerade umgekehrt.<br />
Das heißt, daß der Osten endgültig den Weg des Westens betreten hat, daß neue<br />
Hunderte und aber Hunderte Millionen Menschen nunmehr am Kampf für die Ideale<br />
teilnehmen, <strong>zu</strong> denen sich der Westen durchgekämpft hat. Verfault ist die Bourgeoisie<br />
des Westens, vor der schon ihr Totengräber steht - das Proletariat. Aber in Asien<br />
existiert noch eine Bourgeoisie, die fähig ist, die ehrliche, streitbare und konsequente<br />
Demokratie <strong>zu</strong> vertreten, eine würdige Gefährtin der großen Verkünder und großen<br />
Tatmenschen am Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich." 76<br />
Lenin hatte also schon vor 1914 die wesentlichen Elemente seiner Strategie der<br />
<strong>Welt</strong>revolution entwickelt, indem er die russische Revolution als das Bindeglied<br />
zwischen der sozialistischen Revolution in Europa und der bürgerlich-demokratischen<br />
Revolution in Asien analysierte. Somit gab es in der Vorstellung Lenins drei<br />
verschiedene Revolutionsmodelle, die alle miteinander verknüpft waren:<br />
1. Die direkte sozialistische Revolution in den entwickelten Ländern des Kapitals<br />
(Westeuropa und USA).<br />
2. Die bürgerlich - demokratische Revolution in Rußland, die in ihrem Verlauf<br />
dank ihres relativ bedeutsamen und konzentrierten Proletariats und dank der<br />
Hilfe des siegreichen europäischen Proletariats in eine sozialistische Revolution<br />
mündet.<br />
3. Die bürgerlich - demokratische Revolution in Asien, die jedoch auf der Ebene<br />
des Kapitalismus stehen bleibt, da ein Proletariat noch nicht vorhanden ist.<br />
Der wesentliche Faktor in der von Lenin vorgesehenen Kombination der revolutionären<br />
Kräfte blieb jedoch das Proletariat der "entwickelten" Länder. Es hatte den anderen <strong>zu</strong><br />
zeigen, "wie es gemacht wird". Von ihm hing nicht nur die Revolution in Europa ab,<br />
sondern auch, ob die Revolution in Rußland ihr Endziel, den Sozialismus, erreichen<br />
könne, und natürlich auch die Revolution in den Kolonien, denn ohne die Beseitigung<br />
76<br />
ökonomische Entwicklungsstufe die Rätsel und Konflikte lösen soll, die erst auf einer weit höhern<br />
Stufe entsprungen sind und entspringen konnten. [...] Jede gegebne ökonomische Formation hat<br />
ihre eigenen, aus ihr selbst entspringenden Probleme <strong>zu</strong> lösen; die einer anderen, wildfremden<br />
Formation lösen <strong>zu</strong> wollen, wäre absoluter Widersinn." [MEW; Bd.18, S.667]. Dadurch wurde der<br />
Eindruck vermittelt, als ob nur Gesellschaften den Sozialismus erkämpfen könnten, die bereits das<br />
Stadium des Kapitalismus durchschritten und damit die materielle Basis für die gesellschaftliche<br />
Veränderung geschaffen hatten.<br />
LW; Bd.18, S.154.<br />
25