Cicero Uschi lädt durch (Vorschau)

Nº07
JULI
2014
€ 8.50
CHF 13
Putsch des Marktes?
Sigmar Gabriel über das
Freihandelsabkommen TTI P
In Frauenhänden
Wie Christine Lagarde, Angela
Kane und Fatou Bensouda
die Welt regieren
„ Europa fehlt die Idee “
Der Historiker Christopher
Clark trifft den Schriftsteller
Michael Kleeberg
Uschi lädt durch
Der Kampf um Merkels Nachfolge:
Von der Leyens Chancen, wen die Kanzlerin
im Blick hat und wie die CDU sich vorbereitet
Österreich: 8.50 €, Benelux: 9.50 €, Italien: 9.50 €
Spanien: 9.50 € , Finnland: 12.80 €
07
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Samstag: 9.00 bis 15.00 Uhr
Dies ist ein Angebot der Audi Bank, Zweigniederlassung
der Volkswagen Bank GmbH.
¹ Angebot für Neukunden, die in den letzten zwölf Monaten kein Tagesgeldkonto (Plus
Konto, Orderkonto, Kredit karten konto oder Führerschein Konto) bei der Volks wagen Bank
bzw. der Audi Bank unterhielten. Je Kunde kann nur ein Plus Konto TopZins eröffnet
werden. Der Zinssatz für die über 50.000,– Euro hinausgehende Einlage ist variabel und
wird im Fall einer Zinsänderung entsprechend angepasst. Nach Ablauf des Aktionszeitraums
gelten für die gesamte Einlage die dann gültigen Plus Konto Zinsen.
Stand: Juni 2014
Bank. Leasing. Versicherung. Mobilität.*
* Die Tochtergesellschaften der Volkswagen Financial Services AG erbringen unter der
gemeinsamen Geschäftsbezeichnung „Audi Financial Services“ Bankleistungen (durch
Volkswagen Bank GmbH), Leasingleistungen (durch Volkswagen Leasing GmbH),
Versicherungsleistungen (durch Volkswagen Versicherung AG, Volkswagen Autoversicherung
AG) und Mobilitäts leistungen (u. a. durch Volkswagen Leasing GmbH). Zusätzlich werden
Versicherungs produkte anderer Anbieter vermittelt.

ATTICUS
N°-7
KRAFTAKT
KANZLERAMT
Titelbild: Jens Bonnke; Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators
Als Angela Merkel im Herbst 2005
einzog in das gewaltige Gebäude der
Macht an der Spree, da hat sie ihren
engsten Mitarbeitern verboten, sich im
Moment des Überschwangs über ihren
Vorgänger lustig zu machen. Wer es bis
hierhin geschafft habe, so lautete die
Mahnung der neuen Regierungschefin, der
habe allen Respekt verdient. Es erfordert
einen immensen Kraftakt und einen
enormen Willen, ins wichtigste Amt der
Republik zu kommen, es ist eine Leistung,
sich dort über Jahre zu halten. Die größte
Kunst aber wäre es, von diesem Amt ganz
aus freien Stücken zu lassen.
Neun Jahre ist Merkel nun bald Kanzlerin,
drei Wahlen hat sie gewonnen, ein
Hattrick, sagt man im Fußball. Es ist an
der Zeit, darüber zu sprechen, wie es nach
ihr weitergeht. Und in der Union machen
sich neuerdings viele Gedanken über diese
Frage, nicht nur, weil eine Aspirantin auf
die Nachfolge, Verteidigungsministerin
Ursula von der Leyen, ihre Ambition
kaum verhehlt.
Von der „Stunde null“ reden sie hinter
vorgehaltener Hand, weil sie ahnen, dass
Merkels Abschied aus dem Nichts kommen
wird. Dass sie nicht wie ihr großer
Lehrmeister Helmut Kohl den Moment
verpassen will, sondern ihn selbst bestimmt.
Die Titelgeschichte dieser Ausgabe
( ab Seite 14 ) befasst sich mit dieser
Stunde null, mit von der Leyen, anderen
Kandidaten und dem wohlwollenden
Blick von Merkel auf eine Frau, die noch
keiner auf dem Schirm hat.
Raus aus dem Kanzleramt – einer hat
es schon getan, und das ist Ronald
Pofalla, lange Jahre treuester Knappe der
Kanzlerin und alsbald Manager bei der
Deutschen Bahn. Die Personalie hatte in
Berlin für einigen Wirbel gesorgt. Zu Beginn
des kommenden Jahres wird Pofalla
nun seinen umstrittenen Wechsel zur
Bahn vollziehen. Ein halbes Jahr nach
Pofallas Abschied als Chef des Kanzleramts
beschreibt Michael Bröcker, Chefredakteur
der Rheinischen Post, erstmals
in Cicero die Hintergründe, Motive und
Abläufe des Abschieds eines Merkel-
Treuen von seiner Chefin ( Seite 28 ).
Mit besten Grüßen
CHRISTOPH SCHWENNICKE
Chefredakteur
3
Cicero – 7. 2014

BORIS CHARMATZ / MUSÉE DE LA DANSE
20 DANCERS FOR
THE XX CENTURY
27. & 28. JUNI, 17:00 UHR, EINTRITT FREI
SOWJETISCHES EHRENMAL IM TREPTOWER PARK
FOREIGN
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26.6 –13.7.14
FOREIGN
AFFAIRS
26.6. 13.7.14
Programm
Gefördert durch
Gefördert durch die
Foto: Ivar Veermae

INHALT
TITELTHEMA
14
DIE STUNDE NULL
Was passiert, wenn Merkel geht? In der Union
ist das Rennen um die Nachfolge eröffnet.
In der Pole-Position: Ursula von der Leyen.
Aber die Verteidigungsministerin hat auch
Schwächen – und nur wenige Freunde
Von GEORG LÖWISCH, CONSTANTIN MAGNIS, ALEXANDER
MARGUIER und CHRISTOPH SCHWENNICKE
Illustration: Jens Bonnke
17
DIE OPTIONEN DER CDU
Erfahrung, Beliebtheit, Ausrichtung, Härte,
Hausmacht. Acht CDU-Kandidaten und ihr
Potenzial für den wichtigsten Job der Republik
26
WER EIGNET SICH FÜRS KANZLERAMT?
Eine Forsa-Umfrage im Auftrag
von Cicero kommt zu
überraschenden Ergebnissen
5
Cicero – 7. 2014

BERLINER REPUBLIK WELTBÜHNE KAPITAL
28 RAUS AUS DEM KANZLERAMT
Warum Ronald Pofalla das Zentrum
der Macht wirklich verließ
Von MICHAEL BRÖCKER
60 TÖTEN IST SEIN HANDWERK
Der Boko-Haram-Chef
Abubakar Shekau führt Krieg
gegen die Christen
Von JOHANNES DIETERICH
80 SÜSSE LAST DER EWIGKEIT
Werner Müller soll den Abbau
der Atommeiler organisieren
zulasten der Steuerzahler
Von ANTJE HÖNING
30 „DA IST WAS SCHIEFGELAUFEN“
Simone Peter soll die Grünen vom
Image der Bevormunder befreien
Von ALEXANDER MARGUIER
32 DADDY COOL
Martin Dulig bringt Sachsens
geprügelte SPD in Schwung
Von GEORG LÖWISCH
34 STAATSMÄNNER
In der Deutschen Bank
herrschen die Falschen
Von FRANK A. MEYER
36 DIE QUERULATOREN
Gauweiler, Kubicki, Ströbele – acht
Regeln zu einem Politikertypus
Von CHRISTOPH SCHWENNICKE
39 FRAU FRIED FRAGT SICH …
… ob wir unsere Kinder zu
egoistischen Strebern erziehen
Von AMELIE FRIED
62 HAUPTSACHE PREMIER
Der griechische Regierungschef
Antonis Samaras wollte
immer nur das Eine
Von RICHARD FRAUNBERGER
66 DEMOKRATIE, EIN
AUSLAUFMODELL?
Ein Amerikaner analysiert
das Ergebnis der EU-Wahl
Von WILLIAM J.DOBSON
68 FRAUEN VON WELT
Wie Christine Lagarde,
Angela Kane und Fatou
Bensouda Politik verändern
Von JULIA PROSINGER
78 VERGESST INTERVENTIONEN!
Der Irak zeigt, dass ein
militärisches Eingreifen des Westens
zum Scheitern verurteilt ist
Von JUDITH HART
82 EROTISCHES AUS THÜRINGEN
Holger Raithels Porzellan aus Kahla
ist ausgerechnet in China erfolgreich
Von FLORIAN FELIX WEYH
84 MEISTER DER FALSCHMELDUNG
Wie der Postillon-Gründer Stefan
Sichermann eine der populärsten
Satireseiten Deutschlands erschuf
Von MERLE SCHMALENBACH
86 HARMONIE STATT HORMONE
Die Kritik am Freihandelsabkommen
TTIP ist vielstimmig,
aber unbegründet
Von DANIEL MARTIENSSEN
88 „WIR MÜSSEN DAS ABKOMMEN
ENTMYSTIFIZIEREN“
Vizekanzler Sigmar Gabriel über die
zweite Bändigung des Kapitalismus
Von FRANK A. MEYER und
CHRISTOPH SCHWENNICKE
42 SUCH, ARTUS!
Ein Polizeihund kann Handys riechen
Von KAROLINE KUHLA
48 NEIN, NEIN, NOCHMALS NEIN
Ein Massengrab für Kinder erschüttert
Von KARL KARDINAL LEHMANN
90 IRRSINNIGER WETTLAUF
Der Hochfrequenzhandel
destabilisiert die Märkte – ein
Besuch bei einem seiner Erfinder
Von TIL KNIPPER
50 WAS ÜBRIG BLIEB
Fotoessay über das DDR-
Musterdorf Mestlin
Anzeige
Von BETTINA FLITNER
40
Mobilität trifft Elektrizität:
Der e ­Golf ist da
VW_Cicero_Stopper_42x42.indd 1 03.06.14 08:56
68
Christine Lagarde, Direktorin des
Internationalen Währungsfonds
88
Sigmar Gabriel, Wirtschaftsminister
und TTIP-Befürworter
Foto: David van Dam/Hollandse Hoogte/laif; Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein
6
Cicero – 7. 2014

STIL
SALON
CICERO
STANDARDS
98 MODE MIT GEWISSEN
Ein Zwillingspaar macht vegane
Mode, die glamourös wirkt
Von SARAH-MARIA DECKERT
108 MUSIK NUR, WENN SIE LAUT IST
Die Gitarristin Mary Halvorson gibt
dem Jazz seine Kanten zurück
Von TOBIAS LEHMKUHL
3 ATTICUS
Von CHRISTOPH SCHWENNICKE
8 STADTGESPRÄCH
10 FORUM
100 RAN AN DIE RIPPEN!
Feuer, Fleisch und Rotwein –
drei Farben Rot im Grünen.
Wir haben fünf Entrecôtes
auf den Grill gelegt
110 STETS SOLLST DU IHN BEFRAGEN
Stefan Mickisch erklärt Richard
Strauss wie niemand sonst
Von DOROTHEA WALCHSHÄUSL
12 IMPRESSUM
138 POSTSCRIPTUM
Von ALEXANDER MARGUIER
Illustrationen: Martin Haake, Jens Bonnke; Foto: Kai Nedden für Cicero
Von JULIUS GRÜTZKE mit
Weinempfehlungen von BILLY WAGNER
104 VOM STILLEN SIEGEN
Der dezente Genuss eines
Elektromotorrads
Von ALEXANDER MARGUIER
106 WARUM ICH TRAGE,
WAS ICH TRAGE
Wenn die Großmutter in
Schwarz geheiratet hat, steht
die Farbe nicht für Trauer
Von CHRISTIANE ARP
100
Grillgenuss: Entrecôtes in
der Feuerprobe
112 GROSSER GRABEN
An der Met in New York wird
gestreikt statt gesungen
Von KATHRIN WERNER
116 MAN SIEHT NUR, WAS MAN SUCHT
Die heilige Kümmernis und das
Unbewusste der Spektakelgesellschaft
Von BEAT WYSS
118 „DIE REGIONEN RETTETEN EUROPA“
Michael Kleeberg und Christopher Clark
über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs
Von ALEXANDER KISSLER
124 LITERATUREN
Bücher von Virginia Woolf,
Peter Sloterdijk, Ronald
Dworkin und Tamara Bach
130 BIBLIOTHEKSPORTRÄT
Ute Lemper liest in New York
Bücher der Heimatlosen
Von SEBASTIAN MOLL
134 HOPES WELT
Elvis Presley hatte vielleicht doch recht
Von DANIEL HOPE
136 DIE LETZTEN 24 STUNDEN
Nicht ohne meinen Rucksack
Von GLENN GREENWALD
108
Mary Halvorson ist die
gefragteste Gitarristin des Jazz
Habt Acht!
Es fällt schwer, sich die
Bundesrepublik nach
Merkel vorzustellen. Wer es
doch tut – so wie wir in unserer
Titelgeschichte –, der
kommt an Ursula von der
Leyen kaum vorbei. Alles
an ihr strahlt inzwischen
den Willen zur Kanzlerschaft
aus. Und obwohl die
Verteidigungsministerin
dafür kritisiert wird, sich zu
viel mit Kitas und zu wenig
mit Rüstung zu beschäftigen:
Kampfgeist kann
man ihr wahrlich nicht
absprechen. Konflikte sind
Teil ihrer Strategie, ihre
öffentlichen Äußerungen
sind wohlkalkulierte Schüsse,
die selten ihr politisches
Ziel verfehlen. Darum hat
unser Titelkünstler Jens
Bonnke die Ministerin mit
zwei Pistolen in der Hand
gezeichnet. Ob beide
Waffen echt sind, weiß
man bei einer Frau wie von
der Leyen nie. Denn keiner
blufft so gut wie sie.
7
Cicero – 7. 2014

CICERO
Stadtgespräch
Wenn Knirpse wählen, was Steinbrück mit seiner Enkelin vorhat, warum
nicht nur Merkel an Gewicht verlor und wie die FDP sich selbst versteigert
Strikt vertraulich:
Karlspreis für Putin
Neulich im Doppeldecker:
Die Qual der Wahl
Zorniger Opa:
Peers Vermächtnis
Nichts bleibe so geheim wie das,
was im Bundestag öffentlich gesagt
wird, klagte einst der SPD-Politiker
Erhard Eppler. Umgekehrt passt
der Schuh auch: Nichts wird so gern
kolportiert wie das, was Politiker hinter
verschlossenen Türen in sogenannten
Hintergrundkreisen „unter drei“ –
also strikt vertraulich – Journalisten
anvertrauen. Wenn zum Beispiel Angela
Merkel sauer auf Volker Kauder ist,
dann sagt sie das nicht im Bundestag,
sondern „unter drei“ in so einem Kreis.
Oder wenn Wolfgang Schäuble den russischen
Präsidenten ärgern will, dann
scherzt er: Wladimir Putin habe den
Karlspreis verdient, also die Aache ner
Goldkette für Vorzeige-Europäer. Begründung:
„So einig wie in der Ukraine-Krise
waren die Europäer schon
lange nicht mehr.“ Eine schöne, ironische
Spitze, die er so wenig dementieren
muss wie Merkel die Kauder-
Schelte. Denn was „unter drei“ erzählt
wird, gilt offiziell als nie gesagt. til
So ein Image klebt länger als jedes
Wahlplakat. Montagmorgen nach
der Europawahl im Bus M85 Richtung
Rathaus Steglitz. Zwei Knirpse, neun
bis zehn Jahre alt, auf den Logenplätzen
im Doppeldecker oben ganz vorne.
Am Straßenrand: lauter Wahlplakate.
„Ich bin für die Grünen“, sagt der eine.
„Und du? Für wen bist du?“ Der andere
druckst herum und brummelt ein verschämtes
„SPD“. „Was, echt?“, ruft der
andere, als bräche eine Welt zusammen.
„Das hätt’ ich nie gedacht! Ich
dachte, du bist CDU! Du bist doch ein
Streber hoch 27!“ Danach wenden sie
sich wieder dem wichtigeren Thema zu,
welche Spielkonsole denn nun die beste
sei. Das Leben steckt eben voller Alternativen.
Nintendo oder Playstation,
Cowboy oder Indianer, CDU oder SPD,
Bayern oder Dortmund? Auch Knirpse
haben schon die Qual der Wahl. Und
da sind selbst beste Freunde für eine
Überraschung gut. swn
Peer Steinbrück ist kürzlich Großvater
geworden, und er lässt keinen
Zweifel daran, dass er seine neue Rolle
auch politisch ausfüllen will: „Die Enkeltochter
schicke ich später einmal auf
Demonstrationen gegen die Rentenpolitik
der Bundesregierung“, ätzte der Ex-
Kanzlerkandidat der SPD auf einer Diskussionsveranstaltung
in Berlin.
Als ihn der Moderator Roland
Tichy, bis Oktober noch Chefredakteur
der Wirtschaftswoche, fragte, wer wohl
über die Rente mit 63 gesagt habe, dies
sei „eine Botschaft, die wir jetzt nicht
brauchen“, tippte Steinbrück auf „eine
linke SPD-Politikerin“. Tichy: „Falsch.
Das hat Kanzlerin Merkel gesagt.“
Da freute sich der ehemalige Kanzlerkandidat:
„Na, dann habe ich ja richtig
gelegen.“ Später verriet er, die seiner
Enkelin zugedachte Schokolade
esse er lieber selber. Denn: „Schokolade
ist schädlich für Neugeborene –
wenn auch nicht so schlimm wie das
Rentenpaket.“ tz
Illustrationen: Jan Rieckhoff
8
Cicero – 7. 2014

Geschrumpftes Kanzleramt:
Gewichtsverlust
Dass die Bundeskanzlerin an Gewicht
verloren hat, ist unübersehbar.
Das Gesicht ist glatter geworden,
die Figur straffer. Angeblich werden im
Kanzleramt keine Kekse mehr gereicht,
sondern nur noch geschälte Möhren
und andere Rohköstlichkeiten. Runde
zehn Kilo soll Angela Merkel seit ihrem
Unfall beim Skiurlaub Anfang Januar
abgenommen haben, hieß es. Von
offizieller Seite gab es allerdings zu der
gelungenen Abspeckaktion weder ein
Dementi noch eine Bestätigung. Der
Augenschein genügt.
Nun aber hat Kanzleramtsminister
Peter Altmaier auf einer Party doch ein
wenig aus dem Nähkästchen geplaudert
und die Dinge etwas zurechtgerückt.
Nicht Merkel habe zehn Kilo verloren,
sondern das Kanzleramt insgesamt,
weil „die Kanzlerin und ich je fünf Kilo
abgenommen haben“.
Der joviale Saarländer, der gern
und exzellent kocht und ebenso gern
isst, weiß, wovon er redet. In seiner
großen Altbauwohnung gegenüber dem
KaDeWe hing (oder hängt vielleicht immer
noch) ein handgemaltes Plakat mit
der Zahl 145 – so viel wog er einmal.
Als er aber jetzt auf der Party sein
Bäuchlein vorstreckte, um seinen angeblichen
Abspeckerfolg zu dokumentieren,
erntete er Heiterkeit. Sein Leibesumfang
sei gar nicht geschrumpft,
widersprachen die Partygäste, das
Hemd spanne immer noch, und an seinem
Embonpoint sei eine Veränderung
nicht erkennbar. Der CDU-Politiker
tat die Einwände kurz und bündig ab:
„Das ist kleinkarierter Neid.“ tz
FDP versteigert sich:
Heuss unterm Hammer
Jahrzehntelang predigte die FDP, der
Staat solle sich zurückziehen. Jetzt
wurde sie selbst zurückgezogen. Die
Partei des So-wenig-Staat-wie-möglich
hat deshalb weniger Substanz als nötig.
Aber auch dies versucht sie marktkonform
auszugleichen, wie sich jetzt
bei der Verwaltung ihres Nachlasses
zeigt. Alles muss raus! Auf der Internet-Auktionsplattform
Vebeg soll
zum Beispiel die Büste des Ehrenvorsitzenden
Theodor Heuss unter den
Hammer. Als Verkäuferin tritt die
„FDP-Bundestagsfraktion in Liquidation“
auf. Liquidation! Klingt nach
Nimmerwiedersehen.
Das sieht auch Karlsruhe so: Das
Bundesverfassungsgericht hat gerade
eine Organklage (der NPD) gegen die
FDP-Fraktion mit der Begründung abgewiesen,
nach dem Ausscheiden der Liberalen
aus dem Bundestag bestehe für
die Klärung des Antrags kein Rechtsschutzbedürfnis
mehr. Logisch: Was
nicht existiert, kann auch nicht beklagt
werden. In der Urteilsbegründung findet
sich dann der fast noch schlimmere
Nachsatz: „Die Antragstellerin kann ihr
Rechtsschutzbedürfnis nicht aus einer
absehbaren Wiederholungsgefahr herleiten.“
Keine Wiederholungsgefahr?! Das
ist eine höchstrichterliche Ohrfeige für
Christian Lindner, der doch genau das
werden will: ein Wiederholungstäter.
Auf der Auktionsseite werden im
Übrigen auch alte Plenarsaalsessel feilgeboten.
Laut Beschreibung weisen sie
„starke Gebrauchsspuren“ auf. Es gab
sie also immerhin, die FDP. ts
Bröckelndes Holocaust-Mahnmal:
Auf der langen Bank
Hundert Jahre sollten die Stelen des
Berliner Holocaust-Mahnmals halten.
Doch bereits nach sechs Jahren
zeigte das Monument in der Mitte Berlins
so viele Risse, dass ein Gutachter
eingesetzt wurde, der die Mängel für
ein späteres Gerichtsverfahren untersuchen
und dokumentieren soll. Wer ist
verantwortlich für den bröckelnden Beton:
Der Hersteller? Der Architekt? Die
Bauaufsicht?
Schon im Dezember 2010 wurde
eine besonders schwer beschädigte
Stele demontiert und an das Institut für
Bauforschung in Aachen transportiert.
44 Stelen sind bereits, 380 weitere werden
– angeblich – demnächst mit Stahlmanschetten
gesichert. Aber als die
Süddeutsche Zeitung kürzlich Alarm
schlug und den fortschreitenden Verfall
aufdeckte, spielte die für das Denkmal
zuständige Stiftung den Skandal herunter:
Alles bekannt, nichts Neues, alle
Beteiligten sind längst über die Beschädigungen
in Kenntnis gesetzt.
„Derzeit können keine tragfähigen
Aussagen zur Methode einer Sanierung
schadhafter Stelen oder Herstellung
rissfreier Stelen getroffen werden. Erst
wenn diese Informationen vorliegen,
können auch die Kosten kalkuliert werden“,
erklärt eine Sprecherin. Einmal
jährlich tage das Kuratorium, zuletzt im
April dieses Jahres, und jedes Mal sei
über die Schäden an den Stelen geredet
worden. Da ist sie wieder, die sattsam
bekannte lange Bank, auf die in Berlin
so viele Bauprobleme geschoben werden.
Wiedervorlage: spätestens im Frühjahr
2015 – zum zehnjährigen Jubiläum. hp
9
Cicero – 7. 2014

CICERO
Leserbriefe
FORUM
Es geht um Rock ’n’ Roll und um die Wehrpflicht,
ums Cicero-Jubiläum und um Tiere im Zoo
Zu: „Der letzte Sommer des Rock ’n’ Roll“ und Atticus von Christoph Schwennicke, Juni 2014
Ein Hauch „Schweizer Qualität“
Eine wahre Explosion journalistischen Schaffens, in Ihren Heften von Mai und
Juni. Sie setzen sich so vom Rest der gedruckten Medienlandschaft deutlich ab.
Sicherlich ein Hauch „Schweizer Qualität“, die sonst beim Mainstream gern
als verpönt gilt. Ihr Thema: „Der letzte Sommer des Rock ’n’ Roll“ hat mich
besonders berührt. Sie sprechen damit offensichtlich den Zeitgeist an, da die
heutigen Middle Ager und Silver Ager so ihre Fehlmengen aus den sechziger
und siebziger Jahren auffüllen können. Denn damals waren sie mit dem schnöden
Broterwerb und der Karriere beschäftigt und konnten nicht die angesagten
Rock-Konzerte frequentieren.
Peter Herrmann, Stuttgart
Unsinnig und ärgerlich
Seit mehreren Jahren lese ich
Cicero mit Vergnügen. Seit dem
Wechsel der Chefredaktion und der
unverkennbaren Neuausrichtung ist
dieses Vergnügen jedoch gelegentlich
gemindert. Man kann Amelie
Fried überlesen, es gibt viele andere,
spannende Artikel. Die letzte
Ausgabe hat mir allerdings gar nicht
gefallen. Gibt es aktuell wirklich
nichts Wichtigeres in der Welt als
das drohende Ende des Rock ’n’ Roll?
Sorry, interessiert mich überhaupt
nicht, wird nicht der Weltuntergang
sein. Und der Vergleich von Herrn
Schwennicke mit dem Ende der
Klassik, „als Mozart und Beethoven
weg waren“ und damit eine Zeitenwende
eintrat, ist gelinde gesagt
unsinnig. Richtig ärgerlich fand ich
dann den Artikel „Fernsehen 2014“.
Jetzt weiß ich, was ich in den Augen
der Stil-Redaktion bin: ein hoffnungsloser
Hinterwäldler, eigentlich
gibt es mich gar nicht.
Georg Schreiber, Tönisvorst
Zum Beitrag „Der prekäre Frieden“ von
Karl Feldmeyer, Juni 2014
Brillante Analyse
Brillanter Artikel! Fast schon zu
schade für die Seite 48 des Cicero.
Er hat es verdient, als Leitartikel aller
seriösen Tages- und Wochenzeitungen
abgedruckt zu sein.
Wolfgang H. Eisenhardt, Vallendar
Ohne Wehrpflicht friedlicher
Die Abschaffung der Wehrpflicht
mag ein Fehler gewesen sein. Aber
90 Prozent aller Angriffskriege in
den letzten Jahrhunderten gingen
vom Westen aus, nicht vom Osten.
Matthias Weißenberg, Neuss
Rückwärts gedacht
Wenn Herr Feldmeyer meint, eine
Wehrpflicht erhöhe unsere Sicherheit,
dann lebt er gedanklich noch
in der ersten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts.
Christl Kamm, Augsburg
Zum Kommentar „Misstraut euch!“ von
Frank A. Meyer, Juni 2014
Vertrauen ist besser
Nie und nimmer kann Misstrauen
erste Bürgerpflicht sein. In jedem
Fall haben auch Geheimdienste dem
Wohl des Staates zu dienen. Nur
eine auf Vertrauen gegründete politische
Kraft kann jeder Entgleisung
wirksam entgegentreten, sicherlich
auch mit sinnvollen Kontrollen. Auf
Vertrauen, nicht auf Kontrolle und
Überprüfung ist Demokratie, ist Gemeinschaft
auf Dauer gebaut!
Eduard Biedermann, Hamburg
Zum Postscriptum „Leyen-Truppe“ von
Alexander Marguier, Juni 2014
Eine gute Wahl
Auch wenn die Personalie auf diesem
Posten seit ihrer Besetzung tausend
Fragezeichen aufwirft, ist es
doch, wenn man die Chaostruppe
auf Regierungspöstchen insgesamt
betrachtet, eine gute Wahl – diese
Frau beschwichtigt ängstliche Gemüter,
suggeriert die Bundeswehr
als Familienstandort und irritiert
wunderbar alle internationalen Mitspieler.
Sie ist autoritär und diszipliniert,
sie ist extrem erfolgsorientiert.
Wenn sie den Auftrag bekommt, Zuwachs
zu generieren, dann erfüllt
sie das auch zur vollsten Zufriedenheit.
Und das Image einer Kuscheltruppe
wirkt durchaus anziehend
auf unentschlossene Arbeitssuchende
– beobachten wir doch einfach
mal in Ruhe die Truppenstärke.
Agnes Conrad, Böhl-Iggelheim
10
Cicero – 7. 2014

∆Wie lässt sich Armut besiegen?
Die Zahl der Menschen in extremer Armut hat sich seit 1990 halbiert. Und das ist nur
einer von vielen Gründen, warum es sich lohnt, Verantwortung zu übernehmen.
Darum fördert die KfW die Wirtschaft in armen Regionen der Erde – und ermöglicht
jeder Generation, ihre Lebens bedingungen nachhaltig zu verbessern.
Veränderung fängt mit Verantwortung an. kfw.de/verantwortung

IMPRESSUM
VERLEGER Michael Ringier
CHEFREDAKTEUR Christoph Schwennicke
STELLVERTRETER DES CHEFREDAKTEURS
Alexander Marguier
REDAKTION
TEXTCHEF Georg Löwisch
CHEFIN VOM DIENST Kerstin Schröer
RESSORTLEITER Lena Bergmann ( Stil ),
Judith Hart ( Weltbühne ), Dr. Alexander Kissler ( Salon ),
Til Knipper ( Kapital ), Constantin Magnis
( Reportagen ), Dr. Frauke Meyer-Gosau ( Literaturen )
CICERO ONLINE Christoph Seils ( Leitung ),
Petra Sorge, Timo Stein
ASSISTENTIN DES CHEFREDAKTEURS
Monika de Roche
REDAKTIONSASSISTENTIN Sonja Vinco
ART-DIREKTORIN Viola Schmieskors
BILDREDAKTION Antje Berghäuser, Tanja Raeck
PRODUKTION Utz Zimmermann
VERLAG
GESCHÄFTSFÜHRUNG
Michael Voss
VERTRIEB UND UNTERNEHMENSENTWICKLUNG
Thorsten Thierhoff
REDAKTIONSMARKETING Janne Schumacher
NATIONALVERTRIEB/LESERSERVICE
DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH
Düsternstraße 1–3, 20355 Hamburg
VERTRIEBSLOGISTIK Ingmar Sacher
ANZEIGEN-DISPOSITION Erwin Böck
HERSTELLUNG Michael Passen
DRUCK/LITHO Neef+Stumme,
premium printing GmbH & Co.KG,
Schillerstraße 2, 29378 Wittingen
Holger Mahnke, Tel.: +49 (0)5831 23-161
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D: 93,– €, CH: 144,– CHF, A: 96,– €
Schüler, Studierende, Wehr- und Zivildienstleistende
gegen Vorlage einer entsprechenden
Bescheinigung in D: 60,– €, CH: 108,– CHF, A: 72,– €
KOMBIABONNEMENT MIT MONOPOL
D: 138,– €, CH: 198,– CHF, A: 147,– €
Cicero erhalten Sie im gut sortierten
Presseeinzelhandel sowie in Pressegeschäften
an Bahnhöfen und Flughäfen. Falls
Sie Cicero bei Ihrem Pressehändler nicht
erhalten sollten, bitten Sie ihn, Cicero bei seinem
Großhändler nachzubestellen. Cicero ist dann in der
Regel am Folgetag erhältlich.
Zu den Beiträgen „Nach der Euphorie“
von Michael Ringier und „Smog raubt
die Sicht“ von Frank A. Meyer,
Jubiläums ausgabe Mai 2014
Immer weniger Leser
Beide Herren sprachen mir aus
der Seele. Vor allem Herrn Meyers
Gedanken: „Zeitunglesen ist
Lust an sich selbst: Der Zeitungsleser
bremst die Hektik der Welt, verlangsamt
sie zur Lesezeit, macht sie
erfahrbar, erkennbar, begreifbar.
Er ruht im Auge des Shitstorms –
und beharrt auf geistiger Selbstbestimmung.“
Es gibt in den Bahnen
immer weniger Zeitungsleser, und
wer die anderen Medien benutzt,
liest auf seinem iPad, Kindle-Reader
und so weiter dann doch eher ein digitales
Buch, oftmals wird halt mit
den Geräten nur gespielt.
Rainer Bernecker, Berlin
Gebrochene Versprechen
Ich wollte Ihnen nur kurz mitteilen,
dass ich sehr enttäuscht von der
Jubiläumsausgabe war. Ich kaufe
Ihr Magazin gerne, da ich hier oft
Texte lese, die gegen den medialen
Konsens sind – ohne auf der anderen
Seite populistisch zu sein. Deshalb
fand ich die Argumente zur EU
besonders schwach, vor allem, was
Wohlstand, Demokratie und Rechtsstaat
angeht. Gerade in diesen drei
Punkten hat die EU-Politik seit
Euro-Einführung ihre großen Versprechen
schlichtweg nicht gehalten.
Robert Benkens, Barßel
Blick nach „unten“
Sie befassen sich redaktionell ausschließlich
mit Arrivierten, Erfolgreichen,
Bekannten und Berühmten
– wie wäre es, wenn Sie in
jedem Heft eine oder einen aus der
Gruppe „unten“, Otto oder Ottilie
Normalverbraucher zu Wort kommen
ließen? Menschen, welche die
Gabe des Schreibens nie erlernten –
die aber etwas zu berichten haben,
die denken, die handeln, die „über
die Runden kommen“? Es wäre eine
Bereicherung von Cicero!
Peter Hockernholz, Alanya,Türkei
12
Cicero – 7. 2014

CICERO
Leserbriefe
Zum Beitrag „Mercedes ausgebremst“
im Stadtgespräch, Mai 2014
Nur deutsche Karossen
Recht so, Herr Strobl, freier Warenverkehr
in Europa ist ja gut und
schön, aber deutsche Politiker gehören
ja wohl in deutsche Kraftfahrzeuge!
Nicht auszudenken, wenn
unsere Volksvertreter sich etwa in
Limousinen chauffieren ließen, die
mit welscher Nonchalance an der
Seine montiert wurden. Oder sie
benutzten gar Automobile, welche
– lieblos zusammengeschustert –
Werkhallen des perfiden Albions als
Geburtsort ausweisen! Bleiben Sie
standhaft und lassen Sie nicht zu,
dass Audi & Co. jemals eine solche
Demütigung widerfährt!
Christian Friedrich Reineck, Berlin
Zum Beitrag „Ein Zivilisationsbruch“,
Gespräch mit dem Historiker Jörg
Friedrich von Alexander Kissler, Mai 2014
Karikatur: Hauck & Bauer
Propaganda-Sieger
Das Gespräch empfand ich als sehr
informativ und von großer Sachkenntnis
geprägt. Als Kriegspropagandisten
waren die Alliierten
eindeutig die Besseren. Die Versenkung
der „Lusitania“ etwa war
komplett mit dem herrschenden
Kriegsrecht vereinbar, anders als
die englische Seeblockade. Dennoch
gelang es Churchill, die Deutschen
als Monster hinzustellen,
obwohl er als Marinechef die Versenkung
wenn schon nicht herbeigewünscht,
so doch billigend in Kauf
genommen hat. Ab da waren wir
die „Hunnen“.
Prof. Dr. Claus Priesner, München
Zum Beitrag: „Salz, Sonne und Meer“
von Franziska Brantner und Robert
Habeck, Mai 2014
Camus in weiter Ferne
Eine wunderbare Idee, sich auf Camus
zu besinnen. Die Grünen aber
sind ihm so fern wie alle anderen
Politiker, weil sie den Kerngedanken
des Existenzialismus, die verantwortungsvolle
Selbstbestimmung
des Einzelnen, völlig ignorieren.
Thomas Siering, Berlin
Zum Titelbeitrag: „Die dunkle Seite
des Reformators“ von Christian
Pfeiffer, April 2014
Forschung ignoriert
Sie erwecken den Eindruck, als hätten
Sie das Thema Luther und die
Juden entdeckt; endlich wird es behandelt!
Endlich hat der investigative
Journalismus sich darangemacht,
und Christian Pfeiffer ist der
Kriminologe, der kriminalistisch
aufdeckt, was bisher verheimlicht
wurde. Nur leider ignoriert der Autor
die riesige Menge von Büchern,
die in den vergangenen 50 Jahren
dazu erschienen sind.
Auch beim Umgang mit Sekundärliteratur
hat er keine großen
Künste offenbart. So zitiert er ein
Buch von Wolfgang Gerlach und es
gelingt ihm, mithilfe einer herausgerissenen
Information den Tenor
des Buches ins glatte Gegenteil zu
verdrehen. Der Leser von Cicero
muss denken, Gerlach habe apologetische
Absichten verfolgt; tatsächlich
hat er sich über die evangelische
Kirche im Dritten Reich
kritisch geäußert.
Dr. Siegfried v. Kortzfleisch, Lübeck
Zum Beitrag „Das Leben ist ein
Ponykopf“ von Marie Amrhein,
Mai 2014
„Zoos gehören abgeschafft“
Das ist ein ziemlich widerlicher und
überflüssiger Artikel. Tiere sind Mitgeschöpfe,
die nicht dazu da sind,
um jeden Preis und immer dem
Menschen zu dienen, ihn zu verfetten
oder ihn zu unterhalten. Zoos
gehören abgeschafft.
Natürlich fressen Tiere andere
Tiere, das dürfen sie auch, aber sie
jagen sie, und jedes hat dabei eine
echte Chance, oder die Raubtiere
sorgen für einen naturgemäßen
„Reinigungsprozess“ (Vertilgen von
schwachen und kranken Tieren), so
ist die Natur, die wir auch nicht ändern
können.
Aber das bedeutet nicht, dass
wir Menschen das zelebrieren und
in Zoos demonstrieren müssen, auf
eine Weise und mit Mitteln, die
eben nicht der Natur entsprechen
( = keine Jagd z. B. )!
Ute Vogt, Schossin
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.
Wünsche, Anregungen und Meinungsäußerungen
senden Sie bitte an redaktion@cicero.de
13
Cicero – 7. 2014

TITEL
Uschi lädt durch
DIE
STUNDE
NULL
Die Union macht sich Gedanken
über die Zeit nach Angela Merkel.
Ursula von der Leyen will ihr nachfolgen.
Darf sie auch?
Von GEORG LÖWISCH, CONSTANTIN MAGNIS,
ALEXANDER MARGUIER und CHRISTOPH SCHWENNICKE
Illustrationen JENS BONNKE
14
Cicero – 7. 2014

TITEL
Uschi lädt durch
Bevor die Macht entweicht, wird Angela Merkel
noch mal am Handy knibbeln. Die Daumen
der Noch-Kanzlerin werden über die
Tastatur huschen. Vielleicht wird sie eine Sekunde
länger über eine Formulierung nachdenken.
Aber die SMS wird zur Situation passen, ihre lieb gewonnene
Kommunikationsform, von der sie nicht mal
ließ, als die Amerikaner ihre Daten abfischten. Die
SMS’ haben ihren schnörkellosen Stil in all den Jahren
so schön unterstrichen, es lag in ihnen immer auch
ein Stück humorvolle Distanzierung vom Pomp der
Politprominenz. Die Kurznachricht wird es ihr auch
ermöglichen, die wuchtige, alles beendende Information
mit der nötigen Gleichzeitigkeit zu verschicken.
Kein Durchsickern, kein Krampf, ein souveräner Abgang.
Durchatmen, ein letzter Daumendruck, gesendet:
„bin weg danke und alles gute am“.
So stellen sie es sich vor in der CDU. So reden sie
über die „Stunde null“. Ein Mann aus der CDU-Führung
sagt in seinem Büro: „Sie muss es so machen.
Ohne Vorankündigung, ohne Gespräche. Was glauben
Sie? Eine Kanzlerin auf Abruf ist keine Kanzlerin
mehr.“ – „Die Partei muss sich dann neu finden“,
überlegt ein Landesfürst, der auf Besuch in Berlin ist. –
„Wie das Szenario aussieht, weiß nur sie“, sagt jemand
tief im Regierungsgeschäft. Und meint damit: Im Kopf
der Kanzlerin existiert eines.
Neun Jahre, nachdem Angela Merkel Kanzlerin
geworden ist, und 14 Jahre nach ihrer Wahl zur CDU-
Vorsitzenden geschieht in Berlin Unerhörtes. Es wird
über die Zeit nach ihr geredet. Ihren Abgang. Vorsichtig,
vertraulich. In der Hierarchie eher oben als unten.
Erst wenn die Union bei der Sonntagsfrage Richtung
35 Prozent rutscht, wird das Geschnatter richtig
losgehen. Dann wird die Partei darüber klagen, dass
ihre alte Partnerin FDP so gut wie tot ist. Dass die SPD
immer lebendiger wird. Die Frage nach der Zukunft
wird in den Vordergrund rücken. Die Frage nach der
Nachfolge von Angela Merkel.
Es gibt noch einen anderen Grund, warum die
Stunde null in den Blick gerät. Ursula von der Leyen.
Sie will. Aber darf sie? Wenn ihre Zeit im Verteidigungsministerium
ein Erfolg wird, hat sie gute Chancen.
Jetzt schon verhält sie sich wie eine Rennfahrerin,
die in der Pole-Position die Motoren röhren lässt. Man
sollte sie sich schon einmal genauer ansehen.
AN EINEM FREITAGABEND in Hamburg betritt sie die
Manege im silbernen Glitzerkleidchen. Der Verlag
Gruner + Jahr verleiht den Henri-Nannen-Preis, die
Choreografie ist einem Zirkus nachempfunden. Der
Schauspieler Dominique Horwitz gibt den Zirkusdirektor,
er glänzt, aber selbst er findet in Ursula von der
Leyen seine Meisterin. Im Scheinwerferlicht entfaltet
sie eine Präsenz, als wäre sie Löwenbändigerin und Löwin
in einem. Die Mähne sitzt, kein Härchen steht nur
entfernt so ab wie die Ohren von Dominique Horwitz.
Von der Leyen hält die Lobrede auf den Deutsch-
Franzosen Alfred Grosser, der für sein publizistisches
Lebenswerk ausgezeichnet wird. Ihre Gesten sind klar,
sie artikuliert überdeutlich wie beim Vorsprechen. Sie
redet, als hätte sie als Kind schon auf Onkel Alfreds
Schoß gesessen, lächelt ihn dabei an, innig, vertraut.
Wir Großen unter uns. Die Pointe setzt sie selbstverständlich
in akzentfreiem Französisch, dann artig beiseitegetreten,
damit der Onkel die Bühne für sich hat.
Ein paar Tage später eine Mail an Alfred Grosser:
Ob er und seine Laudatorin einander kennten? Er
schreibt, dass er sie nie zuvor getroffen habe. Aber sie
habe sehr warmherzig gesprochen.
Sie spielt diese Wärme, in Perfektion. „Das ist
das Unheimliche an ihr“, sagt ein früherer Kollege
aus Merkels Kabinett. Er nennt sie „eiskalt, machtsüchtig
und berechnend.“ Es ist kein Weichei und kein
Warmduscher, der zu dieser Einschätzung kommt, und
doch: „Die Frau macht mir Gänsehaut.“
Wenn es in der deutschen Politik einen Menschen
gibt, der die Show von Kindesbeinen an gelernt hat,
dann sie. Sie wird 1958 in Brüssel als Tochter des späteren
niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht
geboren – und hinein in das Schauspielensemble
ihrer Mutter Heidi Adele Albrecht. Zu deren Hobbys
gehört das Verfassen von Theaterdrehbüchern, ihre
Stücke inszeniert sie mit ihren Kindern auf privaten
Vorführungen im Bekanntenkreis. Ursula Gertrud –
genannt „Röschen“ – steht regelmäßig auf der Bühne.
Als Ernst Albrecht 1976 Ministerpräsident von
Niedersachsen wird, haben Röschen und ihre Geschwister
das ganze Land als Publikum. Noch im selben
Jahr trällert die Familie im NDR-Fernsehen Jägerlieder.
1978 veröffentlichen die Albrechts mit
„Wohlauf in Gottes schöne Welt“ eine Volkslied-Single.
Wenn Parteigrößen „Tundrinsheide“ besuchen,
das Gut der First Family in Beinhorn bei Hannover,
gehört ein Hauskonzert der Kinder zum Begrüßungsritual,
Röschen am Klavier. Ursulas inzwischen verstorbene
Mutter Heidi Adele hat einmal gesagt: „Andere
lesen Romane, wir leben sie.“
In der Familie hat Röschen eine Sonderposition.
Nicht nur weil sie das erste – und nachdem ihre kleine
Schwester Benita 1971 an Krebs stirbt, auch das einzige
– Mädchen im Haus ist. Der Vater ist ihr Fixstern
und umgekehrt. Während die Brüder bei Besprechungen
aus dem Zimmer geschickt werden, darf Röschen
bleiben. Sie erfüllt die Erwartungen. Überspringt eine
Klasse, macht schon mit 17 Jahren das Abitur, Note 0,7.
Im Juni 2014 betritt sie in Berlin den Saal der Bundespressekonferenz.
Die Bundesministerin der Verteidigung.
Die Kameras rattern. Dunkelblauer Hosenanzug,
Frisur in Fasson. Alles sitzt. Am Wochenende ist
sie kritisiert worden. Der ehemalige Generalinspekteur
Harald Kujat hat ihr vorgeworfen, ihre Agenda für
eine attraktivere Bundeswehr verpasse den Streitkräften
„das Image von Weicheiern und Warmduschern“.
16
Cicero – 7. 2014

Fotos: Werner Schüring/Imagetrust, Laurence Chaperon
MERKELS NACHFOLGE –
DIE OPTIONEN DER CDU
URSULA VON DER LEYEN
Sie hat die Chance: Wille zur Macht,
Prominenz, Härte. Und Regierungs erfahrung.
Zuerst Landesministerin in Niedersachsen,
2005 Wechsel ins Bundeskabinett, wo sie
Familien- und 2009 Sozialministerin wurde.
Als Verteidigungsministerin kann sie sich beweisen.
Problem: Von der Leyen, 55, ist zwar
eine von fünf CDU-Bundesvizes, ihr fehlen
aber eigene Truppen in der Partei
THOMAS DE MAIZIÈRE
Riesenerfahrung als Minister in Sachsen und
im Bund. Glänzende vier Jahre als Merkels
Kanzleramtschef bis 2009, dann besonnener
Innenminister. Als Verteidigungsminister
wegen an der geplanten neuen Drohne
Eurohawk gescheitert. Jetzt, mit 60, wieder
Innenminister, eigentlich um sich zu
bewäh ren. Wirkt aber im neuen Amt wenig
ehrgeizig und hat sich erstmal abgemeldet
Die Ministerin lächelt die Hauptstadtjournalisten
an. Sie lädt durch. Die Kritik sei eine „Einzelstimme
vom Wochenende“. Zweiter Schuss: Die Probleme der
Bundeswehr habe es schon gegeben, „als jene Verantwortung
trugen, die sich heute gegen jede Veränderung
wehren“. Mit anderen Worten: Kujat und seine Kameraden
sind schuld, dass die Bundeswehr als unattraktive
Arbeitgeberin gilt und kaum Nachwuchs findet.
Aber jetzt kommt ja ihr Programm. Überschrift:
„Aktiv. Attraktiv. Anders.“ Maßnahmen: bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf, flexiblere Laufbahnen,
freundlichere Kasernen. Den Einwand, in Zeiten
der Ukrainekrise seien Bundeswehr-Kitas das falsche
Signal, nimmt sie gern auf: Gerade weil die Zeiten so
ernst seien, müsse die Bundeswehr attraktiver werden.
„Eine Riesenherausforderung.“
Nach der Bundestagswahl im September
2013 hat sich die Kanzlerin darangemacht,
die Stunde null vorzubereiten. Die Große
Koalition formiert sich. Zwei Ressorts besetzt
sie im Lichte der Nachfolge. Thomas de Maizière
ist im Verteidigungsministerium am Drohnenskandal
gescheitert. Der Mann in der Regierung, den sie am
längsten kennt, bekommt eine zweite Chance: das
Innenministerium. Ursula von der Leyens Sozialministerium
geht an die SPD. Wie kann Merkel ihr eine
Chance geben und sie zugleich auf Distanz halten?
Die Verteidigung. Erste Frau in dem Amt, das ist historisch.
Zugleich ist es das härteste aller Ressorts.
Soldaten und zivile Mitarbeiter zusammengenommen,
arbeiten in der Bundeswehr fast eine Viertelmillion
Menschen. Es ist eine eigene Welt mit sehr unterschiedlichen
Sphären, sie ist auf die Inhaberin der
Befehls- und Kommandogewalt ausgerichtet, auf die
Ministerin. Ganz oben in der Befehlskette ist von der
Leyen gut angesehen. Generale im Ministerium können
selbst im informellen Gespräch nicht recht verstehen,
warum die Chefin so viel Kritik bekommt. Die
Wahrnehmung, sie habe nur Kitas und Teilzeitarbeitsplätze
im Blick, stimme einfach nicht, sagt einer der
Uniformierten mit mehreren goldenen Sternen auf der
Schulter. Um die anderen wichtigen Baustellen ihres
Hauses, vor allem um die Rüstung, kümmere sie sich
genauso intensiv. Geht man in der Hierarchie etwas
herunter, lässt die positive Sicht der Dinge nach. Selbst
Kommandeure sehen eher die Ressortchefin, die in der
Öffentlichkeit einen Bogen um die Frage macht, ob und
wie die Bundeswehr sich mit Drohnen ausrüsten soll.
Auf die Drohnen schauen die Bürger, doch um viel
mehr Geld geht es bei den Planungen für neue Hubschrauber
oder ein künftiges modernes Flugabwehrsystem,
das auch Raketen abschießen können muss.
Von der Leyen wäre gut beraten, auf dem komplizierten
Feld der Beschaffung von milliardenteurem Gerät
vorsichtig zu agieren. Doch sie hat ein Zeitproblem:
Noch in diesem Jahr müssen grundlegende
17
Cicero – 7. 2014

TITEL
Uschi lädt durch
Die Beziehung von Merkel und
von der Leyen hat einen Knacks.
Jede seismische Auffälligkeit in
ihrem Verhältnis wird registriert

ANNEGRET KRAMP-KARRENBAUER
In der Öffentlichkeit unterschätzt, aber
nicht nur von Merkel sehr geschätzt.
Ministerpräsidentin des Saarlands, davor
von 2000 an Landesministerin. Politologin,
51 Jahre alt, verheiratet, Mutter von drei
Kindern. Gut verdrahtet: Bundesvize der
Frauenunion, Mitglied im Zentralkomitee
deutscher Katholiken. Ausrichtung: unideologisch,
pragmatisch, ein bisschen links,
ein bisschen liberal
VOLKER KAUDER
Ohne den Chef der CDU/CSU im Bundestag
geht wenig in Berlin. Setzte früh auf Merkel,
war ihr Generalsekretär. Als sie Kanzlerin
wurde, wurde er Fraktionschef. Stand hinter
ihrem Mittekurs und machte zugleich mit
Traditionsgepolter Konservative glücklich.
Hat Humor, ist aber kein Publikumsliebling.
Kauder, 64, kennt seine Grenzen. Keine
Lust aufs mächtigste und brutalste Amt
Entscheidungen fallen, wenn nicht Zeit und Geld verschwendet
werden sollen. Das komplizierte Beschaffungsgefüge
knirscht, nachdem von der Leyen angeordnet
hat, es erst einmal zu durchleuchten.
Sie muss die Position des Rüstungsstaatssekretärs
neu besetzen. Als Ende Mai die Berliner McKinsey-
Chefin Katrin Suder gehandelt wurde, glich das dem
Einschlag einer Granate. „McKinsey, Frau und Lesbe –
die Jungs in der Truppe haben ja Schnappatmung bekommen“,
frotzelt eine Parteifreundin von der Leyens.
Helmut Willmann atmet ruhig. Unter Strom steht
er schon. Kontrollierte Wachsamkeit. Früher war er Inspekteur
des Heeres. Ein gedrungenes Kraftpaket, ein
Schleifer mit Herz. Als er zu viele junge Soldaten zu
fett fand, befahl er ein Ertüchtigungsprogramm. Zirkeltraining,
Dauerläufe. Sie nannten ihn „Tiger-Willi“.
Willmann ist jetzt 74, von seiner Tochter weiß er,
wie wichtig Kindertagesstätten heute sind. Seinem
jüngsten Nachfolger habe er das auch erklärt: „Bauen
Sie Kitas!“ Die Truppe müsse attraktiv werden. Grundsätzlich
sei es nicht falsch, was Frau von der Leyen da
mache, sagt er, „und Sie wissen: Ich bin kein Weichei!“
Es folgt ein ABER, das man in Großbuchstaben
schreiben muss. „Wenn man den Eindruck gewinnt,
dass die eigene Person wichtiger ist als die Sache, wird
es sehr kritisch. Und diese Grenze hat Frau von der
Leyen in der kurzen Zeit im Amt schon deutlich überschritten.“
Die Ministerin drücke sich vor den wichtigen
Themen. Was heißt die Ukrainekrise für das Heer?
Braucht man wieder mehr Panzer? „Dazu höre ich von
Frau von der Leyen nichts!“
In der Frage nach Drohnen für die Bundeswehr
schlage sich von der Leyen in die Büsche, wettert
Willmann. Sie sage, sie warte erst die gesellschaftliche
Debatte ab. „Sie muss diese Debatte führen, von
vorne!“ Überhaupt, von der Leyen und die Waffen.
Zwei Stunden sei sie über die ILA, die Luftfahrtmesse
in Berlin, spaziert und habe tunlichst vermieden, einem
Waffensystem nahezukommen. „Führung von
hinten ist das!“, ruft Willmann. Er redet über die anderen:
Volker Rühe, Rudolf Scharping und Joschka Fischer,
alles drei Männer, die Auslandseinsätze durchsetzen
mussten. „Das war Führung!“ „Nein“, schließt
er fast resigniert, „Frau von der Leyen macht nur das,
was ihrer Popularität dient, und schließt alle anderen
Themen aus.“
EIGENTLICH UNTERSCHEIDET ES von der Leyen gerade
von Merkel, dass sie Konflikte provoziert. Elterngeld,
Frauenquote – sie prescht vor, es gibt eine Debatte
und – wenn es optimal läuft – einen Kompromiss, den
sie als ihren Erfolg verkauft. Merkel dagegen nimmt
gern Entwicklungen auf und sortiert die Dinge so, dass
sie in ihre Strategie passen. Die Kanzlerin integriert,
von der Leyen inszeniert. Doch ihre Konflikte – da
hat Willmann recht – wählt sie genau aus: Die Chance
muss hoch sein, Profil zu gewinnen.
Fotos: Götz Schleser/Agentur Focus, Thomas Trutschel/photothek.net
20
Cicero – 7. 2014

TITEL
Uschi lädt durch
Angela Merkel liebt die Macht pur. Nicht die
Insignien, das Brimborium. Sie will die Figur
sein, die die anderen bewegt. Nicht die,
die auf dem Spielbrett hin- und hergeschoben
wird. Dann wäre das Spiel verdorben – und nicht
mehr das ihre. Dann lieber rechtzeitig aufhören.
Am Anfang ihrer Laufbahn hatte außer ihrem Vater
noch ein CDU-Politiker ein großes Interesse an Ursula
von der Leyens Aufstieg: Christian Wulff.
Auf einem Reitturnier begegnet ihm Ursula von
der Leyen 1998. Sie ist verheiratet, bereits Mutter
von sechs Kindern, ausgebildete Medizinerin. Wulff
ist CDU-Chef im Landtag und damit Oppositionsführer,
denn in Niedersachsen regiert Rot-Grün. In der
CDU herrscht ein kalter Krieg. Der Katholik Wulff
gegen die Protestanten um Jürgen Gansäuer und Wilfried
Hasselmann, CDU-Ehrenvorsitzender und rechte
Hand von Ex-Ministerpräsident Albrecht. Wulff ist angetan
von Albrechts talentierter Tochter. In der CDU
ist der Stolz des früheren Regierungschefs auf sie weithin
bekannt. Wulff erkennt in „Röschen“ das ideale
Schild gegen seine parteiinternen Gegner. Er beruft sie
in sein Kompetenzteam, zieht damit die Protestanten
Albrecht und Hasselmann auf seine Seite.
Der alte Büchsenmacher Heinrich Meier, ein Raucher
mit runzligem Gesicht und fröhlichen Augen,
erinnert sich noch, wie „Röschen“ 2001 von Wulff
und ihrem Vater in den ersten Kommunalwahlkampf
geschickt wurde. Meier war damals CDU-Chef in von
der Leyens damaligem Heimatdorf Ilten, ihr Vater hat
ab und zu mal eine Waffe bei ihm gekauft. Plötzlich
steht dessen Tochter bei ihm in der Tür und sagt: „Ich
will als Bürgermeisterin kandidieren, wie läuft das
hier?“ Zweite Frage: „Wer sind meine Gegner?“ Heinrich
setzt sich mit ihr in die Ortskneipe und versucht,
sie zurück auf den Teppich zu bringen: „Vergiss es“,
sagt er ihr. „Hier in Ilten hast du gegen die SPD keine
Chance.“ Aber das ist Röschen egal.
Sie lässt sich von Meier den ganzen Ort vorstellen.
Sie stillt noch ihr jüngstes Kind, notfalls in der Besenkammer
einer Turnhalle, die anderen Kinder haben
„gut mitgezogen“, erinnert sich Meier, „immer
in Reih und Glied“. Als sie beim Schützenfest auf der
Rednerliste auf den dritten Platz gesetzt wird, hinter
den Chef des Kaninchenzüchtervereins, ist sie sauer.
Meier verhandelt sie auf Platz zwei.
Um Publikum muss Röschen sich nicht sorgen.
Die Regionalpresse interessiert sich sehr für die ersten
politischen Stehversuche von Tochter Albrecht,
der NDR schickt Kamerateams vorbei. Öffentlichkeit,
von der andere Kandidaten nur träumen können.
Trotzdem verliert sie die Wahl gegen die amtierende
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VOLKER BOUFFIER
Stand ewig im Schatten von Roland Koch,
bevor er hessischer Ministerpräsident
wurde. Gewann 2013 die Wahl, manövrierte
die SPD aus und bildete die erste
schwarz-grüne Regierung in einem großen
Bundesland. Das ist auch bemerkenswert,
weil Bouffier, 62, im CDU-Spektrum konservativ
einzusortieren ist. Schlagkräftiger
CDU-Landesverband. Aber für einen
Kanzlerkandidaten zu altmodisch
JULIA KLÖCKNER
CDU-Bundesvize und Oppositionsführerin im
Landtag von Rheinland-Pfalz. Hat die dortige
Intrigen-CDU kernsaniert. In der Partei und
bei den Journalisten beliebt. Wird es schwer
haben, 2016 Ministerpräsidentin zu werden.
Hat mit 41 aber auch noch Zeit. Für Berlin
eine Kandidatin für irgendwann nach 2017
SPD-Bürgermeisterin Gisela Neuse. Sie wird nur deren
Stellvertreterin und CDU-Fraktionsvorsitzende im
Rat des Nachbarorts Sehnde.
Aus dieser Niederlage lernt sie: Prominenz und
Fleiß reichen nicht. Sie muss sich richtig gut verkaufen.
In Ilten sind sie zwar zunehmend genervt von der
Frau, die die Namen der Nachbardörfer verwechselt.
Allen aber fällt auf, dass sie von Monat zu Monat bessere
Ansprachen hält, als würde jemand sie trainieren.
„Sie hatte spätestens ab da Medienfachleute, die sie
berieten und coachten“, sagt ein Bekannter aus der Regierung
Wulff. „Ihr Genie besteht darin, den Rat ihrer
Fachleute wie ein Schwamm aufzusaugen und perfekt
zu mechanisieren. Das macht so kein anderer Politiker.“
Als Ursula von der Leyen 2003 in den Landtagswahlkampf
zieht, ist sie bereits ein Medienprofi. Und
als sie aus dem Stand nicht nur Abgeordnete, sondern
auch Sozialministerin in Niedersachsen wird, ist das
ihr Abitur in Politik, Leistungskurs PR, Note 0,7.
Sie weiß, dass ihre Geschichten eine reale Substanz
brauchen, dass ihre Erzählungen mit Sacharbeit
unterfüttert werden müssen. Aber die Priorität hat ihr
persönliches Profil. Jeder Auftritt ist eine Investition,
deren Nutzen genau kalkuliert wird.
Nach der SMS werden die Drähte glühen.
Die Fürsten der Union werden telefonieren.
Wer ist jetzt maßgeblich? Volker
Bouffier, der Ministerpräsident von Hessen.
Volker Kauder, der Chef der Unionsfraktion im
Bundestag, die am Ende einen neuen Kanzler oder
eine neue Kanzlerin wählen muss. Armin Laschet aus
Nordrhein-Westfalen und Thomas Strobl aus Baden-
Württemberg, die Chefs der beiden mitgliederstärksten
Landesverbände. Julia Klöckner, Parteiliebling
aus Rheinland-Pfalz, wird mitmischen. Auf den Rat
eines Wolfgang Schäuble wird man auch nicht verzichten.
Eine Sitzung des Präsidiums wird anberaumt.
Seit jeher irritiert Kollegen, Kontrahenten und
Mitstreiter das Tempo, mit dem von der Leyen an ihnen
vorbeirast. Schon den alten Büchsenmacher Heinrich
Meier warnten die Leute in Ilten: „Leg dich nicht
so für die ins Zeug, die bleibt doch eh nicht hier. Die
will nach ganz oben. Die siehst du später nie wieder.“
Im Rat von Sehnde genau wie im Landtag von Niedersachsen
hinterlässt sie Kollegen, die sie für überheblich
halten. Sie erwirbt sich keine Loyalitäten. Auch
nicht im Bundestag in der niedersächsischen Landesgruppe.
Wenn sie deutschlandweit Kollegen in ihren
Wahlkreisen besucht, sind das Termine mit Bravour.
Als Bundesministerin kann sie Mittelständler begeistern
und Rentnerinnen glücklich machen. Aber bei diesen
Besuchen geht es ihr nicht darum, einem Parteifreund
zu helfen. „Sie macht das für sich“, sagt ein
CDU-Politiker, der sie zu Besuch hatte.
Starke Auftritte bringen ihr politisches Kapital,
mit dem sich Ziele durchsetzen lassen. Als sie 2005
Fotos: Thomas Köhler/photothek via Getty Images, Stefan Boness/VISUM
22
Cicero – 7. 2014

TITEL
Uschi lädt durch
Familienministerin wurde, sammelte sie als eine der
wenigen in Merkels CDU Punkte. Die Supermutterpowertochter.
Eine weniger strahlende Aufsteigerin hätte
es schwer gehabt, das Elterngeld in der Union so glatt
durchzusetzen. In dieser Zeit lernt Merkel sie schätzen.
DEN ERSTEN KNACKS bekommt die Beziehung im
Juni 2010, in nur 72 Stunden. Es geht um das Amt des
Bundespräsidenten, Horst Köhler hat hingeschmissen.
Von der Leyen ist im Gespräch. Aus Merkels Umfeld
folgt kein Einspruch, von der Leyen interpretiert das
Schweigen als Zustimmung, ihre Eigenwerbung nimmt
Fahrt auf. „Wird sie die Mutter der Nation?“, fragt Bild.
Als ein Journalist wissen möchte, was denn nun mit ihrer
Kandidatur wird, lächelt sie verschwörerisch, legt
den Finger an den Mund und macht: „Pssssst!“
Von der Leyen schwebt. Merkel schweigt. Dann
nominiert sie Wulff für das Amt. Und demütigt damit
öffentlich die Frau, der nichts so wichtig scheint wie
ihr Bild in der Öffentlichkeit. Doch von der Leyen diszipliniert
sich. Um nicht als Gelackmeierte dazustehen,
lobt sie Wulff. Als ihn die CDU auf einer Pressekonferenz
präsentiert, taucht sie überraschend auf: „Ach,
Christian, ich gratuliere, ich freue mich so für dich.“
Merkel schätzt allzu ehrgeizige Aspiranten auf
höchste Ämter nicht. Als von der Leyen im Jahr 2012
eine Debatte über eine Minimalrente für Geringverdiener
inszenierte, ließ sie sie auflaufen. Die Kanzlerin
schritt nicht ein, als ihre Ministerin vor der versammelten
Fraktion niedergemacht wurde. Kurz darauf stand
von der Leyen beim Parteitag als eine der Vizevorsitzenden
zur Wiederwahl – und bekam dürftige 69 Prozent.
Seither wird jede seismische Auffälligkeit im Verhältnis
der beiden registriert. Da war doch diese Situation
in der vergangenen Wahlperiode, erinnert sich
ein CDU-Mann. Im CDU-Präsidium hat von der Leyen
gefehlt. Merkel schaute in die Runde. „Wo ist sie denn
jetzt wieder?“ – „Der Volker Kauder ist ja auch nicht
da“, sagte jemand. Merkel: „Das ist was ganz anderes.
Der Volker ist immer da, wenn man ihn braucht.“
Von jetzt an wird Merkel sich raushalten. Rum
ist rum. Aber es gibt andere. Hessens Ministerpräsident
Volker Bouffier ist dafür bekannt,
gern mal eine herbe Bemerkung über
von der Leyen fallen zu lassen. Er ist stark, Schwarz-
Grün in Wiesbaden sein Meisterstück. Die Hessen-
CDU ist immer noch ein Kampfverband. Soll von der
Leyen jetzt noch mehr zerstören von der alten CDU?
Quote, Mindestlohn und dann der Ringelpiez bei der
Bundeswehr. Geht zu weit! Soll „Buffi“ selbst antreten?
Schwierig im Wahlkampf. Zu viel alte CDU.
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TITEL
Uschi lädt durch
Ursula von der Leyen kann Merkel nicht wegkriegen,
sie kann nur warten, dass die Kanzlerin geht. Sie
hat alles auf ihr Standing beim Wähler gesetzt. Auch
bei einfachen CDU-Mitgliedern, die sie aus dem Fernsehen
kennen, ist sie beliebt. Aber bei Abgeordneten
und Funktionären fehlt ein Netzwerk. Es gibt keinen
Kreis, der im Ernstfall für von der Leyen kämpfen
würde. „Weil sie selbst den Einzelnen so selten das Gefühl
gegeben hat, für sie zu kämpfen“, sagt ein Unionsmann
aus Niedersachsen. Sie hat sich all den Ritualen
verweigert, die zum Aufbau belastbarer Bindungen nötig
sind, den Abenden an der Bar, den Kumpeleien und
Kungeleien, den kleinen und großen Vertraulichkeiten.
Natürlich, sie hat eine Familie und sieben Kinder.
Wie soll da noch Zeit gewesen sein, nicht nur Ministerin
zu werden, sondern obendrein eine Hausmacht in
der Partei aufzubauen? Dennoch glauben viele, dass
von der Leyen trotz des kunstvollen Lächelns emotionale
Nähe gar nicht herstellen will. Auch Ernst Albrecht
war distanziert, aber er hatte in Wilfried Hasselmann
einen Weggefährten, der die Schwäche des
Chefs durch seine Nahbarkeit auszugleichen wusste.
In Niedersachsen gibt es mit David McAllister wieder
so einen erdverwachsenen Parteiführer. Hasselmann
ist sein Vorbild. Nach der Abwahl als Ministerpräsident
hat Merkel McAllister aufgefangen und eng
an sich gebunden. Er ist jetzt, mit 43 Jahren, erst einmal
Europaparlamentarier. Auf ihn kann von der Leyen
nicht bauen. Denn er hat seine Krise nach dem Verlust
des Ministerpräsidentenamtes noch nicht überwunden.
Kann jemand von diesem Amt lassen? Adenauer
ist gegangen, weil die FDP ihn zwang.
Erhard wurde nach einer Wahlniederlage
von der eigenen Partei gestürzt. Kiesinger
verlor die SPD als Bündnispartnerin, als Brandt sich
mit der FDP auf die erste sozialliberale Koaliton verständigte.
Brandt geriet durch die Guillaume-Affäre
unter Druck und war es leid, von Wehner bekämpft
zu werden. Schmidt? Von der FDP verraten. Kohl:
abgewählt, wie Schröder. Merkel würde zum zweiten
Mal Geschichte schreiben: Erste Frau im Amt. Und
die erste, die es trotz einer starken Position hergibt.
Das Verteidigungsministerium ist für Thomas
de Maizière eine Herzenssache gewesen. Zum Großen
Zapfenstreich im Januar wünschte er sich als Abschiedshymne
„Live is Life“, jenen Popsong aus den
Achtzigern, den er mit seiner Frau und den Kindern
immer wieder hört. Es war eine persönliche Geste zum
Abschied aus jenem Ministerium, das ebenfalls zur Familiengeschichte
gehört, denn de Maizières Vater war
früher Generalinspekteur. Das Musikcorps spielte, die
Fackeln leuchteten. Neben de Maizière stand Ursula
von der Leyen auf dem Podest. Sie wirkte perfekt.
Anfang des Jahres sagte ein Kabinettskollege über
die beiden: „Da laufen sich zwei warm.“ Aber nun
macht der Minister auf einige den Eindruck, die Dinge
bloß wegzuadministrieren. Früher war es ihm wichtig,
nur aufzufallen, wenn es um etwas geht. Heute sinniert
er öffentlich darüber, dass Deutschlands Fußballstars
von den vielen Spielen verschlissen werden. Der Mann,
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Cicero – 7. 2014

der früher Mitarbeiter dadurch gewann, dass er in der
Poststelle seines Ministeriums vorbeischaute, streitet
sich heute mit dem Personalrat herum.
Im Rennen der Minister rennt somit bisher nur
eine. Ursula von der Leyen. Wer soll sie aufhalten?
Illustrationen: Jens Bonnke (Seiten 14 bis 24); Fotos: John Macdougall/AFP/Getty Images, Thorsten Futh/Laif
ANGELA MERKEL NEHME natürlich wahr, dass das Gerangel,
das Schaulaufen begonnen hat, sagt jemand an
einer zentralen Stelle. „Mit Interesse, ein wenig Amüsement
und großer innerer Ruhe.“
Es gibt zwei Szenarien. Die Sofortlösung, etwa
falls die Kanzlerin plötzlich erkrankt. Dann könnte
Wolfgang Schäuble den Laden übernehmen und für
den geordneten Übergang sorgen. Andere sehen auch
dann von der Leyen vorn. Das zweite Szenario ist die
Stunde null in einigen Jahren. In diesem Zusammenhang
fällt ein neuer Name: Annegret Kramp-Karrenbauer,
Ministerpräsidentin des Saarlands.
Was Merkel an ihr beeindruckt? Sie sei zielstrebig,
eigenständig, habe aber eine große Gelassenheit. Das
hat sie immer wieder in den Pausen der Koalitionsverhandlungen
gezeigt. Während alle rumhühnerten,
stellte sie sich zwei Stühle zurecht, legte die Füße hoch
und las ein Buch oder schloss einfach mal die Augen.
Kramp-Karrenbauer ist derzeit Merkels Nummer eins.
Vielleicht ist die Kanzlerin auch so fasziniert vom
Bücheryoga der Saarländerin, weil sie ein Gegengewicht
zur Verteidigungsministerin will. Ein Gegenentwurf
zu von der Leyen ist Kramp-Karrenbauer auf jeden
Fall. Inszenierungen sind ihr ziemlich egal.
Das Saarland ist winzig. Aber Annegret Kramp-Karrenbauer
hat hier schon mal eine Koalition gewechselt
und danach die Wahl gewonnen: 2012 kündigte sie FDP
und Grünen die Jamaika-Koalition. Bei der Neuwahl verbesserte
sie sich sogar und regiert seither mit der SPD. Sie
hat fast anderthalb Jahrzehnte Regierungserfahrung auf
Landesebene und war – schönen Gruß an von der Leyen –
als Deutschlands erste Innenministerin auch schon mal
erste Frau in einem Männerressort.
Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg
haben selbst keine Traumkandidaten.
Ein Comeback von Norbert Röttgen?
Seine katastrophal gescheiterte Spitzenkandidatur
in Nordrhein-Westfalen hat sich eingeprägt.
Volker Kauder aus Baden-Württemberg?
Kennt seine Grenzen, deshalb schätzt Merkel ihn
ja. NRW, Baden-Württemberg und Bouffier könnten
sich auf jemanden aus einem kleineren Landesverband
einigen, der künftig auf sie angewiesen
ist. Doch Julia Klöckner aus Rheinland-Pfalz?
Kramp-Karrenbauer?
Kramp-Karrenbauer wirkt rührig, das gilt als Qualität
für eine Kanzlerkandidatin. „Die Person muss Empathie
ausstrahlen“, sagt ein Mitglied des CDU-Präsidiums.
„Angela Merkel verkörpert dieses Fürsorgliche.
Genau wie Helmut Kohl, er ließ sich anrühren.“
DAVID MCALLISTER
Wurde mit 39 Ministerpräsident von
Niedersachsen, als Nachfolger von Christian
Wulff. 2013 abgewählt. Gerade wechselte
der Deutsch-Schotte, 43, ins EU-Parlament,
wo er sich stabilisieren kann. Baldiges
Jobhopping etwa ins Bundeskabinett wäre
dumm. In der Partei stark verankert. Chef
der Niedersachsen-CDU, Nummer drei unter
den Landesverbänden. Noch nicht wieder fit
genug, um als ernsthafte Option zu gelten
NORBERT RÖTTGEN
Nach Scheitern als Spitzenkandidat in
NRW schasste Merkel ihn als Bundesumweltminister.
Erfahrung: Komm der Sonne nicht
zu nah. Nun Mini-Comeback als Vorsitzender
des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag.
Wird im Juli 49. Die Politik ist schnelllebig,
und starkes Personal ist in der riesigen und
daher mächtigen NRW-CDU rar. Deshalb
nicht von der Langfristliste streichen
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Cicero – 7. 2014

TITEL
Uschi lädt durch
UMFRAGE *
WER WÄRE DER
GEEIGNETSTE
NACHFOLGER VON
ANGELA MERKEL?
40 %
CDU
ANHÄNGER
15 %
14 %
21%
10 %
Außenminister Frank-Walter Steinmeier
halten Männer und Frauen gleichermaßen
für geeignet, Deutschland zu regieren.
Die höchsten Werte hat der SPD-Mann bei
den Rentnern, von denen ihn 46 Prozent als
besten Nachfolger Merkels sehen. Verteidigungsministerin
Ursula von der Leyen ist bei
Frauen, Innenminister Thomas de Maizière bei
Männern beliebter. Mehr Ost- als Westdeutsche
trauen es de Maizière zu, ein guter
Kanzler zu sein. Bei seiner CDU-Kollegin von
der Leyen ist es genau umgekehrt. Sie schneidet
im Westen besser ab. SPD-Chef Sigmar
Gabriel erzielt – obwohl Wirtschaftsminister –
seine schlechtesten Werte bei den Selbständigen.
Nur 3 Prozent der Selbständigen sehen
ihn als geeigneten Merkel-Nachfolger.
32% STEINMEIER
21% VON DER LEYEN
11% GABRIEL
18% DE MAIZIÈRE
18% KEINER DAVON
SPD
ANHÄNGER
STEINMEIER 58%
VON DER LEYEN 8%
GABRIEL 20%
DE MAIZIÈRE 3%
KEINER DAVON 11%
* Forsa-Umfrage, Datenbasis: 1008 Befragte,
Erhebungszeitraum: 2. und 3. Juni 2014
Jemand wird eine Mitgliederbefragung ins Spiel
bringen. Das Parteivolk soll entscheiden, nicht
die Fürsten! Vorstellungsrunden, Regionalkonferenzen,
Fernsehinterviews. Dann würde der
Auftritt zählen. Und Gefühle einfacher Mitglieder.
Von der Leyen werde als jemand erlebt, der Biss
hat und im Vergleich zu Merkel schärfer auftrete, sagt
der Psychologe Stephan Grünewald. „Sie wird deshalb
bewundert, aber sie irritiert auch, weil sie prototypisch
ist für die Dominanz, die die Frauen auch aus Sicht der
Männer in vielen Lebenslagen heute gewonnen haben.“
Grünewald glaubt zu wissen, wie die Deutschen ticken.
Er ist Mitbegründer des Kölner Rheingold Instituts, das
nicht nur Stichworte abfragt, sondern in intensiven Interviews
tiefere Beweggründe auslotet. Sein Bestseller
heißt „Deutschland auf der Couch“.
Grünewalds Diagnose: „Viele Frauen werden mit
ihr in eine Mütterkonkurrenz treten und erleben, dass
Frau von der Leyen das Perfektionsdilemma der modernen
Frau grandios verstärkt hat – sieben Kinder, beruflich
enorm erfolgreich und trotz fortgeschrittenen
Alters noch sehr attraktiv. Das bekommt eine normale
Frau so nicht hin. Frau von der Leyen ist der Beweis
dafür, dass es aber möglich ist.“ Daraus würden ihr
gegenüber unterschwellige Animositäten erwachsen.
Sie wird kämpfen. Perfekt sein. Aktiv. Attraktiv.
Anders. Sie muss aufpassen, sie hat kein Sicherheitsnetz
in der Partei, das sie auffängt. Ein niedersächsischer
Parteifreund, der sie seit Jahren kennt, sagt:
„Alle bewundern sie irgendwie. Aber die allermeisten
würden ihr auch genüsslich beim Sturz zusehen.“
Schon seit der Wiederwahl 2009 hat sie diese
Ruhe erfüllt, die dritte Amtszeit empfand sie
bereits als Nachschlag. Sie muss sich nichts
mehr beweisen. Am 17. Juli wird sie 60 Jahre
alt. 1989 hat sie die Erfahrung gemacht, dass sich alles
ändern kann. Zum Besseren. Das Amt schlaucht.
Die UN brauchen Ende 2016 einen Nachfolger für Generalsekretär
Ban Ki-moon. Aber vielleicht will sie
es sich einfach gut gehen lassen. Seit dem Skiunfall
hat sie abgenommen: Gemüsesticks statt Brötchen.
Sie will nicht werden wie Kohl. Es gibt das Gerücht
von der großen Reise, auf der sie mit ihrem Mann den
amerikanischen Kontinent durchmisst. Und man sieht
sie oder ihren Mann Joachim Sauer manchmal fürs
Abendessen einkaufen, bei Lebensmittel Ullrich. Sie
wirken bescheiden, es sind Momente, in denen man
ahnt: Es gibt ein Leben nach dem Kanzleramt.
CONSTANTIN MAGNIS, Cicero-Reporter, hat sich in
Niedersachsen auf Ursula von der Leyens Spuren begeben.
Eigentlich war nur ein Report über sie in ihrem neuen
Amt geplant. Während der Recherche merkten GEORG
LÖWISCH, ALEXANDER MARGUIER und CHRISTOPH
SCHWENNICKE, wie sehr die Merkel-Nachfolge in der
Union schon Thema ist. THOMAS WIEGOLD, Fachjournalist
für Verteidigungspolitik, brachte seine Expertise ein
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Cicero – 7. 2014

BERLINER REPUBLIK
„ Keiner wird
aus Mitleid gewählt.
Mir geht das Ostgeseiere
auf den Keks “
Martin Dulig, SPD-Spitzenkandidat bei der sächsischen Landtagswahl, verlangt von der
Sozialdemokratie im Osten der Republik ein neues Selbstbewusstsein, Porträt auf Seite 32
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Cicero – 7. 2014

BERLINER REPUBLIK
Porträt
RAUS AUS DEM KANZLERAMT
Als ihr Machtmanager sie verließ, war Merkel traurig. Sein Wechsel zur Bahn empört
viele. Warum geht Ronald Pofalla wirklich? Protokoll einer Laufbahn der Extreme
Von MICHAEL BRÖCKER
Foto: Stefan Thomas Kröger/Laif
Freitag, der 13. Dezember. Ronald
Pofalla sitzt im Büro der Kanzlerin.
Er bleibe dabei. „Ich gehe.“ Raus
aus der Politik. Eine Familie gründen.
Beruflich Neuland betreten. Seine gescheiterten
Ehen führt er an. 2010 hatte
sich Pofallas zweite Frau von ihm getrennt.
Sie sei es leid gewesen, alleine
in der Wohnung auf den viel beschäftigten
CDU-Mann zu warten, heißt es. Nicht
noch mal, ist nun die Botschaft an Angela
Merkel. Eine Umarmung. Beide haben
Tränen in den Augen.
Kündigung im Kanzleramt. Ein freiwilliger
Rückzug von der Macht. Ausgerechnet
Pofalla, der Mann, der seit 2005
so eng mit Merkel arbeitete wie kaum ein
anderer Konservativer. Erst als Generalsekretär,
ab 2009 als Chef des Kanzleramts.
Sie duzen sich, abends trinken sie
ein Glas Barolo zusammen. Kein Wunder,
dass die Kanzlerin Pofalla nicht glauben
will, als er ihr am Sonntag nach der
Wahl von seinem Plan erzählt. Sie übergibt
ihm trotzdem die Steuerungsgruppe
für die Koalitionsverhandlungen. In einem
Gespräch hält sie ihm vor, dass auch
sie „Entbehrungen“ im Privatleben auf
sich nehme. Unverständnis schwingt mit.
Doch Pofalla bleibt bei seinem Entschluss.
Um nicht seine neue Lebensgefährtin
zu verlieren? Wohl auch. Ein Argument
dürfte aber gewesen sein, dass Merkel
einen Tag zuvor Ursula von der Leyen
das Verteidigungsministerium und Thomas
de Maizière das Innenministerium
zugesichert hatte. Das Innenressort hätte
auch Pofalla interessiert. Zu spät.
In Pofallas Kreisvorstand am Niederrhein,
der an jenem Freitag zum Weihnachtsessen
geladen hat, erfahren die
Parteifreunde aus den Medien vom Rückzug
ihres Ehrenvorsitzenden. Der kurz
anwesende Pofalla hatte kein Wort gesagt.
Als die Leute im Kreis Kleve auch
noch hören, dass ihr Mann in Berlin zur
Deutschen Bahn wechseln soll, wird aus
Irritation Empörung. Ausgerechnet der
Staatskonzern? Das riecht nach Kungelei.
Die SPD bringt den Begriff der „Käuflichkeit“
ins Gespräch. Pofalla hat erstmals
im November, erst zwei Monate
nach der Wahl, mit Bahn-Chef Rüdiger
Grube darüber gesprochen. Im Konzern
wird erzählt, Grube habe einen Tipp für
einen neuen Politikvorstand erbeten. Pofalla
findet den Posten selbst gut. Dass
er mehr freie Zeit haben würde als im
Kanzleramt, räumen selbst Bahn-Vorstände
heute ein. Pofalla sagt zu. Man
einigt sich auf einen späteren Wechsel
in die Chefetage.
Das Bundestagsmandat will Pofalla
Ende 2014 abgeben. Seine Heimat wäre
erstmals seit 1949 ohne Vertreter im Parlament.
Einfacher wird es in Kleve für
Pofalla nicht. Vor den Kommunalwahlen
im Mai hat die örtliche CDU bereits auf
Termine mit dem Mann verzichtet, der
die Region lange so prominent vertrat.
JE HÖHER ER STIEG, umso sichtbarer ist
das Dilemma dieses Mannes geworden:
Er rackert für die Partei, beliebt werden
andere. Seine Popularität entwickelt sich
umgekehrt proportional zu der seiner
Chefin. Mit dem inhaltsleeren Wohlfühlwahlkampf
bringt er als Generalsekretär
Schwarz-Gelb 2009 an die Macht. Merkel
hält dies für eine unterschätzte Leistung.
Sie macht ihn zum Chef des Kanzleramts,
zum Koordinator der Regierung.
Der schwarz-gelbe Stolperstart wird ihm
angelastet. Er zofft sich mit Norbert Röttgen
über die Laufzeitverlängerung der
Atomkraftwerke und legt sich mit dem
damaligen Publikumsliebling Karl-Theodor
zu Guttenberg an. Früh sagt Pofalla
dessen Sturz voraus. Und behält recht.
Populärer wird er nicht.
In der Eurokrise ist er rund um die
Uhr gefordert. An einem Samstag fliegt
Pofalla von einer EU-Hauptstadt zur
nächsten und verhandelt mit den Amtskollegen
ein Rettungspaket. Als er nachts
um 1 Uhr wieder in Berlin landet, bittet
Merkel ihn spontan zum Briefing. Im Jahr
2013 hat der Mann an Merkels Seite bis
zur Wahl nur einen einzigen freien Tag:
Ostersonntag.
Vater Fabrikarbeiter, Mutter Putzfrau
– Pofalla hat sich über den zweiten
Bildungsweg nach oben gekämpft.
Mittlere Reife, Fachschule für Sozialpädagogik,
Jura-Studium. Dass er oft
unterschätzt wird, spornt ihn an. Mit
19 Jahren ist er Fraktionschef im Rat seines
Geburtsorts Weeze. Er gewinnt einflussreiche
Freunde. Die Karriere verläuft
steil. Sein Selbstbewusstsein folgt
dem Trend, ein aufbrausendes Naturell
hat er sowieso. 2011 blafft er seinen Parteikollegen
Wolfgang Bosbach an, weil
der ihm zu Merkel-kritisch ist: „Ich kann
deine Fresse nicht mehr sehen.“
Dabei kann der 55-Jährige anders.
Abseits der Politik spricht er reflektiert
über die Eitelkeiten des Betriebs. Wenig
bekannt ist Pofallas Engagement für die
Opposition in Weißrussland, wo sein Vater
als Kriegsgefangener „menschlich anständig“
(Pofalla) behandelt wurde. Seit
kurzem engagiert er sich für die Berliner
Obdachlosen-Initiative Straßenkinder.
Sogar mit dem Rauchen, das er im
Kanzleramt 2009 wieder begonnen hatte,
will er aufhören. Und irgendwann seine
Erlebnisse aufschreiben. Man wird wohl
noch von Pofalla hören. Mag sein, dass
man ihn dann besser versteht.
MICHAEL BRÖCKER ist seit Anfang des
Jahres Chefredakteur der Rheinischen Post in
Düsseldorf. Zuvor beobachtete er als Berlin-
Korrespondent auch Ronald Pofallas Arbeit
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Cicero – 7. 2014

BERLINER REPUBLIK
Porträt
„DA IST ETWAS SCHIEFGELAUFEN“
Als Nachfolgerin von Claudia Roth muss Simone Peter die Grünen vom Image der
Bevormunder befreien. Die neue Parteichefin ist offen für Koalitionen mit der CDU
Von ALEXANDER MARGUIER
Am Abend der Europawahl, kurz
nach Bekanntgabe der ersten
Hochrechnungen, steht Simone
Peter auf einer Empore im Haus der Berliner
Heinrich-Böll-Stiftung und nimmt
den freundlichen Applaus ihrer Parteifreunde
entgegen. Der gilt zwar mehr den
beiden Grünen neben ihr, Rebecca Harms
und Sven Giegold, die als deutsche Spitzenkandidaten
soeben für weitere fünf
Jahre ins Europaparlament gewählt wurden.
Aber Simone Peter weiß natürlich,
dass ein schlechtes Ergebnis auch ihr angelastet
worden wäre. 10,7 Prozent, damit
kann sie jedenfalls gut leben. Ein Minus
zwar von 1,4 Punkten im Vergleich
zu 2009, doch in Anbetracht des überraschend
miserablen Resultats für Bündnis
90/Die Grünen bei der zurückliegenden
Bundestagswahl sind das an diesem
Abend eher gute Nachrichten.
Der Schock der Bundestagswahl sitzt
den Grünen immer noch in den Knochen.
Mit großen Erwartungen waren sie in den
Wahlkampf gestartet – und landeten dann
mit nur 8,4 Prozent auf dem vierten Platz.
Renate Künast und Jürgen Trittin wurden
daraufhin als Fraktionsvorsitzende ausgewechselt,
auch die langjährige Parteichefin
Claudia Roth musste gehen. Und
Simone Peter brachte alle Voraussetzungen
mit, um ihre Nachfolgerin zu werden:
weiblich, eher links – und führungserfahren.
Die 48 Jahre alte Biologin war
nämlich gut zwei Jahre lang Umweltministerin
im Saarland gewesen, bis die Jamaika-Koalition
aus CDU, FDP und Grünen
Anfang 2012 an den indisponierten
Liberalen zerbrach. Beim Parteitag im
vergangenen Oktober wählten knapp
76 Prozent der Delegierten Simone Peter
zur neuen Parteichefin, ihr Co-Vorsitzender
Cem Özdemir bekam mit 71 Prozent
sogar noch weniger Zustimmung. Ein
entschlossener Neustart sieht anders aus.
In Simone Peters Büro nahe der Berliner
Charité hängt noch die Lampe ihrer
Vorgängerin an der Decke: ein moderner
Lüster mit bunten Kristallen daran. Die
farbenfrohe Hinterlassenschaft von Claudia
Roth ist natürlich ein schönes Symbol
für deren schillernde Persönlichkeit,
an der auch die Neue im Amt sich messen
lassen muss. Im Mai ergab eine Umfrage,
dass nur 34 Prozent der Deutschen
wissen, wer Simone Peter überhaupt ist.
„Das finde ich, ehrlich gesagt, gar nicht
so schlecht. Immerhin war ich zu diesem
Zeitpunkt erst wenige Monate Bundesvorsitzende“,
tröstet sie sich. „Aber natürlich
habe ich den Ehrgeiz, diesen Wert
so schnell wie möglich noch weiter zu
steigern.“ Außerdem würden die Grünen
ohnehin mehr über ihre Themen wahrgenommen
als über das Personal.
THEMATISCH HATTEN SICH die Grünen
zuletzt offenbar ein bisschen verrannt.
Im Bundestagswahlkampf blieben vor
allem Stichworte wie Steuererhöhungen
und Veggie-Day hängen; die Partei hatte
plötzlich schwer mit ihrem Image als etatistische
Bevormundungstruppe zu kämpfen.
Simone Peter will das ändern. Künftig
würden wieder mehr die Kernthemen
in den Vordergrund gestellt. Klimapolitik
etwa, die der ehemaligen Leiterin der
Agentur für Erneuerbare Energien besonders
am Herzen liegt: „Uns kommt
es darauf an, dass wir eine der zentralen
Überlebensfragen für die Menschheit
beantworten“, sagt Peter. Deutschland
müsse deshalb wieder Vorreiter in Europa
werden beim Klimaschutz. Stattdessen rudere
die Große Koalition zurück: Weder
gebe es ambitionierte Klimaschutzziele
noch verbindliche Ausbauziele für erneuerbare
Energien und Energieeffizienz.
Seit einiger Zeit werden vermehrt
Stimmen in ihrer Partei laut, die Grünen
sollten das Erbe der FDP antreten. Das
dürfte Peter, die im Saarland keine guten
Erfahrungen mit den Liberalen gemacht
hat, eher Unbehagen bereiten.
Lieber spannt sie den Bogen etwas weiter:
„Ich will meine Partei in ihrem ökologischen,
sozialen und bürgerrechtsorientierten
Kurs stärken“, lautet ihre
Ansage. Aber was bedeutet das konkret?
„Wir können jetzt beim Thema NSA und
Bürgerrechte klarmachen, dass wir unsere
Freiheitsrechte gegen das massenhafte
Ausspähen verteidigen wollen.“
Und der Veggie-Day steht nicht mehr
auf der Agenda? „Es geht uns darum,
die skandalösen Zustände in der Massentierhaltung
zu thematisieren und
für eine andere Agrarpolitik zu werben.
Dass diese Fragen in der Öffentlichkeit
auf den Veggie-Day in Kantinen reduziert
wurden – da ist in der Kommunikation
etwas schiefgelaufen.“
Simone Peter, deren Mutter Sozialdemokratin
und sogar Arbeitsministerin
im Saarland war, hat zur SPD ein deutlich
distanzierteres Verhältnis als etwa Jürgen
Trittin. Mit dem CDU-Ministerpräsidenten
Peter Müller kam sie „besser zurecht
als gedacht“, das habe sie geöffnet,
sich „trotz aller inhaltlichen Konflikte mit
dem Thema Schwarz-Grün auf Bundesebene
zumindest auseinanderzusetzen“.
Peters Plan: „Koalitionstechnisch wollen
wir 2017 besser vorbereitet sein als nach
der letzten Bundestagswahl.“ Deshalb
würde mit allen gesprochen, die als Koalitionspartner
infrage kämen – mit der
SPD, aber auch mit Union und Linkspartei.
Sich auf eine einzige Koalitionsoption
festzulegen wie vor der zurückliegenden
Bundestagswahl, „das soll es jedenfalls in
dieser Form nicht mehr geben“.
ALEXANDER MARGUIER ist stellvertretender
Chefredakteur von Cicero
Foto: Hans Christian Plambeck/laif
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Cicero – 7. 2014

BERLINER REPUBLIK
Porträt
DADDY COOL
Martin Dulig führt in Sachsen die erfolgloseste SPD der Republik in den Wahlkampf.
Aber der sechsfache Vater hat eines gelernt: Schlamassel kann auch glücklich machen
Von GEORG LÖWISCH
Bevor er in sein Politikerleben aufbricht,
holt sich Martin Dulig –
weißes Hemd, dunkle Anzughose,
Pantoffeln – noch einen Becher Kaffee.
Das Zimmer ist vollgestellt, Klavier, Klarinette,
Trompete, mehrere Flöten, eine
Geige, eine Nähmaschine. Aber Frau und
Kinder haben jetzt, um kurz nach neun,
das Haus in Moritzburg bei Dresden
längst verlassen. Alles ruht. Dulig setzt
sich an den Esstisch, es ist der Familientisch
und der Mittelpunkt in seinem Leben.
Der Große schreibt heute Abitur, er
hat eine Klasse wiederholen müssen, aber
danach lief es. Der Vater atmet durch und
trinkt seinen Kaffee.
In fünf Minuten kommt der Fahrer.
Dulig, Chef der SPD im sächsischen
Landtag, hat ein Dienstauto mit bequemen
Sitzen. Und die unbequeme Aufgabe,
den erfolglosesten Landesverband
der SPD in den Wahlkampf zu führen.
Dass er sich, 40 Jahre alt, dieser Aufgabe
gewachsen fühlt, hat mit seinem Leben
zu tun. Als er 15 war, wurde sein
Bruder bei einer Demonstration in Dresden
verhaftet und in das Bautzener Gefängnis
gebracht, das „gelbes Elend“ genannt
wurde. Nur wenige Monate später
erfuhr Martin Dulig, dass eine 18-Jährige
aus dem Nachbarort ein Kind von
ihm erwartet. Zwei schwere Wochen
brauchte er, bis er den Schock verarbeitet
hatte. Mit der Frau ist er inzwischen seit
über 23 Jahren zusammen. Ist die Familie
komplett, sitzen zwei Töchter und vier
Söhne um den Esstisch in Moritzburg.
Dulig hat also erlebt, dass aus einem
Schlamassel etwas Großartiges entstehen
kann. Das ist sein Vorteil. „Wenn man
stark belastet ist, lernt man zu sortieren:
Wichtig, unwichtig, wichtig.“ Sortieren
kann nur, wer gelassen bleibt. Duligs Gelassenheit
ist nicht dickfellig, sondern beobachtend.
Bevor er antwortet, reagiert
erst sein Gesicht. Mal zieht er den linken
Mundwinkel hoch, das wirkt selbstironisch.
Mal kneift er die Augen zusammen,
das wirkt hart.
Die Landtagswahl ist am 31. August.
In Sachsen herrscht die CDU, seit Kurt
Biedenkopf sie nach der Wende zur Königspartei
stilisierte, zurzeit regiert Stanislaw
Tillich. Wer gegen die CDU ist,
wählt gern die Linke. Beide Parteien
brachten aus der DDR ihre alten Strukturen
mit, die SPD hatte keine. Zwischen
CDU und Linke sucht sie ihren Platz,
aber der Spalt ist eng. 1999: 10,7 Prozent,
2002: 9,8 Prozent, 2009: 10,4 Prozent.
RECHTS NEBEN DER AUTOBAHN sind alte
Tagebaukräne zu sehen, Dulig sitzt hinten
im Auto, er hat Termine in Leipzig. Ist
Regierungschef sein Ziel? – Linker Mundwinkel
hoch. „Mein Ziel ist eine starke
SPD.“ – Ganz schön kleinlaut. – Schmale
Augen. „Ich will regieren.“ – Aber unter
Stanislaw Tillich als Ministerpräsidenten!
– Mundwinkel hoch, Mundwikel
runter, schmale Augen. „Das ist ein
Typ, der Konflikten konsequent aus dem
Weg geht. Ecken und Kanten hat er nicht.“
Dulig, Diplompädagoge, bimst den
Sozialdemokraten ein, dass es nicht so
sehr aufs Programm ankommt. Sondern
auf die Haltung zu sich selbst und zum
Land. Bisher hat die SPD geschimpft, wie
ungerecht es in Sachsen zugehe. Aber die
Sachsen, ein stolzes Völkchen, wollen das
nicht hören. Auch die SPD soll stolz auftreten,
verlangt Dulig. Immerhin wurde
die Sozialdemokratie einst in Sachsen begründet.
In der Ost-SPD steckt jedoch der
Schmerz der Bürgerrechtler: Sie kämpften
für die Freiheit, gewählt wurde Kohl.
Dulig ist zwar auch ein Neunundachtziger.
Aber für ihn war 1989 nicht der
Höhe-, sondern ein Anfangspunkt. „Es
gibt eine neue ostdeutsche Generation,
die erfolgreich Politik macht“, sagt er.
„Keiner wird aus Mitleid gewählt. Mir
geht das Ostgeseiere auf den Keks.“
Er redet in Hauptsätzen. Ich bin Sozialdemokrat.
Sachsen ist toll, Leipzig
saucool. Die CDU verwaltet das Land
nur. Wir kümmern uns um die Zukunft.
Das ist banal und begründet noch
keinen Platz im Parteienspektrum. Die
einzige Chance ist der Kandidat, so personalisiert
die SPD wie nie. 15 Prozent
wären ein Erfolg. Und dann? Für Rot-Rot-
Grün fehlt ein Linken-Chef wie Bodo Ramelow
in Thüringen, den die schwächere
SPD getrost zum Regierungschef wählen
könnte. Bliebe die Rolle als CDU-Juniorpartner.
„Meine SPD-Mitglieder sollen
nach der Wahl den Koalitionsvertrag beschließen“,
sagt Dulig. „Sigmar Gabriel
hat einen Standard gesetzt, hinter den
wir in Sachsen nicht zurückfallen wollen.“
„He, Martin!“ In Leipzig fliegt die Tür
zum Zimmer des Polizeipräsidenten auf.
Bernd Merbitz führt Dulig zur Sitzgruppe,
sie wollen über Rechtsextremismus und
Crystal Meth sprechen, sie kennen sich
von der Arbeit gegen rechte Gewalt. Der
Polizeichef ist ein wuchtiger Mann mit
schlauem Blick. Früher SED, heute CDU.
Er hat Macht, aber er weiß, dass die Regierenden
seinen Spielraum bestimmen.
Er schiebt sich die Brille ins Haar, feixt,
scherzt, gluckst, nennt irgendjemanden
„Rollmops“. Dulig fragt nur, notiert, beobachtet.
Wichtig. Unwichtig. Wichtig. Der
Polizist will sich den Raum greifen, aber
Dulig nimmt ihn ein, ganz cool. Er ist der
Chef. Was ist schon so ein Polizeipräsident
gegen sechs Kinder am Tisch?
„Martin“, schmeichelt Merbitz in der
Tür, „das gibt ’ne gute Koalition.“
GEORG LÖWISCH ist Textchef von Cicero.
Leipzig zählt – neben Berlin und Freiburg – zu
seinen Lieblingsstädten in Deutschland
Foto: Christoph Busse für Cicero
32
Cicero – 7. 2014

BERLINER REPUBLIK
Kommentar
STAATS-
MÄNNER
Christian Wulff musste gehen,
Jain und Fitschen, die Chefs
der Deutschen Bank, halten
immer noch Hof. Dabei
beschädigen sie das Land.
Einen guten Nachfolger für
sie gäbe es schon
Von
FRANK A. MEYER
Ja, Christian Wulff musste als Bundespräsident zurücktreten,
obwohl er doch der festen Meinung ist:
„Ich wäre auch heute noch der Richtige im Amt.“
Ja, Christian Wulff hat sich strafrechtlich nichts
zuschulden kommen lassen.
Ja, Christian Wulff ist über Kleinlichkeiten gestolpert,
die Journalisten genüsslich zu der Schlussfolgerung
addierten: Da ist einer zu klein, um Bundespräsident
zu sein.
Ja, Christian Wulff geschah persönlich Unrecht.
Ja, Christian Wulff geschah politisch Recht.
Ja, so ist Politik: Man kann rasch und rabiat vom
Hof gejagt werden.
Ja, Politik ist ein honoriges Metier.
Bei der Deutschen Bank herrschen Jürgen Fitschen
und Anshu Jain. Gemeinsam mit Josef Ackermann,
Imperator von 2002 bis 2012, haben sie die deutsche
Weltbank heruntergewirtschaftet zum zwielichtigen
Geldhaus: verstrickt in Skandale, gejagt von Staatsanwälten
und Privatklägern.
Was aber, wäre die Deutsche Bank eine politische
Institution? Was, wäre Vorstandsvorsitzender
der Deutschen Bank ein politisches Amt? Was, wäre
Banker ein honoriges Metier?
Christian Wulffs Scharfrichter bei Bild haben die
Verantwortlichen der Deutschen Bank in einem nahezu
seitenfüllenden Interview inszeniert: Jürgen Fitschen,
die Arme wie zur Verkündigung ausgebreitet; Anshu
Jain in der Pose von Rodins Denker, die Hand am Kinn.
Überschrieben war das Interview mit einem Zitat
aus dem Plattitüdenpalaver: „Ohne Reformen gibt es
kein Wachstum“.
Ums Vaterland besorgt, liftete Béla Anda, stellvertretender
Chefredakteur von Bild, Fitschen und Jain in
einem Kommentar auf die moralische Ebene eines Joachim
Gauck: „Was der Bundespräsident jetzt sagte, fordern
die Chefs der größten deutschen Bank genauso …“
Das Millionenblatt, das Wulffs Haupt auf den
Block des Henkers gelegt hat, hofiert die zwei Banker,
die es als Politiker längst erledigt hätte.
Ja, so sind sie nun mal, die deutschen Verhältnisse!
Wulff ist ungeeignet als Bundespräsident. Weil er
Deutschlands politische Kultur beschädigt hat.
Fitschen und Jain wird gehuldigt, in den Medien,
auf Verlagsveranstaltungen, auf Elitesymposien. Beschädigen
sie Deutschlands politische Kultur nicht?
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
stand folgender Satz zu lesen: „Dass er im neuen Amt
gefordert ist, nicht nur als Stratege, sondern auch als
Staatsmann, das ahnte Jain – so ist es nun mal üblich
für einen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank.“
Staatsmann Jain! Staatsmann Fitschen!
Was ist die Deutsche Bank in der Welt? Sie ist die
Bank Deutschlands. Sie ist Deutschland. So sehen es
die Menschen in Europa, in den USA, in Asien – je weiter
von den Frankfurter Doppeltürmen entfernt, desto
mehr steht die Deutsche Bank für Deutschland.
Das Deutsche-Bank-Deutschland steckt in tiefster
Krise: Das Ende der Ermittlungen und Prozesse
wegen Libor- und Devisenmanipulation und Kundentäuschung
ist nicht absehbar. Über 1000 Rechtshändel
sollen es sein. Ebenso unabsehbar sind die Kosten dieser
Kalamitäten. Milliarden. Den finanziellen Schaden
kann nicht mal die Deutsche Bank selbst abschätzen.
Die zwei Staatsmänner hoch droben in ihren Regierungstürmen
haben das Geldhaus, das für Deutschland
steht, über Jahre hinweg rechtlich und moralisch
beschädigt: Jain, der Zyniker, Fitschen, der Schönredner.
Ach ja, da gab es auch noch den Dauerlächler, diesen
Schweizer, Ackermann. Er hat sich unterdessen
aus dem Staub gemacht, in die heimischen Berge, wo
die Luft rein ist.
Wie ist das möglich: dass Wulff nicht Staatsmann
sein darf, wegen peinlicher Kinkerlitzchen? Dass Jain
und Fitschen aber als Staatsmänner durch das Land
stolzieren, dessen Ruf als Nation korrekter Kaufleute
sie ramponiert haben?
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators
34
Cicero – 7. 2014

Wieso wurden ihnen all ihre Bubenstücke nicht
zum Verhängnis? Weshalb dürfen sie weiter von
„neuer Kultur“ schwadronieren? Warum dem Land
Lektionen erteilen?
Banker sind Bosse, die ihre horrenden Gehälter
plus Boni mit der Verantwortung begründen, die sie zu
tragen haben. Doch wird eingefordert, dass sie geradestehen
sollen für die Fehler ihrer Bank, dann kommt
ihnen das Wort „Verantwortung“ partout nicht mehr
über die Lippen. Rein rechtlich ist man ja nicht zu belangen,
mithin unschuldig; die wahren Täter sitzen in
den unteren Etagen; weshalb also abtreten?
Wer so leicht davonkommt, die Taschen gefüllt mit
Abermillionen, müsste der Verachtung der Gesellschaft
anheimfallen: ihrer moralischen Ächtung. Stattdessen
halten die zwei Riesen-Staatsmänner weiter Hof.
Wieso hat die redliche Kanzlerin noch nicht zum
Handy gegriffen, um den Geldgesellen mitzuteilen,
dass sie als Gesprächspartner nicht mehr infrage kommen
– ein SMS-Bescheid von Staatsfrau zu Staatsmann
und Staatsmann?
Benötigt nicht der Rechtsstaat Deutschland, benötigt
nicht die Demokratie Deutschland dringend ein
anderes Geld-Deutschland?
Einen Nachfolger für Jain und Fitschen gäbe es.
Er sitzt in der Schweiz: Axel Weber. Derzeit führt der
Deutsche die UBS durch die schweren Wetter einer
Krise, die mit der Krise der Deutschen Bank durchaus
vergleichbar ist – als unbelasteter Kapitän auf neuen
Kurs, ohne dabei sein Gastland zu belehren.
Axel Weber, Verwaltungsratspräsident der UBS,
verkauft seine Pflicht nicht als Kür. Hingabe an die
Aufgabe, das ist seine persönliche Signatur.
Nach dieser Maxime funktionierte Axel Weber
schon als Chef der Deutschen Bundesbank und als Mitglied
des Direktoriums der Europäischen Zentralbank:
Mitten im Finanzcrash, mitten im Shitstorm des Kasinokapitalismus
behielt er die Interessen seines Landes
im Auge – unerschütterlich in erschütterter Zeit.
Ja, Axel Weber ist ein Mann der öffentlichen Interessen.
Er orientiert sich an gesellschaftlichen Werten:
was geht und was nicht geht. Er ist ein Glücksfall
für die UBS, was so viel bedeutet wie: für die Schweiz.
Aus der vor wenigen Jahren noch verluderten und mit
Steuergeldern geretteten Bank will er ein Geldinstitut
errichten, das die Kunden mit Stolz betreten.
Der Staatsdiener ist in der Schweiz Banquier geworden.
Das Gegenteil von Banker.
Banquier für die Deutsche Bank.
FRANK A. MEYER ist Journalist und Gastgeber der
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BERLINER REPUBLIK
Typologie
Sie gerieren sich
als unabhängige Geister.
Ihr Dasein in der
Politik ist ein einziges
Plädoyer: die Anwälte
Hans-Christian Ströbele,
Peter Gauweiler und
Wolfgang Kubicki.
Acht Regeln zu einem
sehr speziellen Typus
Von CHRISTOPH SCHWENNICKE
Graue Partei,
bunter Querulant.
Der Grüne Hans-
Christian Ströbele
( oben​ links ),
Wolfgang Kubicki
von der FDP
( unten links ) und
der CSUler
Peter Gauweiler
DIE QUERULATOREN
36
Cicero – 7. 2014

Illustrationen: Wieslaw Smetek
Es gibt in der deutschen Politik einen
Typus, der bislang noch keinen Namen
hat. Wir nennen ihn ab jetzt
den Querulator.
Drei große Querulatoren hat die
Republik derzeit. Sie heißen Peter Gauweiler,
Hans-Christian Ströbele und
Wolfgang Kubicki. Sie sind zu Hause
in der CSU, bei den Grünen und in der
FDP. Wobei: Zu Hause sein, da fängt es
schon an. Wo ist der Querulator eigentlich
schon zu Hause?
Zunächst einmal bei sich selbst. Der
Querulator erarbeitet sich seinen Platz,
indem er sich als unabhängiger Geist geriert,
der für alles ist, nur möglichst selten
für den Standpunkt seiner Partei. Denn
nur so kann er für sich das maximale
Drehmoment aus dem politischen Motor
herauskitzeln. Er zählt Unionsfreunde zu
Mitgliedern einer „Flaschenmannschaft“,
wie Peter Gauweiler vor den Europawahlen
über die EU-Kommission, der Günther
Oettinger von der CDU angehört.
Er gefährdet vor einem Auslandseinsatz
in Afghanistan die Mehrheit der Regierung,
wie es Hans-Christian Ströbele zu
Zeiten von Rot-Grün getan hat. Oder er
beschimpft öffentlich den Zustand seiner
Partei respektive deren aktuellen Vorsitzenden,
wie es Wolfgang Kubicki über
Jahre getan hat: Otto Graf Lambsdorff
nannte er einen „Vorsitzenden auf Zeit“,
Wolfgang Gerhardt „zwanghaft neurotisch“
und eine „lahme Ente“, die Westerwelle-FDP
sah er auf einem Level mit
der „Spätphase der DDR“, und dessen
Nachfolger Philipp Rösler fand er alsbald
„leider nicht mehr locker“.
Eine Spezialität von Peter Gauweiler
ist es wiederum, vor dem Bundesverfassungsgericht
gegen die Politik der Regierung
zu klagen, wurscht, ob die eigene
Partei daran beteiligt ist. Gegen Lissabon,
gegen den ersten Rettungsschirm EFSF,
gegen den zweiten Rettungsschirm ESM
und gegen den Verfassungsvertrag (die
Klage wurde dann nur wegen Referenden
in anderen Ländern hinfällig).
Versuchen wir, in der derzeitigen
Dreifaltigkeit Gauweiler – Ströbele – Kubicki
ein Muster zu erkennen.
Erstens: Der Querulator ist zunächst
einmal das, was man heute einen alten
weißen Mann nennt. Der alte weiße
Mann kämpft gegen den eigenen Verfall
an. Er verjüngt sich gewissermaßen
durch sein permanent rebellisches Auftreten.
Er ist wie ein alternder Punk. Er
ist der Johnny Rotten der Politik. Er muss
nur aufpassen, dass er dabei nicht irgendwann
zur Karikatur seiner selbst wird.
Ströbele wurde bei der Bundestagswahl
im vergangenen Herbst in seinem eigenen
Kiez in Kreuzberg sein Wahlplakat
verhohnepiepelt: Das Gesicht des
108 Jahre alt gewordenen Schauspielers
Johannes Heesters hatten sie auf Ströbeles
Hals geklebt, um den der unvermeidliche
rote Schal geschlungen war. Obwohl:
Damit war Ströbele natürlich auch wieder
im Gespräch, und das weiß ein Querulator
zu schätzen.
Zweitens: Der Querulator ist meistens
Jurist. In seiner akademischen
Grundausbildung hat er also gelernt,
dass sich jedes noch so feine Haar spalten
lässt. Er hat gelernt, die völlig falsche Sache
zu vertreten, und dem Ganzen einen
märtyrerischen Anstrich zu geben: Einer
muss es ja tun. Darüber hinaus lehrt ihn
das Studium, einen scharfen Verstand
so einzusetzen, dass dieser tut, was er
soll: die Argumente der anderen präzise
einzuschneiden und zu zerteilen. Er hat
darüber hinaus gelernt, seine Causa mit
dem Gestus der ehrlichen Empörung zu
vertreten. Wenn er in der Talkshow sitzt
oder auf dem Parteitag spricht, dann
37
Cicero – 7. 2014

BERLINER REPUBLIK
Typologie
träumt er sich in die Rolle eines jungen
Anwalts, der die Geschworenen von einer
gerechten Sache überzeugt. Sein ganzes
Dasein in der Politik ist folglich ein einziges
Plädoyer – scheinbar für die Sache,
in Wahrheit immer für sich.
Drittens: Der Querulator stellt gern
heraus, dass er ja eigentlich Rechtsanwalt
ist und nur aus purer Bürgerpflicht
nebenbei auch Parlamentarier. Er umgibt
sich gern mit der Aura desjenigen,
der eigentlich einem anständigen Beruf
nachgeht und eine Art Quereinsteiger in
die Politik ist. Die Partei darf im Grunde
froh sein, dass er – bei seinem Stundensatz!!
– kostbare Lebenszeit an sie verschwendet.
Dass Gauweiler schon zu Zeiten
von Franz Josef Strauß in der Politik
war, Ströbele schon zu Zeiten von Petra
Kelly und Kubicki schon zu Zeiten
von Hans-Dietrich Genscher, ist nicht so
wichtig.
Viertens: Der Querulator ist vor allem
in Abwesenheit der anderen mutig.
In Präsidiums- und Fraktionssitzungen
zeigt er sich eher demütig und zahm.
Wenn aber die Mikrofone aufgebaut werden,
wird er zum Helden.
Fünftens: Der Querulator ist ein
Liebling der Medien. Mit ihnen geht er
eine Symbiose ein. Er weiß: Sendezeit
bedeutet Einfluss. Und drei Seiten Interview
am Stück sind ein Zeichen von
Macht. Die Medien wissen: Jedes Interview
mit einem Querulator hat eine hohe
Chance, einen Sprengsatz zu enthalten.
Wenn der explodiert, ist nicht nur der
Ströbele
stimmte gegen
den Krieg in
Afghanistan.
Für sein Nein
mussten
andere Grüne
nachgeben
Name des Querulators in aller Munde,
sondern das Medium gleich mit. Der Autor
weiß, wovon die Rede ist. Das DDR-
Vergleich-Interview mit Kubicki hat er
selbst geführt.
DER QUERULATOR gibt für einen flotten
Spruch alles, aber auch alles dran, zuerst
die Loyalität zu seiner eigenen Partei
und deren Führungsfiguren. Sie spotten
sogar darüber, dass die anderen nicht
so mundschnell sind. Über Frau Homburger
habe er gelesen, dass sie die am wenigsten
bekannte Fraktionsvorsitzende
im Deutschen Bundestag sei, sagte Kubicki
in besagtem DDR-Interview. „Was
mich überhaupt nicht wundert. Auch
ich nehme nichts von ihr wahr. Bei dem,
was sie sagt, scheint es so zu sein, dass
niemand das Bedürfnis hat, das auch zu
transportieren.“
Sechstens: Der Querulator scheut die
Verantwortung. Verantwortung ist so angenehm
für ihn wie für einen Vampir, in
der prallen Sonne Knoblauch zu speisen.
Verantwortung bringt sein ganzes Konzept
zum Scheitern. Niemand kann gegen
alles Falsche und für alles Richtige
schimpfen, wenn er Verantwortung trägt.
Denn dann müsste er Kompromisse herbeiführen,
verschiedene Standpunkte zusammenführen,
für eigene Fehler geradestehen.
Dann könnte er sich nicht wie
seinerzeit Ströbele unter den acht Grünen-Gegnern
der Afghanistaneinsätze
der Bundeswehr vier ausgucken, die
doch mit Ja stimmen müssen, sich selbst
aber ein Nein-Ticket sichern. Nein, die
Übernahme von Verantwortung ist für
den Querulator schon der halbe politische
Tod. Deshalb unterscheidet er sich
auch vom Ehrgeizling. Der Ehrgeizling
profiliert sich schon auch gegen seine
Partei, reibt sich an ihr wie die Wildsau
an der Eiche, rüttelt an Toren und Stäben.
Er will am Ende eine Machtposition
und damit Verantwortung. Der Querulator
will nur eine informelle Macht, ohne
jede Verantwortung, ohne Risiko. Bei allem
mitreden, nicht dafür haften, das ist
das Prinzip des Querulators. Übernimmt
er eine Position an der Spitze der Partei,
wird es gefährlich.
Wolfgang Kubicki hat diesen Todeshauch
jetzt gespürt, als er als verbliebener
Parteivize das fürchterliche FDP-
Ergebnis bei der Europawahl erklären
musste. Keiner war mehr da, dem er die
Schuld geben konnte, auf einmal stand
nur er vor der Kamera. Leider auch nicht
mehr so locker in dem Moment, der Herr
Kubicki, möchte man ihm da in seinen eigenen
Worten attestieren.
Siebtens: Der Querulator schadet seiner
Partei eher als er ihr nützt. Jede Parteiführung
redet sich ein, dass der Querulator
ihr am Ende hilft. Weil er die
innerparteiliche Demokratie am Leben
erhalte, weil er irgendwelche Flügel einbinde.
Weil er ein gern gesehener Gast in
Talkshows ist, ein interessantes, markantes
Gesicht, das die Partei in der öffentlichen
Debatte halte. Graue Partei plus
bunter Querulator gleich bunte Partei.
Das ist Unsinn.
CSU-Chef Horst Seehofer hat es gerade
am Beispiel von Peter Gauweiler erlebt.
Selbst schon mit einer starken querulatorischen
Neigung ausgestattet, hatte
Gauweiler
klagt gern in
Karlsruhe gegen
die Politik, die
seine CSU in
der Regierung
beschließt
Kubicki stänkerte
gegen jeden
Parteichef.
Was tut er bloß,
wenn er selbst
Verantwortung
trägt?
38
Cicero – 7. 2014

Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators; Foto: Andrej Dallmann
er Gauweiler anstelle des in Ungnade gefallenen
Peter Ramsauer auf den Posten
des Parteivizes gehievt. Gauweiler lockte
Seehofer auf den völlig falschen Kurs
bei der Europawahl. Für Europa und zugleich
dagegen: Das war eine Überdehnung
des Alles-in-einem-Prinzips der
CSU, das die Wähler nicht mehr mitgemacht
haben.
Querulatoren verzagen selten, weil
sie ja immer recht haben, jedenfalls
aus ihrer Sicht. Deshalb sagte Gauweiler
nach der Wahl auch, ohne seine Kritik
an der EU wäre die Europawahl womöglich
noch schlechter gelaufen. Aber
er war schon ein wenig niedergeschlagen.
Ihm sei „das Ganze sehr arg“. Ob er 2015
noch einmal als CSU-Vize antreten will,
sagt er nicht. „Das ist jetzt kein Thema.“
Achtens: Der Querulator kann nicht
eingebunden werden. Trotzdem wird es
immer wieder versucht. Der Hintergedanke
ist dabei, dass ihn entweder die
Zwänge mundtot machen oder aber die
Vorzüge des Amtes milde und träge werden
lassen. Letzteres klappt manchmal,
praktiziert mit Ludger Volmer von den
Grünen, den Joschka Fischer als Staatsminister
gewissermaßen unschädlich
machte.
MEISTENS ABER geht es schief, und zwar
für beide Seiten. Der Querulator verliert
sein Markenzeichen, sein Alleinstellungsmerkmal,
und die Partei über kurz
oder lang die Nerven.
Was auch nicht geht, ist, wenn ein geborener
Querulator funktionalisiert wird.
Wie Thilo Sarrazin, den Klaus Wowereit
in Berlin zum Finanzsenator machte, um
eine harte Sparpolitik durchzusetzen.
Sarrazin querulierte so lange und so laut,
dass sogar die SPD irgendwann begriff:
Sie muss ganz leise sein. Dann weiß das
Publikum am Ende gar nicht mehr so genau,
ob Sarrazin überhaupt noch in der
SPD ist. Auszuschließen braucht ihn die
Partei gar nicht, er hat ja kein Amt mehr
und kein Mandat. Das braucht der Querulator
jedoch unbedingt, denn sein Wesen
ist es, aus der Reihe zu tanzen. Allein
tanzt keiner aus der Reihe.
FRAU FRIED FRAGT SICH …
… ob wir unsere Kinder zu egoistischen
Strebern erziehen
Früher war es einfacher, jung zu sein. Da freuten sich Eltern,
wenn ihre Kinder überhaupt einen Schulabschluss machten, bevor
sie in einer Landkommune mit dem Anbau von Marihuana
begannen oder gleich nach Indien aufbrachen. Eine abgeschlossene
Lehre galt als Erfolg, ein Soziologiestudium noch als anerkannter
Ausbildungsweg zum krisenfesten Beruf des Taxifahrers. Irgendwie
hatten alle das Zutrauen, dass über kurz oder lang etwas aus dem
jungen Menschen werden würde, der seinen Weg ins Leben suchte.
Heute ist alles anders. Wer mit Anfang 20 nicht ein Spitzen-Abi,
ein Auslandsjahr, jede Menge Praktika, die Kenntnis von mindestens
drei Fremdsprachen und mörderischen Ehrgeiz hat, kann einpacken.
Junge Erwachsene, die nach der Schule keinen präzisen Plan
ihres beruflichen Werdegangs haben, gelten als Loser, und ihre Eltern
diskutieren in Selbsthilfegruppen am Gartengrill, was sie bei der Erziehung
falsch gemacht haben. Mit 17 Abi, mit 21 Bachelor, mit 23
Master, dann ab ins Berufsleben – dieser absurde Zeitplan wird mehr
und mehr zur Normalität. Wenn’s gut läuft, kommt zwischen Abi und
Studium noch ein soziales Jahr dazu, das ist für viele dann das vorerst
letzte Ausscheren vor der Zielgeraden. Suchen, träumen, ausprobieren,
all das ist nicht mehr vorgesehen.
Gefühlte 90 Prozent der Jugendlichen studieren heute Wirtschaftsfächer.
Erfolgreich zu sein und viel Geld zu verdienen, ist ihnen
das Wichtigste, und das geben sie sogar offen zu. Studien- oder
Ausbildungsgänge, die nicht diesem Ziel dienen, werden mitleidig belächelt.
Als ich kürzlich in größerer Runde erzählte, meine Tochter
wolle soziale Arbeit studieren, fragte eine Dame aus besseren Kreisen
mit gekräuselten Lippen: „Ist das denn dotiert?“ Ob diese Berufswahl
meine Tochter erfüllt, weil sie lieber etwas Sinnstiftendes tun
als viel Geld verdienen will, ob sie etwas für andere Menschen leisten
kann – all das schien der Dame nicht von Interesse.
Mir machen diese stromlinienförmigen, angepassten, super zielstrebigen
Jugendlichen, die mit Anfang 20 wissen, wo sie mit Ende
30 sein wollen und übereifrig die (tatsächlichen oder vermeintlichen)
Erwartungen der Eltern erfüllen, Angst. Denn von denen werden wir
in ein paar Jahren regiert. Und in einem sozialen Klima, das von ihnen
geprägt wird, möchte ich nicht gern alt und hilfsbedürftig sein.
CHRISTOPH SCHWENNICKE
ist Chefredakteur von Cicero
AMELIE FRIED ist Fernsehmoderatorin und Bestsellerautorin.
Für Cicero schreibt sie über Männer, Frauen und was das Leben
sonst an Fragen aufwirft
39
Cicero – 7. 2014

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VOLKSWAGEN E-MOBILITÄT
IDEEN, DIE BEWEGEN
In der Wirtschaft und beim Verkehr ist unendliches Wachstum unmöglich. Es braucht eine
Wachstumsdebatte und Ideen, um die Mobilität der Zukunft zu gestalten.
Schon Ökonom Kenneth E. Boulding
glaubte nicht an ein unendliches
Wachstum in einer endlichen Welt.
Dennoch muss die Wirtschaft wachsen, um
unsere Lebensstandards zu sichern. Gleichzeitig
gefährden wir durch dieses Wachstum
unsere eigene Lebensgrundlage. Verzicht ist
dafür nicht die Lösung. Es braucht Ideen,
die bewegen. Ideen, die unsere Wirtschaft,
Politik und Gesellschaft weiterbringen. Der
Volkswagen Konzern bietet solche Ideen,
und zwar in allen Technologiefeldern und
zeigt damit eine neue Bandbreite an «grüner»
Mobilität auf. Und mit alleine 54 Modellvarianten
mit einem CO 2
-Ausstoss von
weniger als 100 g/km bietet Volkswagen
die grösste Effizienzflotte der Welt.
Die Speerspitze der Innovationskraft im
Volkswagen Konzern wird aktuell durch den
einzigartigen XL1*, das erste Ein-Liter-Auto
der Welt, dargestellt. Der aufregende Diesel-Plug-In-Hybrid
mit Karbon-Monocoque
setzt bei Leichtbau (795 kg Gesamtgewicht),
Aerodynamik (cW-Bestwert von 0,189) und
Effizienz (0,9 l/100 km im NEFZ) neue Mass -
stäbe. Aber nicht nur die Technik des sparsamen
Zweisitzers überzeugt, sondern auch
seine Optik. Daher gilt der XL1 nicht nur als
das aerodynamischste Serienfahrzeug der
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Wollen Sie wissen, wie viel Sie sparen
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Welt, sondern bereits heute als Design-
Ikone und ist als solche noch bis zum 25.
August im Design Museum in London zu
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Volkswagen arbeitet jedoch nicht nur an
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mit Hochdruck an innovativen und zukunftsweisenden
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Bes tes Beispiel hierfür ist der dieses Jahr
seinen 40. Geburtstag feiernde Dauerbrenner
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haben sich die Erwartungen der Menschen
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doch der Golf hält mit diesem Wandel
Schritt. Und nun ist die Zeit reif für den
e-Golf**. 85 kW (115 PS) und 270 Nm verhelfen
dem e-Golf zu unglaublicher Dyna -
mik. Er hält beim Ampelstart sogar mit sportlichen
Modellen mit und selbst auf der Autobahn
ist man flott (0–100 km/h in 10,4 s;
Spitze 140 km/h) und erst noch flüsterleise
unterwegs. Auch beim Fahrverhalten zeigt
sich der Volkswagen trotz 318 Kilogramm
Lithium-Ionen-Akkus an Bord markentypisch
souverän und komfortabel. Der Golf bleibt
eben auch als e-Golf ein echter Golf und
weiss zu überzeugen. Und er komplettiert
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Leistung. Das Einzige, was fehlt, sind Emissionen. Und natürlich Tankstellenbesuche. Testen
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Weitere Fahrzeuginformationen.
* Kraftstoffverbrauch in l/100 km: kombiniert 0,9, Stromverbrauch in kWh/100 km: kombiniert 7,2, CO 2 -Emissionen in g/km: kombiniert 21.
** Stromverbrauch in kWh/100 km: kombiniert 12,7, CO 2 -Emissionen in g/km: 0. Abbildung zeigt Sonderausstattung gegen Mehrpreis.

BERLINER REPUBLIK
Reportage
SUCH, ARTUS!
42
Cicero – 7. 2014

Fotos: Martin Jehnichen/DER SPIEGEL (2), Corbis
Häftlinge mit eingeschmuggelten Handys sind ein Problem. Sie sind
gewitzt darin, sie im Gefängnis zu verstecken. Dumm für sie, dass
es Artus gibt. Der Suchhund kann Mobiltelefone riechen
Von KAROLINE KUHLA
43
Cicero – 7. 2014

BERLINER REPUBLIK
Reportage
Auf Kommando rast Artus in die
Gefängniszelle. „Los! Such!“, hat
ihm der Beamte zugerufen, und
der belgische Schäferhund von vier Jahren
sucht. Er schnüffelt, bis zu 300 Mal
die Minute atmet er ein und aus, im
Wechsel rechts, links, rechts, links, so
erschnuppert er die Richtung. Zügig arbeitet
sich Artus durch die Zelle, nur das
Schnüffeln ist zu hören, permanent wedelt
er mit dem Schwanz. Dann, plötzlich,
scheint er etwas entdeckt zu haben.
Er riecht noch einmal – und friert ein.
Seine Muskeln erstarren. Er wedelt nicht
mehr. Die Ohren sind wachsam aufgerichtet.
Nase, Augen und Haltung konzentrieren
sich auf einen Plastikkorb.
Würde seine Brust sich nicht heben und
senken, man hielte ihn für ausgestopft.
Erst ein Signal vom anderen Ende
der Zelle löst den Bann: Artus stürmt auf
Jörg Siebert zu, springt mehrfach an ihm
hoch. „Gut gemacht“, lobt der Hundeführer,
„bist der Beste, Archie“, und überlässt
ihm zur Belohnung einen grünen
Kautschukball. Dann holt Siebert den
von ihm versteckten Gegenstand aus dem
Plastikkorb: ein Handy.
Hund. Herrchen. Handy? Artus
und sein Hundeführer Jörg
Siebert, Justizvollzugsanstalt
Zeithain, Sachsen
Im Mai hauten
zwei Häftlinge
in Berlin ab.
Sie sollen den
Ausbruch mit
einem Handy
geplant haben
Seit gut einem Jahr stören der Diensthundeführer
Jörg Siebert und sein Spürhund
Artus Häftlinge, hier in der sächsischen
Justizvollzugsanstalt Zeithain und
in anderen Gefängnissen des Freistaats.
Denn Artus kann etwas, worauf kein anderer
Hund in Deutschland trainiert ist:
Er riecht Handys.
„Wir sind hier der Staatsfeind Nummer
eins“, sagt Siebert, als er mit Artus
an der Leine über den Gefängnishof läuft.
Diese JVA ist ihr Revier: Siebert macht
das mit seinem breitbeinigen Gang deutlich;
Artus, indem er in jeder Ecke auf
dem Hof sein Bein hebt.
Bundesweit sind Mobiltelefone in
Justizvollzugsanstalten den Häftlingen
verboten. Dennoch werden aus Gefängnissen
heraus Zeugen erpresst, Geständnisse
erzwungen, illegale Geschäfte
gemacht. So soll auch den beiden Häftlingen,
denen Mitte Mai die Flucht aus der
JVA Moabit in Berlin gelang, ein Handy
bei der Planung ihres Ausbruchs geholfen
haben.
Handys werden in die Gefängnisse
eingeschmuggelt, über die Mauer geworfen
und von Häftling zu Häftling
Foto: Martin Jehnichen/DER SPIEGEL
44
Cicero – 7. 2014

In Deutschland leben ca. 600.000 junge Witwen
und Witwer. Fast 1 Million Kinder müssen den
schmerzhaften Verlust eines Elternteils erleben.
Die Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit
einem professionellen und umfassenden Hilfsangebot
Betroffene in dieser schwierigen Lebenssitu-
Design: Marco Weißenberg | Konzeptlabor
ation zu begleiten. Einen Schwerpunkt legen
wir in die Betreuung trauernder Kinder und Jugendlicher
mit dem Projekt, das uns besonders
am Herzen liegt: der Online-Beratungsstelle
YoungWings.
Jetzt spenden
und helfen!
www.nicolaidis-stiftung.de
www.youngwings.de

BERLINER REPUBLIK
Reportage
weitergereicht. Ein lukratives Geschäft,
denn für ein Mobiltelefon wird hinter
Gittern 20- bis 60-mal so viel gezahlt
wie draußen.
IN ALLEN ANSTALTEN kontrollieren Mitarbeiter
die Besucher, die Post und die
Fahrzeuge der Lieferanten. Auch Werkstätten,
Aufenthaltsräume und Zellen
der Häftlinge durchsuchen sie regelmäßig.
Mit „Mobilfindern“ oder „Handydetektoren“
werden in vielen Gefängnissen
Signale abgefangen und so Handys geortet.
Doch die Detektoren erkennen ein
Handy nur, wenn es eingeschaltet ist. Das
wissen die Häftlinge mittlerweile.
Die Gefahr, die von Artus ausgeht,
können die Gefängnisinsassen hingegen
bisher nicht einschätzen. „Wenn es nicht
so eine ernste Sache wäre“, sagt Hundeführer
Siebert, „könnte man das Katzund-Maus-Spiel
fast lustig finden.“
Kurz nachdem Artus damit anfgefangen
hatte, durch die Zellen zu wirbeln,
kam das Gerücht auf, der Hund könne
nur ein ganzes Handy oder nur den Akku
riechen. Also haben die Häftlinge ihre
Mobiltelefone auseinandergenommen.
„Gut gemacht“, lobt Jörg Siebert
seinen Hund. Ist er fündig,
bekommt Artus zur Belohnung
seinen Lieblingsball
Schale, Akku und Display versteckten
sie getrennt. Für Artus kein Problem:
Auch die in die Erde eines Blumentopfs
gestopfte einzelne SIM-Karte entging seiner
Nase nicht. Sogar wenn das Handy
nicht mehr in der Zelle ist, aber vor kurzem
noch da war, zeigt Artus das an.
Seine Nase leistet fünf Millionen Mal
mehr als die eines Menschen.
Auf Handys trainiert wurde Artus in
der Diensthundeschule der sächsischen
Polizei. Für Sachsen war es ein Experiment.
Jörg Siebert hat Artus zusammen
mit seinem Kollegen Matthias Richter
ausgebildet. Sie hatten von Hunden in
den USA und Großbritannien gehört, die
Handys aufspüren können. Beim Training
sind sie ähnlich vorgegangen wie
bei Drogenspürhunden: Zunächst wird
das Lieblingsspielzeug versteckt, damit
der Hund es sucht. Dann wird das Spielzeug
zusammen mit dem zu suchenden
Stoff versteckt – in Artus’ Fall
mit einem Handy. So fing der
Hund an, das Spielzeug mit
dem Handygeruch zu assoziieren.
Schließlich versteckten
die Hundeführer nur noch das
Handy. Wenn Artus es fand,
wurde er mit dem Kautschukball
belohnt.
Außerdem hat Artus gelernt,
passiv zu verweisen. Normalerweise
heißt das, der Hund
bellt nicht oder kratzt mit der
Pfote, sondern setzt sich hin,
wenn er etwas gefunden hat.
„Aber Artus sitzt nicht gern“,
sagt Richter. Stattdessen erstarrt
er nun jedes Mal, wenn
er fündig geworden ist.
Für eine Zelle, die zwei Beamte in
einer Stunde gründlich durchsuchen,
braucht Artus nur ein paar Minuten.
21 Mobiltelefone haben Siebert und Artus
auf diese Weise in den vergangenen
zwölf Monaten aufgespürt. Häftlingen,
die auf diese Weise gegen die Hausordnung
verstoßen haben, drohen Sanktionen:
Ihnen wird der Hafturlaub gestrichen,
sie können ihren Besuch nur noch
durch eine Trennscheibe sehen oder werden
von Gemeinschaftsveranstaltungen
ausgeschlossen.
Andere Bundesländer konzentrieren
sich darauf, Handys unschädlich zu machen.
Störsender sollen verhindern, dass
Fotos: Martin Jehnichen/DER SPIEGEL, Enno Schramm (Autorin)
46
Cicero – 7. 2014

auf dem jeweiligen JVA-Gelände überhaupt
eine Mobilfunkverbindung hergestellt
werden kann. So wurde im Sommer
2009 in Baden-Württemberg mit
den 500 Haftplätzen der neuen JVA Offenburg
auch ein Mobilfunkblocker für
eine Million Euro in Betrieb genommen.
Bis heute sei nur ein einziges Handy gefunden
worden, erklärt die Anstaltsleitung
in Offenburg. Der Gefangene habe
glaubhaft angegeben, damit nur Musik
zu hören und Bilder anzugucken. „Die
Telefonkarte war jedenfalls leer und das
Handy ausgeschaltet.“
EIN ÜBERZEUGENDES ERGEBNIS. Vor allem,
wenn man es mit den Handyfunden
in Gefängnissen ähnlicher Größe vergleicht.
So wurden im selben Zeitraum in
den Hamburger Gefängnissen Fuhlsbüttel
und Billwerder 80 beziehungsweise
74 Mobiltelefone beschlagnahmt.
In Baden-Württemberg setzen bereits
zwei Gefängnisse auf Störsender, in
Berlin und Bayern laufen Pilotprojekte,
in Brandenburg ist ein Testlauf geplant,
210x141_FashionWeek_14_Juli_RZ.pdf 1 04.06.2014 11:50:35
in Thüringen und Sachsen existiert immerhin
eine gesetzliche Grundlage für
Mobilfunkblocker. Doch abgesehen von
hohen Kosten gibt es ein weiteres Problem:
Die Störung der Handyverbindung
endet nicht immer an den Gefängnismauern.
Verursacht ein Mobilfunkblocker
außerhalb eines JVA-Geländes eine
Störung, könne er nicht in Betrieb genommen
werden, bestätigt die dafür zuständige
Bundesnetzagentur. „Für die
JVA Burg bei Magdeburg mussten wir
den Plan eines Störsenders wieder verwerfen“,
sagt eine Sprecherin des Justizministeriums
in Sachsen-Anhalt. „Die
Sorge, dass dadurch ein Funkloch auf
der Autobahn A2 zwischen Berlin und
Magdeburg entsteht, war zu groß.“ Gleiches
gilt für Haftanstalten, die in dicht
besiedelten Gebieten liegen. Die Störsender
lassen sich eben nicht auf den Meter
genau ausrichten, und Anwohner würden
vermutlich auf ihr Recht pochen, zu
Hause ihr Handy zu benutzen.
Wo die Technik versagt, hilft das Tier.
Im Gegensatz zu ungenauen Störsendern
ist Artus’ Hundenase sehr präzise. Als
belgischer Schäferhund vom Typ Malinois
ist er für solche Einsätze perfekt geeignet:
„Er ist klein und kompakt, hat
eine hohe Suchkondition und einen enormen
Beutetrieb“, sagt Siebert.
Acht Jahre ist ein Spürhund im
Durchschnitt im Dienst. Artus wohnt bei
Jörg Siebert, Tag und Nacht sind die beiden
zusammen, so kann der Hundeführer
auf seinen Hund achtgeben. Denn Handys
zu erschnüffeln, erfordert von Artus
eine höhere Nasenleistung als Rauschgift
oder Sprengstoff. Das Duftfeld ist bei Lithium-Akkus,
Plastikschalen und Display
viel kleiner als bei Drogen. „Darum muss
ich bei Artus aufpassen, dass er sich nicht
verausgabt“, sagt Siebert. Nach einer halben
Stunde Einsatz brauche der Hund
eine Pause, nachmittags und abends noch
jeweils eine Stunde Sport.
KAROLINE KUHLA, Autorin in
Hamburg, war beim Treffen mit
Artus zum ersten Mal in einem
Gefängnis
Anzeige

BERLINER REPUBLIK
Zwischenruf
NEIN, NEIN, NOCHMALS NEIN
Von KARL KARDINAL LEHMANN
Die irische Heimathistorikerin Catherine Corless hat unlängst
nach mühsamen Forschungen herausbekommen,
dass in der westirischen Ortschaft Tuam die Spuren eines
Massengrabs Schauerliches an den Tag brachten: Zwischen
1925 und 1961 wurden 796 Kinder, zum größten Teil Säuglinge,
nach ihrem Tod – offenbar durch Unterernährung und durchaus
heilbare Krankheiten – weitgehend anonym verscharrt. Ihre
Mütter galten als „gefallene Mädchen“. Sie waren als unverheiratete
Frauen wegen einer Schwangerschaft
aus der Gesellschaft ausgestoßen
worden. Zwei Dinge erregten
mit Recht die Menschen in aller
Welt: die unmenschliche Art des
Umgangs mit den Kindern, solange
sie lebten, und der Umgang mit den
toten Kindern, die am Ort ihrer Bestattung
nicht mit der Erinnerung an
ihre Namen und ihre Lebenszeiten
gewürdigt wurden.
Wieder Irland. Nach den Skandalen
um den sexuellen Missbrauch
von Kindern durch Pfarrer und Ordensangehörige
hört die Welt von
dieser unglaublichen Unmenschlichkeit
und Gräueltat. Dabei galt Irland
für viele Katholiken als ein in vieler
Hinsicht vorbildliches Land. Ordensfrauen
der „Guten Hilfe“ hatten
das St. Marien-Heim für Mütter und
Babys betrieben. Wie konnte das
Land – offenbar nicht nur in Tuam –
so tief sinken? Dass es in Irland über zehn solcher Heime gab,
darunter ein protestantisches, zeigt die moralische Verwüstung,
aber auch den Abgrund einer perversen Einstellung zum Leben
der Kinder und ihrer unverheirateten, meist jungen Mütter.
Man hatte das Massengrab früher entdeckt. Die Akten des
vor mehr als 50 Jahren geschlossenen Heimes kamen 1961 an
die kommunale Verwaltung. Lange wollte keiner mehr wissen.
Nein, da gibt es nicht irgendeine Entschuldigung. Dies alles
kann auch nur erklärt werden mit einer zutiefst unsensiblen
Kultur des Vergessens und Verdrängens. Betroffen sind nicht
nur die unglückseligen Schwestern in ihrer fehlenden Sensibilität.
Sie waren gewiss überfordert mit den schwangeren jungen
Frauen, aber vermutlich machte sie eine erschreckende
Einstellung zur Sexualität und Zeugung so gefühllos. Überdies
wurden Tausende von der Gesellschaft ausgestoßener Frauen
jahrzehntelang in den „Magdalenen-Wäschereien“ wie Sklavinnen
gehalten. Es wird nicht besser, wenn man weiß, dass
der Staat über die Heime und Wäschereien die Aufsicht hatte.
Nein, da gibt es nicht das Geringste zu beschönigen oder
zu verschweigen. Was ist mit einer solchen Gesellschaft los?
Was ging nicht nur bei den beteiligten Nonnen, sondern auch
in den Köpfen der Väter der gezeugten Kinder und der Eltern
vor sich, die ihre Töchter aus der Familie warfen und in das
Heim brachten? Da geht es nicht nur
um die unmittelbar Beteiligten, sondern
um die schwarze Wolke eines
durch und durch schuld- und sündhaften
Umgangs mit der menschlichen
Kreatur, mit unseresgleichen.
Es ist nicht leicht, in einer solchen
Situation Worte zu finden. Es wird
noch schwieriger für alle, die sich
in der Kirche für die Förderung des
menschlichen Lebens einsetzen und
sich dem Wohl und Heil gerade der
Kinder verschrieben haben. Dennoch
will ich nicht schweigen über
das, was auch bei uns tadelnswert
ist. Auch bei uns wurden noch durch
die ganze Neuzeit hindurch schwangere
unverheiratete Frauen zum Verheimlichen
ihrer Schwangerschaft
und oft zur Abtreibung gezwungen.
Auch in unseren Heimen stand
nicht immer alles zum Besten. Und
was geschieht heute oft mit den abgetriebenen
menschlichen Überresten ungeborener Kinder, die
ja Schutz verdienen und menschliche Würde beanspruchen?
Ich kenne durch Gespräche mit Krankenschwestern, die
entgegen allen gesetzlichen Bestimmungen faktisch doch zur
Assistenz bei Abtreibungen bereit sein mussten und die bei mir
in ihrer Not Hilfe suchten, den abschätzigen Umgang mit ungeborenem
Leben nach dem Tod. Wer redet bei uns über solche
Unmenschlichkeiten? Ich denke etwa an die Behälter mit
abgetriebenen Föten für die kosmetische Industrie.
Nein und nochmals Nein, da gibt es nur tiefe Klage wie
in der Bibel über die unschuldigen Kinder von Bethlehem und
mit allen Konsequenzen Umkehr zum Leben.
KARL KARDINAL LEHMANN ist Bischof von Mainz. Von 1987 bis
2008 war er Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz
Da gibt es keine Entschuldigung, nur tiefe Klage: Das irische
Massengrab für 796 Kinder bezeugt eine Kultur des Verdrängens
Foto: Picture Alliance/DPA
48
Cicero – 7. 2014

VSF&P
UNG
GERN
© Foto Schmidt: Paul Ripke, © Foto Käßmann: Monika Lawrenz, © Foto Schäuble: Ilja C. Hendel/BMF, © Foto Gabriel: Dominik Butzmann
A
Das Cicero-Foyergespräch
Sechs Mal im Jahr laden wir prägende Persönlichkeiten
aus Politik und Kultur zur kurzweiligen
Debatte ein. Freuen Sie sich jetzt schon auf den
nächsten Stargast im Gespräch mit Chefredakteur
Christoph Schwennicke und Cicero-Kolumnist
Frank A. Meyer.
Nächster Termin:
Mittwoch, 27. August
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BERLINER REPUBLIK
Fotoessay
WAS
ÜBRIG
BLIEB
Der Arbeiter- und Bauernstaat baute sich ein
Musterdorf: Mestlin in Mecklenburg. 25 Jahre
nach dem Mauerfall hat sich die Fotografin
Bettina Flitner dort eingemietet. Ihre Frage an
die Einwohner: Was war die DDR?
50
Cicero – 7. 2014

»
Mein Großvater war ein großer
Kommunist. Ich aber war schon nicht
mehr in der Partei … Hier auf dem
Schulhof gab es jeden Mittwoch
Fahnenappell. „Pioniere, seid bereit!“,
rief der Pionier leiter. „Immer bereit!“,
antworteten wir
MANUELA SZTOB, 50, SCHÄFTEBAUER
«

»
Es gab keine Autos, nur Pferde und Kutschen.
Aber die Leute waren freier, hat
mein Opa gesagt. Und alles war billiger
KEVIN, 17
«

»
Die hatten andere Klamotten,
andere Musik. Die haben auf
engstem Raum gewohnt.
Und mussten sogar ihre Haare
selber schneiden
ALINA, 13
«

»
Mit 18 bin ich in die Partei
eingetreten.
Mein Großvater erfuhr es
aus der Zeitung und hat
geschimpft. Später bin ich
Parteisekretär geworden.
Rote Socke, wie man so
sagt. Mein Mann hat sich
immer geweigert. Dem war
das zu viel leeres Gerede
RENATE FRANK, 64,
GESCHICHTSLEHRERIN
«

»
Da war was mit einer
Mauer … Die DDR war abgetrennt
von Deutschland.
Und im Westen gab es
Bananen und Schokolade
JOHANNA, 14
«

»
Die DDR: Alt. Alte Kleidung, alte Autos,
alte Frisuren. Und alte Filme in Schwarz-Weiß.
Mit so ’ner blonden DDR-Schauspielerin.
Marilyn Monroe hieß die
LIZA, 16
«

BERLINER REPUBLIK
Fotoessay
»
Früher war alles einfacher. Wir
hatten alle Arbeit, und am Ende
des Jahres musste man nur den
SV-Ausweis abgeben, da wurden
dann die Löhne eingetragen.
Heute muss man um alles kämpfen.
Aber ich bin kein Kämpfer
MARTIN PISCHEL, 57, SCHLOSSER
«
Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall
wird man als Deutscher im Ausland gefragt, ob
die Unterschiede zwischen Ost und West noch
sichtbar sind, und wie sie sich äußern, in der Hauptstadt,
auf dem Land, durch die Menschen.
Dieser Frage hat Bettina Flitner an einem Ort
nachgespürt, auf dem einmal große Hoffnungen lagen,
da er prototypisch werden sollte für den Arbeiter-
und Bauernstaat: Das kleine Mestlin bei Schwerin
war das erste und einzige sozialistische Musterdorf
der DDR, das zwischen 1952 und 1957 erbaut wurde.
Errichtet wurde ein Dorf mit städtischer Infrastruktur:
Kulturhaus, Konsum, Schule, Krankenhaus
und Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft –
180 solcher Vorzeigedörfer sollten ursprünglich in der
DDR entstehen, Zentren sozialistischen Lebens werden.
Doch die Pläne wurden verworfen. Heute kümmert
sich der Verein Denkmal Kultur Mestlin um einzelne
Gebäude und ihre Relikte.
„Ein Freund hatte mir davon erzählt“, sagt die Fotografin,
die selbst aus dem Westen stammt, und die
früh damit begann, die Auswirkungen des Mauerfalls
zu dokumentieren: „1989/90 bin ich monatelang im
Niemandsland des Grenzstreifens von Berlin herumgestreunt
und habe die Menschen, die ich dort zufällig
angetroffen habe, gefragt, was sie jetzt fühlen.“ Heraus
kam ihre Arbeit „Reportage aus dem Niemandsland“.
Auch in den Bildern vom Musterdorf Mestlin
geht es vor allem um die Menschen. Für einige Wochen
ist die Fotografin in eine Mestliner Musterwohnung
gezogen. Sie hat sich mit den Einwohnern auseinandergesetzt,
hat zugehört und schließlich Porträts
aufgenommen.
Die Menschen auf Flitners Bildern, jung und alt,
stehen vor Kulissen, die aussehen, als könnten sie
sich nicht entscheiden, ob sie zerfallen oder stehen
bleiben wollen. Dennoch wirken die Porträtierten in
den Szenerien nicht fremd, sie entsprechen nicht dem
Anachronismus, den man nach einem Vierteljahrhundert
erwarten würde. Die Fotografin stellte jedem die
Frage: Was war die DDR für Sie? LENA BERGMANN
Das „DDR Musterdorf Mestlin“ ist Teil einer Gesamtausstellung
von Bettina Flitner, die ab Januar 2015 in der
Galerie Horbach, Köln zu sehen sein wird
Fotos: Bettina Flitner/Laif (Seiten 50 bis 58)
58
Cicero – 7. 2014

WELTBÜHNE
„ Die Angst muss man
sich abgewöhnen “
Angela Kane, die deutsche UN-Beauftragte für Abrüstung, reagiert eher
nüchtern auf die Gefahren ihres Jobs, ab Seite 68
59
Cicero – 7. 2014

WELTBÜHNE
Porträt
TÖTEN IST SEIN HANDWERK
Abubakar Shekaus Stimme ist eine Mischung aus Osama bin Laden und Adolf Hitler.
Mit irrem Blick verkündet der Boko-Haram-Chef den Krieg gegen die Christen
Von JOHANNES DIETERICH
Illustration: Felix Gephart für Cicero
Gibt es ihn noch? Oder handelt
es sich um ein Double? Dreimal
schon haben Nigerias Sicherheitskräfte
in den vergangenen Jahren den Tod
des Kopfes der extremistischen Boko-Haram-Sekte
gemeldet. Nur um sich stets mit
einem neuen Video des meistgesuchten
Mannes Afrikas konfrontiert zu sehen.
Einstige Bekannte bezweifeln, dass der
bärtige Kämpfer mit dem wirren Blick tatsächlich
jener Abu bakar Shekau ist, den
sie aus früheren Jahren kennen. Für amerikanische
Geheimdienstler besteht daran
jedoch kein Zweifel.
Tatsächlich gebärdet sich der Sektenführer
auf jedem Video in bekanntem Stil:
Er fuchtelt wild, verzieht sein Gesicht zu
grinsenden Grimassen und schreit gelegentlich
mit gepresster Stimme, die wie
eine Mischung aus Osama bin Laden und
Adolf Hitler klingt. Keine Frage: Dieser
Mann ist echt. Viel zu echt für mehr als
5000 Menschen, die Shekaus „Heiligem
Krieg“ bereits zum Opfer fielen.
Auf seinem jüngsten Video präsentiert
sich der Sektenführer vor einem erbeuteten
nigerianischen Panzerwagen. Er
verstehe nicht, warum die Welt ein solches
Aufheben um die Entführung von
300 Mädchen mache, die von „westlicher
Erziehung“ versaut seien, sagt Shekau
und grinst: „Ich werde sie verkaufen. Es
gibt hier einen Markt für sie.“ Die Zeit sei
gekommen, da jede Nation eine Entscheidung
treffen müsse, fährt er fuchtelnd fort:
„Entweder für uns wahre Muslime. Oder
für Obama, George Bush, Clinton und –
nicht zu vergessen – Abraham Lincoln …“
Schließlich schreit er: „Tötet. Tötet. Tötet.
Dies ist ein Krieg gegen die Christen.“
Einen „verrückteren“ Rebellenchef
habe es nicht gegeben, sagt ein nigerianischer
Vermittler, der Shekau persönlich
kennt. Der Sektenführer hält außer Nigeria
auch die Twitter-Welt in Atem: Mit
bis zu einer halben Million Botschaften
pro Tag ist #BringBackOurGirls eine der
umfangreichsten Kampagnen in der Geschichte
des sozialen Netzwerks. Dass
Shekaus Kämpfer mehr als 300 Abiturientinnen
aus dem nordostnigerianischen
Städtchen Chibok entführt haben, war
der vorläufige Höhepunkt wachsender
Gewalt, die vor fünf Jahren begonnen
hat – und seit dem spektakulären Entführungsfall
weiter eskaliert. Inzwischen
vergeht kein Tag, ohne dass die religiösen
Fanatiker nicht irgendwo zuschlagen: Sie
überfallen Dörfer, jagen Dutzende von
Passanten mit Autobomben in die Luft
und massakrieren Schüler. Schlimmer
ging es in dem mit etwa 170 Millionen
Einwohnern bevölkerungsreichsten Staat
Afrikas seit dem Biafra-Krieg in den sechziger
Jahren nicht mehr zu.
VIEL IST VON ABUBAKAR SHEKAU nicht
bekannt, nicht einmal sein genaues Alter.
Manche schätzen ihn auf 38, andere
auf 45 Jahre. Geboren wurde er in einem
an der Grenze zum Niger gelegenen Dorf
im Bundesstaat Yobe. Sein Vater brachte
den noch nicht einmal acht Jahre alten
Jungen zur Ausbildung zu einem Mallam,
einem islamischen Gelehrten, in die Provinzhauptstadt
Maiduguri. Dort besuchte
ihn seine Familie während der elf Lehrjahre
kein einziges Mal.
Abubakar habe sich zum „größten
Störenfried“ unter den Koranschülern
entwickelt, berichtet der Sohn des Gelehrten,
Baba Fanani. Der Junge sei so
aggressiv geworden, dass ihn sein Vater
schließlich vor die Tür gesetzt habe. Den
Zorn des von seiner Familie Verstoßenen
hat das nur noch angeheizt. „Ich genieße
es, Menschen zu töten, die Allah mich zu
töten heißt“, wird er später in einem Video
sagen, „wie ich es genieße, Ziegen
oder Hühner zu schlachten.“
In Maiduguri stieß Shekau auf die
Sekte „Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awati
wal-Jihad“, übersetzt heißt das: „Die
Leute, die sich den Lehren des Propheten
und dem Heiligen Krieg verschrieben
haben.“ Heute nennt sie jeder „Boko
Haram“: „Westliche Bildung ist Sünde.“
Der Sektengründer Mohammed
Yusuf verabscheute Nordnigerias korrupte
Elite, die ihre Kinder auf teure
Privatschulen schickt. Er erhoffte sich
von einer Rückbesinnung auf islamische
Tugenden und auf die Scharia eine Reinigung
der von Gier und Selbstbereicherung
verlotterten Gesellschaft. Ein
Gouverneursanwärter nutzte die Sekte
für seinen Wahlkampf mit Versprechungen
aus – an die Macht gekommen, wollte
er von seinen Zusagen nichts mehr wissen.
Daraufhin kam es im Juli 2009 zu
Unruhen, in deren Verlauf Yusuf festgenommen
und in einer Polizeikaserne hingerichtet
wurde.
Ihm folgte Abubakar Shekau als neuer
Sekten-Chef. Er machte aus religiösen Fanatikern
eine Terrorgruppe mit internationalen
Verbindungen: Boko Haram werden
inzwischen Kontakte zur Al Qaida im
Maghreb und der Al-Schabaab-Miliz in
Somalia nachgesagt. Die Ausbildung, Bewaffnung
und grausame Entschlossenheit
seiner Krieger haben mittlerweile einen
hohen Grad erreicht. Boko Haram droht
die in einen erdölreichen christlichen Süden
und einen armen muslimischen Norden
geteilte Wirtschaftsmacht Nigeria ins
Chaos zu treiben. Shekau könnte das seinem
Ziel ein Stück näher bringen: der Errichtung
eines islamistischen Gottesstaats
im Norden Nigerias.
JOHANNES DIETERICH war mehrfach in
Nigeria. Schon vor zwei Jahren beobachtete
er, wie Boko Haram dort wütete. Seither ist
die Lage stetig schlimmer geworden
61
Cicero – 7. 2014

WELTBÜHNE
Porträt
HAUPTSACHE PREMIER
Seit er denken kann, wollte Antonis Samaras Regierungschef Griechenlands werden.
Das hat er nun geschafft und muss gegen leere Kassen und politische Gegner kämpfen
Von RICHARD FRAUNBERGER
Es ist der 17. Juni 2012. Brüssel,
Berlin, die Aktienmärkte, der Euroraum,
alle blicken zitternd nach
Athen. Es ist der Tag, an dem das griechische
Volk darüber entscheidet, wie es
weitergeht mit dem Sparkurs der Troika,
dem Euro, der Zukunft des Landes. Es ist
der Tag, an dem er gewinnt, Antonis Samaras,
63, Chef der konservativen Nea
Dimokratia, Befürworter der Sparprogramme,
die er zuvor strikt abgelehnt hat.
„Auf diesen Moment habe ich
20 Jahre lang gewartet“, sagt er am Wahlabend
zu einem Freund. Drei Tage später
ist er Griechenlands neuer Premierminister.
Es ist der Höhepunkt seiner Karriere,
ein Höhepunkt, von dem er schon als Collegeboy
träumt, ein Ziel, auf das er unbeirrbar
hinarbeitete. Antonis Samaras,
Vater zweier Kinder, studierter Ökonom,
wenig charismatisch, volksfern, nationalistisch
und starrköpfig, ein Pragmatiker
und Stratege, ist mit einem maßlosen Ehrgeiz
ausgestattet. Mit 26 Jahren war er
Griechenlands jüngster Parlamentarier,
mit 39 jüngster Außenminister. Mit 42
stand er vor dem Aus.
Wer ist dieser Mann, der früh nach
den Sternen griff, abstürzte und wieder
aufstieg?
Um den Werdegang von Samaras zu
verstehen, sollte man die Geschichte seiner
Ahnen kennen. Wie hoch ein Politiker
in Griechenland emporsteigt, hat viel
zu tun mit der Familie, aus der er stammt,
ihrem Vermögen, ihrer Macht, dem Netzwerk,
das sie aufgebaut hat. Je reicher
und mächtiger die Familie, aus der der
Politiker stammt, und je engmaschiger
das Netz, desto mehr Wählerstimmen
sind ihm sicher.
Antonis Samaras ist der Abkömmling
einer weitverzweigten Familie. Sein
Ururgroßvater ist der auf Syros geborene,
in England studierte, in Ägypten
durch Heirat in eine griechische Baumwollhändlerfamilie
zu Reichtum gekommene
Emmanouil Benakis. Ein hoch angesehener
Industrieller, Politiker, Mäzen
und enger Freund von Eleftherios Venizelos,
Griechenlands bedeutendstem
Politiker des 20. Jahrhunderts. Samaras’
Urgroßmutter Penelope Delta war eine
patriotische Schriftstellerin, die einen
aus Konstantinopel stammenden Unternehmer
heiratete. Sein Vater, Konstantinos
Samaras, Kardiologe und Professor,
kommt aus dem einst stramm königstreuen
Peloponnes.
DIESES GEFLECHT einer großbürgerlichen
Familie aus der Athener Geldaristokratie
und einer nationalkonservativen Familie
aus dem Peloponnes garantiert keinen
Posten als Premierminister. Aber es
hilft vorwärtszukommen. Und es erklärt
die Persönlichkeit von Antonis Samaras,
die gespalten ist in einen erzkonservativen
Provinzpatrioten und einen rechtsliberalen
Großbürger.
Samaras wächst auf wie alle Kinder,
deren Familien das Schicksal Griechenlands
mitbestimmt haben: kosmopolitisch
und stets in Kontakt mit den anderen
großen Familien des Establishments.
Er besucht das elitäre Athens College,
das sein Ururgroßvater gegründet hat,
feiert in den Clubs der Arrivierten.
Aber Samaras ist zielstrebig, fleißig,
keiner, der sich ausruht auf den Lorbeeren
seiner Vorfahren. Er fühlt sich verpflichtet
zum Aufstieg. Mit 17 gewinnt
er die nationale Jugendmeisterschaft im
Tennis. Mit 19 geht er in die USA. Sein
Vater schickt ihn auf das Amherst College
in Massachusetts, wo er Freunde aus
der Heimat trifft. Sein Zimmergenosse ist
Giorgos Papandreou, jener Premierminister,
den er Jahrzehnte später bekämpfen
und schließlich ablösen wird.
Damals sind sie Freunde. Papandreou
ist ein lockerer Typ mit Jeans
und löchrigen Flanellhemden, Samaras
ein korrekt gekleideter Musterschüler,
der mit Professoren Tennis spielt. „Wir
treffen uns wieder im Parlament“, sagt
Samaras zu Papandreou. Der widerspricht.
Er will nicht in die Politik.
Mit einem Harvard-MBA kehrt
Samaras 1976 nach Griechenland zurück.
Sein Onkel Giorgos Samaras,
Parlaments abgeordneter und Nationalist,
überlässt ihm seinen Wahlkreis
Messenien auf dem Peloponnes. Wer den
Onkel wählt, wählt auch den Neffen. Ein
Jahr später sitzt Samaras für die Nea Dimokratia
im Parlament.
1989 beruft ihn Konstantinos Mitsotakis,
Chef der Nea Dimokratia, in sein
Regierungskabinett. Samaras, verheiratet
mit einer Industriellentochter, ist populär
in der Partei, obgleich ihm nachgesagt
wird, er sei nicht einfühlsam genug. Dennoch
gilt er vielen als künftiger Premier.
Er wird Finanzminister, schließlich
Außenminister. Kaum im Amt, hat er
schwer zu tun. Mazedonien an der Nordgrenze
zu Griechenland erklärt sich 1991
für unabhängig und nennt sich Republik
Mazedonien. Samaras, noch immer ohne
Profil, stimmt an zum Schlachtruf. Mazedonier
könne sich nur nennen, wer Nachfahre
Alexander des Großen und also
Grieche sei. Samaras, jetzt ganz Nationalist,
holt aus. Die Regierung in Skopje
träume von einem Großmazedonien. Der
Norden Griechenlands könne an die Slawen
verloren gehen. Er lehnt die diplomatische
Anerkennung des neuen Staates ab.
Tatsächlich blockiert Griechenland es bis
heute, dass Mazedonien der EU und der
Nato beitritt.
Das Volk, von den nationalistischen
Tönen berauscht, jubelt. Auf allen
Fernsehkanälen ist das junge, bebrillte
Foto: Nikos Pilos/Laif
62
Cicero – 7. 2014

WELTBÜHNE
Porträt
„ Samaras
wurde plötzlich
radioaktiv.
Alle mieden
ihn. Niemand
wollte sich
kontaminieren “
Philip Tsiaras, Studienfreund
von Antonis Samaras
Gesicht des Beschützers des Hellenismus
zu sehen. In Brüssel und auf EU-Gipfeltreffen
verteilt er Denkschriften über
die historische Wahrheit. Er fordert, die
griechischen Grenzen zu Mazedonien zu
schließen. Regierungschef Mitsotakis hat
genug von der Kompromisslosigkeit seines
außer Kontrolle geratenen fanatischen
Zöglings. Er entlässt ihn.
Samaras gründet eine eigene Partei,
nennt sie „Politischer Frühling“ und positioniert
sie rechts der Nea Dimokratia.
Damit setzt er auf die nationalistische
Karte und gegen Mitsotakis. Es kommt
zum Showdown. Samaras zieht einen Abgeordneten
der Nea Dimokratia auf seine
Seite. Mitsotakis verliert die Mehrheit,
seine Regierung stürzt, und die sozialistische
Pasok, kommt erneut an die Macht.
Mitsotakis, wutentbrannt, erklärt
Samaras zum Outcast. Der Jungpolitiker
soll nie wieder in die Partei zurückkehren.
„Samaras wurde plötzlich radioaktiv.
Alle mieden ihn. Niemand wollte sich
kontaminieren“, erinnert sich der Studienfreund
Philip Tsiaras.
1993 IST ALLES VORBEI. Der Höhenflug
des Antonis Samaras ist beendet. Er ist
abgestürzt in die Bedeutungslosigkeit.
Schmollend erklärt er in einem Interview,
in die Nea Dimokratia nicht zurückkehren
zu wollen, selbst wenn ihn
der Parteichef riefe. Zehn Jahre lang werkelt
Samaras vor sich hin, bringt politisch
nichts zustande. Er ist verzweifelt.
Er ist Politiker, will nichts anderes sein.
Er hat Träume, Ziele. Er hat Ehrgeiz und
Ausdauer.
2004, seine Partei hat sich längst
aufgelöst, holt ihn Kostas Karamanlis
aus der Verbannung zurück. Karamanlis,
Neffe des Partei gründers, ist gerade
Premierminister und Vorsitzender der
Nea Dimokratia. Mit Samaras schafft
er ein Gegengewicht zum Mitsotakis-
Clan. Noch aber muss sich Samaras gedulden.
Er geht für die Nea Dimokratia
nach Straßburg, ins Europäische Parlament.
Sitzt in Ausschüssen, hält Reden
im Plenum, stellt Anfragen an die Kommission,
zu Afghanistan und zur Entsorgung
von PVC-Abfällen.
Doch was ist das schon für den
Spross einer großen Familie, der in die
Annalen eingehen will als Premierminister
Griechenlands?
2007 ist Samaras wieder im Athener
Parlament. Er wird Kulturminister,
ist verantwortlich für die rechtzeitige Eröffnung
des neuen Akropolismuseums.
Ein nationales Prestigeprojekt, das den
Zeitplan nicht einhält. Samaras ackert,
sitzt täglich 16 Stunden im Büro. Endlich
wird das Museum in einem Staatsakt eröffnet.
Dass das Personal des Hauses aus
Messenien stammt, dem Wahlkreis von
Samaras, sorgt in der Öffentlichkeit allenfalls
für ein müdes Lächeln.
Als Karamanlis 2009 die vorgezogenen
Wahlen verliert und als Parteichef zurücktritt,
lässt sich Samaras nicht lange
bitten. Er kandidiert für den Parteivorsitz
und setzt sich gegen Dora Bakogianni,
die Tochter von Konstantinos Mitsotakis,
durch. Der Durchbruch ist geschafft, zur
Hälfte zumindest. Was fehlt, ist Giorgos
Papandreou, den neuen Premier und alten
Studienfreund, vom Thron zu stoßen.
Kaum an der Macht, steht die frisch
gewählte Pasok vor dem Abgrund. Der
Staat ist pleite. Um den Bankrott abzuwenden,
beantragt Papandreou EU-Hilfen.
Im Gegenzug verpflichtet er sich zum
Sparen. Das Volk geht auf die Straße. Die
Gewerkschaften legen das Land lahm.
Die Opposition unter Samaras arbeitet
mit Härte gegen die Regierung.
Das Parlament beschließt Sparpakete
und Reformen. In der Not schlägt
Papandreou eine große Koalition zur
Rettung der Nation vor. Samaras lehnt alles
ab. Sparpakete. Reformen. Koalition.
Auch die von der EU geforderte schriftliche
Zusicherung, vereinbarte Spar- und
Reformpläne einzuhalten, weist er zurück.
Vorerst. Denn er will nur eins: Neuwahlen
und Premier werden. Er drängt auf
Papandreous Rücktritt. Das Land rutscht
in die Staatskrise. Papandreou gibt sein
Amt auf. Vorgezogene Wahlen stehen an.
Samaras hofft auf eine absolute
Mehrheit und verspricht alles mögliche:
keine weiteren Gehaltskürzungen, Rentenerhöhungen,
Ankurbe ln der Wirtschaft
durch staatliche Investitionen,
Senkung des Spitzensteuersatzes und
der Mehrwertsteuer. Er redet, als sei
Griechenland Boomland und nicht Pleitestaat.
Sein Wahlkampf ist eine Angstkampagne.
Angst vor Chaos und den Linken,
Angst um die Zugehörigkeit zur EU,
Angst um das Sparkonto.
AM 20. JUNI 2012 wird Samaras nach zwei
Wahlgängen als Premier vereidigt. Nach
35 Jahren Politik ist er dort angelangt,
wohin er als Collegeboy wollte. Nun ist
er Herrscher über Ruinen, leere Kassen
und ein Heer Arbeitsloser. Seine Macht
muss er mit der Pasok teilen. Die Troika
bevormundet ihn. Die riesigen Schulden
wachsen. Die oppositionelle Syriza fordert
täglich Neuwahlen. Ihr charismatischer
Anführer Alexis Tsipras erklärt die Europawahlen
zum Plebiszit gegen die Regierung.
Zwar stürzt die Nea Dimokratia
auf 22 Prozent, aber Syriza kommt
trotz der landesweiten Unzufriedenheit
über 26 Prozent nicht hinaus. Damit verfehlt
sie ihr angekündigtes Ziel, die Regierungskoalition
klar hinter sich zu lassen.
Für Griechenlands Politiklandschaft
bedeuten die Europawahlen vor allem
eins: das endgültige Aus der traditionellen
Alleinherrschaft. Ohne eine Koalition
schafft es keine Partei mehr an die Macht.
Auch nicht Syriza.
Um nicht unterzugehen, hat Samaras
nach der Wahlschlappe zehn Minister
ausgetauscht. Der Premier, Meister im
Schüren von Angst, hofft jetzt auf Zugeständnisse
der Geldgeber. Für die Troika
wäre Syriza als Verhandlungspartner ein
Albtraum. Samaras ist entschlossen, an
der Macht zu bleiben. Zu lange hat er
gebraucht, um ganz oben anzukommen.
RICHARD FRAUNBERGER lebt als Journalist
in Griechenland. Bei der Recherche für diesen
Artikel gelangte er zur traurigen Erkenntnis,
dass sich beim politischen Aufstieg
Prinzipientreue in ihr Gegenteil verkehrt
64
Cicero – 7. 2014

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WELTBÜHNE
Kommentar
DEMOKRATIE, EIN
AUSLAUFMODELL?
Rechte Populisten legen zu.
Die Wähler sind verdrossen.
Die Politiker rätseln.
Die EU‐Wahlen zeichnen ein
diffuses Bild des Kontinents.
Was denkt ein Amerikaner
darüber?
Von WILLIAM J. DOBSON
Mitte der siebziger Jahre traf der damalige Bundeskanzler
Willy Brandt eine düstere Prognose:
Westeuropa habe noch 20 oder 30 Jahre
der Demokratie; danach würde es antriebs- und führungslos
in den sie umgebenden Fluten der Diktatur
untergehen. Um Europas Schicksal ist es heute nicht
ganz so düster bestellt, wie Brandt es prophezeite.
Aber es lässt sich nicht leugnen, dass die europäische
Demokratie – und die Demokratie im Allgemeinen –
bessere Tage gesehen hat.
Das jüngste unheilvolle Anzeichen dafür war das
Ergebnis der Europawahl. Überall auf dem Kontinent
gewannen rechtsextreme Parteien Sitze im EU-Parlament,
eine Institution, die sie behaupten zu verachten.
In Frankreich ließ Marine Le Pens antieuropäischer
Front National mit fast 25 Prozent der Wählerstimmen
die etablierten Parteien hinter sich. In Großbritannien
schlug eine andere europafeindliche Partei, die UK Independence
Party, ihre Gegner vernichtend und verwies
die Partei von Premierminister David Cameron
noch hinter Labour auf den dritten Platz.
Parteien des rechten Randes, die einen wütenden
Mix aus einwanderungs- und Brüssel-feindlichen,
manchmal schlicht antisemitischen Positionen vertreten,
konnten auch in Österreich, Dänemark, Italien und
Ungarn gute Ergebnisse erzielen. Erstmals wurden bei
diesen Wahlen zwei rechtsextreme Parteien – die Dänische
Volkspartei und der französische Front National
– zur stärksten Kraft bei einer nationalen Abstimmung
in einem EU-Land. Und zum ersten Mal haben
auch Neonaziparteien wie die NPD in Deutschland
und die Goldene Morgenröte in Griechenland Sitze
im Europäischen Parlament errungen.
Der Einfluss dieser rechtsextremen Parteien ist für
sich genommen zwar gering. Doch Le Pen versucht,
viele von ihnen zusammenzuführen, um eine euroskeptische
Fraktion zu bilden. Im EU-Parlament sitzen
immer mehr Politiker, die der Meinung sind, dass
es überhaupt nicht existieren sollte.
Für Washington ist der europäische Rechtsruck
besorgniserregend. Dass Russlands Präsident Wladimir
Putin die Krim annektiert hat und die Unruhen im
Osten der Ukraine schürt, hat gezeigt, dass Amerika
und Europa gemeinsame Sicherheitsinteressen haben.
US-Präsident Barack Obama hat versucht, das Engagement
seines Landes für die Stabilität Europas durch einen
eine Milliarde Dollar (735 Millionen Euro) schweren
Sicherheitsplan für Osteuropa zu untermauern; er
soll Russland von künftigen Übergriffen abschrecken.
Doch diese Zusammenarbeit wäre ernsthaft gefährdet,
wenn Europa sich weiter nach rechts bewegen
oder Le Pen oder ein anderer rechtsextremer Politiker
eine nationale Präsidentschaftswahl gewinnen
würde. Einen Vorgeschmack darauf, wie europäische
Politik dann aussehen könnte, lieferten sowohl Marine
Le Pen als auch Nigel Farage. Während die Chefin
des französischen Front National bei einem Moskau-Besuch
sich in der Ukrainefrage offen auf Putins
Seite stellte, erklärte der britische Ukip-Vorsitzende,
Putin sei das Staatsoberhaupt auf der Welt, das er am
meisten bewundere.
Solche antidemokratischen Tendenzen gibt es aber
nicht nur in Europa. Auch das politische System der
USA ist kein Werbeträger mehr für die Strahlkraft
66
Cicero – 7. 2014

Illustrationen: Jan Rieckhoff; Foto: Travis Daub
demokratischen Pluralismus’. Eine Mischung aus Stillstand
und außer Kontrolle geratener Vetternwirtschaft
hat dazu geführt, dass die Supermacht in zwei Jahren
zweimal ihre Schulden fast nicht mehr bedienen
konnte. Die Amerikaner vertrauen dem Kongress weniger
denn je – was verständlich ist, wenn man bedenkt,
dass der heutige Kongress der ideologisch polarisierteste
und unproduktivste ist. In einer aktuellen
Umfrage des Fernsehsenders CBS News gaben 43 Prozent
der registrierten Wähler an, dass es keinen Unterschied
mache, welche Partei den Kongress kontrolliere;
so groß war die Gleichgültigkeit noch nie. Schlimmer
noch: Nur 17 Prozent der Amerikaner sagen, dass sie
der US-Regierung vertrauen – das ist ein Bruchteil jener
70 Prozent, die noch in den sechziger Jahren Vertrauen
in Washington hatten.
Die Apathie der Wähler erklärt vielleicht auch die
Ergebnisse der jüngsten Europawahl. Nur 43 Prozent
der Wähler machten sich überhaupt die Mühe, ihre
Stimme abzugeben. Einer Umfrage in sieben europäischen
Ländern zufolge hat mehr als die Hälfte der
Bürger „kein Vertrauen in die Regierung“. In Großbritannien
ist weniger als 1 Prozent der Bevölkerung
Mitglied einer politischen Partei. Mehr als 60 Prozent
der britischen Wähler sind überzeugt, dass die Parteichefs
„ununterbrochen“ lügen.
Wie in Europa haben auch in den USA der wachsende
Zynismus, die Wut und die Enttäuschung der
Wähler zu einem Aufstieg der rechten Bewegungen geführt.
Eine davon ist die Tea Party, die man am besten
als libertär und regierungsfeindlich beschreiben kann.
2012 verloren etliche bekannte und etablierte republikanische
Senatoren ihre Sitze an die Herausforderer
von der Tea Party. 2014 scheinen weitere Tea-Party-
Kandidaten auf Erfolgskurs; selbst gemäßigte Konservative,
die nicht zur Tea Party gehören, müssen beteuern,
die politischen Ideale der Rechtsaußen-Bewegung
zu teilen, um auf einen Wahlsieg hoffen zu können. Die
Folge davon ist: Im US-Kongress sitzt eine Reihe von
Senatoren und Volksvertretern, die ausdrücklich versprochen
haben, niemals mit den Demokraten zusammenzuarbeiten,
und damit dafür sorgen werden, dass
die US-Regierung bald wieder zum Stillstand kommen
wird.
Mag die Marke Demokratie auch Kratzer abbekommen
haben, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, wo
dies nicht der Fall ist. Am selben Tag, an dem die Europäer
über ihr Parlament abstimmten, wählten die
Ukrainer Petro Poroschenko, einen proeuropäischen
Kandidaten, zu ihrem Präsidenten. Auch anderswo in
Osteuropa schnitten rechtsextreme Parteien schlecht
ab – sie blieben Randgruppen, fernab vom politischen
Mainstream. Mit anderen Worten: Es sind Westeuropa
und die USA – die vermeintlichen Bastionen der Demokratie
–, die die gefährlichste Spielart des Populismus
hervorbringen. Fast scheint es, als halte man die
Demokratie für umso selbstverständlicher, je weiter
man sich von seiner autoritären Vergangenheit entfernt
hat.
Dieses Phänomen ist nicht auf die USA oder Europa
begrenzt. Ging es 2011 und 2012 darum, dass
Menschen gegen Diktatoren und autoritäre Systeme
aufbegehrten, so forderten sie in den folgenden Jahren
eine bessere Regierung innerhalb der demokratischen
Systeme. Kein anderer Umstand bietet eine bessere Erklärung
für die gewaltige Welle globaler Proteste, die
wir in den vergangenen zwei Jahren erlebt haben. Allein
2014 kam es zu Unruhen, Protesten und Massendemonstrationen
in Brasilien, Bosnien, Bangladesch,
Island, Kambodscha, in der Türkei und in anderen Ländern.
Wir sind Zeugen von Bürgeraufständen in einem
Ausmaß, wie es die Menschheit noch nicht erlebt hat.
Nichts deutet darauf hin, dass diese Ära des globalen
Protests ein vorübergehendes Phänomen sein wird.
Hoffentlich war die jüngste Europawahl genau
das: eine Protestwahl. Ein Versuch der Europäer, ihre
Politiker beim Kragen zu packen und wachzurütteln.
Wenn ja, müssen sich Europas Politiker damit auseinandersetzen
und der Brüsseler Politik, die abgehoben
und entfernt scheint, etwas mehr demokratische
Kontrolle verpassen. Wenn sie das nicht tun, könnte
Willy Brandts Prophezeiung doch noch wahr werden.
WILLIAM J. DOBSON
ist außenpolitischer
Redakteur des Slate-
Magazins und Autor des
Buches „Dictator 2.0“
Übersetzung: Luisa Seeling
67
Cicero – 7. 2014

WELTBÜHNE
Reportage
FRAUEN
VON WELT
CHRISTINE LAGARDE
ANGELA KANE
FATOU BENSOUDA
Die eine jongliert mit Milliardensummen, die andere
jagt Diktatoren, die Dritte verhandelt über Waffen.
Was bedeutet es, wenn Frauen Weltpolitik machen?
Von JULIA PROSINGER
69
Cicero – 7. 2014

WELTBÜHNE
Reportage
Wie viele Milliarden
braucht die Ukraine?
Welcher Diktator gehört
als nächster vor
Gericht gestellt? Wie
stoppt man syrisches Giftgas? Jemand
muss diese Fragen entscheiden. Es sind
drei Frauen.
Die Frau mit den Milliarden, Christine
Lagarde, Chefin des Internationalen
Währungsfonds, steht an einem
Montagabend zwischen Skulpturen britischer
Männerhelden. Lord Nelson und
Winston Churchill säumen die meterdicken
Wände der ehrwürdigen Guildhall.
Ein schwerer Teppich schluckt alles Gemurmel.
Hier, mitten im Londoner Finanzviertel,
sprechen bei Weißwein und
Zucchiniröllchen greise Wirtschaftsprofessoren
und Mitglieder des House of
Lords über die Ökonomen Keynes und
Schumpeter, diskutieren über die strengen
Strukturanpassungsreformen, die
den Währungsfonds für viele zum Feind
machen. Das gotische Gebäude ist ein
Ort der alten Ordnung. Frauen sind hier
Begleiterinnen. Männer prahlen von Zeiten,
in denen Frauen nur als Kellnerinnen
in ihre Sitzungssäle kamen.
Es ist ein Abend wie viele andere im
Leben von Christine Lagarde. Fast immer
ist sie die Einzige im hellen Dress zwischen
dunklen Anzügen.
Die Feminisierung der Weltpolitik
macht zaghafte Fortschritte. In Deutschland
ist eine Frau Kanzlerin, eine Frau
Verteidigungsministerin, eine Frau
Chefaufseherin der Zentralbank. Wo
Frauen wählen dürfen, den Mount Everest
besteigen, ins Weltall fliegen, da entscheiden
sie auch.
Es sind Entscheidungen, die anders
klingen als bisher. Ein neuer Tonfall
mischt sich ins Konzert der Weltpolitik.
Warm ist er, angenehm und vor allem:
tief. Die Frauen, die heute Weltpolitik
machen, haben dunkle Stimmen. Nicht
eisern antrainiert, wie bei der verstorbenen
britischen Regierungschefin Margaret
Thatcher, sie klingen von Natur aus so.
Angela Kane, 65, spricht mit so einer
dunklen, singenden Stimme. Ihren Akzent
hat sie über die Jahre fast abgelegt,
nur am harten „t“ hört man die Deutsche
heraus. Kane ist eine der wichtigsten
Frauen bei den Vereinten Nationen, Sonderbeauftragte
für Abrüstung. Sie ist die
„ Wenn euch
die Füße
wehtun, denkt
daran: Manche
Menschen
haben gar keine
Beine “
Christine Lagarde
Christine Lagarde
musste früh Verantwortung
übernehmen. Bereits mit 17
kümmerte sie sich um ihre
drei Brüder, nachdem der
Vater gestorben war. Die
Französin studiert, heiratet,
bekommt zwei Söhne, lässt
sich scheiden, heiratet 2008
wieder. Sie macht Karriere als
Juristin, später als Finanzministerin.
Seit dem 28. Juni 2011
ist sie Direktorin des Internationalen
Währungsfonds
Frau, die syrisches Giftgas stoppen will.
Fatou Bensouda, 53, klingt tiefer als
die meisten Männer. In ihre Plädoyers
vor Gericht mischt sich nur selten ein heller
Ton. Sätze haben bei der Chefanklägerin
am Internationalen Strafgerichtshof
keine Höhepunkte – die Frau, die Diktatoren
jagt, behandelt jedes Wort gleich.
„Justice“, Gerechtigkeit, ihr Lieblingswort,
heißt bei ihr „jastice“, ein Überbleibsel
des gambischen Akzents.
Christine Lagarde, 58, lächelt immer
– zumindest klingt ihre Stimme so.
Ein warmes Prickeln mischt sich in ihre
Erzählung. Nur an den Vokalen, am weichen
„ö“ statt „e“, kommt das Französische
der Frau durch, die über viele Milliarden
Dollar entscheidet.
Lagardes Chanelkostüm glitzert im
violetten Licht. Aufrecht hält die große
Französin ihre Rede. Als Rockstar der
Finanzbranche wurde sie schon beschrieben.
Wahrscheinlich auch, weil
sie die einzige Frau ist, die es nach so
weit oben geschafft hat, die einzige, die
in der Guildhall darüber erzählen darf,
wie der Währungsfonds nach dem Zweiten
Weltkrieg gegründet wurde. Ziel war
es, stabile Wechselkurse zu schaffen und
Ländern mit Schwierigkeiten in der Zahlungsbilanz
zu helfen. Lagarde zitiert
Shakespeare, Prince Charles und die britische
Fernsehserie „Downton Abbey“.
Sie weiß, was sich an diesem Ort gehört.
Sie weiß an jedem Ort, was sich gehört.
Vor Treffen informiert sie sich genau über
Gesprächspartner, lernt gesundheitliche
Probleme, Familienstand und Kindernamen
auswendig. Angela Merkel brachte
sie in der Eurokrise Orangenblütenhonig
mit. Auf Gipfeltreffen verteilt sie, wenn
es spät wird, Schokolade.
Sähe so eine von Frauen regierte
Welt aus? Eine Welt voll Schokolade und
Orangenblütenhonig?
Es gibt die alte These, dass eine Welt,
die von Frauen regiert würde, friedlicher
wäre. Genderforscher, Managementexperten,
Frauen und Männer, haben nach
Gründen dafür gesucht.
Um zu überleben, lautet eine Argumentation
dieser relativ jungen Wissenschaften,
mussten Frauen sich immer
schon besonders anstrengen. Sie
mussten früh Strategien entwickeln,
um gehört und gesehen zu werden.
Weil sie sonst nichts zu sagen hatten,
Fotos: Antje Berghäuser, Mauritius Images/Alamy, Thijs/Hollandse Hoogte/Laif, Dirk Bruniecki für Cicero (Seiten 68 bis 69), Thomas Laisne/Corbis Outline
70
Cicero – 7. 2014

WELTBÜHNE
Reportage
Foto: Dirk Bruniecki für Cicero
wurden sie von klein auf Expertinnen
für menschliche Beziehungen, Multitasker,
Kommunikationsgenies.
Bislang hat niemand empirisch belegt,
dass Frauen aus der Not heraus
überlebenswichtige Fähigkeiten entwickelt
haben. Aber es ist eine Idee, die
Wirkung entfaltet.
Christine Lagarde beispielsweise
orientiert sich daran. „Frauen“, sagte
sie einmal, „müssen immer doppelt so
stark sein.“ Sie müssen Superfrauen sein.
Lagarde war 15, als sie bei einer nationalen
Meisterschaft eine Bronzemedaille
im Synchronschwimmen holte. 17, als sie
ihre drei Brüder versorgte, weil der Vater,
ein Literaturprofessor, starb. Neben
der Schule verdiente sie Geld auf dem
Fischmarkt, studierte mit einem Stipendium
in den USA, wurde Mutter zweier
Söhne, schließlich Partnerin bei Baker &
McKenzie, der weltgrößten Anwaltskanzlei.
Die Mittwochnachmittage reservierte
sie für ihre Söhne, viele Kollegen
reagierten abfällig. Morgens um sechs
macht sie Yoga, sie raucht nicht, trinkt
keinen Alkohol, isst kein Fleisch.
Manchmal überträgt sie die Härte
gegenüber sich selbst auf andere. Als
französische Finanzministerin riet sie
den Bürgern wegen der hohen Benzinpreise,
öfter das Fahrrad zu nehmen. Die
Griechen wies sie an, endlich ihre Steuern
zu zahlen. Sie habe, sagte sie, mehr
Mitleid mit hungernden Kindern in nigerianischen
Dörfern. Ihren Mitarbeitern
soll sie regelmäßig raten: „Wenn euch die
Füße wehtun, denkt daran: Manche Menschen
haben gar keine Beine.“
AUCH ANGELA KANE, die deutsche UN-
Sonderbeauftragte für Abrüstung, steht
um fünf Uhr auf und liest die Tagespresse.
Das erzählt sie am Rand der Münchner
Sicherheitskonferenz. „Ich habe mein Leben
lang hart gearbeitet.“ An mindestens
vier Abenden in der Woche besucht sie
Empfänge, sucht das Vertrauen von Diplomaten.
Zu ihren Freunden sagt sie gern:
„Ich hoffe, ihr seid noch da, wenn ich mal
aufhöre.“ Sie spricht neben Deutsch fließend
Englisch, Französisch und Spanisch,
kann Russisch und Indonesisch. Den Urlaub
im vergangenen Jahr hat sie wegen
der Lage in Syrien gestrichen. Dank
Kane bestreitet niemand mehr, dass dort
Giftgas eingesetzt wurde.
„ Man kann seine
Arbeit besser
machen, wenn
man nicht im
Rampenlicht
steht “
Angela Kane
Angela Kane
ist die ranghöchste deutsche
Mitarbeiterin bei den Vereinten
Nationen – ihr Aufgabengebiet:
Abrüstung. Von Hameln
ging sie zum Studium
nach München, von dort in
die USA. Mit 29 hat sie ihren
ersten Job bei den UN, innerhalb
eines Jahres steigt sie
auf bis ins Büro des Generalsekretärs.
Seither agiert sie
stets im Schatten ihrer
wechselnden Dienstherren
Sie war gerade bei ihrer Familie zu
Besuch, als in Syrien ein erneuter Giftgas
einsatz bekannt wurde, brach von einer
Hochzeitsfeier in ihrer Heimatstadt,
dem niedersächsischen Hameln, nach
Damaskus auf. Verschlafen kam sie beim
syrischen Außenminister an, riss sich zusammen,
verhandelte bis spät in die Nacht.
Sie rief den deutschen Außenminister an,
deutsche Flugzeuge sollten Giftgasproben
an Bord nehmen. Nachts hörte sie die
Bomben niedergehen, und als sie abreiste,
stand ihr Hotel in Flammen. „Die Angst
muss man sich abgewöhnen“, sagt sie.
Manchmal, wenn Kane von den Anfängen
ihrer UN-Karriere erzählt, wirft
sie lachend die Haare in den Nacken.
Für eine Frau so nah am Generalsekretär
ist sie überraschend zugänglich. Ihre
Freunde erzählen, dass sie, die zuletzt
ein Budget von fünf Milliarden Dollar
verwaltete, Vorgesetzte von 44 000 Mitarbeitern
war, lieber kurz raus auf einen
Kaffee kommt, wenn sie sie bei der UN
in New York besuchen. Das erspart ihnen
den langwierigen Sicherheitscheck,
und Kane hat es nicht gern kompliziert.
1948 geboren, war sie Klassensprecherin,
Schulsprecherin. Fotos von damals
zeigen sie umringt von Freundinnen,
die zu ihr aufblicken. 1968 begann sie ein
Studium in München. Die Studentenrevolte
war nichts für sie. „Ich kam in den
Hörsaal – da war der besetzt. Nur einen
Schein habe ich in diesem Semester machen
können!“ Ski sei sie gefahren, Fasching
habe sie gefeiert, vor allem aber
wollte sie vorwärtskommen. Sie ging in
die USA, machte einen Bachelor in Literatur,
einen Master in Internationalen
Beziehungen an der Johns-Hopkins-Universität.
Wenn sie Heimweh hatte, sagte
sie sich: Du hast dich dafür entschieden,
da musst du durch. Sie war 29, hatte weder
Karriereplan noch Arbeitsvisum. Die
UN stellten sie ein. Innerhalb eines Jahres
stieg sie ins Büro des damaligen Generalsekretärs
Kurt Waldheim auf. Sie
lernte, den Generalsekretären zu dienen.
„Die UN behandelte Frauen damals
schlecht“, sagt Kane. Erst seit 1986
strebt die Organisation, die sich für den
Weltfrieden verantwortlich fühlt, ein
50:50-Verhältnis der Geschlechter an.
Seit 2011 gibt es „UN Women“, das die
Bemühungen der Vereinten Nationen für
Frauen vorantreibt. „Dabei sind Frauen
73
Cicero – 7. 2014

Foto: Thijs/Hollandse Hoogte/Laif
„ Ich bin
eine opferorientierte
Person “
Fatou Bensouda
Fatou Bensouda
brennt für die Gerechtigkeit –
schon seit sie ein kleines
Mädchen war. Sie studierte
Jura in Nigeria, war Justizministerin
in Gambia und später
Geschäftsführerin der
dortigen Internationalen
Handels- und Industriebank.
Heute ermittelt sie als
Chefanklägerin am Internationalen
Strafgerichtshof in
Den Haag in 18 Fällen mit
mehr als 25 Beschuldigten
WELTBÜHNE
Reportage
viel pragmatischer“, sagt Kane – und
formuliert die nächste Eigenschaft, die
Frauen zugeschrieben wird: Sie schielten
nicht immer nach der nächsten Beförderung.
Sie auch nicht. In Deutschland ist
Kane kaum bekannt. „Man kann seine
Arbeit besser machen, wenn man nicht
im Rampenlicht steht“, sagt sie.
Im Rampenlicht steht der UN-Generalsekretär
Ban Ki-moon. Der kleine
Südkoreaner betritt jetzt einen Saal
bei der 50. Münchner Sicherheitskonferenz.
In seinem Gefolge, selbstbewusst
in pinkfarbenem Blazer: Angela Kane.
Lächelt Ban, lächelt auch Kane. Macht
er einen seiner leisen Witze, lacht sie
am lautesten. Sie ist, trotz aller Erfolge,
von ihm abhängig. Immerhin hat er sie
zur Hohen Vertreterin für Abrüstung
ernannt.
Während Ban Ki-moon spricht, nickt
Kane ihm aufmunternd zu, lädt das Programm
der Konferenz auf ihrem iPad,
nickt erneut, ordnet ihre Visitenkarten,
lädt noch mal. Es könnte sich ja ein Termin
verschoben haben, und Kane kommt
nie zu spät. Was sie verspricht, hält sie.
Einer ihrer ehemaligen Chefs sagt, das
sei das Deutsche an ihr. Sie kombiniere
Effizienz mit Prinzipien.
35 Jahre UN hat Kane hinter sich.
Inzwischen fallen ihr die Vokabeln für
„Organisation für das Verbot chemischer
Waffen“ und „Chemiewaffen-Übereinkommen“
nur auf Englisch ein. Sie hat
das Webangebot der UN mit aufgebaut,
die Bibliothek reformiert, hat mit thailändischen
Rebellen gefeilscht, war mit
Friedensmissionen in Äthiopien, Indonesien,
im Irak, und war Untergeneralsekretärin
für Management.
Kane knipst mit dem iPad noch
schnell eine Nahaufnahme von ihrem
Chef. Die Anstrengung sieht man ihr nur
an den aufgekratzten Fingerkuppen an.
Weltweit sitzen weniger als 4 Prozent
Frauen bei Friedensverhandlungen
am Tisch. Von 126 Friedensnobelpreisen
wurden 15 an Frauen verliehen. Dabei,
argumentieren die Biologisten unter den
Genderforschern, wie zuletzt der Harvard-Psychologe
Steven Pinker, seien
Frauen von Natur aus friedlicher. Studien
mit Schimpansen sollen das beweisen.
Weibliche Affen bauen Beziehungen
auf, männliche betreiben Realpolitik. Östrogene,
wird behauptet, machten Frauen
Anzeige
Ihr Monopol
auf die Kunst
Die 90er
Hören sie jemals auf? Warum uns die
Kunst dieser Epoche nicht verlässt
Schnauze voll
Kunstmarkt-Irrsinn: Zwei Berliner Galeristen
rechnen ab. Und ein Spekulant packt aus
Putins Albtraum
Manifesta in Russland: Künstler
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75
Cicero – 7. 2014

WELTBÜHNE
Reportage
harmoniebedürftiger. Als Mütter, heißt
es, seien Frauen außerdem automatisch
empathiefähiger. Empirisch belegt ist
das nicht. Eher belegt ist, dass dieses
Argument die Frauen lange der Macht
fernhielt.
Christine Lagarde glaubt daran.
„Mütter“, sagt sie, „schicken ihre Kinder
ungern in den Krieg. Väter scheinen da,
komischerweise, eher bereit.“ Statistiken
belegen, dass amerikanische Frauen eher
gegen Kriegseinsätze stimmten als Männer.
Lagarde mag es, die Unterschiede
zwischen Männern und Frauen zu diskutieren.
Bei jeder Gelegenheit wiederholt
sie, die Finanzkrise wäre wohl anders ausgegangen,
wenn die „Lehman Brothers“
„Lehman Sisters“ gewesen wären. Frauen
seien weniger triebgesteuert, nicht so risikobereit.
Das kenne man aus „Mikroökonomien“
– wo Frauen die Finanzen
der Familie verwalten.
In der feierlichen Guildhall beendet
Lagarde ihre Rede mit einem Thema,
das ihr am Herzen liegt. 865 Millionen
Frauen blieben weltweit hinter ihren
Möglichkeiten zurück. „Sie werden
von Geburt an, auf der Schulbank und
im Sitzungssaal diskriminiert.“ Wenn
wir Frauen überall einsetzten, sagt sie,
könnten wir 27 Prozent im Nahen Osten
und 14 Prozent beim Pro-Kopf-Einkommen
in Europa hinzugewinnen.
ABER DER ANTEIL VON FRAUEN im Management
liegt in Deutschland bei nur
etwa 10 Prozent, wobei Frauen weiterhin
eher kontrollieren als entscheiden. Auf
dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos 2014
waren nur 15 Prozent der Delegierten
Frauen. Der Merkel-Effekt verstellt den
Blick: Auf der Welt gibt es 190 Staatsoberhäupter.
Davon sind neun Frauen.
In den Parlamenten dieser Erde vertreten
19 Prozent Frauen ihre Völker. Die
Weltbank hatte noch nie eine Präsidentin,
die UN nur Generalsekretäre, die Welthandelsorganisation
nie eine Direktorin.
Vielleicht ist die Stärke der Frauen
einfach nur, dass sie keine Männer sind.
Gewalt wurde von Männern ausgeübt,
weil alles von Männern ausgeübt wurde.
Frauen hatten wenig Gelegenheit, Skandale
zu produzieren. Sie können von vorn
anfangen, haben aus den Fehlern der Männer
gelernt. Sie sind noch nicht machtverdorben,
weniger größenwahnsinnig.
Vielleicht ist die
Stärke der Frauen
einfach nur,
dass sie keine
Männer sind
Christine Lagardes Vorgänger Dominique
Strauss-Kahn musste 2011 nach
Affären zurücktreten. Inzwischen läuft
ein Verfahren gegen ihn wegen Zuhälterei
auf Sexpartys. Kürzlich wurde in Belgien
ein Bordell nach ihm benannt.
Ähnliches ereignete sich beim
Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs
in Den Haag. Luis Moreno
Ocampo soll eine junge Journalistin belästigt
haben. Fotos zeigen ihn, wie er
Frauen in den Ausschnitt schaut. Gleich
einem Polizeistaat hat er die Anklagebehörde
des Weltgerichts regiert, übellaunig,
fordernd, die besten Mitarbeiter
gingen mit Burnout. Auf Kritik durch
Richter reagierte er mit Zorn. Um zu
überzeugen, trieb er Opferzahlen in die
Höhe, vergaß das „mutmaßlich“ vor dem
„Täter“. Er saß in amerikanischen Talkshows,
sein Gesicht mit den buschigen
Augenbrauen wurde zum Gesicht des
Gerichtshofs. Zum Schlussplädoyer lud
er Schauspielerin Angelina Jolie auf die
Zuschauertribüne. Von Anfang an versprach
er: einen „sexy Gerichtshof“.
Als die neue Chefanklägerin, Fatou
Bensouda, im Juni 2012 ihr Amt antrat,
als sie in schwarzer Robe und weißem
Faltenkragen feierlich gelobte, der Gerechtigkeit
zu dienen, versprach sie mit
ihrer tiefen Stimme auch noch etwas anderes:
sich besonders einzusetzen für
Frauen und Mädchen. Gegen sexualisierte
und sexuelle Gewalt, gegen Vergewaltigung
als Waffe, als Belohnung für
Soldaten, als Kavaliersdelikt. Bensoudas
erste Amtshandlung: Sie stellte eine Genderberaterin
ein. Die soll diese Art von
Gewalt, wenn vorhanden, in den Anklagen
unterbringen. Als Opfer von Diskriminierung
und Gewalt, sagen die Genderforscher,
könnten Frauen sich besser
in andere Minderheiten versetzen. Als
Außenseiter hätten sie einen anderen
Blick auf unser Sicherheitssystem.
Fatou Bensouda mit der schweren
Stimme ist eine der mächtigsten Frauen
der Welt. Derzeit ermittelt sie in mindestens
18 Fällen, mit mehr als 25 Beschuldigten.
Kürzlich hat sie entschieden, gegen
britische Soldaten wegen Folter im
Irak zu ermitteln – ihr Vorgänger wagte
das nicht. Doch die Öffentlichkeit meidet
sie. Lieber spricht sie mit Professoren
als mit Journalisten. Noch lieber hört sie
zu. Porträts über sich will sie autorisieren
lassen. Aus diesem Grund kam es nicht
zu einem Interview.
Im Frühjahr 2014 steht sie in violettem
gambischen Gewand, die Haare zu
feinen Zöpfen geflochten, an der Garderobe
der Dresdner Semperoper. Kein
Gefolge, keine Bodyguards, sie gibt zaghaft
den Mantel ab, nimmt das Märkchen
selbst entgegen. Gleich wird sie
den Dresdner Friedenspreis an einen
ehemaligen Kindersoldaten verleihen,
der heute in Songs von seiner Vergangenheit
erzählt. Zuvor ging der Preis an
Prominente wie den russischen Ex-Präsidenten
Michail Gorbatschow oder an
den Dirigenten Daniel Barenboim, diesmal
erhält ihn ein „Lost Boy“. Das ist
auch Bensoudas Verdienst. Der erste Fall,
den der Gerichtshof abgeschlossen hat,
galt dem Kongolesen Thomas Lubanga –
er wurde zu 14 Jahren Haft für die Rekrutierung
von Kindersoldaten verurteilt.
Bensouda wuchs in einer muslimischen
Familie zwischen den zwei Frauen
ihres Vaters auf. Der bemühte sich, beide
Seiten der Familie gleichermaßen zu versorgen.
Daher, sagte sie einmal, komme
ihr Sinn für Gerechtigkeit. Als die kleine
Fatou in ihrer gambischen Nachbarschaft
erlebte, wie ein Mann seine Frau schlug,
wollte sie etwas tun. Niemand hörte dem
Mädchen zu. Sie schwor sich, dass sich
das ändern sollte. Sie würde von einer
Zuhörerin zu einer Anwältin werden.
„Ich bin eine opfer orientierte Person.“
Nachmittags nach der Schule rannte
sie zum Gericht, um Verhandlungen zu
beobachten, später studierte sie Jura in
Nigeria, arbeitete sich durch die Justizverwaltung
zur gambischen Ministerin,
verhandelte als Diplomatin für ihr Land.
Ihre ersten Erfahrungen im Völkerstrafrecht
machte sie beim Ruanda-Tribunal,
das bis heute Täter des Genozids verfolgt.
76
Cicero – 7. 2014

Foto: Mike Wolff
Als die Versammlung der Mitgliedstaaten
des Strafgerichtshofs die Juristin
ins Amt wählte, traf sie eine politische
Entscheidung. Man glaubte, dass eine Afrikanerin
die gängige Kritik, das Gericht
würde neokolonial nur in Afrika ermitteln,
schon durch die Hautfarbe widerlegen
könnte. Wohlwollend sah die Internationale
Gemeinschaft auch, dass eine
Frau den Posten übernahm. Man hoffte,
sie würde sanfter führen als der autokratische
Vorgänger.
Natürlich gibt es Gegenbeispiele,
Frauen, die traditionell männlich zugeschriebenes
Verhalten annehmen: Margaret
Thatcher oder die raubeinige Chefanklägerin
des Jugoslawientribunals Carla
del Ponte. Dafür wurden beide kritisiert.
Feminin sollen führende Frauen sein,
sagen Managementratgeber, aber nicht zu
sehr. Maskulin sollen sie bitte auch sein,
aber bitte in Maßen. Ein Balanceakt. Beherrscht
Bensouda ihn?
In der Semperoper unter gigantischen
Kronleuchtern schnipst die Chefanklägerin
leise mit den Fingern zu Rapmusik,
kreist zaghaft die Hüften. Der Preisträger
bittet sie auf die Bühne: „Dance with me,
Fatou!“ Die reicht ihm herzlich die Hand,
blickt verlegen zu Boden und schickt eine
Mitarbeiterin zum Tanzen hinauf.
Die Stimmung unter den Mitarbeitern
am Gericht, sagt der deutsche Richter
Hans-Peter Kaul, sei wesentlich besser
geworden, seit Bensouda angetreten
ist. Selbst bei den streitlustigen Verteidigern
hat sie keine Feinde. Großzügig sei
sie, angenehm, fair. Koche abends in Den
Haag regelmäßig für Freunde. „Big Mama“
nennt man sie am Gericht. Man denkt an
die Schokolade, die Lagarde verteilt.
BENSOUDA ERMITTELT auch anders als
ihr Vorgänger: Sie sucht nicht sofort die
Haupttäter, sondern beginnt eine Ebene
tiefer. Das ist strategisch und leise.
Aber es gibt auch Zweifel: Traut sich
die Mutter dreier Kinder wirklich, gegen
westliche Mächte wie Großbritannien
vorzugehen oder wird sie die Ermittlungen
schnell wieder einstellen? Immerhin
hat sie sich, als sie noch Ocampos Stellvertreterin
war, nie gegen dessen großmachtfreundliche
Politik gestellt.
Angela Kane, die Frau mit den aufgekratzten
Fingern und den deutschen
„t“s, war diesen Morgen schon bei einem
Frauenfrühstück bei der Münchner Sicherheitskonferenz.
„Es gibt immer noch sehr
viele männliche Netzwerke“, sagt sie. Ihre
ersten Arbeitgeber bei den UN wollten,
dass sie ehrenamtlich arbeite – ihr Mann,
hieß es, verdiene doch bereits. In allen
Branchen erzählen Frauen von sexistischen
Witzen, Männerbündischem, Firmenbesuchen
in Stripclubs. Auf einer ihrer
Friedensmissionen sah Kane, wie die
einzige Soldatin abgestellt wurde, um ihr
Wasser zu reichen. „Das habe ich sofort
beim Kommandeur angesprochen.“ In El
Salvador hat sie durchgesetzt, dass Frauen
in die Polizei aufgenommen werden.
Frauen, sagen Forscher, arbeiten
lieber dort, wo andere Frauen arbeiten.
Lagarde hat gleich bei ihrem Amtseintritt
eine weibliche Leibwächterin eingestellt.
Beim Währungsfonds hat sie
eine Quote eingeführt. Egal, wo sie ist,
führt sie mindestens ein Gespräch nur
mit Frauen – „Girls Night Out“. Sie hat
eine Liste mit kompetenten Frauen, verfolgt
deren Karrieren und wirbt für sie
als Kandidatinnen, wenn irgendwo eine
Stelle frei wird. Ihre eigene Mutter – eine
stolze Alleinerziehende, die Autorennen
fuhr und Pferde ritt – ist ihr Vorbild.
Christine Lagarde mit der warmen
Stimme steht gern im Mittelpunkt, sie
liebt den schillernden Auftritt. Aber will
sie mehr oder weniger Markt? Sie steht
dort als Moderatorin, die kein Ego und
keine Ideologie durchsetzen muss.
Angela Kane arbeitet am liebsten außerhalb
der Scheinwerfer, weil das Kraft
spart. Aber könnte sie auch Generalsekretärin
werden?
Fatou Bensouda sucht nicht den
Showdown, sie nähert sich ihren Opfern
leise an. Aber wird sie sich trauen, gegen
britische Soldaten vorzugehen?
Wer Lagarde, Bensouda und Kane
beobachtet, hört andere Töne in der
Weltpolitik. Andere als die der Männer.
Es sind verschiedene Töne, Stile und
Methoden. Aber sie bilden einen neuen
Dreiklang.
JULIA PROSINGER, Reporterin
in Berlin, glaubte nicht an unterschiedliche
Führungsstile bei
Frauen und Männern. Sie hat
ihre Meinung jetzt geändert
Anzeige
»Jeder von uns steht im Leben vor schweren Entscheidungen.
Wie wir mit ihnen umgehen, das macht uns zu den Menschen, die wir sind.«

WELTBÜHNE
Kommentar
VERGESST INTERVENTIONEN!
Die internationalen Interventionen der vergangenen Jahre
sind gescheitert. Wenn es dafür eines letzten Beweises
bedurfte, liefern ihn die radikalen Kämpfer des „Islamischen
Staates im Irak und in Syrien“, Isis. Mit grausamster
Brutalität regieren sie schon jetzt Regionen in Syrien und erobern
im Irak eine Stadt nach der anderen, um ein neues Kalifat
zu errichten.
Nicht viel besser sieht es an anderen Orten westlicher militärischer
Interventionen aus. In Somalia terrorisieren Kämpfer
der radikalislamischen Al-Schabaab-Milizen das Land; in
Mali bekriegen sich Tuareg-Rebellen und Regierungskräfte; die
Streitkräfte Ruandas und der Demokratischen Republik Kongo
liefern sich in der Provinz Nord-Kivu Feuergefechte.
In Libyen brechen wieder Kämpfe
zwischen abtrünnigen Soldaten und islamistischen
Milizen aus. Hatte Bundespräsident Joachim
Gauck das bedacht, als er erklärte: „Im
Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben
unschuldiger Menschen ist es manchmal
erforderlich, auch zu den Waffen zu greifen“?
Nun müssen Interventionen nicht grundsätzlich
zum Scheitern verurteilt sein. Aber
das Beispiel Irak zeigt am deutlichsten, sie
sind es dann, wenn sie mit falschen Argumenten und unklaren
Zielen begonnen, den falschen Mitteln geführt und, einmal
begonnen, mangels Durchhaltevermögen abgebrochen werden.
Dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besäße,
war einer der Hauptgründe der USA, den Diktator zu stürzen.
Das war nicht nur falsch, es war auch eine vorgeschobene Begründung
für eine weit größere Mission. Würde man den Terrorismus-Sponsor
aus Bagdad beseitigen und im Irak eine vorbildliche
Demokratie errichten, dann könne das zentrale arabische
Land zum Vorbild für die Region werden, die sich in einer Art
Dominoeffekt endlich demokratisieren würde.
Warum sollte im Nahen Osten nicht funktionieren, was
nach dem Sieg über den Nationalsozialismus auch in Deutschland
erfolgreich gewesen war?
Konsequenter als die Alliierten die Entnazifizierung betrieben
haben, entließ die neue amerikanische Verwaltung alle
Angehörigen des Baath-Regimes aus Regierungsämtern und
Armee. Was man nicht bedacht hatte: Die meisten waren Sunniten.
Den von Saddam Hussein brutal unterdrückten Kurden
und Schiiten im Irak mag dies gefallen haben. Hilfreich war
es nicht. Statt zu versöhnen, wurde gespalten – die Kluft zwischen
den ethnischen und religiösen Gruppierungen vertiefte
sich. Das rächt sich nun. Denn es sind Sunniten, die zum alten
Von JUDITH HART
Der Westen
ist nicht mehr
willens, einen
langen Atem
aufzubringen
Regime gehörten, die die Isis im Kampf gegen die Herrschaft
des schiitischen Premiers Nuri al Maliki unterstützen.
Wenn man, wie es die amerikanische Regierung gerne tat,
Deutschland als gelungenes Beispiel einer erfolgreichen Demokratisierung
nach einem gewaltsamen Regimewechsel anführen
will, dann muss man auch die richtigen Lehren ziehen.
Es war eben nicht die Entnazifizierung, die zur Akzeptanz der
neuen politischen Ordnung beigetragen hat, sondern ganz im
Gegenteil – wenn auch moralisch verwerflich – die Integration
alter Nazis in das neue System.
Lehre Nummer zwei: Nur wenn wenigstens ansatzweise
demokratische Traditionen vorhanden sind, kann ein Land demokratisiert
werden. In Deutschland dauerte
die Weimarer Republik immerhin fast anderthalb
Jahrzehnte. Im Irak gab es nie auch nur
den Ansatz einer demokratischen Tradition.
Es existierte auch nur ein höchstens rudimentär
ausgebildetes Verständnis nationaler oder
gar bürgerlicher Identität. Irak war ein von
jahrzehntelanger Diktatur politisch korrumpiertes
und, nach hunderttausendfachen Morden
an Kurden und Schiiten durch das sunnitische
Regime, auch völlig zerrissenes Land,
in dem die Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen
Gruppe identitätsbestimmend ist. Die USA haben es nie vermocht,
dieses Denken zu überwinden.
Schlimmer noch: Sie haben ihre Mission aus rein innenpolitischen
Gründen für beendet erklärt und das Land einer Regierung
überlassen, die nach dem nahöstlichen Prinzip funktioniert:
Bist du als Vertreter deiner Gruppe an der Macht, zahle
es den anderen heim, anstatt eine Politik des Ausgleichs zu
betreiben und eine nationale Identität zu fördern. Was langer
Atem – mit entsprechendem Erfolg – ist, haben die Amerikaner
in Deutschland gezeigt. Dort blieben sie bis zum Fall der Mauer.
Weil aber der Westen nicht mehr willens ist, einen langen
Atem, enorme Ressourcen und Standfestigkeit aufzubringen,
sind Interventionen, deren eigentlicher Zweck das „nation building“
ist, zum Scheitern verurteilt. Es gehört nicht viel Fantasie
dazu, um vorauszusagen, dass Afghanistan das Schicksal
des Iraks ereilen wird. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass jene
Staaten, die eine Reform benötigen und sie auch wollen, diese
selbst durchsetzen müssen. Eine militärisch erkämpfte und erzwungene
Demokratisierung wird scheitern.
JUDITH HART leitet das Ressort Weltbühne bei Cicero. Ursprünglich
hielt sie den Einmarsch im Irak für richtig. Inzwischen hat sie Zweifel
Der Irak war ein von Diktatur korrumpiertes und, nach hunderttausendfachen
Morden an Kurden und Schiiten, zerrissenes Land
78
Cicero – 7. 2014

KAPITAL
„ Wir müssen den
Kapitalismus bändigen.
Deswegen brauchen
wir internationale
Regelungen wie das
Freihandelsabkommen
TTIP mit den USA “
Vizekanzler Sigmar Gabriel fordert im Cicero-Interview, die Verhandlungen über das
TTIP‐Abkommen zwischen der Europäischen Union und den USA zu entmystifizieren, Seite 88
79
Cicero – 7. 2014

KAPITAL
Porträt
SÜSSE LAST DER EWIGKEIT
Werner Müller gelang schon der Ausstieg aus der Steinkohle. Jetzt soll er für die
Energiekonzerne den Abbau der Atommeiler organisieren zulasten der Steuerzahler
Von ANTJE HÖNING
Foto: Thomas Rabsch/Laif
Der klassische Konzernchef denkt
in Quartalen, bei Werner Müller
darf es ruhig etwas mehr sein.
Als Chef der mächtigen RAG-Stiftung
muss er für nicht weniger planen als die
Ewigkeit. Die Stiftung kommt ab 2019
für die Ewigkeitslasten des Bergbaus auf.
Sie muss dafür sorgen, dass die Gruben
in Ruhrgebiet und Saarland nicht voll
Wasser laufen. „Sonst liegt künftig der
Hauptbahnhof Essen unter Wasser“, sagt
Müller. Das will keiner, Müller, 68, schon
gar nicht als gebürtiger Essener und Architekt
der RAG-Stiftung.
2006 schrieb Müller, damals Chef
des Ruhrkonzerns RAG, das kühne Drehbuch
für Deutschlands Ausstieg aus den
umstrittenen Kohlesubventionen: die
Aufspaltung der RAG in einen schwarzen
Teil mit den Zechen und einen weißen
Teil, aus dem der heutige Chemiekonzern
Evonik hervorging. Der Börsengang des
weißen Teils sollte die Ewigkeitslasten
des schwarzen Teils finanzieren, kein
Kumpel sollte ins Bergfreie fallen. Der
promovierte Sprachwissenschaftler Müller
überzeugte Politik, Gewerkschaften
und RAG-Eigentümer von seinem Plan.
Doch Müller wäre nicht Müller,
wenn er in seinem Drehbuch nicht auch
eine prominente Rolle für sich selbst
vorgesehen hätte: die des Stiftungschefs,
der mit dem ihm anvertrauten Vermögen
von 18 Milliarden Euro die Gruben freihält
und zugleich die einstigen Kohlereviere
mit Kulturförderung und Traditionspflege
beglückt. „Die Stiftung soll ja
nicht sinnlos reich werden“, sagt Müller.
Geschichte könnte sich nun wiederholen.
Mit der Atomkraft kommt erneut
eine umstrittene Energieform an
ihr Ende. Bis 2022 soll der letzte Atommeiler
vom Netz. Aus den Gewinnmaschinen
von einst wurden Abschreibungsobjekte,
zumal die Endlagerkosten
unkalkulierbar hoch bleiben. Zu gerne
wären Eon, RWE und EnBW ihre Meiler
nun los. Ihr Notausgang: eine Atomstiftung.
Und der designierte Geburtshelfer
der Stiftung heißt: Werner Müller.
Offiziell schweigen die Atomkonzerne.
Doch die Umrisse des Planes sind
in der Branche bekannt. Danach wollen
die Konzerne ihre Reaktoren in eine Stiftung
einbringen, die dem Bund gehört.
Die Atomstiftung soll die Kraftwerke bis
zum Ausstieg betreiben, den Abriss organisieren
und für die Lagerung des radioaktiven
Abfalls verantwortlich sein.
Kurzum: Der Steuerzahler soll den Konzernen
die Lasten der Atomkraft abnehmen,
nachdem er ihnen zuvor als Stromkunde
Milliardengewinne finanzierte.
Im Gegenzug wollen die Konzerne ihre
Atomrückstellungen von 35 Milliarden
Euro in die Stiftung einbringen und ihre
aussichtsreichen Klagen gegen die Brennelementesteuer
fallen lassen.
WESENTLICHE TEILE des Planes stammen
von RWE. Der Essener Konzern hat Müller
auch als Vermittler zwischen Wirtschaft
und Politik ins Gespräch gebracht,
heißt es. Bei RWE ist Müller kein Unbekannter:
Nachdem er als junger Mann
seinen Traum von der Karriere als Konzertpianist
ausgeträumt hatte („zu unruhige
Hände“), begann dort 1973 seine
Karriere in der Energiebranche, zunächst
als Marktforscher. Als er sich in
einem Buch Gedanken über das Stromsparen
machte, fiel er in Ungnade und
wechselte zu Veba, der Vorgängerin der
heutigen Eon. Querdenker waren in den
goldenen Zeiten der Strom-Oligopole
nicht gefragt.
Müller stehe für die Atomstiftung
bereit, wenn Regierung und Konzerne
dies wünschten, heißt es in seinem Umfeld.
Die Kanzlerin schätzt ihn seit seiner
Zeit als Aufsichtsratschef der Deutschen
Bahn als Moderator, der sich – zumindest
öffentlich – zurücknehmen kann. Das gefiel
schon Gerhard Schröder. 1998 holt er
Müller, der Wert auf den Zusatz „parteilos“
legt, als Wirtschaftsminister in sein
Kabinett. Für Rot-Grün verhandelte Müller
den ersten Atomausstieg.
Zeit seines Lebens war Müller ein
Wanderer zwischen den Welten: zwischen
Wirtschaft, Politik und zurück.
Als passionierter Alpinist weiß Müller,
dass man verlässliche Seilschaften und
Ausdauer braucht, um den Gipfel zu erreichen.
Es gibt kaum einen Topmanager
in der Energiebranche und -politik, mit
dem Müller nicht irgendeine Geschichte
verbindet. Er pflegt seine Beziehungen,
gerne bei gutem Rotwein und hilft Weggefährten,
die durch den Karriererost gefallen
sind.
Sein Meisterstück in eigener Sache
lieferte er 2012 ab. Über Jahre hatten
Teile der nordrhein-westfälischen Landespolitik
ihn als Chef der RAG-Stiftung
verhindern wollen, weil sie fürchteten,
er würde diese wie ein sizilianischer
Pate führen. Am Ende erreichte der Bergwanderer
sein Ziel: Das Kuratorium, in
dem Ministerpräsidenten, Bundesminister
und Industrievertreter sitzen, machte
Müller zum Vorstandschef.
Nun muss er das Vermögen der Kohlestiftung
sichern und mehren, was in
Zeiten von Minizinsen nicht ganz einfach
ist. Nebenher traut sich Müller auch zu,
die Atomstiftung auf den Weg zu bringen.
Wenn er als „Mr. Ewigkeitslasten“ in
die Geschichte eingeht oder gar ein weiterer
Posten für ihn abfällt, wäre ihm das
nur recht.
ANTJE HÖNING ist Leiterin der
Wirtschaftsredaktion bei der Rheinischen
Post in Düsseldorf
81
Cicero – 7. 2014

KAPITAL
Porträt
EROTISCHES AUS THÜRINGEN
In Thüringen produziert Holger Raithel Porzellan mit Witz. Das findet ausgerechnet im
Ursprungsland des weißen Goldes reißenden Absatz, statt dreist kopiert zu werden
Von FLORIAN FELIX WEYH
Dass sein Zuckerhut die puritanischen
Moralvorstellungen Nordamerikas
bedroht, hätte Holger
Raithel auch nie gedacht. Aber der Inhaber
der thüringischen Porzellanfabrik
Kahla würde sich nie über den Kundengeschmack
mokieren. „Für die USA gibt
es einfach einen flachen Deckel“, erklärt
der 42-Jährige nüchtern.
Während sonst bei Zuckerdosen
der Löffelstiel seitlich herausragt, umschließt
Kahlas Zuckerhut den Löffel
ganz und lässt damit kein Einfallstor für
Insekten offen. Den einen Kunden erinnert
das an den Zuckerhut, den anderen
an einen Mörserstößel – in den USA assoziierten
die Kunden damit eben etwas
Erotisches.
Doch dass Schönheit erotisch wirkt,
lässt sich nicht vermeiden. Wie auch bei
Porzellan, das den Tastsinn ansprechen
soll. „Touch ist thermisch isolierend, akustisch
angenehm, kuschelig weich und spülmaschinenfest“,
schwärmt Holger Raithel
wie ein Liebhaber von seiner Geschirrserie
mit samtiger Filzbeschichtung. Auch
zehn Jahre nach der Markteinführung hat
es niemand geschafft, die patentierte Beflockungstechnik
zu imitieren.
Wer Porzellan für einen altmodischen
Werkstoff hält, wird von Raithel
eines Besseren belehrt. Er schwärmt
von neuen Materialverbindungen, die
Design wünsche und technische Wissbegier
befriedigen. Tassen lassen sich piercen,
und neuerdings gibt es bei Kahla beschreibbares
Geschirr für die spontane
Weltformel-Eingebung bei Tisch.
Innovationen aus einem Ort, der
lange für biedere Massenware stand:
Aus den Wurzeln eines regionalen Mittelständlers
aus dem 19. Jahrhundert
wuchs Kahla in der DDR zum Kombinat
mit 20 000 Arbeitern, 7000 davon arbeiteten
am Stammsitz in der gleichnamigen
Kleinstadt. Man produzierte für den ganzen
Ostblock, nach der Wende folgte die
Insolvenz auf dem Fuß.
Als Günther Raithel, Holgers Vater,
dann 1994 das Gelände besichtigte, fand
der damalige Rosenthal-Porzellanmanager
eine qualifizierte Belegschaft innerhalb
maroder Industrieanlagen vor. Mit
54 Jahren entschloss er sich zur Selbstständigkeit.
Er beließ die Fachleute auf
ihren Posten, krempelte aber das Geschäftsmodell
komplett um: Weg vom
Massenmarkt, hin zum höherpreisigen
Segment.
„Es war dieser Unternehmergeist,
den er bei Philipp immer erlebt hatte“,
sagt Holger Raithel über seinen Vater.
Philipp – das war Philipp Rosenthal, jener
2001 verstorbene deutsche Fabrikant
aus der Porzellanstadt Selb in Bayern, der
einst nicht nur führendes SPD-Mitglied
war, sondern auch als erster deutscher
Unternehmer eine Mitarbeiterbeteiligung
eingeführt hatte. Als Designpionier
sorgte Rosenthal dafür, dass die bürgerliche
Kaffeetafel nicht länger unter Kitsch
und Muff ächzen musste.
MIT GÜNTHER RAITHEL kam dieser ästhetische
wie unternehmerische Geist nach
Kahla. Heute arbeiten zwischen sechsarmigen
Robotern, einer Tassendruckgussanlage
und einem energiesparenden
Glühbrandofen rund 300 Angestellte. Effizientes
Produzieren ist ein Muss, ökologisch
verträgliches ein selbst verordnetes
Ziel und das kooperative Klima ein
Erbe Rosenthals. Nach der Vorgeschichte
Kahlas klingen 300 Arbeitsplätze nicht
besonders viel, doch mit der gesamten
deutschen Porzellanindustrie ging es
dramatisch bergab. Sogar der einstige
Leuchtturm Rosenthal firmiert seit 2009
nur noch als Tochter eines italienischen
Konzerns.
Kahla strahlt immer heller. „Wir
werden auch in diesem Jahr zweistellig
wachsen“, verkündet Holger Raithel, der
2004 die Geschäftsleitung übernahm.
Von den 22 Millionen Euro Umsatz
kam vergangenes Jahr noch rund
die Hälfte aus Deutschland, der größte
Wachstumsmarkt ist China. „Unsere
Zielgruppe will das Original“, sagt sich
Raithel über die Anerkennung, die dem
Thüringer Geschirr aus dem Ursprungsland
des Porzellans zuteil wird. Denn
obwohl er sich bei der väterlichen Firmenneugründung
gerade im Physikstudium
befand, ist er durch und durch ein
Porzellanmacher.
Seine Verbindung zwischen Physik
und Ökonomie schlägt aber immer
wieder neue Funken. So hebelt die Serie
„Magic Grip“ die Fallgesetze wenigstens
teilweise aus. Ob im Flugzeug oder
beim Segeln, ein Tablett mit Magic-Grip-
Geschirr lässt sich beeindruckend schräg
halten, ohne dass die Teller und Tassen
dabei abrutschen. Für Laien hat das etwas
Magisches, für Raithel ist es reine
Adhäsionsphysik.
FLORIAN FELIX WEYH
konnte Porzellanliebhaber nie so recht
verstehen. Jetzt ahnt er zumindest, was
ihnen an diesem Material gefällt
MYTHOS
MITTELSTAND
Was hat Deutschland,
was andere nicht haben?
Den Mittelstand!
Cicero stellt in jeder Ausgabe
einen mittelständischen
Unternehmer vor.
Die bisherigen Porträts
finden Sie unter:
www.cicero.de/mittelstand
Foto: Christoph Busse für Cicero
82
Cicero – 7. 2014

KAPITAL
Porträt
MEISTER DER FALSCHMELDUNG
Markus Lanz, die Deutsche Bank und die CSU mag er nicht. Wie der Postillon-Gründer
Stefan Sichermann eine der populärsten Online-Satireseiten Deutschlands erschuf
Von MERLE SCHMALENBACH
Foto: Daniel Karmann/Picture Alliance/DPA
Es ist schwierig, den Satiriker Stefan
Sichermann zu treffen. Er stehe
nicht so gerne in der Öffentlichkeit,
schreibt er per E-Mail. Und er sei gerade
so beschäftigt. Nur zögernd stimmt er einem
Gespräch in Fürth zu. Aber bitte nur
30 Minuten. Kein Fotograf, nichts Privates.
Sein Tonfall ist freundlich, aber
bestimmt. Sichermann ist medienscheu.
Eine Einladung zu Markus Lanz hat er
ausgeschlagen. Das ist ungewöhnlich.
Denn Medien sind sein Geschäft.
Sichermann betreibt das Satireportal
der-postillon.com. Seine Texte tragen
Überschriften wie „G 1: Putin wirft übrige
sieben Staaten aus der G-8-Gruppe.“
Oder: „CSU gehen allmählich inkompetente
Kandidaten für Ministerposten aus.“
Seine Klickzahlen können sich mit großen
Nachrichtenportalen messen. Allein
im April 2014 kam er auf 13 597 929 Seitenaufrufe.
Im vergangenen Jahr erhielt
er den Grimme Online Award. Das alles
hat er ohne Verlag im Rücken geschafft.
„Er hat als Underdog angefangen, das
macht ihn so glaubwürdig“, sagt der Medienexperte
Stefan Niggemeier.
Sein Erfolg zeigt, dass man im Internet
mit Beharrlichkeit sehr weit kommen
kann. „Ich bin auch ein Korinthenkacker-Typ,
ein Zahlenmensch“, sagt Sichermann.
Morgens um neun Uhr setzt
er sich an den Schreibtisch und klickt sich
durch die Nachrichtenportale. Er weiß,
was im Netz funktioniert: Am besten laufen
die großen Themen. Die Pointe muss
schon in der Überschrift stehen. Täglich
ackert er sich durch 300 bis 400 E-Mails.
Die meisten sind bemüht witzig. Er beantwortet
sie ernsthaft: „Lustig zu sein,
ist anstrengend“, sagt er.
Sichermann ist 33 Jahre alt, ein entspannter,
netter Typ. „Als Schüler war
ich faul“, erzählt er. Damals interessiert
er sich mehr für Computerspiele als für
Prüfungen. Nach dem Abitur studiert er
Anglistik und Geschichte zunächst auf
Lehramt. Weil er nicht gerne vor Klassen
steht, wechselt er auf Magister. Nach
dem Studium arbeitet er als Werbetexter.
Ein Kollege bringt ihn auf die Idee
zu bloggen. 2008 geht seine Seite online.
Weil er nichts Privates schreiben will,
versucht er es mit Satire. Sein Vorbild
ist das amerikanische Portal The Onion.
„Meine ersten Gehversuche waren peinlich“,
sagt er. Doch er bleibt dran, bastelt
herum. Statistiken faszinieren ihn. Seine
Seite hat erst fünf Aufrufe am Tag, dann
zehn, dann 15. „Wow“, denkt er sich. Es
funktioniert wie ein Computerspiel: Er
knackt ein Level nach dem anderen. Sich
selbst hält er im Hintergrund, vor Bühnen
graut es ihm. „Er ist kein Networker,
der auf Empfängen Leuten seine Ideen
andreht“, sagt Niggemeier. „Das macht
seinen Erfolg so sympathisch.“ Die beiden
kennen sich. Sichermann hat mal für
das von Niggemeier gegründete Bildblog
geschrieben.
MIT EINEM GRÜNDERZUSCHUSS macht
Sichermann sich 2012 selbstständig. Die
Kosten sind gering: Für die Domain zahlt
er zwölf Dollar im Monat. Das war’s. Die
Texte schreibt er im Wickelzimmer der
Tochter. Was er über IT und Marketing
wissen muss, bringt er sich selbst bei. Im
Netz spricht sich der Postillon rasch herum.
„Anfangs dachte ich noch, ich hätte
eine kleine, lustige, obskure Seite entdeckt“,
sagt Niggemeier. Besonders der
Artikel „Linie übertreten: Rekordsprung
aus 39 Kilometern Höhe für ungültig erklärt“
zu Felix Baumgartner erregt großes
Aufsehen. Den Link teilen etwa
100 000 Menschen auf Facebook. „Ich
finde das manchmal gruselig“, sagt Sichermann.
Andererseits richten sich die
Einnahmen durch die Werbebanner nach
Klicks, sodass er an diesem Tag so viel
kassiert wie sonst in einem Monat.
Über seine Einkünfte schweigt er.
Nur so viel: „Ich kann gut davon leben.“
Mittlerweile beschäftigt er freie Autoren.
Im Herbst erscheint sein zweites Buch,
ein Best-of des Postillon. Für den NDR
produziert er die Sendung Postillon24.
Dem NDR hat das eine einstweilige Verfügung
des Senders N24 eingebracht, Begründung:
Verwechslungsgefahr. Realsatire
und für Sichermann neues Material.
Aufmerksamkeit spült Leser auf sein
Portal. Seinen Umsatz generiert er zu
90 Prozent durch Werbung. Die Anzeigenpreise
beginnen bei 400 Euro im Monat.
Die meisten seiner Besucher kommen
über Facebook. Er hat dort mehr als
900 000 Fans. Ob ihn diese Abhängigkeit
beunruhigt? „Nein, im Netz werden sich
immer neue Modelle finden.“
Was die Anzeigen auf seiner Seite
angeht, ist er wählerisch. Die CSU oder
die Deutsche Bank etwa dürften nicht bei
ihm werben. Er ist ein politischer Mensch.
Früher war er in der SPD. Wegen Schröder
und der Agenda 2010 trat er aus. „Ich
bin Atheist und ziemlich links“, sagt er.
„Aber ich will nicht, dass das auf den Postillon
abfärbt. Ich kann mich auch über
linke Parteien aufregen.“
Eine tiefe Abneigung hegt er gegen
die Bild. Als die unlängst zarte Bande
zu ihm knüpfen wollte, veröffentlichte
er die E-Mail im Internet. Und forderte
seine Leser zu möglichst fiesen Antworten
auf. Es hagelte höhnische Kommentare,
Tausende beteiligten sich. Sichermann
mag medienscheu sein, aber seine
mediale Macht weiß er zu nutzen.
MERLE SCHMALENBACH kann auch
sehr hartnäckig sein. Sechs Monate ließ
Sichermann sich von ihr bitten, aber sie gab
nicht auf, bis er ihr einen Termin gab
85
Cicero – 7. 2014

KAPITAL
Hintergrund
Chlorhühnchen, Geheimverhandlungen
und Investorenschutz –
das sind die Schlagworte, die in
Deutschland die Diskussion um das Freihandelsabkommen
zwischen der Europäischen
Union und den USA beherrschen.
Die Kritiker der Transatlantischen Handels-
und Investitionspartnerschaft kurz:
TTIP warnen wahlweise davor, dass das
Abkommen die Demokratie aushöhle,
Sonderrechte für internationale Konzerne
schaffe oder Standards des Umwelt-
und Verbraucherschutzes gefährde.
Dass durch den Abschluss eines solchen
Abkommens eine Freihandelszone
ohne Zölle und andere Handelsbarrieren
mit gut 800 Millionen Einwohnern
geschaffen würde, die Wachstum und
Arbeitsplätze generiert, interessiert die
Öffentlichkeit dagegen kaum. Dabei darf
Europa auf wirtschaftliche Zugewinne
von 119 Milliarden Euro im Jahr hoffen,
die USA auf 95 Milliarden Euro. Nach einer
Studie der Bertelsmann-Stiftung werden
allein in Deutschland durch das Abkommen
160 000 Arbeitsplätze in den
kommenden 15 Jahren geschaffen sowie
ein zusätzliches Wirtschaftswachstum
von 0,3 Prozent pro Jahr erzielt. Bundeswirtschaftsminister
Sigmar Gabriel fordert
im Cicero-Interview (siehe Seite 88),
das TTIP-Abkommen zu entmystifizieren.
Wie stichhaltig sind die Argumente
der Kritiker?
ÜBER DAS ABKOMMEN WIRD GEHEIM
VERHANDELT
Immer wieder ist von Geheimverhandlungen
die Rede. Es wird der Eindruck
erweckt, dass ein kleiner Kreis von
Leuten hinter verschlossenen Türen über
die Köpfe der Bürger hinweg entscheidet.
Völkerrechtliche Verträge, zu denen auch
dieses Abkommen gehört, werden aber
nie öffentlich verhandelt. Darüber hat
sich bisher auch noch nie jemand ernsthaft
aufgeregt. Genauso gut könnte man
der Bundesregierung vorwerfen, dass
sie ihre Kabinettssitzungen nicht live im
Fernsehen überträgt, oder sich darüber
beschweren, dass der Koalitionsvertrag
nicht vor der Bundespressekonferenz
ausgehandelt wurde.
Für die seit Juli 2013 laufenden Verhandlungen
hat der Handelsministerrat,
in dem alle 28 Wirtschafts- und Handelsminister
der EU vertreten sind, der
HARMONIE
STATT HORMONE
Die Kritik am geplanten Freihandelsabkommen
zwischen der EU und den USA ist laut und
vielstimmig, aber nicht immer gut begründet.
Über die Chancen des größten gemeinsamen
Marktes der Welt wird in Deutschland dagegen
bisher kaum diskutiert
Von DANIEL MARTIENSSEN
Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein
86
Cicero – 7. 2014

Allein in
Deutschland
werden
durch das
Abkommen
160 000 neue
Arbeitsplätze
geschaffen
Europäischen Kommission ein Mandat
erteilt, mit den USA den Entwurf eines
Freihandelsabkommens auszuhandeln.
Dieses Mandat wurde bisher nie offiziell
veröffentlicht, ist aber inzwischen für
jeden Interessierten leicht im Internet zu
finden. EU-Handelskommissar Karel De
Gucht informiert die Vertreter aller Mitgliedstaaten
regelmäßig über den Stand
der Verhandlungen. Auch aufgrund der
öffentlichen Kritik hat die Brüsseler
Kommission eine Beobachtergruppe von
14 Vertretern aus Industrie und Zivilgesellschaft
einberufen, die Einblick in alle
Dokumente erhalten.
TTIP FÜHRT ZU EINER EROSION DES
VERBRAUCHER- UND UMWELTSCHUTZES
Hauptziel des gemeinsamen Marktes
ist es, den Handel zwischen den USA
und der EU zu fördern. Dafür sollen nicht
nur die Zölle abgeschafft werden. Mindestens
genauso wichtig ist der Wegfall
nichttarifärer Handelshemmnisse. Dazu
gehören unterschiedliche Zulassungsverfahren,
technische Standards, Sicherheits-
und Gesundheitsvorschriften, der
eingeschränkte Zugang zu öffentlichen
Aufträgen. Zum Beispiel dürfen in den
USA nur Autos mit roten Blinkern, in der
EU nur solche mit orangenen zugelassen
werden. Die Autobauer zwingt das dazu,
zwei unterschiedliche Blinker herzustellen.
Die dadurch entstehenden Kosten
ließen sich vermeiden, wenn Amerikaner
und Europäer die Standards angleichen
oder den jeweils anderen anerkennen.
Ob das Schutzniveau für Verbraucher
und Umwelt dadurch sinkt, lässt sich
beim jetzigen Stand der Verhandlungen
kaum eindeutig beurteilen. Ob ein mit
Chlor desinfiziertes US-Huhn gesünder
ist als die europäische Antibiotika-Variante,
darüber streiten sogar die Experten.
Und während die Verbraucher hierzulande
hormonbehandeltes Fleisch fürchten,
ist für die Amerikaner Rohmilchkäse
ein Tabu. In anderen Bereichen, wie der
Finanzmarktregulierung oder Zulassung
von Medikamenten und Elektrogeräten,
behaupten beide Seiten, die strikteren
Regeln zu haben.
Ein race to the bottom, also die Angleichung
der Standards auf niedrigstem
Niveau, ist daher unwahrscheinlich, weil
dies auf beiden Seiten des Atlantiks politisch
nicht durchsetzbar wäre. Außerdem
soll TTIP als Modellabkommen dienen,
dessen hohe Standards in Arbeits-, Umwelt-
und Verbraucherschutz hohe Standards
auch auf Drittstaaten ausstrahlen
und zu verbesserten globalen Regeln führen
sollen.
DER INVESTITIONSSCHUTZ SCHAFFT
SONDERRECHTE FÜR UNTERNEHMEN
Die heftigste Kritik am Freihandelsabkommen
rufen in Deutschland die Regelungen
zum Investitionsschutz und
die dazugehörigen Schiedsgerichte hervor.
Kritiker befürchten, dass damit ein
Sonderrecht für Unternehmen geschaffen
wird. Sie halten die Schiedsgerichte
für undemokratisch, intransparent und
rechtsstaatsfeindlich.
Investitionsschutzabkommen sind
ursprünglich eine deutsche Erfindung.
Die Bundesrepublik schloss 1959 erstmals
mit Pakistan ein derartiges Abkommen
ab. Mehr als 130 solcher Abkommen
mit deutscher Beteiligung gibt es inzwischen.
Weltweit sind es etwa 4000.
Investoren sollen so vor willkürlichen
Maßnahmen der Gastländer geschützt
werden: Sie dürfen nicht gegenüber
einheimischen Unternehmen
diskriminiert werden, sie haben Anspruch
auf „faire und gleiche Behandlung“,
sie dürfen nur im öffentlichen
Interesse und nur gegen Entschädigung
enteignet werden, und sie müssen
ihr Kapital ungehindert ein- und ausführen
können. Wird eines dieser vier
Prinzipien verletzt, kann der Investor
gegen das Gastland vor einem internationalen
Schiedsgericht klagen, das vom
Internationalen Zentrum zur Beilegung
von Investitionsstreitigkeiten bei der
Weltbank eingesetzt wird. Drei Richter
fällen das Urteil: Einen bestimmt der Investor,
einen der Staat, auf den dritten
einigt man sich gemeinsam.
Die Kritiker fürchten, dass Großkonzerne
ihr Klagerecht gegen die an
TTIP beteiligten Staaten missbrauchen,
um gegen aus ihrer Sicht geschäftsschädigende
Gesetze vorzugehen. Das könnte
mittelfristig die Demokratie aushöhlen
und die staatliche Souveränität einschränken.
Außerdem wird argumentiert,
dass zwischen entwickelten Rechtsstaaten
wie den USA und den Mitgliedern
der EU der Rückgriff auf Schiedsgerichte
nicht gerechtfertigt sei. Bundesjustizminister
Heiko Maas sagte kürzlich: „Die
Bundesregierung hält Schiedsgerichte
zwischen OECD-Staaten für überflüssig.“
Hier sei der Investorenschutz über
nationale Gerichte gewährleistet. Allerdings
fehlt denen bisher die Zuständigkeit,
über Ansprüche aus völkerrechtlichen
Abkommen zu entscheiden.
Außerdem finden es US-Investoren nicht
besonders attraktiv, vor einem Gericht in
Italien oder Rumänien klagen zu müssen.
Umgekehrt ist es für europäische Unternehmen
oft sehr teuer und langwierig, in
den USA zu prozessieren. Die öffentliche
Kritik hat allerdings dazu geführt, dass
die Verhandlungen in diesem Punkt kurz
vor der Europawahl für drei Monate ausgesetzt
wurden.
TTIP FEHLT DIE DEMOKRATISCHE
LEGITIMATION
Lange Zeit sah es so aus, als ob auf
europäischer Seite nur das Europaparlament
und der Ministerrat das Vertragswerk
ratifizieren müssten, weil die alleinige
Kompetenz für Handelsfragen in
Brüssel liegt. Da das Abkommen aber
wohl über reine Handelsfragen hinausgehen
wird, müssen auch die nationalen
Parlamente zustimmen. Die Bundesregierung
hat bereits verkündet, dass sie
nichts unterschreiben wird, wofür sie
nicht eine Mehrheit im Bundestag hat.
DANIEL MARTIENSSEN, Journalist und
Anwalt, kauft auch in Zukunft Biohühner vom
Händler seines Vertrauens und wird die TTIP-
Verhandlungen weiter mit Interesse verfolgen
87
Cicero – 7. 2014

KAPITAL
Interview
„DAS ABKOMMEN
ENTMYSTIFIZIEREN“
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel
über das Freihandelsabkommen zwischen
der EU und den USA
Revolte gegen den Kapitalismus angelsächsischer
Prägung aufrufen, wie
es sich für europäische Sozialdemokraten
gehört?
Sigmar Gabriel: Ich weiß nicht, ob
es einer Revolte bedarf. Ganz sicher
aber brauchen wir eine zweite Bändigung
des Kapitalismus. Die erste ist uns
in Deutschland mit der Idee der sozialen
Marktwirtschaft gut gelungen, indem wir
die wirtschaftliche und die soziale Entwicklung
und den Umweltschutz miteinander
verbunden haben. In einer globalisierten
Welt schaffen wir das nicht
mehr nur mit nationalen Instrumenten.
Deswegen brauchen wir internationale
Regelungen, zu denen auch das Freihandelsabkommen
TTIP mit den USA gehören
kann.
Aber die TTIP-Verhandlungen scheinen
eine ganz andere Richtung einzuschlagen:
Verletzen die Investitionsschutzklauseln,
die von Schiedsgerichten
überwacht werden, nicht die Souveränität
der Staaten und drohen am Ende
sogar die Demokratie auszuhebeln?
Deutschland hat bereits mehr als
130 Investitionsschutzverträge abgeschlossen,
die zum Teil auch Investor-
Staat-Schiedsverfahren vorsehen. Das
hat sich bewährt bei Abkommen mit
Ländern, deren Rechtskultur nicht mit
unserer oder der unserer europäischen
Partner vergleichbar war. Deutsche Mittelständler,
die in China investieren, wären
froh, wenn sie ihre Ansprüche wegen
Urheberrechtsverletzungen bei einem
zuständigen Schiedsgericht durchsetzen
könnten und nicht den chinesischen
Rechtsweg beschreiten müssten.
Herr Gabriel, im Europawahlkampf war
das Freihandelsabkommen zwischen der
EU und den USA ein großes Thema. Wo
sind in dieser Diskussion um noch mehr
Wettbewerb eigentlich die sozialdemokratischen
Kräfte, die die freien Märkte
bändigen wollen oder mal zu einer
Sigmar Gabriel
wurde 1959 in Goslar geboren.
Der studierte Gymnasiallehrer
ist seit 2009 Parteichef der SPD.
Der ehemalige niedersächsische
Ministerpräsident ist seit
2013 Wirtschaftsminister und
Vizekanzler der Großen Koalition
Aber brauchen wir solche Schiedsgerichte
auch zwischen entwickelten
Rechtsstaaten wie den USA und den
EU-Mitgliedern?
Nein, hier halte ich sie für unnötig.
Viele haben ja die Sorge, dass solche Regeln
Unternehmen die Möglichkeit eröffneten,
Gesetze anzugreifen, die nationale
Parlamente beschlossen haben,
und im Zweifelsfall vor Schiedsgerichten
auf Schadensersatz zu klagen. Daher
sind wir gegen Investitionsschutzklauseln
beim TTIP, das habe ich dem
zuständigen EU-Handelskommissar Karel
De Gucht auch so gesagt.
Illustration: Miriam Migliazzi und Mart Klein
88
Cicero – 7. 2014

Warum erregen aber schon die Verhandlungen
die Gemüter so stark?
Das Problem ist, dass die Verhandlungen
bisher hinter verschlossenen Türen
stattfinden. Geheimverhandlungen
zwischen den USA und der EU im aufgeklärten
21. Jahrhundert, das ist absurd.
Nicht einmal das Verhandlungsmandat
ist bislang offiziell veröffentlicht worden.
Die Folge ist, dass das TTIP-Abkommen
zu einer riesigen Projektionsfläche
wird: Die einen prophezeien das Reich
der Glückseligkeit, die anderen beschwören
den Untergang des Abendlands. Die
Befürworter wollen schon jetzt auf den
Euro genau errechnen können, wie viel
das Abkommen jedem Haushalt bringt.
Die Kritiker haben 500 000 Unterschriften
gesammelt gegen etwas, das es so
noch gar nicht gibt. Denn bisher steht
nicht eine Zeile dieses Abkommens fest.
„Ich halte es für
zwingend, dass
die nationalen
Parlamente über
das Abkommen
abstimmen,
sonst verliert
man endgültig
das Vertrauen
der Bevölkerung“
nicht im ökonomischen Interesse unseres
Landes sein – und übrigens auch
nicht in unserem politischen, kulturellen
und sozialen.
Wie wollen Sie sicherstellen, dass die
deutschen Interessen bei den Verhandlungen
ausreichend berücksichtigt
werden?
Die Verhandlungen führt die EU-
Kommission. Aber am Ende müssen die
Mitgliedstaaten sowie das Europäische
und alle nationalen Parlamente entscheiden.
Nicht nur in Deutschland gibt es ja
Debatten über TTIP, sondern in allen europäischen
Ländern. Das ist auch richtig
so, denn es ist ein wichtiges Thema.
Allen Beteiligten ist klar: Ein Abkommen,
das die unterschiedlichen Interessen
nicht vernünftig ausbalanciert, wird
es nicht geben.
Wie wollen Sie das Vertrauen der Gegner
zurückgewinnen?
Wir müssen die Verhandlungen über
das Abkommen entmystifizieren. Wir
müssen das Verhandlungsmandat veröffentlichen,
damit klar ist, worüber gesprochen
wird und was geregelt werden
soll. Die Ergebnisse der einzelnen Verhandlungsrunden
müssen öffentlich diskutiert
werden. Ich halte es für zwingend,
dass die nationalen Parlamente über das
Freihandelsabkommen abstimmen. Wenn
man die Demokratie schon beim Abstimmungsverfahren
aushebeln will, dann verliert
man endgültig das Vertrauen der Bevölkerung
in dieses Abkommen. Deshalb
wollen wir mehr Transparenz.
Warum brauchen wir dieses Abkommen
mit den USA überhaupt?
Gerade für Deutschland als Exportnation
ist es von großem Vorteil, wenn
der internationale Handel weiter vereinfacht
wird und Kosten gespart werden
können. Und wenn wir internationale
Regeln haben wollen, zum Beispiel
gegen das Steuerdumping internationaler
Konzerne, zur Regulierung der Banken
und der Finanzmärkte, zur Angleichung
des Verbraucherschutzes und der
Umweltstandards, dann können wir das
nicht ohne die USA machen. Außerdem
besteht die große Gefahr, dass sich die
USA von Europa ab- und sich ganz dem
pazifischen Raum zuwenden. Das kann
Sie haben einen TTIP-Beirat eingerichtet.
Wozu soll der gut sein?
Ich habe TTIP-Befürworter und
Gegner aus allen gesellschaftlichen
Gruppen – von den Gewerkschaften bis
zu den Wirtschaftsverbänden, von den
Kommunen bis zum Kulturbereich – eingeladen,
sich regelmäßig mit mir über
den Fortgang der Gespräche und natürlich
auch über die bestehenden Vorbehalte
auszutauschen und mich zu beraten.
Bei der zweiten Sitzung haben wir
uns das Thema Kultur vorgenommen.
Für mich und die gesamte Bundesregierung
ist klar: TTIP wird nichts an unserem
bewährten System der Kulturförderung
ändern.
Das Gespräch führten FRANK A. MEYER und
CHRISTOPH SCHWENNICKE
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KAPITAL
Report
IRRSINNIGER
WETTLAUFVon TIL
KNIPPER
Illustrationen OTTO
90
Cicero – 7. 2014

Hochfrequenzhändler
manipulieren mit ihren
Algorithmen die Kurse
und destabilisieren die
Märkte. Ein Ortsbesuch
beim Erfinder des
automatisierten
Computerhandels
91
Cicero – 7. 2014

KAPITAL
Report
Kurze weiße Haare, Bart, leicht gebräuntes
Gesicht, sportliche Figur,
beige Shorts, blauer Pulli und Flip-
Flops an den Füßen – so sitzt der amerikanische
Physiker Doyne Farmer, 62,
Anfang Juni in seinem Büro in der University
of Oxford in England.
Dieser freundlich lächelnde Professor
in Surferklamotten soll der Erfinder
des Hochfrequenzhandels an den internationalen
Finanzmärkten sein? Die umstrittenen
Methoden der „Flash Boys“,
die mit ihren ultraschnellen Hochleistungsrechnern
den Börsenhandel weltweit
beherrschen, sorgen derzeit aufgrund
des gleichnamigen Buches des
amerikanischen Erfolgsautors Michael
Lewis für Gesprächsstoff in den Finanzmetropolen
weltweit. Kritiker machen
das High-Frequency-Trading (HFT) für
die zunehmende Instabilität der Märkte
verantwortlich. Manche vergleichen
den Hochfrequenzhandel sogar mit einer
Atombombe.
Bei dem Vergleich muss Farmer
grinsen, schließlich begann seine akademische
Laufbahn Anfang der achtziger
Jahre als Oppenheimer-Stipendiat
am National Laboratory in Los Alamos,
dem Ort, wo unter der Leitung von Robert
Oppenheimer im Zweiten Weltkrieg
die amerikanische Atombombe entwickelt
wurde.
Aber was hat die Atombombe mit
dem Hochfrequenzhandel von Wertpapieren
zu tun? Glaubt man Michael
Lewis: Jede Menge, weil der computergestützte
Handel gefährliche Kettenreaktionen
an den Märkten auslösen
kann. Der Grund dafür sind die zwei
wichtigsten Komponenten des Hochfrequenzhandels:
Algorithmen und ultraschnelle
Datenverbindungen.
Anders als es der tägliche Börsenbericht
vor der Tagesschau suggeriert, spielen
die Parketthändler im Börsensaal
nämlich eine immer geringere Rolle. An
der Deutschen Börse steuert der Hochfrequenzhandel
bereits die Hälfte des
Handelsvolumens bei, an den US-Börsen
liegt der Anteil bei 70 Prozent. Hier
kommunizieren Maschinen mit Maschinen,
in Millisekunden können gigantische
Mengen von Kauf- und Verkaufsaufträgen
an den Börsen erteilt werden. Ausgelöst
werden die Aufträge durch Algorithmen.
Besonders beliebt sind im HFT-Handel
Arbitragegeschäfte und das sogenannte
Frontrunning. „Das heißt, die Programme
der Flash-Trader identifizieren Ihre Absicht,
eine Aktie zu kaufen. Dann kaufen
sie sie vor Ihnen und verkaufen Ihnen die
Aktien zu einem höheren Preis weiter“,
erklärt Lewis. „Das alles passiert binnen
Bruchteilen von Sekunden.“ Der Economist
hat diese Vorgehensweise einmal
mit einem treffenden Vergleich zusammengefasst:
Flash-Trader verhielten sich
wie Lockvögel am Eingang eines Supermarkts,
die Kundschaft mit kostenlosen
Leckereien köderten. Und noch während
der Kunde sich über das Produkt lobend
äußere, laufe ein Mitarbeiter zum Regal,
um den Preis für das Produkt zu erhöhen,
bevor der Kunde dort ankomme.
Bei Arbitragegeschäften suchen anders
programmierte Algorithmen nach
kleinsten Preisdifferenzen von Wertpapieren
an verschiedenen Börsen. Werden
sie fündig, kaufen und verkaufen die
Computer die Aktien innerhalb von Sekundenbruchteilen.
Die Gewinne jeder
einzelnen Transaktion liegen im Centbereich.
Dank der hohen Stückzahlen, die
gehandelt werden, rechnet es sich aber.
Kritiker
vergleichen den
an der Börse
grassierenden
Turbohandel mit
der Erfindung
der Atombombe
Geschwindigkeit ist bei dieser Art
des Handels alles. Und der Wettlauf um
die technische Aufrüstung nimmt inzwischen
immer absurdere Formen an. Während
für dringend notwendige öffentliche
Infrastrukturprojekte in weiten Teilen
der USA kein Geld zur Verfügung steht,
verlegen private Spezialanbieter immer
schnellere Datenleitungen zwischen den
wichtigsten Börsenhandelsplätzen. 2010
installierte das neu gegründete Unternehmen
Spread Networks in Rekordzeit
eine neue 1331 Kilometer lange Glasfaserleitung
auf dem direktesten Weg
zwischen New York und Chicago für
mehrere hundert Millionen Dollar. Der
einzige Sinn und Zweck der Leitung besteht
darin, eine Order zwischen den beiden
Handelsplätzen drei Millisekunden
schneller verschicken zu können. Und jeder
Zentimeter kostet Zeit. Für Spread
Networks lohnte es sich trotzdem, weil
es dem Unternehmen gelang, die Leitung
gegen Vorauskasse für fünf Jahre
an High-Frequency-Trader zu vermieten,
für 2,8 Milliarden Dollar insgesamt.
Da wundert es nicht, dass andere Anbieter
bereits ein neues Kabel durch den
Atlantik verlegen wollen, das die Datenübertragung
zwischen London und New
York extrem verkürzen soll. Das muss, da
es nicht so tief wie die bisherigen Leitungen
verlegt wird, aufwendig mit einem
Metallschutz gegen Attacken von Haien
versehen werden, die durch die elektromagnetische
Strahlung angezogen werden.
Auch eine kabellose Übertragung
mit Hilfe von über dem Ozean fliegenden
Drohnen könnte in absehbarer Zeit
Realität werden.
DASS DIE KOSTEN der technischen Infrastruktur
für Hochfrequenzhändler
eine zu vernachlässigende Rolle spielen,
zeigt, wie lukrativ ihr Geschäftsmodell
sein muss. Die Zahlen des amerikanischen
HFT-Traders Virtu Financial belegen
das eindrucksvoll. Virtu hatte seine
Ergebnisse kürzlich zum ersten Mal veröffentlicht,
und zwar vor einem geplanten
Börsengang: 2013 holte Virtu aus
665 Millionen Dollar Umsatz 182 Millionen
Dollar Gewinn heraus. Bis zu zwei
Millionen Dollar Nettogewinn pro Handelstag
waren dabei keine Seltenheit.
Aus dem Katalog zum geplanten Börsengang
ging außerdem hervor, dass Virtu
92
Cicero – 7. 2014

Günther Jauch, Journalist
faz.net
Mit freundlicher Unterstützung durch RTL/Endemol und 2waytraffic

KAPITAL
Report
in fünf Jahren Wertpapierhandel nur an
einem einzigen Tag Verlust machte. Den
eigenen Börsengang hat das Unternehmen
unmittelbar nach der Veröffentlichung
von Lewis’ Buch zumindest „vorläufig“
verschoben.
Der andere große Profiteur des
Hochfrequenzhandels sind die Börsenanbieter,
die aufgrund des hohen
Handelsvolumens ihrer neuen Kunden
die Gebühreneinnahmen erheblich steigern
konnten. Dafür kommen sie den
High‐Speed‐Händlern auch in anderen
Bereichen entgegen. Besonders deutlich
wird das bei der sogenannten Kolokation:
Gegen entsprechend hohe Gebühren dürfen
die Händler ihre hochgetunten Computer
direkt in den Rechenzentren der
Börsen neben deren Servern aufstellen,
um auch hier keine Millisekunde bei der
Übertragung zu verlieren.
Die großen Verlierer in diesem Spiel
sind institutionelle Anleger, wie Fondsgesellschaften,
Versicherungen und Pensionskassen.
Weil sie hohe Stückzahlen
an Wertpapieren handeln und dadurch
die Preise in Bewegung bringen, sind sie
ein gefundenes Fressen für die Algorithmen
der „Flash Boys“. Indirekt erleiden
dadurch auch private Kleinanleger Verluste,
weil die Rendite ihrer Fondsanteile
oder der Altersvorsorge geschmälert
wird. Öffentlich spricht die Branche aber
ungern darüber, weil sie gegenüber ihren
Kunden nicht eingestehen will, dass sie
den Hochfrequenzhändlern bisher meist
hilflos ausgeliefert ist.
DOYNE FARMER KENNT diese ganzen Diskussionen
natürlich. Und wenn man
ihn fragt, ob er geahnt habe, was er und
sein Studienkollege Norman Packard
1991 mit der Gründung ihrer Prediction
Company in Santa Fe in New Mexico alles
in Gang bringen würden, will er zunächst
einmal etwas klarstellen: „Wir
waren keine Hochfrequenzhändler. Wir
waren nur die ersten, die ein auf Algorithmen
basierendes automatisches Handelssystem
entwickelt haben, das funktioniert
hat.“ Sie fütterten das System
mit Daten, und das System traf die Investmententscheidungen,
die sie dann
ausführten. Das, was man heute unter
Hochfrequenzhandel versteht, war damals
zur Verfügung stehenden Computern
gar nicht möglich.
Es gehörte zum
guten Ton, seine
mathematischen
Fähigkeiten
gegen die
Kasinos
auszuspielen
Farmer verkörpert diese angenehm
selbstbewusste amerikanische Art, die
hier im altehrwürdigen, durch und durch
britischen Oxford fast etwas deplatziert
wirkt: „Die Motivation, die Firma zu
gründen, war einerseits akademisch getrieben,
andererseits wollten wir natürlich
so schnell wie möglich so viel Geld
wie möglich verdienen.“ Packard und er
galten als Pioniere auf dem Gebiet der
Chaos-Theorie. Ihr akademischer Antrieb
bestand darin, auch in noch so
komplexen, chaotischen Systemen wiederkehrende
Muster zu erkennen. Ihr
wissenschaftlicher Mentor Tom Ingerson
hatte ihnen frühzeitig eingeimpft: „Geld
ist der Schlüssel zur Freiheit. Ihr müsst
euch euer wissenschaftliches Knowhow
direkt zunutze machen – Ideen in
Gold verwandeln.“ Am nahe liegendsten
schien ihnen Glücksspiel. Es gehörte damals
beinahe zum guten Ton unter jungen
Wissenschaftlern, die eigenen mathematischen
Fähigkeiten in Kasinos
auszuspielen.
Nach ersten Erfolgen bei Kartenspielen
wie Black Jack und Poker wurden sie
ehrgeiziger und nahmen sich Roulette
vor. In jahrelanger Arbeit, immer wieder
94
Cicero – 7. 2014

unterbrochen von anderen Projekten, gelang
es ihnen, einen Algorithmus zu entwickeln,
der ihre Gewinnchancen gegenüber
einem Normalspieler um 40 Prozent
verbesserte. Sie überspielten ihn auf einen
Computer, der so klein war, dass
man ihn im Schuh versteckt mit an den
Roulettetisch nehmen und mit dem Fuß
starten konnte, wenn die Kugel im Rad
einen bestimmten Punkt passierte. Der
Algorithmus ermittelte dann so schnell
acht Zahlen, in die die Kugel hineinfallen
würde, dass der Spieler noch rechtzeitig
vor dem „Rien ne va plus“ setzen
konnte. Theoretisch hatten sie das Casino
geschlagen, in der Praxis aber versagte
ständig die Hardware.
Farmers Ehrgeiz wurde durch die
Niederlage erst richtig angestachelt. Auf
die Idee mit der Prediction Company kamen
sie schließlich, weil sie bei Präsentationen
ihrer Arbeiten immer häufiger
gefragt wurden, ob sie ihre Erkenntnisse
aus der Chaosforschung schon mal auf
die Finanzmärkte angewandt hätten.
„Die Kursbewegungen an den Märkten
galten als nicht vorhersehbar. Wir dachten:
Mal gucken, ob es doch geht“, erzählt
Farmer. Damals war die Effizienzmarkthypothese
von Eugene Fama sehr
populär. „Ihn zu widerlegen, das war Teil
der Herausforderung.“
Obwohl sie über keine Erfahrung an
den Finanzmärkten verfügten, fanden sie
mit der Tradingfirma O’Connor & Associates
relativ schnell einen Partner für ihr
Unterfangen: „Unser Roulettesystem war
ein großartiger Türöffner an der Wall
Street, weil Börsenhändler eine hohe Affinität
zu Kasinos haben“, sagt Farmer
lächelnd. Das automatisierte Handelssystem,
das Farmer und Packard dann
gemeinsam mit ehemaligen Studenten
und Doktoranden entwickelten, erwies
sich schnell als ziemlich erfolgreich. „In
den acht Jahren, die ich in unserem Unternehmen
gearbeitet habe, habe ich jedes
Jahr das 20-Fache meines Professorengehalts
verdient“, sagt Farmer. Später
verkauften sie die Prediction Company
an die Schweizer Großbank UBS zu einem
„recht ordentlichen Preis“, wie Farmer
zufrieden anmerkt.
Seine Laune ändert sich schlagartig,
wenn man ihn als Erfinder oder Urvater
des Hochfrequenzhandels bezeichnet.
Das hört er nicht gern. Er unterscheidet
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KAPITAL
Report
strikt zwischen HFT und dem, was sie
gemacht haben: „Bei HFT geht es nur
um Geschwindigkeit, bei uns ging es
um Intelligenz“, betont Farmer. Die Algorithmen,
die beim Hochfrequenzhandel
verwendet werden, bezeichnet er als
dumm. „Sie müssen sehr kurz sein, damit
der Rechner keine Zeit verliert, wenn
er innerhalb von Millisekunden auf ein
Ereignis reagieren soll.“ Darin besteht
auch eine Gefahr, weil die Programmierer
keine Sicherheitsmechanismen einbauen
können. „Dadurch hat die Ausweitung
des Hochfrequenzhandels zu
einer Destabilisierung der Märkte geführt“,
sagt Farmer.
BEISPIELE DAFÜR GAB es in den vergangenen
Jahren genug. 2013 erschütterten
innerhalb von nur einer Woche drei Technikpannen
das Vertrauen in die Märkte.
Am 20. August versagte zunächst das automatische
Handelssystem der amerikanischen
Investmentbank Goldman Sachs.
17 Minuten lang kauften die Computer
in riesigen Mengen Aktienoptionen in
New York, die die Investmentbank gar
nicht haben wollte. Fehlerbedingt versandte
das Programm Kaufaufträge für
Titel, beginnend mit den Buchstaben H
bis L, darunter US-Großkonzerne wie
Kellogg, Johnson & Johnson oder JP
Morgan Chase. Die betroffenen Börsen
legten Nachtschichten ein, um festzustellen,
welche der Aufträge schließlich ausgeführt
oder storniert werden mussten.
Die Bank erklärte lapidar, dass ihr nur
ein leichter Verlust entstanden sei – immerhin
in Höhe von mehr als 100 Millionen
Dollar, wie sich später herausstellte.
Nur zwei Tage später stand der Handel
an der US-Technologiebörse Nasdaq drei
Stunden lang still. Trader sprachen von
einem Desaster, selbst Präsident Barack
Obama ließ sich über den Systemausfall
informieren. Am 26. August musste dann
die Derivatebörse Eurex in Stuttgart wegen
eines Systemfehlers den Handel zeitweise
stoppen.
Ein Jahr vorher wurde Knight Capital,
einer der größten Hochfrequenzhändler
der Welt, Opfer seiner eigenen
Algorithmen. Ähnlich wie Goldman
Sachs platzierte Knight 45 Minuten lang
ungewollt große Orders. Am Ende summierten
sich die Verluste auf 440 Millionen
Dollar, und Knight musste sich
Beim
Flash‐Crash
2010 sank der
Dow‐Jones
innerhalb
weniger Minuten
um rund
1000 Punkte
vom Konkurrenten Getco schlucken lassen.
Eine der schlimmsten Technikpannen
ging unter dem Namen Flash-Crash
in die Börsengeschichte ein: Am 6. Mai
2010 brach der Dow-Jones-Index an
der New Yorker Börse innerhalb weniger
Minuten um rund 1000 Punkte ein.
Die ausgefeilten Computerprogramme
sogenannter Hochfrequenzhändler hatten
eine verhängnisvolle Kettenreaktion
ausgelöst.
Der Buchautor Michael Lewis geht
mit seiner Kritik sogar noch weiter. Er
wirft den Hochfrequenzhändlern vor, die
Märkte gezielt zu manipulieren. Mary
Jo White, die Vorsitzende der amerikanischen
Börsenaufsicht SEC, hat bereits
angekündigt, dass sich Hochfrequenzhändler
in Zukunft bei der SEC registrieren
müssen. Wesentlich entschiedener
will der New Yorker Generalstaatsanwalt
Eric Schneiderman gegen die Turbohändler
vorgehen, denen er unfaire
Geschäftspraktiken unterstellt. Er hat
schon im April Vorladungen an mindestens
sechs Handelshäuser geschickt.
Schneiderman will herausfinden, ob die
Händler geheime Vereinbarungen mit
Börsen oder Handelsplattformen eingegangen
sind, die ihnen profitable Zeitvorteile
einräumen. Auch die Bundespolizei
FBI hat wegen des Verdachts auf Insiderhandel
mit breitangelegten Ermittlungen
gegen Hochfrequenzhändler begonnen.
Das FBI will klären, ob die schnellen
Computerhändler auf illegale Weise Informationen
verwenden, die nicht allen
Marktakteuren zur Verfügung stehen.
Doyne Farmer schaut sich die Diskussion
mit einer Mischung aus Belustigung
und Überheblichkeit an: „Wenn die
Politik den Hochfrequenzhandel wirklich
abschaffen will, muss sie nur die Regeln
ändern.“ Farmer schlägt vor, den Handel
zu entschleunigen. Ein Handel in Millioder
demnächst Mikro- oder Nanosekundentakt
und das Abhandeln der Aufträge
in der Reihenfolge der Eingänge, schaffe
falsche Anreize. Es reiche völlig aus, einmal
in der Sekunde einen Kurs zu erstellen
und die innerhalb dieser Sekunde
eingegangenen Aufträge alle gleich zu
behandeln und die zur Verfügung stehenden
Wertpapiere nach Quoten zu verteilen.
„Wenn man das einführt, bricht das
gesamte Geschäftsmodell des Hochfrequenzhandels
zusammen.“
Eine Art Politikberatung möchte
er auch mit seinem neuesten Projekt in
Oxford vorantreiben. Es heißt Crisis und
wird mit 3,3 Millionen Euro von der EU
gefördert. Mit seinen Studenten versucht
Farmer dabei ein neues ökonomisches
Modell zu entwickeln: „Wir nehemen
die Schlüsselelemente jeder Volkswirtschaft
– Haushalte, Banken, Unternehmen
und die Regierung – und lassen sie
in all ihrer Komplexität interagieren.“
Wenn es funktioniert, soll ein Modell entstehen,
mit dem man die Konsequenzen
von neuen Gesetzen, die Folgen einer bestimmten
Geldpolitik einer Zentralbank
oder die Ursache der Finanzkrise prognostizieren
kann.
Ließen sich mit so einem Modell
nicht auch Geld verdienen und Investmentstrategien
entwickeln? „Bestimmt,
aber wissen Sie, ich habe genug verdient
in meinem Leben, um jetzt das zu machen,
was mich wirklich interessiert.“
TIL KNIPPER leitet das Ressort
Kapital bei Cicero. Flash-Crashs
rauben ihm nicht den Schlaf,
weil er noch nie in seinem
Leben eine Aktie besessen hat
Foto: Privat
96
Cicero – 7. 2014

STIL
„ In Deutschland gibt es
diese Angst vor allem,
was vermeintlich zu
schön ist. Oft setzen
wir Schönheit gleich
mit Oberflächlichkeit “
Christiane Arp, Chefredakteurin des Modemagazins Vogue, in der Rubrik
„Warum ich trage, was ich trage“, Seite 106
97
Cicero – 7. 2014

STIL
Porträt
MODE MIT GEWISSEN
Die Zwillinge Anja und Sandra Umann machen mit ihrem Label Umasan vegane High
Fashion. Statt apologetischer Öko-Tristesse gelingt ihnen glamouröse Lässigkeit
Von SARAH-MARIA DECKERT
Foto: Johann Sebastian Hänel für Cicero
Aus einem silbrig-blauen Tetrapack
befüllt Sandra Umann ein
Glas mit gekühltem Kokoswasser,
während der Asphalt draußen unter der
heißen Pfingstsonne zu schmelzen droht.
Sie stellt es auf einen Tisch in der Mitte
ihres Showrooms am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz,
drum herum säumt die
letzte Kollektion die Kleiderstangen, akkurat
Bügel an Bügel. Das Telefon hat sie
zur Seite gelegt, ihre Schwester lässt sich
entschuldigen. Die Fashion Week steht
vor der Tür.
Sandra Umann, 36, stets in Schwarz,
von zierlich-androgyner Gestalt, das
kurze blonde Haar nach hinten gelegt
und an einer Seite ausrasiert, ist eine
Hälfte des Design-Duos Umasan. Gemeinsam
mit ihrer 30 Minuten älteren
Zwillingsschwester Anja gründete sie
2010 das weltweit erste vegane Modelabel
für den internationalen High-End-Bereich,
so bewirbt es die Homepage. „Vegan
nachhaltig“, betont Sandra Umann,
„da besteht ein Unterschied.“ Wenn sie
spricht, dann nicht lauter, als sie muss.
Der Unterschied besteht in der Konsequenz.
Moderiesen wie H&M und Topshop
bekommen Lob für ihre Arbeit mit
ökologisch nachhaltiger Baumwolle, produziert
wird jedoch in Asien. Vivienne
Westwood verzichtet seit 2007 auf Pelz,
kann aber nicht vom Leder lassen. Und
Tierschützerin und Vegetarierin Stella
McCartney ist bekannt für ihre Mode,
„die nicht blutet“, Wolle und Kaschmir
schmiegen sich aber immer noch in ihre
Entwürfe.
Für Anja und Sandra Umann gut
gemeint, aber eben nicht konsequent zu
Ende gedacht. Sie wollen mit ihrer veganen
Mode ein nachhaltiges Produkt im
ganzheitlichen Sinne schaffen. So verwenden
sie für Umasan Fasern aus Sojaseide,
Bambus, Modal und Tencel, die
ausschließlich aus Europa bezogen werden.
Geschneidert wird in Betrieben in
Chemnitz und Bayreuth. Gerade tüfteln
die Schwestern mit ihren Zulieferern an
einem adäquaten Lederersatz aus recyceltem
Polyester und Eukalyptusholz.
Auch wenn sie die Optik hier noch nicht
restlos zufriedenstellt, stimmt zumindest
schon mal die CO 2
-Bilanz.
DIE EINEIIGEN ZWILLINGE leben den
Unterschied. Seit ihrem 16. Lebensjahr
leben sie vegetarisch, seit acht Jahren
vegan. Dass ihr alternativer Lebensentwurf
nicht auf Verzicht basiert, wollen
sie auch mit ihrer Mode zeigen. „Es geht
nicht darum, schlechtere Alternativen
zu schaffen“, sagt Sandra Umann, „sondern
bessere.“ Über kurz oder lang habe
auch die Modeindustrie mit abnehmenden
Ressourcen zu kämpfen. Nachhaltigkeit
und große Stückzahlen schlössen
sich deshalb nicht aus. Die Nachfrage
bestätigt den Trend: Gerade haben sie
die zweite Filiale im neuen Bikinihaus
im Berliner Westen eröffnet. Auf den
großen Schauen in Berlin, Paris, Mailand
und New York sind sie mit zwei
Kollektionen im Jahr vertreten, und
Teile daraus werden von Los Angeles
bis Russland verkauft.
Die weiten, teils asymmetrischen
Schnitte und fließenden Stoffe, die sich
durch Schnürungen und Knöpfe je nach
Belieben in Form drapieren lassen, wirken
seltsam körperfern. „Unsere Mode
betont den Körper auch nicht im herkömmlichen
Sinne“, sagt Sandra Umann,
„sondern die Silhouette. Das schafft man
nicht, indem man den Körper einzwängt,
sondern indem man ihm Raum gibt.“ Ein
Ergebnis der japanischen Schnittführung,
die sich an der Kampfsportbekleidung
orientiert und vor allem auf Beweglichkeit
ausgerichtet ist – eine Lässigkeit,
die glamourös wirkt. Gelernt hat Anja
Umann das bei Yohji Yamamoto. Zwei
Jahre arbeitete die studierte Modedesignerin
für den japanischen Stardesigner
in Paris und Tokio. Sein stilistischer
Einfluss ist heute noch präsent,
auch was die klar reduzierte Farbkomposition
angeht, die sich bei Umasan
überwiegend auf monochromes Schwarz,
Weiß und Grau konzentriert.
Es sei auch das puristische Design,
über das sie ihre Kunden in erster Linie
ansprechen wollen, sagt Sandra Umann,
die früher als Modefotografin arbeitete
und heute das Marketing und den Vertrieb
des Labels verantwortet. Den veganen
Aspekt wollen sie nicht offensiv propagieren,
zumal sie deshalb häufig mit
Vorurteilen zu kämpfen haben. Veganismus
gilt als das neue Heilsversprechen
der Konsumgesellschaft, aber eben auch
als Inbegriff eines Lebens voller Verbote
und Selbstkasteiung.
Qualitativ hochwertige, massenkompatible
Mode, die unabhängig von
Zeit und Trends funktioniert und sich
weniger dem Körper als vielmehr dem
Lebensentwurf anpasst. Anfangs glaubten
Anja und Sandra Umann nicht, dass
ihr Konzept in die schnelllebige Modewelt
passe. Die scheuen Schwestern halten
sich auch heute noch im Hintergrund.
Events, Veranstaltungen, Socializing –
Spaß mache ihnen das nicht wirklich.
„Wir sind nicht sehr sozial“, sagt Sandra
Umann angenehm ungerührt, „das ist
dieses Zwillingsding.“ Auf Events seien
sie immer die Letzten, die kommen, und
die Ersten, die gehen. Ihre Mode aber,
die bleibt.
SARAH-MARIA DECKERT schreibt als freie
Autorin für Cicero und fragt sich jetzt, wie
sich Frutarier kleiden
99
Cicero – 7. 2014

STIL
Verkostung
100
Cicero – 7. 2014

Das Feuer, das Fleisch,
der Wein. Drei Farben
Rot im Grünen.
Der Grillsommer ist
da. Unser Autor hat
fünf Entrecôtes auf den
Rost gelegt
Von JULIUS GRÜTZKE mit
Weinempfehlungen von BILLY WAGNER
Das rote Fleisch schimmert in den
gläsernen Kühlkammern von
Metzgereien und Restaurants,
die sich auf Steaks spezialisiert haben.
Und der Ingelheimer Grillhersteller Weber
zeigt seine Produkte in seinem Flagshipstore
in Berlin-Mitte, in dem die
polierten Grills arrangiert sind wie die
Autos in einem Showroom von Ferrari.
Nebenan werden Grill-Lehrgänge angeboten,
die auf Wochen ausgebucht sind.
Mein Haus, mein Auto, mein Garten,
mein Grill. Mein Steak.
Das Steak ist Statussymbol. Und die
neuen Liebhaber des Fleisches und seine
Verächter haben sogar etwas gemeinsam:
Sie sind dagegen, dass Rinder fit gespritzt
und in stickige Ställe eingepfercht werden.
Gespräche in Fachhandel und Gaststätten
drehen sich um Aufzucht und Lebensbedingungen
der Rinder. Steakgenießer
essen am liebsten Kühe, die das Leben
genießen durften. Wie das Vieh lebt, so
schmeckt es auch.
Der Genießer zahlt hohe Preise, aus
einem einfachen Steak wird ein Luxusgut.
Im Alltag isst er dann sogar eher mal nur
Gemüse, da er sich Fleischgenuss in dieser
Qualität nicht immer gönnen muss – ganz
im Sinne von Ernährungswissenschaftlern,
die zur Reduzierung der Fleischrationen
aufrufen. Wenn schon Fleisch,
dann richtig.
Das Rindersteak ist von jeher das
Kostbarste unter den bodenständigen
Lebensmitteln. Lange hatte es trotzdem
den Ruf einer Bauarbeiterspeise: Weil es
so mächtig ist und weil man es als Koch
101
Cicero – 7. 2014

STIL
Verkostung
eigentlich gar nicht mehr verfeinern
kann. Es wird nicht mariniert oder paniert,
sondern nur der Hitze von Grill
oder Pfanne ausgesetzt und dann ohne
viel Beiwerk verspeist.
Diese Schlichtheit kann aber auch
ein Grund für die Renaissance des Steaks
sein. Es ist ein ehrliches Lebensmittel.
Die Schummeleien, mit denen die Nahrungsmittelindustrie
minderwertige Zutaten
aufpeppt, haben keinen Sinn bei
einem Steak, das nicht mehr braucht als
Salz und Pfeffer, um zu gefallen. Dies bedeutet
auch: Ob ein Steak schmeckt, entscheidet
sich vor allem daran, ob man gut
eingekauft hat.
Die Auswahl des richtigen Steaks ist
interessanter geworden, seit sich das Angebot
durch neue Verfahren der Züchtung
und der Reifung vergrößert hat. Auf
Märkten und in Feinkostläden, vor allem
aber auch in spezialisierten Versandhandlungen
ist eine Vielfalt an Variationen
zu beobachten. Rasse und Herkunft
der Rinder sind wichtig, aber zuerst fallen
die unterschiedlichen Zuschnitte der
Fleischstücke auf. Amerikaner und Europäer
zerlegen die Rinder auf jeweils andere
Art, wobei vor allem die Amerikaner
mit ihren riesigen Porterhouses und
Rib-Eyes Eindruck machen. Hierzulande
ist das französische Entrecôte der Standard
der Genießer, Muskelfleisch, das
direkt am Rückgrat liegt und zwischen
den Rippen herausgeschnitten wird. Das
Entrecôte ist wie das Rib-Eye von geschmacksförderndem
Fett durchzogen.
Weniger leicht zu verdauen sind die
enormen Preisunterschiede. Manches
lässt sich mit neuartigen und langwierigen
Arten der Reifung erklären. Das in
Mode gekommene Dry Aging entzieht
dem Fleisch Wasser und Gewicht, was
den Geschmack intensiviert, den Ertrag
des Metzgers hingegen senkt. Ein anderer
Fall sind die teuren Wagyu-Rinder,
deren Aufzucht so viel kostet, dass ihr
Fleisch zum vielfachen Preis anderer Premiumprodukte
verkauft wird. Ob die Geschmackserlebnisse
solche Preise rechtfertigen,
lässt sich nur durch Probieren
klären. Wer hohe Kosten scheut, kann
sich notfalls mit einem alten Steakhousetrick
behelfen, um bei einem Grillabend
mit günstigerem Fleisch Erfolge zu erzielen:
scharfe Messer lassen auch Zähes
zarter erscheinen.
BLACK PREMIUM
Entrecôte aus IRLAND,
Rewe, 200 Gramm für
7 Euro, dazu ein gekühlter
L’INCORRUPTIBLE der
Domaine Sérol für 11,60 Euro
—
Wen schon das Gefühl, endlich
mal wieder ein ordentliches
Stück Rindfleisch zu essen,
glücklich macht, greift
vielleicht zum erstbesten
Angebot, das im Supermarkt zu
finden ist. Dieses Entrecôte aus
irischer Haltung genügt
zumindest dem Anspruch, dem
Fleischentwöhnten die
grundlegenden Eigenschaften
eines Steaks zu vermitteln. Es
fordert Zähnen und Kaumuskeln
einiges ab und hat einen
kräftigen Geschmack, der ein
wenig in Richtung Leber geht,
was bei gut abgehangenem
Fleisch passieren kann und
doch etwas stört. Man kann
nichts falsch machen, wenn
man dieses Steak auf den Grill
legt, und doch: Sich auf Steaks
dieser Qualität zu beschränken,
verschließt den Blick auf eine
Welt voller Möglichkeiten. Um
wenigstens mit dem begleitenden
Wein den Horizont zu
erweitern, empfiehlt Sommelier
Billy Wagner einen kühlen
Rotwein: L’Incorruptible der
Domaine Sérol an der Côte
Roannaise. Dieses französische
Meisterstück wird von einem
wunderbaren Mundgefühl
getragen.
DRY AGED Entrecôte aus
IRLAND, Rewe, 500 Gramm
für 20 Euro, dazu ein
AMARSI INDIA PALE ALE,
für 1,99 Euro
—
Dry Aging ist eine Reifungstechnik
für Rindfleisch, die
schon seit Jahrhunderten
praktiziert wird. Das Fleisch
wird lange abgehangen, dabei
aber nicht vakuumversiegelt,
wie das üblich ist, seit man
die Möglichkeiten dazu hat.
Durch die trockene Lagerung
geht nicht nur Flüssigkeit (und
Gewicht) verloren, sondern der
Sauerstoff setzt auch Aromen
frei, die beim Wet Aging nicht
zum Zuge kommen. In Amerika
ist diese in modernen
Kühlkammern perfektionierte
Reifung schon länger in Mode,
und auch in Deutschland ist
der Dry-Aged-Trend inzwischen
im Mainstream angekommen,
wie dieses abgepackt im
Supermarkt erhältliche Steak
beweist. Preislich verspricht es
ein außergewöhnliches
Grillerlebnis. Dieses Versprechen
löst es allerdings nur
halb ein. Tatsächlich ist das
Steak wunderbar zart mit
einem butterigen Geschmack.
Doch als Stück vom Rind bleibt
es seltsam unspezifisch und
hinterlässt keinen bleibenden
Eindruck. Dazu reicht Billy
Wagner ein Bier: Das Amarsi
India Pale Ale wird in Deutschland
gebraut und verbindet
beste Doldenhopfenqualität
mit schmelziger Malzigkeit.
Illustrationen: Martin Haake (Seiten 100 bis 103)
102
Cicero – 7. 2014

DEUTSCHES DRY
AGED Entrecôte, KaDeWe,
480 Gramm für 17 Euro, dazu
einen BLAUFRÄNKISCHEN
von Uwe Schiefer für
9,80 Euro
—
Aus der Feinkostabteilung
kommt dieses Entrecôte, das
man durchaus als ein
Vorzeigeprodukt des deutschen
Metzgerhandwerks bezeichnen
kann. Es ist noch ein Stück
vom Knochen am dicken Steak,
das wunderbar gemasert ist
und bereits im Rohzustand
sehr appetitlich wirkt. Die
Sorge, dieses Meisterstück auf
dem Grill zu ruinieren, ist
unbegründet: Hier kann man
wenig falsch machen, selbst
medium-well bleibt es saftig.
Es hat eine sehr zarte Struktur.
Dabei lässt aber auch der
intensive Geschmack nichts zu
wünschen übrig. Dass jeder
Bissen wie der andere wirkt:
Nur dies könnte man ihm
vorwerfen. Wer erwartet,
direkt am Knochen noch
besondere Geschmacksnoten
zu erleben, wird enttäuscht.
Was bleibt, ist der Eindruck
einer gleichmäßigen Qualität.
Zu diesem deutschen Vorzeigeprodukt
passt ein Blaufränkischer
von Uwe Schiefer aus
dem Südburgenland in
Österreich, der auf steinigen
Böden gewachsen und im
großen, alten Holzfass gereift
ist. Ein kräftiger und klarer
Wein ohne Make-up.
WAGYU Entrecôte aus
Australien, „Fleischhandlung“,
350 Gramm für 48 Euro, dazu
ein BOURGUEIL DERNIER
CRI für 9,99 Euro
—
Wagyu ist vielen als Kobe-Beef
bekannt: Es kursieren Gerüchte
über Massagen der Tiere mit
Sake und Fütterungen mit Bier,
die zum außergewöhnlichen
Geschmack beitragen sollen.
Tatsächlich sind es vor allem
die genetischen Eigenschaften
dieser besonderen Rasse, die
das Fleisch zu einem Erlebnis
machen. Seit die Wagyu-Rinder
in Australien, Amerika und
neuerdings Deutschland
gezüchtet werden, ließe sich
das einfacher nachprüfen.
Fleisch vom Wagyu besitzt eine
sehr feine Fettmaserung. Beim
Grillen verbinden sich Fett und
Muskelmasse zu einer Einheit,
woraus ein einzigartiger
Geschmack resultiert. Das hat
seinen Preis. Wagyu-Fleisch
kostet etwa viermal so viel wie
erstklassige Stücke von anderen
Rassen. Das Entrecôte vom
australischen Wagyu, das wir
auf dem Grill hatten, wurde
dem hohen Preis gerecht: ein
butterweiches und saftiges
Fleisch, das wie eine kostbare
Praline anmutet. Ein wenig süß
und doch herzhaft, erinnert es
an Gänsestopfleber. Wenn das
Budget mit dieser Spezialität
erschöpft ist, kann man von
einem teuren Bordeaux auf
einen Bourgueil Dernier Cri der
Domaine de la Chevalerie an
der Loire ausweichen. Dieser
authentische Cabernet Franc
schmeckt so, wie Bordeaux
schmecken sollte.
TXOGITXU Entrecôte am
Knochen, „Vom Einfachen das
Gute“, 420 Gramm für 21 Euro,
dazu den SP68 der Azienda
Agricola für 16,80 Euro
—
Txogitxu ist keine Rinderrasse,
sondern der Name einer
baskischen Fleischerei, die sich
darauf spezialisiert hat, alte
und fette Kühe zu verarbeiten,
die von den Metzgern anderer
Länder links liegen gelassen
werden. Was sich zunächst
nach ungalanter Resteverwertung
anhört, ist tatsächlich
eine Offenbarung. Das Fleisch
der zehn bis 18 Jahre alten
Tiere hat einen ausgeprägten
Geschmack entwickelt.
Besonders der gelbliche
Fettrand, der an der Fleischtheke
eher ominös wirkt, setzt
beim Grillen komplexe Aromen
frei. Das mächtige Stück
Fleisch ist saftig und wunderbar
mürbe, fast wie ein Stück
Wild. Das lange Leben der Kuh
hat sich im Aroma niedergeschlagen
– man glaubt, die
Weide zu schmecken. Je näher
man dem Knochen kommt,
desto intensiver wird dieser
Eindruck. Als Begleitung bietet
sich der leichte und lebendige
Rotwein SP68 von der Azienda
Agricola Arianna Occhipinti
aus Sizilien an. Kühl getrunken,
drängt er sich nicht vor.
JULIUS GRÜTZKE schreibt gerne
über Kulinarisches und grillt mit Kohle.
BILLY WAGNER ist preisgekrönter
Sommelier und eröffnet demnächst ein
Restaurant in Berlin
103
Cicero – 7. 2014

STIL
Typologie
Irgendwie niedlich, wie sie da auf
dem Hof steht zwischen all den getunten
Harleys. Neben so einem
verchromten Bikertraum mit extrabreiten
Hinterreifen wirkt das knallgelbe
Elektromotorrad beinahe spielzeughaft.
Und dann noch der Name!
Die Gefährte aus dem Hause Harley-
Davidson heißen ganz großspurig
„Fat Boy“, „Road King“ oder „Electra
Glide“. Sie hier dagegen nennt sich
schlicht „S“, ein Modell des amerikanischen
Herstellers Zero. Das ist
natürlich reines Understatement,
denn diese Null bezieht sich einzig
und allein auf die Abgaswerte; was
die Leistung angeht, sollte man eher
mit dem Gegenteil rechnen. Sagt zumindest
der Händler, bevor er einen
zur Probefahrt auf dem zierlichen
Zweirad entlässt: „Passen Sie bloß
auf! Und unterschätzen Sie nicht die
Beschleunigung!“
Was das Motorradfahren angeht,
bin ich zugegebenermaßen Nostalgiker.
Meine eigene Maschine ist eine
russische Ural mit 650 Kubikzentimetern,
die zwar erst 25 Jahre alt
ist, aber mit ihrem Boxermotor und
den Speichenrädern überdeutlich an
eine antike BMW erinnert. Um dieses
Ungetüm, das vom Vorbesitzer
„Olga“ getauft wurde, überhaupt anzubekommen,
braucht es einiges Geschick,
viel Geduld – und eine gut
trainierte Oberschenkelmuskulatur
für den störrischen Kickstarter.
Wenn die Olga dann aber erst
mal läuft, spricht sie zu einem mit
dem finster-verwegenen Grummeln
spätsowjetischer Antriebstechnik.
Was schon deshalb gut ist, weil der
Motor das Klappern, Röcheln und
Scheppern sämtlicher anderer Ural-
Bauteile locker überdröhnt.
Die Zero S ist nicht nur äußerlich
ein konsequenter Gegenentwurf
zu benzinfressenden Schwergewichten
wie der Ural. Sie ist vor allem
kinderleicht zu bedienen: draufsetzen,
Zündschlüssel umdrehen, losfahren.
Kein Schalten, kein Kuppeln,
nur Gas geben. Oder besser gesagt:
Strom geben. Und das ist dann wirklich
ein gewöhnungsbedürftiges Erlebnis.
Zumindest für jemanden, der
bisher nur blecherne Heavyweights
VOM STILLEN
SIEGEN
Von ALEXANDER MARGUIER
Gib Strom! Ein Nostalgiker testet,
ob ihm ein Elektromotorrad die
gleiche Genugtuung verschafft wie
seine alte Ural mit Boxermotor
104
Cicero – 7. 2014

Fotos: Antje Berghäuser für Cicero
wie meinen russischen Traktor auf zwei
Rädern gewohnt war. Die Zero S dagegen
sprintet aus dem Stand los wie eine
aufgescheuchte Gazelle. In weniger als
fünf Sekunden ist dieses Ding von null
auf hundert – was wohl noch erträglich
wäre, wenn solche Beschleunigungsfahrten
wenigstens vom ehrfurchtgebietenden
Aufheulen des Motors akustisch untermalt
würden. Doch stattdessen: Stille.
Allenfalls ein mildes Surren ist zu hören,
als der digitale Tacho schon nach
den ersten paar Metern die Zahl 80 anzeigt.
Ich bin noch keine zehn Minuten
unterwegs, da hat zum ersten Mal eine
Radarfalle geblitzt.
Im Grunde seines Herzens ist jeder
Motorradfahrer davon überzeugt,
er würde etwas Verwegenes tun. Nicht
umsonst heißt es im Englischen „to ride
a bike“: Ein Motorrad wird geritten, im
Auto fährt man bloß herum. Die Verwegenheit
benzingetriebener Ausritte findet
ihren Widerhall natürlich im Klang:
sanftes Schnurren auf langer Strecke,
angriffsbereites Geblubber während
des Wartens an der Ampel, danach das
Kriegsgeschrei der Kubikzentimeter
beim pferdestarken Aufgalopp gegen
chancenlose Sportwagen. Diesem analogen
Schlachtensound setzt die Zero S ihr
nahezu beängstigendes Nichts an Lärm
entgegen – wie eine Kampfdrohne, die
still am Himmel schwebt, um von dort
aus unversehens zuzuschlagen.
Und ja, das stille Zuschlagen macht
Spaß. Folgendes vorab: Motorradfahrer
fühlen sich zwar miteinander verbunden
als Outcasts im Straßenverkehr.
Aber gleichzeitig ist der Konkurrenzgedanke
viel stärker als bei normalen Autofahrern.
Größer, schneller, lauter: Genau
darum geht es an der Kreuzung in
der ersten Reihe, wenn die Ampel auf
Grün schaltet. In puncto Geschwindigkeit
kann ich mit meiner Ural natürlich
nichts ausrichten gegen die Suzukis,
Yamahas, Hondas oder Kawas dieser
Welt. Aber mit ihrem Sound und ihrem
rustikalen Erscheinungsbild fordert sie
selbst Harley-Fahrern Respekt ab. Man
erkennt das immer am Blick: zuerst musternd,
dann aufmunternd.
Mit der Zero S läuft es dagegen
ganz anders ab: Während der Rotphase
gleite ich zwischen den wartenden Autos
zur Poleposition vor, wo bereits
Eine Lederkluft
wäre irgendwie kein
passendes Outfit
für eine Ausfahrt
auf der Zero.
Und zum Heavy-
Metal-Konzert
will man damit
auch nicht
eine großkalibrige Moto Guzzi in Stellung
gebracht ist. Ihr Reiter wirft einen
abschätzigen Blick auf mich herab – als
würde ich mit einem Pony auf die Trabrennbahn
schleichen. Die Guzzi gibt
Standgas, um die Hackordnung zu klären.
Dann schaltet die Ampel auf Grün.
Und die Zero feiert erbarmungslos ihren
stillen Sieg. An der nächsten Ampel
würdigt der abgehängte Guzzi-Fahrer
das gelbe Geschoss dann keines Blickes
mehr. Soll wohl heißen: Dieses Elektroteil
mag zwar schneller sein, aber ein
echtes Motorrad ist es deshalb noch
lange nicht.
E-Bike gegen Motorrad, das ist eben
auch ein bisschen wie MacBook gegen
Reiseschreibmaschine. Es ist eine Frage
der Weltanschauung, mehr noch der Gewohnheiten.
Wer seine schönsten Briefe
auf einer Erika getippt hat, für den bleibt
ein Laptop wahrscheinlich bis zum letzten
Tag ein seelenloser Apparat: schon
praktisch, aber irgendetwas fehlt eben
doch. Das Klappern der Typen, das Farbband,
die Haptik oder einfach nur das
schiere Gewicht.
Mit einem Elektromotorrad in die
Bikerkneipe fahren oder zum Heavy-
Metal-Konzert? Geht eigentlich gar
nicht. Selbst eine Lederkluft wäre irgendwie
das unpassende Outfit für eine
Ausfahrt auf der Zero, von Nieten und
hohen Stiefeln ganz zu schweigen. Nein,
dieses Motorrad ist ein Fortbewegungsmittel
für Anzugträger, die sich nicht
schmutzig machen wollen. Tatsächlich
ist so eine Zero ja eine saubere Sache –
nicht nur ökologisch gesehen, sondern
ganz konkret: kein Öl, kein Benzin,
kein Ruß, kein Dreck. Selbst Werkstattbesuche
sind praktisch nicht mehr
erforderlich.
Ich gebe zu: Nach so einer Testfahrt
fällt es nicht ganz leicht, auf die
Ural zurückzusteigen. Die Olga wirkt
jetzt noch schwerer, noch lauter, noch
behäbiger und ja: noch gestriger. Aber
nach zwei Tagen hat man sich wieder
an sie gewöhnt. Ein bisschen habe ich
sogar ihr Klappern vermisst. Glaube ich
zumindest.
ALEXANDER MARGUIER ist stellvertretender
Chefredakteur von Cicero. Sein zweites
Motorrad ist eine MZ aus DDR-Fabrikation
105
Cicero – 7. 2014

STIL
Kleiderordnung
WARUM
ich trage,
WAS
ich trage
CHRISTIANE ARP
Jeder glaubt eine Idee davon zu haben,
wie man so aussieht, als Chefredakteurin
der Vogue. Dabei geht
es nicht um mein Gesicht, sondern immer
darum, was ich anhabe. Aber kaum
jemand weiß, was ich trage. Ich möchte
nicht durch ein Label erkannt werden,
sondern durch meine Haltung. Wir
Frauen müssen erreichen, dass es in erster
Linie um uns als Person geht.
Ich weiß, dass mir Mode Macht verleiht.
Und ich genieße es, entscheiden
zu können, was ich darüber über mich
preisgebe und was nicht. Mein Stil ist
reduziert. Ich kleide mich so, dass ich
mich wohlfühle, weil ich dann authentisch
bin, mit meinen weißblonden Haaren
und wenig Make-up. Es ist nicht so,
dass ich mir nicht mehr Mühe machen
will. Ich gefalle mir einfach so. Sicher gibt
es Termine, vor denen ich Respekt habe.
Dann kleide ich mich mit etwas, das Respekt
und Stärke verleiht, wie ein Panzer
oder eine Rüstung. Wenn man das begreift,
kann Mode etwas Tolles sein, weil
es nicht nur schmückt, sondern schützt.
Meine Arbeit ist mein Spiegel. Zufrieden
bin ich damit nie. Zufriedenheit
ist auch die falsche Beraterin. Manchmal
muss man sich zurückziehen, weil Distanz
viele Dinge klarer macht. Das findet
bei mir im Privaten statt, in einem
kleinen Häuschen in der Provinz. Ich
verlasse die Tanzfläche und nehme auf
der Tribüne Platz. Räumen werde ich
die Tanzfläche erst, wenn ich das Gefühl
habe, dass ich mein bestes Heft gemacht
habe.
Meine Farbe ist Schwarz. Es ist für
mich keine traurige Farbe. Ich komme
aus Norddeutschland, wo die Winter
dunkel und die Tage oft grau sind. Auf
dem Land hat man früher in schwarzer
Christiane Arp, 53, ist seit 2003
Chefredakteurin der deutschen
Ausgabe des internationalen
Modemagazins Vogue
Tracht geheiratet, und für mich war
meine Großmutter auf ihren Hochzeitsbildern
eine wunderschöne Frau. Anfang
der achtziger Jahre kam das Schwarz
dann auf die Laufstege in Paris, mit Japanern
wie Yohji Yamamoto und Rei Kawakubo.
In einer ihrer legendären Kollektionen
präsentierte Kawakubo über
40 verschiedene Schwarztöne. Das war
anders als alles, was ich in der europäischen
Modewelt gesehen hatte.
In Deutschland gibt es diese Angst
vor allem, was vermeintlich zu schön ist.
Oft setzen wir Schönheit gleich mit Oberflächlichkeit.
Sehr ignorant, wie ich finde.
Viel zu oft wird Schmuck nur als schnöder
Schein bewertet. Ich nehme mir jeden
Tag die Zeit, darüber nachzudenken,
wie ich mir heute am besten gefalle, aus
Respekt den Menschen gegenüber, denen
ich begegne. Und aus Respekt mir gegenüber.
Das ist nicht oberflächlich, sondern
die tägliche Versicherung für mich selbst,
dass es mir gut geht. Denn um diese Frage
geht es doch: Was macht mich wirklich
glücklich? Mode gehört dazu.
Aufgezeichnet von SARAH-MARIA DECKERT
Foto: Markus Pritzi
106
Cicero – 7. 2014

SALON
„ Der Raum der
Gegenwart war damals
genauso schwanger an
möglichen Zukünften
wie heute “
Der Historiker Christopher Clark über den vermeidbaren Ausbruch des Ersten Weltkriegs
vor genau hundert Jahren, im Juli 1914, ab Seite 118
107
Cicero – 7. 2014

SALON
Porträt
MUSIK NUR, WENN SIE LAUT IST
Die New Yorkerin Mary Halvorson ist die gefragteste Gitarristin des Jazz. Sie gibt ihm
seine Ecken und Kanten zurück. Denn Schönheit muss scharf geschnitten werden
Von TOBIAS LEHMKUHL
Foto: Kai Nedden für Cicero
Nein, sie möchte lieber keine Namen
nennen. Wie eine gute Politikerin
lässt sich Mary Halvorson
auch auf mehrmaliges Nachfragen
hin nicht zu einer verbindlichen Antwort
verleiten. „Sicher gibt es Musiker,
die ich nicht besonders mag, aber eigentlich,
denke ich, kann man fast allem etwas
abgewinnen. Ich sehe lieber die positiven
Seiten.“ Wie steht es mit den glatten
Virtuosenläufen eines Al Di Meola, können
Sie selbst denen etwas abgewinnen? –
„Ja. Seltsam, dass Sie jetzt Al Di Meola
sagen, den hat vor ein paar Tagen erst jemand
erwähnt. Schon kurios, wie manchmal
die Dinge sich häufen.“
Es mag daran liegen, dass die New
Yorker Gitarristin im Sternzeichen
Waage geboren wurde. So leicht bringt
die 34-Jährige, die sich in ihrer raren
Freizeit gerne mit Astrologie beschäftigt,
nichts aus der Ruhe. Festen Schrittes
läuft sie durch Berlin-Kreuzberg, schaut
sich die Graffiti an und liest die Namen
der Lokale: „,Kiezeklein‘. Was soll das
bedeuten?“ Da ist man auch als Muttersprachler
überfragt.
Eine Einladung zum Kaffee hat sie
ausgeschlagen. Mary Halvorson gehört
zu jenen Menschen, die den Eindruck
erwecken, als bedürften sie keiner Nahrung,
als würden sie sich nur in Restaurants
oder Cafés niederlassen, wenn es
aus sozialen Gründen unvermeidlich ist.
Klein und drahtig und in einem schwarzweiß
gestreiften Kleid lässt sie sich lieber
die Gegend zeigen, den Mariannenplatz,
die Oranienstraße. Ein bisschen
wie Brooklyn, sagt sie. Da wohnt sie mit
ihrem Freund, auch er Jazzmusiker.
Die beiden sehen sich allerdings
eher auf der Bühne oder im Studio als
zu Hause, denn Halvorson ist die derzeit
gefragteste Jazzgitarristin. Sie entwerfe
eine „glaubhafte Vision von der
Zukunft der Musik“, urteilte die New
York Times. Ständig ist sie mit einer ihrer
fast unüberschaubar vielen Bands
auf Tournee. Da sind ihre eigenen Trio-,
Quintett- und Septettformationen, mit
denen sie fast klassischen Modern Jazz
spielt, das Trio Crackleknob, das eine
Art kammermusikalischen Free Jazz betreibt,
das Trio mit dem Trompeter Peter
Evans und dem Schlagzeuger Walter
Weasel, dessen Musik die Bezeichnung
Noise vollauf verdient, derart fliegen bei
ihnen die musikalischen Fetzen. Oder
aber das folkartig angehauchte Duo mit
der Bratschistin Jessica Pavone und das
eher an Neuer Musik orientierte Falling
River Music Quartet ihres Mentors Anthony
Braxton, mit dem sie an diesem
Abend in Berlin auftritt.
SIE WUSSTE mit 19 Jahren noch nicht, ob
sie Gitarristin werden sollte oder Biologin,
„aber dann lernte ich Anthony kennen.
Da stand meine Entscheidung fest.“
Tatsächlich hat Braxton mit seinen wirr
vom Kopf abstehenden Haaren etwas
von einem verrückten Professor, einem
schrägen Musikguru. Mit großem Ernst
spielt er absurde Instrumente wie das
haushohe Kontrabasssaxofon, gerne auch
im schnellen Wechsel mit dem winzigen
und immer ein wenig lächerlich wirkenden
Sopranino.
Bei Mary Halvorson gibt es ein solches
Hin und Her der musikalischen
Hardware nicht. Sie spielt eine Guild
Artist Award aus dem Jahr 1970, eine
Gitarre, die fast genauso groß ist wie sie
selbst und sogar ein gutes Stück breiter.
Es war die lauteste Gitarre, die sie finden
konnte. Laut und kraftvoll, das ist
ihr wichtig, denn so ist ihre Musik. Wenn
ihre Erscheinung auch an eine fleißige
Studentin denken lässt: Greift Mary Halvorson
in die Saiten, vergisst man, dass
die Jazzgitarre eigentlich eine Männerdomäne
ist, ja, man vergisst ganz allgemein
so alberne Fragen wie jene nach
dem Geschlecht.
Halvorson kennt keine Kompromisse.
Ihr geht es nicht um Wohlklang. Das Erwartbare
ist ihr ein Graus. Wer hübsche
Melodien sucht, ist bei ihr ganz fehl am
Platz. Halvorsons Spiel ist voller Ecken
und Kanten, überraschender Abzweigungen,
abrupter Brems- und Beschleunigungsmanöver.
Hört man ihre Musik,
meint man, den metallischen Geschmack
der Saiten im Mund zu spüren. Halvorson
weiß, dass Schönheit am besten hervortritt,
wenn man sie scharf anschneidet.
Jaulen und Kreischen ist bei solchen
Operationen freilich unvermeidlich.
Doch woraus speist sich diese Kreativität?
Und vor allem: Wie hält man
diese bei über 100 Konzerten im Jahr
aufrecht? Gestern New York, heute Berlin,
morgen dann Lissabon? „Ich kann“,
sagt sie rasch, „jederzeit und überall
schlafen. Und ich denke nicht allzu sehr
an die Zukunft, ich plane nicht, sondern
nehme, was kommt.“
Ein Soloalbum hat Halvorson nun allerdings
ins Auge gefasst, dafür sammelt
sie Material. Es wird dann, zählt man all
die Platten zusammen, an denen sie bereits
mitgewirkt hat, ihre vielleicht fünfzigste
Aufnahme werden. Also doch eine fleißige
Studentin? „Ich versuche, offen zu bleiben.“
Die Musik von Jimi Hendrix war es,
die sie zur Gitarre brachte. Zuvor hatte
sie Geige gespielt und auch mal etwas
Saxofon. Müsste sie heute noch einmal
mit einem neuen Instrument anfangen,
würde sie Schlagzeug wählen.
Sicher. Das wäre noch lauter.
TOBIAS LEHMKUHL ist Kulturjournalist,
Reiseschriftsteller und schrieb ein Buch über
Miles Davis („Coolness“)
109
Cicero – 7. 2014

SALON
Porträt
STETS SOLLST DU IHN BEFRAGEN
Der Pianist Stefan Mickisch spielt und erklärt Richard Wagners Werk wie niemand sonst.
Nun hat er sich auf Richard Strauss geworfen. Wieder gilt: Wenn schon, denn schon
Von DOROTHEA WALCHSHÄUSL
Sein bester Freund heißt Richard
Wagner, sein geistiger Partner ist
Glenn Gould, und hat er Sehnsucht
nach inspirierenden Gesprächen, liest er
Nietzsche.
Ein umtriebiger, belesener Geist
ist der Pianist Stefan Mickisch. Mit seinen
musikalisch-philosophischen Vorlesungen
über Opern und symphonische
Werke hat er eine neue Kunstform am
Klavier erschaffen. In Bayreuth hält er
seit 1998 jährlich die Einführungsvorträge
zu den Opern. Spricht er über Wagner,
schwingt Liebe mit und Kollegialität.
„Ich fühle mich bei Wagner sehr zu
Hause“, sagt der 51-jährige Oberpfälzer
mit dem markanten Gesicht. Wagners
Kunst sei ihm ein Glücksquell.
Fragt man ihn nach dem häufig vorgebrachten
Antisemitismus-Vorwurf,
spricht Mickisch von einem „Teilantisemitismus“
Wagners, den er in der christlichen
Tradition verwurzelt sieht, der
die Musik Wagners aber nicht berühre:
„Wenn ich Wagner spiele, ist mir die Politik
egal – zu groß ist seine Genialität.“
Schon als Jugendlicher war Stefan
Mickisch vom Schöpfer des „Rings“ fasziniert.
Auch wenn er sich beim Klavierstudium
in Nürnberg, Hannover, Wien
ein breites Repertoire erarbeitete und
Wettbewerbe gewann, blieb seine Passion
der pianistisch durchdrungene Wagner.
Das Erweckungserlebnis für die spätere
Kunstform hatte Stefan Mickisch
1993 in Virginia, USA. Bei einem sechswöchigen
Aufenthalt begegnete er jüdischen
Künstlern. Sie suchten nach einer
Erklärung für seine Wagner-Liebe. Mickisch
antwortete mit der letzten halben
Stunde der „Götterdämmerung“,
30 Minuten Wagner’scher Essenz, erläutert
und gespielt. Die Folge? Begeisterung
und die Erkenntnis: „Das musst du
machen. Das brauchen und wollen die
Menschen.“ Seitdem schlägt er, der gebürtige
Schwandorfer, Brücken zwischen
Musik und Pu blikum, vermittelt und deutet,
weckt Lust und nimmt Angst.
In diesem Jahr pausiert er in Bayreuth
und widmet sich anlässlich des Jubiläumsjahrs
Richard Strauss, der für
Mickisch musikalisch ein „fast noch größeres
Genie“ ist, ein Freigeist, der die
Tonalität an ihre Grenzen trieb, im klassizistischen
Stil eine neue Einfachheit errang
und Mendelssohn, Mozart und Wagner
vereinte. Weil Tiefstapeln nicht seine
Sache ist, hat Mickisch sich systematisch
ins Gesamtwerk eingearbeitet. Im Juli
erscheint eine CD-Einspielung zur Oper
„Salome“, im Oktober startet in Bayreuth
das achtteilige „Stefan Mickisch Festival
Richard Strauss 2014“ mit der Präsentation
ausgewählter Opern und Tondichtungen.
Anschließend geht Mickisch auf
Tournee in die Schweiz und nach Österreich.
„Wenn schon, denn schon“, sagt er
und grinst: „Ich will es immer wissen.“
AUF DER BÜHNE ist Stefan Mickisch ein
Entertainer, strotzend vor Intellekt und
Sprachwitz, beweglich mit dem Kopf wie
mit dem Körper, ein Perpetuum mobile
auf zwei Beinen. Das Publikum schätzt
seine weitgespannte Bildung und den
unkonventionellen Blick. Das wichtigste
Handwerkszeug ist sein valentinesker
Humor. „Nietzsches ‚Antichrist‘,
den müssen S’ lesen. Er ist nämlich gar
nicht lang“, sagt Mickisch in Oberpfälzer
Sprachfärbung. Die Stirn legt sich in
Falten, ein Schmunzeln zuckt um den
Mund. Schallendes Gelächter, der Boden
ist bereitet für Wagner am Klavier.
Lauschend über die Tasten gebeugt, versinkt
Mickisch im Klangspiel.
Im Gespräch ist er ein anderer
Mensch. Sein Blick nimmt prüfende Züge
an, er verschränkt die Arme abwehrend.
Dass er sich auf eine Befragung einlässt,
ist alles andere als selbstverständlich.
„Lesen Sie Bücher und keine Zeitungen,
die braucht nämlich kein Mensch“, empfiehlt
er, viel zu groß sei das Gefälle zwischen
der echten Qualität großer Denker
und den oft anmaßenden Bewertungen
von Journalisten. „Wenn man keine Bücher
liest, geht man unbeschadet in seinem
eigenen Stumpfsinn weiter.“
Kein Wunder, dass Mickisch immer
mehrere Bücher parallel liest, „weil:
sonst kommt man ja zu nix“. Qualität ist
Leitprinzip und Lieblingswort von Stefan
Mickisch. Ob etwas einen Wert habe,
misst er daran, ob es „gut“ ist oder „nicht
gut“. Was die Masse gut findet, ist für
den Individualisten Mickisch „meistens
das Schlechte“. Kaum etwas erzürnt ihn
mehr als Menschen, die unqualifizierte
Urteile abgeben. Vieles andere missfällt
dem streitbaren Intellektuellen: Der Konzertbetrieb,
der „zum tausendsten Mal
Beethovens 4. Klavierkonzert“ aufs Programm
setzt, was er bei aller Liebe zum
Stück „ja so was von abgestanden“ findet.
Die Politik der Bayreuther Festspiele: Es
will ihm nicht in den Kopf, warum ständig
„vollkommen Wagner-Unkundige an
Wagner herangelassen werden“.
Mickisch, der sich einen „Enzyklopädiker“
nennt, wendet sich lieber wieder
den Büchern und Partituren zu, kehrt
heim zu Wagner, Gould und Nietzsche.
Macht das auf Dauer einsam? Da lacht
Mickisch laut und breitet die Arme aus.
Dann sagt er: „Einsam werde ich nicht –
ich spiele ja Tischtennis.“ Im Tischtennisclub
Ettmannsdorf also findet sie statt,
die Erdung eines Umtriebigen.
DOROTHEA WALCHSHÄUSL ließ sich von
Stefan Mickisch überzeugen, dass „Die Frau
ohne Schatten“ die „beste Oper Wagners“ ist,
obwohl sie von Richard Strauss stammt
Foto: Peter Rigaud für Cicero
110
Cicero – 7. 2014

SALON
Reportage
GROSSER GRABEN
Von KATHRIN WERNER
Illustrationen ROMY BLÜMEL
Zum Glück geht es heute schnell.
Kein kompliziertes Kostüm, David
Frye muss nur sein Gesicht
weiß anmalen, in den Smoking schlüpfen
und die Melone auf den Kopf setzen.
Es ist kurz vor sieben, er spurtet durch
den Hintereingang der New Yorker Metropolitan
Opera. Die Zuschauer strömen
auf der Vorderseite über den roten
Teppich in das gold leuchtende Gebäude.
Das Haus ist ausverkauft. Frye schafft
An der Met in New York
wird gestreikt und gezankt
wie noch nie. Ist die Oper
unbezahlbar geworden?
es gerade pünktlich, er war den ganzen
Tag mit Arbeitskampf beschäftigt. Um
halb acht singt der Tenor in Rossinis „La
Cenerentola“.
Die Mitarbeiter der Met sind in diesen
Wochen noch mehr beschäftigt als
sonst, sie müssen nicht nur singen, tanzen,
ihre Instrumente spielen, Kostüme
nähen oder Bühnenbilder bauen. Sie
kämpfen auch um ihre Gehälter. Die altehrwürdige
New Yorker Oper, gegründet
112
Cicero – 7. 2014

Illustrationen: Romy Blümel/2 agenten
1880, steckt in den härtesten Auseinandersetzungen
zwischen Management und
Gewerkschaften, die Amerika derzeit erlebt.
Bislang sind alle Verhandlungen gescheitert.
Die eine Seite droht mit Streik,
die andere damit, die Mitarbeiter vom
Dienst auszusperren. Wenn sie nicht bald
zueinanderfinden, bleibt die größte Oper
der Welt zum Anfang der kommenden
Saison im September geschlossen. Die
Proben müssten eigentlich Ende Juli beginnen,
doch Ende Juli laufen auch die
Verträge mit den 16 Gewerkschaften aus,
die mehr als 3400 Mitarbeiter der Met
vertreten – fast alle.
„Wir fühlen uns unverstanden und
ungerecht behandelt“, sagt Frye. Der
56‐Jährige ist der Verhandlungsführer
der Chorsänger. Er ist groß und schlank,
seine Stimme klingt beim Sprechen immer
ein wenig, als sänge er. Er gehört
seit 21 Jahren dem Chor an. Eigentlich
ist ihm das Feilschen um Geld unangenehm,
aber er ärgert sich und will etwas
tun: „Wissen Sie, Singen ist etwas sehr
Intimes, Persönliches. Man ist zugleich
das Instrument und spielt das Instrument.
Als ich zum ersten Mal gehört habe, welche
Gehaltseinbußen die von uns verlangen,
war ich verletzt. Es war ein Schock.“
Die Met will die Lohnkosten um 16
bis 17 Prozent drücken, dazu haben die
Anwälte einen Dutzende Seiten langen
Vorschlag für Anpassungen in den Arbeitsverträgen
unterbreitet. Vor allem
sollen Sonderzuschläge und Zuschüsse
zur Krankenkasse und zu Rentenbeiträgen
wegfallen. Es ist eine komplizierte
Rechnung, die für jeden Mitarbeiter
unterschiedliche Ergebnisse bringt.
Bei manchen, klagen die Gewerkschaften,
bedeuten die Pläne Einbrüche von
50 Prozent. „Wir alle lieben die Oper
und wir alle verstehen, dass es Probleme
gibt“, sagt Frye. „Aber wir sehen
nicht ein, warum wir allein dafür bezahlen
sollen.“
Die Met steckt in finanziellen
Schwierigkeiten. „Worum es hier letztendlich
geht, ist die Zukunft der Met“,
sagt Peter Gelb, Chef des Opernhauses.
„Die Schlacht ist existenziell, und
sie muss gewonnen werden. Wenn wir
es jetzt nicht schaffen, ein nachhaltigeres
Geschäftsmodell zu finden, wissen wir,
dass wir in den nächsten zwei bis drei
Jahren in eine Insolvenz geraten.“
Die Lage
für Opernhäuser,
Konzertsäle
und Theater
ist ziemlich
aussichtslos.
Viele schließen
Im Geschäftsjahr 2012/2013 lag das
Budget der Met bei 324 Millionen US-
Dollar. Es fiel ein Verlust von 2,8 Millionen
Dollar an. In der Saison ist die Auslastung
von 84 auf 79 Prozent gefallen,
vor allem, weil Gelb die Ticketpreise so
sehr erhöht hatte, dass es vielen Opernbesuchern
zu teuer wurde. Inzwischen
hat er die Preise leicht gesenkt. Aber
eine Karte kostet im Durchschnitt noch
immer 156 Dollar, viel zu viel für junge
Leute.
Die Lage sei ziemlich aussichtslos, so
wie für viele Opernhäuser, Theater und
Konzertsäle in Amerika, sagt Duncan
Webb, ein ehemaliger Banker, der mit
seiner Firma Theater in Managementfragen
berät. Die Oper ist eine der teuersten
Kunstformen. Und die Vereinigten Staaten
unterstützen Opern nicht wie etwa in
Deutschland. Zudem gehören sie in Amerika
noch weniger zur Allgemeinbildung
und Volksunterhaltung als in Deutschland.
Die Kinder lernen hier in der Schule
mehr über Musicals als über die Oper.
Sie ist weitgehend ein Zeitvertreib der
weißen Oberschicht. „Die Zielgruppe
schrumpft und altert“, klagt Webb.
Viele Opernhäuser, auch die Met,
hätten ihre Möglichkeiten beim Fundraising,
bei Ticketpreisen und mit den Liveübertragungen
weitgehend ausgereizt.
Jetzt gebe es nur noch eine Lösung: sparen.
„Wir werden sehen, dass die Angebote
an klassischer Musik in den USA in
den nächsten Jahren weiter schrumpfen,
es gibt einfach nicht genug Nachfrage.“
DAS HAT KONSEQUENZEN. Die Oper in
San Diego hatte im März ihr Ende verkündet,
will nun aber doch weitermachen
– dank Spendengeldern und einer
Finanzspritze der Stadt. Im Januar
2015 geht es wieder los mit Puccinis „La
Bohème“. Der Opernchef musste gehen,
man wirft ihm Missmanagement vor, er
zahlte sich selbst Jahresgehälter von einer
halben Million Dollar. Seine Frau ist
seine gut bezahlte Assistentin.
Die New York City Opera, der kleinere
Rivale der Met, hat im vergangenen
Herbst Gläubigerschutz beantragt
und mitten in der Spielzeit geschlossen,
trotz moderater Eintrittspreise und wagemutigerem
Repertoire als an der Met.
Es war den Opernmanagern nicht gelungen,
die Schuldner mit einer Notzahlung
von sieben Millionen Dollar zu besänftigen.
Das Philadelphia Orchestra hat vor
zwei Jahren ein Konkursverfahren hinter
sich gebracht. Auch das Minnesota Orchestra
spielt inzwischen wieder – nach
16 Monaten Arbeitskampf und Aussperrungen
durch das Management.
Im vergangenen Herbst blieb zum
ersten Mal in ihrer 122-jährigen Geschichte
die Carnegie Hall in New York
geschlossen, weil die International Alliance
of Theatrical Stage Employees, die
mächtige Gewerkschaft der New Yorker
Bühnenarbeiter, zum Streik aufgerufen
hatte – ausgerechnet bei der seit Monaten
geplanten Eröffnungsgala für die
neue Saison. Etliche kleinere Opernhäuser
haben in den vergangenen Jahren geschlossen,
darunter die Opera Pacific im
kalifornischen Santa Ana, die Cleveland
113
Cicero – 7. 2014

SALON
Reportage
Opera und die San Antonio Opera. Es
gibt einige junge alternative Operngruppen,
etwa die Gotham Chamber Opera
oder das neue Prototype Festival für
neue Opern in New York, die Hoffnung
machen. Aber für die große alte Dame
Oper und ihre Institutionen sieht es immer
düsterer aus.
Met-Chef Gelb hat einiges versucht,
um die Umsätze zu steigern. Live-Übertragungen
in die Kinos der Welt bringen
Geld in die Kasse. Deutsche Kinogänger
sind inzwischen das zweitgrößte Publikum
der Met. An einem guten Samstag
verkauft die Oper allein hier bis zu
35 000 Tickets. Die New Yorker Eintrittspreise
sind hoch, reiche Spender schießen
inzwischen fast die Hälfte zum Budget
bei. Aber es reicht nicht.
Es wachsen nicht genügend junge
Operngänger nach, die die alten ersetzen,
sagt Gelb. Doch Sparen ist schwer,
weil die Met nicht auf Stars wie Anna
Netrebko verzichten kann. Die vielen
neuen Produktionen, die pro Saison ins
Programm kommen, sind teuer, machen
die Met aber auch einzigartig. Gelb will
der Kreativität der Regisseure nicht zu
enge finanzielle Grenzen setzen. Es ist
ein ständiges Dilemma zwischen Kunst
und Kosten.
„Wir sehen zum Teil Extravaganz und
unglaubliche Verschwendung“, sagt hingegen
Chorist Frye. „Ja, Oper ist teuer,
aber sie muss nicht derart teuer sein.“ Die
Mitarbeiter haben Sparvorschläge gemacht.
Ein Beispiel: „Fürst Igor“. Eine
Schlüsselszene in Alexander Borodins
Oper spielt in einem Mohnblumenfeld. Es
besteht aus Hunderten handgefertigten
Seidenblumen, insgesamt kostete allein
die Blumenwiese 169 000 Dollar. Kann
man da nicht weniger und zudem vorgefertigte
Blumen aus normalem Stoff nehmen,
fragen die Mitarbeiter. Die aufwendige
Oper mit 200 Darstellern verschlang
insgesamt 4,3 Millionen Dollar.
Der Geschäftsführer habe mit immer
mehr Produktionen die Fähigkeiten überreizt,
die Kinoübertragungen brächten
nur Arbeit und Mehrkosten, aber kaum
Gewinne. Als Gelb den Chefposten im
Jahr 2006 übernahm, lag das Budget
noch bei 209 Millionen Dollar und reichte
aus, um die Kosten zu decken. „Wir wollen
endlich Einblick in die Bücher“, sagt
Frye. „Die Met ist so transparent wie der
Kreml.“ Nicht die Gehälter der Mitarbeiter
seien schuld an der Misere, sondern
Managementfehler, sagen die Gewerkschaftler.
Zwei Drittel des Gesamtbudgets
verschlingen die Gehälter der Mitarbeiter,
da müsse er sparen, kontert Gelb.
Wenn man auf der Höhe der Zeit bleiben
wolle, müsse man eben auch in moderne,
kreative Bühnenbilder investieren – inklusive
Mohnblumen.
Für die Mitarbeiter kommt als Problem
hinzu: Einen besseren Arbeitsplatz
als die Met gibt es für Opernmusiker
kaum, erst recht nicht in den Vereinigten
Staaten. Wer es einmal hierhin geschafft
hat, will nicht wieder weg. „Ich habe den
größten Teil meiner Karriere schon hinter
mir, es war eine gute Karriere“, sagt
Frye. „Ich werde schon überleben, aber
um die jüngeren Kollegen mache ich mir
Sorgen.“ Ein erfahrener Chorsänger an
Künstliche
Mohnblumen
für ein Bühnenbild
kosteten
169 000 Dollar –
mussten sie wirklich
aus Seide sein?
der Met verdiene rund 200 000 Dollar
pro Jahr, Einsteiger deutlich weniger.
„Für New Yorker Verhältnisse sind
wir weder reich noch arm.“ Die Sänger,
Tänzer und Musiker bekommen ein relativ
niedriges Grundgehalt und Zuschläge
für jede Probe und Vorstellung. Die Arbeitszeiten
sind lang, täglich von 10.30
bis 14.30 Uhr finden Proben statt, oft gibt
es eine weitere am Nachmittag, erzählt
Frye. Pro Woche singen die meisten Sänger
abends in fünf bis sechs Aufführungen.
„Pro gesungener Note verdienen wir
weniger als Chorsänger an allen anderen
Opernhäusern, von denen ich die Gehälter
kenne“, sagt er.
„Wir sind die ganze Zeit verfügbar,
wir kommen jederzeit, wenn die Met uns
ruft, sogar sonntags, wenn wir gerne unsere
Zeit mit der Familie verbringen wollen“,
erzählt die Sopranistin Karen Dixon.
Sie ist die Hauptverdienerin ihrer
Familie. Die Kosten für Kinderbetreuung,
Miete, Altersvorsorge und Krankenversicherung
stiegen Jahr für Jahr, viel schneller
als die Gehälter. „15 000 Dollar Kürzung
wäre für meine Familie verheerend,
ebenso der geplante Einschnitt bei den
Pensionen. Nach all den Jahren bei der
Met bliebe nichts übrig“, sagt sie, die seit
1997 im Chor singt.
DER TONFALL zwischen Management und
Gewerkschaftlern wird immer schärfer.
Alan Gordon, Chef der lokalen Niederlassung
der Gewerkschaft American Guild
of Musical Artists, leitet seine E‐Mail-
Wechsel mit Met-Chef Gelb gern an die
Medien weiter – sehr zu Gelbs Missfallen.
Gelbs Vorschlag einer Gehaltskürzung
nennt er „eine Kriegserklärung“.
Wenn die Verhandlungen scheitern, hat
die Met die Möglichkeit, die Mitarbeiter
vom Dienst abzuhalten, worauf sich die
Musiker einstellen sollten, rät die Gewerkschaft
ihren Mitgliedern. Sie sollten
mit einem Herbst ohne Einkommen
von der Met rechnen und nach alternativen
Auftraggebern suchen.
Gordon ist seit Jahrzehnten Gewerkschaftler,
der 69-Jährige ist laut Frye
ein „harter Hund. So einen brauchen
wir.“ Gordon hasst Opernmusik, aber er
hat ein Talent für Verhandlungen, sagt
er über sich. Bei den ersten Gesprächen
mit dem Management wurde es richtig
laut, erzählt Frye hinterher. „Ihnen ist
Illustration: Romy Blümel/2 agenten
114
Cicero – 7. 2014

Foto: Maxim Sergienko
doch egal, wie es den Leuten geht“, rief
Gordon zu Gelb. „Sie wollen doch nur
Ihr Gehalt von 1,5 Millionen Dollar, Ihren
Chauffeur und Ihre Erste-Klasse-
Dienstreisen behalten!“ Gelb wollte seinen
Mitarbeitern in einer langwierigen
Power-Point-Präsentation die desaströse
Finanzlage der Met erklären, aber
Gordon unterbrach ihn immer wieder.
„Das ist doch nicht wahr, was Sie da sagen“,
rief Gordon. „Lüge!“ Gelbs Anwälte
schritten immer wieder ein: „Lassen
Sie ihn doch ausreden! Das ist eine
Unverschämtheit!“
Die Orchestermusiker haben bereits
für Streik gestimmt, sofern das Management
nicht einlenkt. „Wir hoffen, dass
die Verhandlungen positiv ausgehen“,
sagt Jessica Phillips Rieske. Die Klarinettistin
ist Verhandlungsführerin der
Musiker. „Um die Qualität zu erhalten,
muss die Metropolitan Opera ihre Musiker
so bezahlen, dass das Ensemble weiterhin
Talente von Weltklasse anziehen
und bewahren kann.“ Joe Hartnett von
der Gewerkschaft der Bühnenbildner
fügt hinzu: „Wir wollen die Met retten,
aber das wird nicht passieren, wenn das
Management seine Ausgaben verschleiert
und die Mittelklassearbeiter zum Sündenbock
macht.“
Im Laufe des Julis werden sich Hartnett,
Phillips Rieske, Frye, die anderen
Mitarbeitervertreter und Gewerkschaftler
mit Gelb und seinen Managern und
Anwälten zu etlichen Verhandlungsterminen
treffen. „Ich habe keinerlei Erwartung,
dass wir irgendetwas erreichen
vor Mitternacht am 31. Juli“, sagt Gelb.
„Oder sogar später.“
Etwas Gutes hat der Streit dennoch
gebracht, erzählt Frye: „Wir halten jetzt
alle zusammen. Wir Chorsänger, die
Leute aus dem Orchester oder von den
Bühnenarbeitern, die sich bislang nicht
kannten, reden jetzt miteinander. Wir
sind alle empört.“ Er wird sich nicht
geschlagen geben, sagt er, auch wenn
er natürlich lieber mit Smoking, Melone
und weißem Gesicht auf der Bühne
steht, als seine Tage mit Arbeitskampf
zu verbringen.
KATHRIN WERNER lebt seit
zwei Jahren in New York und
geht gerne in die Met. Mit
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SALON
Man sieht nur, was man sucht
BÄRTIGE Jungfrauen
küsst man nicht Von
BEAT WYSS
Foto: Diözesanmuseum Graz der Diözese Graz-Seckau
116
Cicero – 7. 2014

Die heilige Kümmernis nahm sich der Frauen an.
Ihre Wiederkehr in der Spektakelgesellschaft ist
eine Botschaft aus dem Unbewussten
Zum Autor
Foto: Gaetan Bally/Keystone Schweiz/Laif
Am 20. Juli feiert die katholische
Kirche den Gedenktag
der Kümmernis, einer seltsamen
Heiligen: Die Jungfrau,
Tochter eines Königs
in Portugal oder Sizilien, war im zweiten
Jahrhundert zum christlichen Glauben
übergetreten. Das erzürnte den Vater,
wollte er sein Kind doch mit einem
Heiden verheiraten. In seiner Pein betete
das Mädchen zum Erlöser, er möge sein
Antlitz so entstellen, dass es von keinem
Manne begehrt werde. Das Wunder geschah,
der Schönen spross über Nacht ein
Bart. Da der Vater seine Pläne durchkreuzt
sah, ließ er die Tochter kreuzigen.
Bald geschah das zweite Wunder, Beweis
der Heiligkeit der bärtigen Märtyrerin.
Sie predigte drei Tage vom Kreuz herab.
Der Monarch bereute und bekehrte sich
zum christlichen Glauben.
Etliche Kümmernis-Kreuze wurden
im frühneuzeitlichen Bildersturm zerstört
als besonders groteske Auswüchse
des Aberglaubens. Die anmutigsten, vor
christlicher Prüderie und verbohrter
Rechtschaffenheit geretteten Androgyne
am Kreuz befinden sich heute in der Kathedrale
von Beauvais und im Diözesanmuseum
von Graz.
Die Kümmernis sorgt sich um die
Gesundheit des Viehs und hilft Frauen,
die von Mann und Familie unterdrückt
werden. Sie weiß Liebeskummer zu heilen
und beschützt fahrendes Volk als Patronin
der Gaukler. Das Walten der Fürbitterin
fiel in den Wirkkreis der Beginen,
jenes ersten weltlichen Vereins frommer
Frauen, die ehelos und in Armut zusammenlebten.
Neben Andacht und Gebet
kümmerten die Beginen sich um Alte und
Ausgestoßene und wuschen die Leichen
derer, die keine Angehörigen hatten.
Eine Frau, kein Mann: Die Grazer
Kümmernis aus dem 18. Jahrhundert
erzählt von Keuschheit
Im 14. Jahrhundert noch als Hexen
lebendig eingemauert oder verbrannt,
wurde die Laienbewegung 1453
von Papst Nikolaus V. in den Schoß der
Kirche aufgenommen. Es war um die
Zeit, als sich die Legende von der heiligen
Kümmernis verbreitete. Wilgefortis
wurde sie nun genannt, die Starke
Jungfrau. Sie verkörpert eine weibliche
Mystik, die sich nicht damit begnügt, geduldig
am Passionsweg die Rolle der Zuschauerin
zu spielen wie Mutter Maria
oder Magdalena, die schöne Büßerin.
Nicht selten werden neue Formen der
Mystik von wirtschaftlichen Konjunkturen
befeuert. Die bärtige Jungfrau ist die
Frucht eines transkulturellen Missverständnisses,
das sich entlang der Fernhandelsrouten
in den Niederlanden und
im Alpenraum ausbildete. Ein Ziel von
Pilgern und Händlern aus dem Norden
war Lucca, ein Handelszentrum in der
heutigen Toskana.
Berühmt war dessen Volto Santo in
der Kathedrale San Martino. Der überlebensgroße
Kruzifixus aus Holz, mit einer
Tunika bekleidet, wurde an Festtagen
mit Gewändern aus Brokat und goldener
Krone bekleidet. So diente das wundertätige
Bild zugleich als Aushängeschild
für die Produktion kostbarer Stoffe, für
die Lucca europaweit berühmt war. Die
bärtige Jesus-Gestalt, verkleidet in glitzernden
Röcken, musste den Reisenden
aus dem Norden „weibisch“ vorkommen.
Sie kannten den Gekreuzigten als
Gestorbenen, dessen hängender Körper
nur von einem Lendenschurz bekleidet
war. Der Volto Santo von Lucca hingegen
folgt dem syrisch-palästinensischen
Typus, wonach Christus als Weltenherrscher
seine Arme am Kreuz siegreich ausbreitet.
Der nordwestliche Blick überschrieb
sodann die orientalisch wirkende
Gestalt mit der Legende von einer Heiligen,
die ihre Keuschheit mit der Bitte an
Gott um Bärtigkeit verteidigte.
BEAT WYSS
ist einer der bekanntesten
Kunsthistoriker des Landes.
Er lehrt Kunstwissenschaft
und Medienphilosophie an
der Staatlichen Hochschule
für Gestaltung in Karlsruhe
und schreibt jeden Monat in
Cicero über ein Kunstwerk
und dessen Geschichte. Kürzlich
erschien bei Philo Fine
Arts sein Essay „Renaissance
als Kulturtechnik“
Der 20. Juli als Feiertag fügt sich
gut ins Bauernleben. Das Heu ist in der
Scheune und die Gelegenheit gekommen,
eine Wallfahrt zu Sankt Michael
und Kummernus in Axams bei Innsbruck,
zu Heiliggeist und Wilgefortis in
Neufahrn bei Freising oder zur Kümmerniskapelle
in Altötting an der Salzach
zu machen.
Aus Gmunden im Salzkammergut
kommt Tom Neuwirth alias Conchita
Wurst, der im vergangenen Mai, beim Eurovision
Song Contest in Kopenhagen, als
zierlicher Zwerg auf den Schultern einer
600-jährigen, wundertätigen Riesin auftrat.
Das kollektive Unbewusste der Spektakelgesellschaft
hat sofort verstanden.
117
Cicero – 7. 2014

SALON
Gespräch
„DIE REGIONEN
Moderation ALEXANDER KISSLER
Gibt es eine Sehnsucht
nach der Alleinschuld?
Was kann die EU von
1914 lernen? Cicero
bat den Schriftsteller
Michael Kleeberg und den
Historiker Christopher
Clark zum Gespräch
118
Cicero – 7. 2014

Fotos. Thomas Meyer/Ostkreuz für Cicero
RETTETEN EUROPA“

SALON
Gespräch
Der ehemalige Bundeskanzler Helmut
Schmidt hat aus der Lektüre
der „Schlafwandler“ gefolgert: „Die
Gefahr, dass sich die Situation verschärft
wie im August 1914, wächst
von Tag zu Tag.“ Europa, die Amerikaner
und die Russen verhielten sich in der
Ukrainekrise so, wie Sie, Herr Clark, es
in Ihrem Buch über den Ausbruch des
Ersten Weltkriegs beschrieben hätten.
Stimmt das?
Christopher Clark: Ich sehe da eher
Kontraste als Parallelen. Die Julikrise
von 1914 führt uns drastisch vor Augen,
welche Katastrophen entstehen können,
wenn das Gespräch versiegt und Kompromisse
unmöglich werden. Die Gefahr
einer solchen schlafwandlerischen Eskalation
besteht immer – wenn ich etwa an
die eskalierende Rhetorik denke, der zufolge
Putin mit Hitler vergleichbar sei.
Die offizielle Politik ist heute aber eher
von Zurückhaltung, von Vorsicht, sogar
Selbstkritik gekennzeichnet. Das war in
der Vorkriegszeit komplett anders.
Wo sehen Sie diese Zurückhaltung?
Clark: Außenminister Frank-Walter
Steinmeier sagte, der Westen habe vielleicht
die Russen zu wenig einbezogen
in seine Überlegungen zur Ukraine und
habe sein Augenmerk zu stark auf Kiew
und nicht genug auf Moskau gerichtet.
Solche second thoughts, solche Nachdenklichkeiten
gab es vor 1914 nicht.
Herr Kleeberg, Sie haben Geschichte
studiert und sich als Schriftsteller oft
mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt.
In Ihrem neuen Roman, „Vaterjahre“,
gibt es einen Gang der Hauptfiguren
über den Soldatenfriedhof im belgischen
Langemark. Der Roman „Ein Garten
im Norden“ enthält ein Kapitel, das
„Juli 1914“ überschrieben ist. Welches Interesse
hat die Poesie am Krieg?
Michael Kleeberg: Gegenwart ist für
mich jener Zeitraum, den ich umfassen
kann aus eigenem Wahrnehmen und aus
den Aussagen derer, die mit mir leben.
Da ich quasi in der Mitte des 20. Jahrhunderts
geboren bin, ist mir das gesamte
Jahrhundert als Kontinuum präsent.
Wenn ich als Schriftsteller arbeite,
löse ich einen Faden aus dem Knäuel
der vergehenden Zeit. So lande ich
schnell bei den Grundkatastrophen und
Christopher Clark
Der australische Historiker
lehrt am St. Catharine’s
College in Cambridge. Sein
Buch „Die Schlafwandler“
über den Ausbruch des Ersten
Weltkriegs gilt als Standardwerk
zur Julikrise von 1914.
Zuvor schrieb er unter
anderem über Preußen und
über Kaiser Wilhelm II.
Michael Kleeberg
Der in Stuttgart geborene
Schriftsteller lebte viele Jahre
in Frankreich. Für sein Werk
erhielt er unter anderem
den Anna-Seghers- und den
Lion-Feuchtwanger-Preis.
Sein neuer Roman „Vaterjahre“,
eine Fortsetzung von
„Karlmann“ ( 2007 ), erscheint
im August
Grundbausteinen unserer Gegenwart vor,
in und nach dem Ersten Weltkrieg.
Sind Sie familiär vorgeprägt?
Kleeberg: In unserer Familie wurde
sehr viel erzählt aus Kriegszeiten. Mein
Großvater hat beide Weltkriege als Soldat
überlebt. Für den „Garten im Norden“
habe ich mich an einer realen Person orientiert,
an einem französisch-jüdischen
Bankier, der von 1860 bis 1940 lebte. An
ihm konnte ich zeigen, welch ungeheure
humanistische Bildung damals vorhanden
war und wie sehr die kulturelle Elite
vernetzt war. Im Grunde existierte das
Vereinigte Europa 1912 fast schon.
Clark: Ja, die Menschen waren damals
europäischer als viele Europäer
heute. Es gab – zumindest unter den Eliten
– ein sehr großes Gemeingut an Bildung
und an Kultur.
Im Kapitel „Juli 1914“ sagt eine Figur,
der Krieg sei „absurd vielleicht. Aber
nunmehr unvermeidlich“. Entsprach
dies dem allgemeinen Empfinden?
Clark: Wer den Krieg herbeiführen
wollte, erfand Narrative der Unausweichlichkeit.
Die Wirklichkeit sah anders
aus. Europa hätte diesen Sommer
ohne einen Krieg überstehen können.
Wäre der österreichische Thronfolger
Franz Ferdinand lebend nach Wien zurückgekehrt,
hätte er weiterhin für den
Frieden plädiert und gegen, wie er sie
nannte, „Kraftstücke“ auf dem Balkan.
Er hätte seinen Generalstabschef Franz
Conrad von Hötzendorf fallen lassen, das
war längst geplant. Vielleicht hätte auch
die sehr fragile Allianz von Russland
und Großbritannien den Sommer nicht
überlebt. Die Briten spielten mit dem Gedanken,
sich von St. Petersburg ab- und
Berlin zuzuwenden. Der Raum der Gegenwart
war damals genauso schwanger
an möglichen Zukünften wie heute.
Kleeberg: Die Kipppunkte, die Sie
benennen, hätten 1914 auf die positive
Seite fallen können, taten es dann nicht
und lösten einen negativen Dominoeffekt
aus. Heute schützt ein besseres, sanfteres
Politikmanagement vor solchen Eskalationen.
Auch die deutschen Schriftsteller,
die vor dem Krieg eher ein elitäres, politikverachtendes
Reich des Geistes predigten
(Hofmannsthal, George, Thomas
Mann), sind heute geerdeter. Das scheint
Fotos: Thomas Meyer/Ostkreuz für Cicero
120
Cicero – 7. 2014

mir der einzige, aber entscheidende Fortschritt
gegenüber 1914.
Sie greifen im Roman einen Gedanken
auf, der vor 40 Jahren, im Zuge der „Fischer-Kontroverse“
über die deutsche
Verantwortung für den Ersten Weltkrieg,
präsenter war als heute: „Thyssen
und Stinnes (…) lobbyierten seit Monaten
und Jahren für einen Krieg, der
einzig die Auslastung ihrer Kapazitäten
sichern konnte.“ Ein Unternehmer
pflichtet bei: „Selbst bei uns ist man
der Meinung, dass eine kurze Katharsis
nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich
nötig ist, um neue Freiräume,
frische Atemluft für die Unternehmen
zu schaffen.“ Trieb die Großindustrie
Europa in den Krieg?
Kleeberg: Mein Gewährsmann für
viele historische Zitate war Golo Mann.
Seine „Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“
stand Pate beim „Garten im
Norden“. Im Übrigen stürzen auch heute
die Interessen der Industrie Länder ins
Verderben – nur sind diese Konflikte ausgelagert.
Europa ist fein raus.
Clark: Die Tragödie von 1914 ist
ohne den Siegeszug des Sozialdarwinismus
kaum zu begreifen. Die Überzeugung,
dass nicht die Kooperation, sondern
der Konflikt jede Beziehung regelt,
war allgegenwärtig. In der Politik wie
in der Wirtschaft hieß das Motto: Mein
Gewinn ist dein Verlust. Politik wurde
zum Nullsummenspiel. Natürlich gab
es einzelne Stimmen, die auf den Krieg
setzten, um mehr Munition zu verkaufen.
Die Finanzindustrie hingegen hat
län derübergreifend vor einer militärischen
Eskalation gewarnt. Generell
wurden am Vorabend des Krieges sehr
selten ökonomische Überlegungen herangezogen,
um politische Entscheidungen
zu begründen.
Sie, Herr Kleeberg, haben von 1986 bis
2000 in Frankreich gelebt, erst in Paris,
dann im Burgund. Wie gegenwärtig ist
dort der Erste Weltkrieg?
Kleeberg: Sehr. In jedem Weiler
mit mehr als 50 Einwohnern gibt es ein
großes Kriegerdenkmal, an dem immer
Kränze hängen. La grande guerre war
in den Erzählungen der Veteranen mit
Händen zu greifen. Wichtig ist er für die
Franzosen auch deswegen, weil er den bis
heute letzten militärischen Sieg markiert.
Clark: Andererseits sorgte der Erste
Weltkrieg für ein demografisches Trauma.
Die Franzosen hatten fast anderthalb
Millionen Tote zu beklagen. Der große
französische Historiker Antoine Prost
sagt, dieser Krieg sei eine Narbe, die
noch schmerzt.
Gibt es Wut auf die Deutschen?
Clark: Das kann man nicht sagen –
trotz der Verwüstungen und Zwangsdeportationen,
die im Norden Frankreichs,
nicht nur in Belgien stattgefunden haben.
Kleeberg: Der Hass auf die Deutschen,
den es natürlich gab, hatte seinen
Ursprung im Deutsch-Französischen
Krieg von 1870/71. Letztlich hat sich die
französische Politik gegenüber Deutschland
seit Ludwig XIV. nicht geändert. Das
Ziel heißt Containment: Deutschland soll
eingehegt, soll klein gehalten werden.
Darum sagte de Gaulle einst im Kalten
Krieg, er liebe Deutschland so sehr, dass
er sich freue, dass es zwei davon gibt.
Clark: Der britische Premierminister
Benjamin Disraeli nannte den Deutsch-
Französischen Krieg eine deutsche Revolution,
die die Weltordnung stärker
erschüttern werde als die französische.
Plötzlich war die Mitte Europas kein
Vakuum mehr, sondern mit einem kraftstrotzenden
Kaiserreich besetzt.
Womit wir bei der Julikrise wären.Sollte
der Krieg Deutschland zähmen?
Clark: Nein. Das hieße ja, die Mächte
der Entente hätten den Krieg absichtlich
entfesselt. Vielmehr ist er entstanden aus
Befürchtungen und defensiven Überlegungen
– auf beiden Seiten. Erst im Laufe
des Krieges wurden Kriegsziele herbeiimprovisiert.
Auch das „Septemberprogramm“
von Reichskanzler Bethmann-
Hollweg mit seinen Maximalforderungen
war hastig zusammengeworfen.
Immerhin ist das „Septemberprogramm“
zentral für die Argumentation
Fritz Fischers, Deutschland habe im
Ersten Weltkrieg nach der Weltmacht
gegriffen. Der Freiburger Militärhistoriker
Wolfram Wette sagt, Fritz Fischer
sei noch aktuell, während Sie die
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„spezifisch militaristische Prägung“ der
Reichsführung leugneten.
Clark: Natürlich gab es Militarismus
als politische Kultur in Deutschland. Er
war vielleicht in mancher Hinsicht pointierter,
zugespitzter als in anderen Ländern.
Keine europäische Großmacht
aber war frei davon. Auch in Frankreich
wurde das Militär verherrlicht. Es gab
bei den Deutschen vor 1914 keinen Plan,
eine andere Großmacht anzugreifen.
Ähnlich sah es Jörg Friedrich jüngst
im Cicero-Gespräch. Ihr Kollege Gerd
Krumeich schreibt jedoch, „die Explosion
des Juli 1914 gab es, weil das Deutsche
Reich auf den Zünder drückte“.
Clark: Dem muss ich widersprechen.
Selbstverständlich trug der Blankoscheck
an Österreich-Ungarn zur Eskalation
bei. Dadurch lud das Deutsche Reich
sich einen wichtigen Anteil der Verantwortung
für den Kriegsausbruch auf die
Schultern. Auf den Zünder gedrückt hat
es aber keineswegs. Zum einen gab es
nach dem Blankoscheck eine Vielzahl
von Entscheidungen, ohne die der Krieg
nicht zustande gekommen wäre. Bereits
davor trug die Entente zur Verschärfung
bei, indem sie Serbien zu eigenen Zwecken
instrumentalisierte. Vor allem Russland
tat sich hervor.
Kleeberg: Mir scheint die Politik im
Deutschland der Vorkriegszeit weniger
militaristisch denn naiv, wenn nicht infantil
gewesen zu sein. Man hatte keine
konkreten politischen Ziele, stellte aber
Österreich-Ungarn den Blankoscheck für
ein Vorgehen gegen Serbien aus.
Clark: Wir können uns alle darauf
einigen, dass der Blankoscheck im Rückblick
ein katastrophaler Fehler war.
Das wird Ihr Kollege Jörn Leonhard
gerne hören. Sie würden, sagt er, die
Bedeutung des Blankoschecks zu wenig
herausstellen.
Clark: Ich will den Blankoscheck
in keiner Weise verteidigen. Wir sollten
aber versuchen, die damalige Entscheidung
zu verstehen. Sie beruhte nicht auf
Kriegslüsternheit, sondern auf der Tatsache,
dass die Deutschen nur einen einzigen
Partner hatten, Österreich-Ungarn.
Italien war faktisch ausgeschieden
aus dem Dreibund, paktierte mit Frankreich
und Großbritannien. Man hätte den
Der Schuss eines serbischen Nationalisten auf den österreichischen Thronfolger
Franz Ferdinand entfesselte den Weltkrieg. Foto und Zeichnung, 1914
letzten Verbündeten preisgegeben, wenn
man das Habsburgerreich vor den Kopf
gestoßen hätte. Die Alternative zur Unterstützung
hätte bedeutet, ihnen zu sagen,
dass sie keine Großmacht mehr sind
und keine Genugtuung verlangen dürfen.
Kleeberg: Mich wundert die deutsche
Sehnsucht nach der Alleinschuld
nicht. Die zwölf Jahre der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft wirken
wie ein umgekehrtes Brennglas für die
deutsche Selbsterinnerung. Im Fall Fritz
Fischers, der selbst Nationalsozialist gewesen
war, mag Exkulpation eine Rolle
gespielt haben. Wenn die Bosheit der
Deutschen schon 1914 oder noch früher
begann, erscheint das Unheil der Jahre
1933 ff. weniger als Zäsur.
Clark: Fischer und seine Generation
waren durch das Dritte Reich für die
Frage nach der deutschen Schuld sensibilisiert.
Das ist verständlich. Dennoch
ist Fischers Psychogramm der deutschen
Eliten im Kaiserreich mitsamt ihrer Paranoia
und all ihrem Bellizismus nicht
falsch – wenngleich sich ein ähnliches
Psychogramm bei anderen Großmächten
zeichnen ließe. Nicht mehr stichhaltig
sind seine Argumente, die Deutschen
hätten einen Krieg geplant und sogar
dessen Timing vorab bestimmt.
Kleeberg: In Thomas Manns „Doktor
Faustus“ führt der Versuch, des Unerklärlichen
irgendwie Herr zu werden, zu
einer Genealogie der deutschen Schuld,
die zurückreicht bis Martin Luther.
War der Pickelhauben-Patriotismus
wirklich unerklärlich?
Kleeberg: Zumindest gab es eine bemerkenswerte
Asynchronität. Das Deutsche
Reich hatte eine fortschrittliche Sozialpolitik,
wie sie Frankreich nach 1946
einführte, ein parlamentarisches System,
das dem Englands Jahrzehnte voraus war.
Clark: Jeder männliche Deutsche
durfte wählen. Vergessen wir nicht die
soziale Marktwirtschaft. Neben dem Militarismus
gab es Antimilitarismus, gab
es Liebknechts fantastisches Antikriegsbuch
von 1907, gab es einen „Hauptmann
von Köpenick“, dessen Hochstapelei die
Armee der Lächerlichkeit preisgab.
Kleeberg: Dennoch müssen wir
starke Tendenzen in der intellektuellen
Welt feststellen, die parlamentarische
Fotos: AKG Images
122
Cicero – 7. 2014

SALON
Gespräch
Demokratie als „Quasselbude“ zu verunglimpfen.
Oswald Spengler und Houston
Stewart Chamberlain wurden breit rezipiert.
Die Suche nach einem deutschen
Sonderweg, einer Volksgemeinschaft jenseits
von Demokratie und Kommunismus,
war weit verbreitet.
Clark: Das war die sogenannte deutsche
Mission zwischen Osten und Westen,
Sozialismus und Kapitalismus.
Es kam also 1914 trotz europäischer Vernetzung
und ohne konkrete Kriegsziele
zu einem Krieg, der den Kontinent verheerte.
Bewahren weder Kultur noch
Geist vor solchen Tragödien?
Clark: Ja, leider ist das so.
Lehrt die Geschichte nur traurige
Lektionen?
Clark: In der EU hat Europa eine Lösung
gefunden für das Problem des Krieges.
Es ist eine regionale Lösung, außerhalb
Europas wird Krieg geführt wie eh
und je. Außerdem fällt es den Europäern
schwer, die als Friedensordnung konzipierte
EU machtpolitisch zu füllen. Es
gibt keine europäische Interessenpolitik.
Kleeberg: Fast alle großen Ideen, die
die Menschheit begeistert haben, mussten
durch einen gewonnenen Krieg beglaubigt
werden. Ohne den Unabhängigkeitskrieg
und ohne die Kanonade von
Valmy hätten die humanistischen Ideen
der Amerikanischen und der Französischen
Revolution nicht gegriffen. Im Fall
des vereinigten Europas stand hingegen
der Krieg am Beginn, und nun haben wir
eine programmatische Lücke.
Peter Sloterdijk schreibt in „Die schrecklichen
Kinder der Neuzeit“ mit Blick auf
das Attentat von Sarajewo: „Jede Seite von sich selbst.
Anzeige Cicero 2014.qxp_Anzeige Cicero 06.06.14 09:06 Seite 2
hatte den Vorgang für sich so lange zurechtformuliert,
bis sie imstande war,
die eigene Entscheidung als eine von
heiliger Notwendigkeit diktierte Antwort
auf die unerträgliche Provokation
der anderen zu begründen.“
Clark: Das stimmt. Es ist faszinierend,
wie schnell die Mächte um dieses
Attentat eine Geschichte webten. Die
Russen sahen im gemordeten Thronfolger
einen Regenten im Wartestand, den
sowieso niemand mochte. Serbien habe
mit dieser verschwörerischen Tat nichts
zu tun – obwohl wir wissen, dass staatliche
Akteure verstrickt waren. Frankreich
und Großbritannien pflichteten
dieser Geschichte bei. Für die Österreicher
war klar, wie es mit dem Buchtitel
Friedrich Würthles hieß, „Die Spur
führt nach Belgrad“. In ihrer konkurrierenden
Erzählung stellen sie sich als
harmlose Bauern dar, aus deren Obstgarten
böse Kinder immer wieder Äpfel
klauen, bis man ihnen, den serbischen
Burschen, endlich mit dem Stock nachgeht.
Die gesamte serbische Staatspolitik,
hieß es, habe nur auf Hass gegen Österreich
beruht: ebenso erdichtet wie die
russische Erzählung.
Also: Hütet euch vor großen Erzählungen,
werdet Pragmatiker?
Clark: Pragmatische Gestalten bringen
die Welt nach jenen Katastrophen in
Ordnung, für die Fanatiker gesorgt haben.
Was für ein wunderbarer Pragmatiker
war doch Gustav Stresemann
und welch schrecklicher Fanatiker dann
Adolf Hitler. Andererseits brauchen auch
Pragmatiker eine Idee, die sie leitet. Daran
ermangelt es der EU. Sie ist zu pragmatisch
und hat zu wenig Bewusstsein
Hat die Poesie eine Idee von Europa?
Kleeberg: Die Schriftsteller der Gegenwart
bieten keine Großerzählung
von Europa an, sondern bereiten den
Humus, indem sie regionale und lokale
Erzählungen verfertigen. So kann europäisches
Bewusstsein reifen. James
Joyce schilderte in „Ulysses“ einen einzigen
Tag in Dublin. Das Ergebnis war
europäische Weltliteratur. Heute holt
ein Mircea Cartarescu Rumänien eindrücklicher
nach Europa als jede politische
Initiative.
Clark: Auch politisch wäre Europa
ohne Regionalismen nie zustande gekommen.
Die Regionen haben Europa über
die Asche des Krieges hinweg gerettet.
Was bietet Europa sonst der Welt?
Kleeberg: An einer gesamteuropäischen
Schriftstellerkonferenz neulich in
Berlin nahmen Kollegen aus Weißrussland
und Moldawien teil. Da wurde mir
deutlich, welchen Glanz dieses vereinigte
Europa ausstrahlt. Es ist das Paradies
der Rechtssicherheit.
Clark: Demokratie und soziale
Marktwirtschaft möchte ich ergänzen.
Kleeberg: Und die Abwesenheit von
Folter und epidemischer Korruption.
Clark: Es fehlt aber eine gemeinsame
europäische Erinnerung. Die Geschichtsschreibung
Europas steckt in
den Kinderschuhen. Mit den „Schlafwandlern“
wollte ich nicht die schrecklich
unüberlegte deutsche Außenpolitik
von 1914 nobilitieren, sondern die europäische
Katastrophe europäisch darstellen.
Der Erste Weltkrieg wurde nicht
von einem einzigen Staat Europa aufgezwungen.
Er war das Ergebnis mal fataler,
mal leichtfertiger europäischer Interaktionen.
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SALON
Literaturen
Neue Bücher, Texte, Themen
Moderne Klassiker
So beginnt der große Lesesommer
Mit den Werken von Virginia Woolf in allen Stil- und Tonlagen:
Romane, Essays, Briefe und Tagebücher
Niemals in ihrem von 1882 bis
1941 reichenden Leben hat die
englische Schriftstellerin Virginia
Woolf ein Flugzeug bestiegen und damit
etwa einen Rundflug über London unternommen
– zweimal war sie immerhin,
zu allem entschlossen, auf dem Flughafen
in Hendon erschienen, „aber jedes Mal
weigerte sich das Flugzeug, sich in die
Luft zu erheben“, wie sie ihren Londoner
Freunden berichtete. „Als Flieger-Leutnant
Hopgood sich vorbeugte und den
Motor aufheulen ließ, hatte er irgendeinen
Defekt in der Maschine entdeckt,
und den Kopf hebend hatte er nur sehr
schafsköpfig gesagt, ‚Tut mir leid, heut
wird’s nix‘.“
Diese Sätze wiederum kann man nun
in einer sieben Seiten langen Geschichte
lesen – und verwunderlicherweise gibt
Virginia Woolf darin einen höchst präzisen
Bericht davon, was es heißt, in einem
Flugzeug zu sitzen und von ganz
oben herunterzuschauen. „Man könnte
sich nichts Phantastischeres vorstellen“,
schreibt sie. „Häuser, Straßen, Banken,
öffentliche Gebäude, und Gewohnheiten
und Hammel und Rosenkohl waren
zu langen Spiralen und Kurven von
Rosa und Purpurrot hingestrichen (…).
Man konnte durch die Bank von England
hindurchsehen; alle Geschäftshäuser
waren durchsichtig; der Themse-Fluss
war, wie ihn die Römer sahen, wie der
Mensch der Altsteinzeit ihn sah, zur Morgenfrühe
von einem Hügel mit zottigem
Foto: www.bridgemanart.com
124
Cicero – 7. 2014

Wald aus (…), und England war Erde nur,
nur die Welt.“ Klar: Letztlich macht es
einer Schriftstellerin gar nichts aus, ob
sie nun tatsächlich geflogen ist oder nicht.
Wozu hat sie ihre Fantasie?
Was Virginia Woolf mit ihrer quicklebendigen
Vorstellungskraft anfing, wie
da aus schlichten Alltagsszenen – etwa
aus einer älteren, ärmlichen Frau im Zug
und ihrem leicht bedrohlich wirkenden
Reisebegleiter – eine Geschichte, ja fast
schon die Vorstufe zu einem Roman erwachsen
konnte, das findet sich nun in
den Bänden „Das Totenbett des Kapitäns“
und „Granit und Regenbogen“.
Zugleich schließen sie ein verlegerisches
Großunternehmen ab, dessen Entstehung
sich über insgesamt 25 Jahre erstreckt
hat. Die Rede ist von der von Klaus Reichert
herausgegebenen, neu übersetzten
und kommentierten Gesamtausgabe
der Werke, Briefe und Tagebücher Virginia
Woolfs. Vollendet, läutet sie jetzt
einen langen Sommer der Lesegenüsse
ein: Man kann herumstöbern in Woolfs
teils persönlichen, dann wieder intellektuellen
oder politisch eingreifenden Texten,
nicht zuletzt aber in ihren Romanen
und Erzählungen – und gerechterweise
ertönt an dieser Stelle eine Fanfare für
den S. Fischer-Verlag, der dieses Bücherglück
zuwege gebracht hat.
Hat etwa noch jemand geglaubt,
Gedrucktes sei überholt? Wer die bunte,
von der Malerin Sarah Schumann mit
expressiven Umschlägen ausgestattete
Reihe dieser Bücher vor sich sieht, wird
da nur lachen. Natürlich kann man den
sogenannten content umstandslos auch
in elektronischer Form konsumieren –
wirklich aufblühen aber werden diese
Werke nur, wenn man sie in mal gebundener,
mal kartonierter Form in Händen
hält, sie von hier nach dort mit sich
herumgeschleppt hat und sie auch mal
von Wind und Salz und Sonne bearbeiten
lässt. Wer in der Woolf’schen Bücherburg
seinen Sommer verbringt, dem wird
sich am Ende jedenfalls eine Welt geöffnet
haben. Doch schaut auch die eigene
Gegenwart hernach plötzlich anders aus:
Der fantasiegeladene Wirklichkeitsblick
dieser Autorin wirkt unvermeidlich
ansteckend.
Das kommt unter anderem daher,
dass er in diesem 1915 mit dem Roman
„Die Fahrt hinaus“ beginnenden, mit
„Man konnte
durch die Bank
von England
hindurchsehen,
alle Geschäftshäuser
waren
durchsichtig,
und England war
nur die Welt“
Virginia Woolf
dem Roman „Zwischen den Akten“ im
Jahr 1941 endenden Werk in ganz unterschiedlichen
Formen auf die unterschiedlichsten
Gegenstände fällt – kein Wunder,
dass diese Bücher Filmemacher zu unvergesslichen
Filmen wie „Orlando“ (1992
mit Tilda Swinton) oder „The Hours“
(2002 mit Meryl Streep und Nicole Kidman)
inspiriert haben. Lesend reisen
wir da jetzt mit einer Familie und deren
Künstlerfreunden nach Cornwall, verbringen
mit ihnen den Sommer und lernen
die Hoffnungen und Wünsche, aber
auch das Verzagen und Versagen dieser
Menschen kennen („Die Fahrt zum
Leuchtturm“). Dann wieder folgen wir
dem Tageslauf der wohlsituierten „Mrs
Dalloway“, die eine Dinnerparty vorbereitet
und auf ihren Einkaufswegen einem
im Ersten Weltkrieg schwer traumatisierten,
seither von Wahnvorstellungen
verfolgten Mann begegnet. Oder wir sehen
das Leben des Hundes „Flush“ vor
uns und treffen im Roman „Die Wellen“
auf sechs Menschen, die miteinander
schon als Kinder befreundet waren
und nach Jahrzehnten auf ihre allmählich
auseinandergedrifteten Lebensgeschichten
zurückblicken.
Auf unserer Stöber- und Lesetour begegnen
wir konventionell Erzähltem wie
der Familiengeschichte der Pargiters in
„Die Jahre“, dann aber auch wieder einem
ganz auf Stimmungen und Wahrnehmung
setzenden Roman wie „Jacobs
Zimmer“ und in „Orlando“ schließlich
einer über mehrere Jahrhunderte ausgreifenden
Biografie, deren Held einmal
männlich, dann wieder weiblich ist.
Tagebücher und Briefe führen in das
umtriebige tägliche Leben der Schriftstellerin
selbst hinein, die sich seit 1913
im von ihr und ihrem Mann Leonard
gegründeten Verlag The Hogarth Press
auch noch als Lektorin und Setzerin betätigte.
Von Jahr zu Jahr wächst so ein
vielfarbig schillerndes zeit- und kulturgeschichtliches
Panorama des Lebens in
der Stadt London in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts zusammen. Adlige
tummeln sich darin und Politiker, Wissenschaftler,
Künstler und Intellektuelle,
und alle miteinander bilden sie eine Produktionsgemeinschaft
der inspirierenden
Art, bis der Zweite Weltkrieg mit den
deutschen Bombenangriffen auf England
alles zum Stillstand bringt.
Natürlich kommt auch das Privateste
nicht zu kurz: nicht die komplexe Ehe
des Politikers und Schriftstellers Leonard
Woolf mit der Gelehrtentochter
Virginia Stephen, nicht deren Liebesaffäre
mit der dem Hochadel entstammenden
Autorin Vita Sackville-West – kein
Skandalon wird hier ausgelassen, auch
kein Schrecken und erst recht kein Glück.
Sodass, wer vom Roman zu den Briefen,
von diesen wieder zu den Essays und Tagebüchern
wechselt, am Ende außer betörender
Kunst auch reale Biografien und
Geschichte in the making erlebt. Sodass
er schließlich nicht nur weiß, was alles
Virginia Woolf in ihren jeweiligen Lebensphasen
unternommen hat, sondern
auch, wie das vor sich ging. Und merkwürdig:
Obwohl anfangs noch Kutschen
fahren und es von Bedeutung ist, was der
König von England zur aktuellen Politik
sagt – am Ende bemerken wir, wie sich
durch die Lektüre auch unsere Wahrnehmungsorgane
geöffnet haben: für unsere
eigene Zeit. Sich dieser sinnlichen Erfahrung
lesend zu überlassen, gibt der nun
anbrechende Sommer die schönste Gelegenheit.
Frauke Meyer-Gosau
Virginia Woolf
„Das Totenbett des Kapitäns“
Aus dem Englischen von Hannelore Faden und
Helmut Viebrock
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2014. 284 S., 19,99 €
125
Cicero – 7. 2014

SALON
Literaturen
Philosophie und Zeitkritik
Bastarde sind wir alle
Doch nicht reaktionär: Peter Sloterdijk zeichnet die Moderne als
eine bodenlose Epoche und schilt die gegenwärtige Politik
Es ist der Sound, der Peter Sloter dijks
Bücher unverwechselbar macht.
Dieser Sound ist sein Lebenselixier,
sodass fünf Jahre nach „Du musst dein
Leben ändern“, zwei Jahre nach „Zeilen
und Tage. Notizen 2008 – 2011“ das
nächste 500-Seiten-Werk aus der Karlsruher
Klangmanufaktur vorliegt. Schon
auf den einleitenden Seiten, präludiumslos,
ist die Melange aus Metaphorik und
Umgangssprache, Bonmot und Struktur,
Begriffsverschärfung und Gedankenwirbelei,
oft auch Superlativ und Litotes
ganz da. „Der Mensch“, lautet der erste
Satz, „ist das Tier, dem man die Lage erklären
muss.“ Ebendies tut der als „man“
getarnte philosophische Schriftsteller sofort
in hohem Tempo. Er sagt uns con
moto, was Sache ist und wie die Dinge
stehen, heute, da Moderne und Unheil
nicht länger verfeindet sind.
Der Mensch sei ein spezielles Tier –
ein Tier, das erben kann und das sich
korrumpieren lässt. Die Moderne wird
„Zeitalter der selbstverstärkenden Prozesse“
und der chronischen Improvisation
genannt, sie beschreibe einen
Kreislauf des Bodenlosen, Moderne sei
authentisch, „wo immer das Interesse an
Enterbung und Neubeginn aufflammt“.
Damit ist das Leitmotiv angeschlagen.
In dieser ebenso süffigen wie weit ausladenden
Gedankenpartitur werden die
zum Teil hart sich aneinander reibenden
Themen durch die Frage nach dem
Stellenwert des Erbes und des Erbens
zusammengehalten. Die titelgebenden
schrecklichen Kinder sind – aus Vätersicht
– rebellische Söhne, die von den Alten
sich radikal abwenden und so einen
„revolutionären Hiatus“ verursachen. Im
Originalklang: Es sind die „aus der Art
Geschlagenen, Verräter am Herkommen
und Totengräber des Habitus, von denen
moderne Zeiten behaupten, sie hätten die
Menschheit vorangebracht“.
Genüsslich führt Sloterdijk die Moderne
auf ihr „Wurzelwort“ zurück, die
Mode. Oft gewinnt er seine Erkenntnisse
„rückblickend“, „im Rückblick“. An der
Gegenwart missfällt ihm manches: Pfusch
und Reparatur seien die Leitbegriffe des
21. Jahrhunderts, Politik scheine nur als
„ausgeweiteter Pannendienst“ möglich,
der Staat mäste sich zum „allzuständigen
Problemlöser“ – ist also aus der Art
geschlagen. Das offizielle Begriffsmanagement
wiederum sei peinlich, „Integration“
bloße „Spielmarke in hohlen
politischen Diskursen“, Unsinn gar das
Schlagwort „Global Governance“. Von
postkolonialen Studien hält er wenig,
süffisant setzt er – wie vieles – den „Respekt“,
den Homosexuelle sich zu organisieren
mühten, in Gänsefüßchen, das
Genderdeutsch schlägt er mit dessen eigenen
Waffen: „Jedem (!) Leser“ sei es
freigestellt, von einer Liste neuzeitlicher
Gründergestalten die weiblichen Formen
zu bilden.
Insofern bewegt sich Sloterdijk auf
den Spuren der Madame de Pompadour.
Mit dem für 1757 verbürgten Ausspruch
„Nach uns die Sintflut“ habe die,
so Sloterdijk, Erfinderin des politisch
inkorrekten Redens die „fröhliche Wissenschaft
vom Leben in bodenloser Zeit“
begründet. Ebendarin brilliert der Denker
mit der Halbbrille und dem Löwenhaar.
Stets vergnüglich und meistens erhellend
ist es, ihn zu lesen. Der Vorrang
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Deutsches Historisches Museum
Unter den Linden 2 ∙ 10117 Berlin
www.dhm.de ∙ Täglich 10–18 Uhr

des Aperçus vor dem System ist kein
Webfehler, sondern die Einlasskarte zu
den „Schulbänken des Sarkasmus“, vor
denen Sloterdijk seine Lektionen erteilt.
Was mit der Maitresse des Bourbonenkönigs
begonnen haben soll, „die Umdeutung
des Verhältnisses von Vergangenheit
und Zukunft“, der „Feldzug ins
reine Futur“, der nicht in den Alten und
den Toten das nachahmenswerte Exempel
erblickt, sondern in den Zeitgenossen,
fächert Sloterdijk im zentralen, im stärksten
Kapitel auf, einem Panorama sieben
historischer Miniaturen zwischen 1793
und 1971, Nachtstücken der Aufklärung,
fast in Callots Manier.
Da wäre Napoleon Bonaparte, den
Sloterdijk, an historisch-politischer Korrektheit
desinteressiert, den „größten
Aggressor des Jahrtausends“ ruft. Dessen
Selbstkrönung zum Kaiser 1804 sei
paradigmatisch für die Schrecklichen;
er war „nichts als der Sohn seiner Taten“,
ein stolzer Bastard, in dessen Dasein
sich Herkunft und Zukunft trennten.
Oder „Schreibtisch-Liquidator“ Lenin,
der mit Terror und Bürokratie den modernen
„Sturz nach vorn“ (Nietzsche) institutionalisierte.
Oder Hitler, ein „Epigone
Lenins und Mussolinis“, der eine
„deutsche Version des Langen Marschs“
entwarf. Oder die Hasardeure des Papiergelds,
die 1971 die Abkehr der USA
vom Prinzip der Golddeckung auskungelten.
Seitdem ist alle Wirtschaftspolitik
Luftbuchung, „Liquiditätszauber“. Mario
Draghi wird es ungern lesen.
„War die
Moderne das
Weltalter
der Projekte,
erweist sich
die Postmoderne
als das Zeitalter
der Reparaturen“
Peter Sloterdijk
Ist Sloterdijk reaktionär geworden?
Nein, er blieb ein gut gelaunter Zyniker.
Golden waren die Zeiten nie, „rückblickend“
ortet er in der Antike einen Angriff
der Gegenwart auf das Gewesene.
Aristophanes wandte sich gegen den
„Quark der alten Sitte“, Jesus von Nazareth
sei das „schrecklichste Kind der
Weltgeschichte“ mit seiner „schroff familienfeindlichen
Doktrin“ geistiger Nachkommenschaft:
„Wer aus dem Absoluten
kommt, braucht keine bärtigen Vorfahren
aus den Zelten der Patriarchen.“
Sloterdijks clowneske Volten wider
den Monotheismus sind aus „Gottes Eifer“
bekannt und minder originell. Seltsam,
dass er, um den Riss zwischen den
Generationen zu grundieren, auf die augustinische
Erbsündenlehre rekurriert,
ohne dem Vater allen Väterdenkens, dem
Patriarchen Abraham, zum Recht zu verhelfen.
Schade auch, dass er die symptomatische
„Geschichte des Erben“ von
Rudolf Borchardt (1922) nicht aufgegriffen
hat. „Ich nehme weder eure Art noch
euer Schicksal (…) in mein Wesen hinüber!“,
schleudert da ein Adam K. der
Mutter und den Geschwistern entgegen.
Deutlich wird: Der Mensch, „das
in Erbgeschichten verstrickte Wesen“,
hat eben zu oft Tabula rasa gemacht,
zu gründlich entsorgt, was Gegenwart
hieß. Das Dauern kam zu rasch aus der
Mode. Nun sitzt der Mensch sehr einsam
am Tisch des Hauses, das ihm nicht
gehört, liest Sloterdijk und seufzt wohlig,
wenn er auf Seite 90 angekommen
ist: „Es werden in Menschenkörpern der
wohlhabenden Hemisphäre ständig mehr
Fettreserven aufgebaut, als durch Bewegungsprogramme
und Diäten abzubauen
sind.“ Auch dieser Hiatus ist Peter Sloterdijk
nicht entgangen. Alexander Kissler
Peter Sloterdijk
„Die schrecklichen Kinder der
Neuzeit“
Suhrkamp, Berlin 2014, 490 S., 26,95 €
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www.fischerverlage.de
432 Seiten, gebunden, € (D) 19,99
»Ich kritisiere nicht.
Ich lehne ab.«
sagt Nelia Fehn in einem Interview über ihren ersten
Roman, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis
steht. Sie trifft auf einen Literaturbetrieb, der nur noch
sich selbst inszeniert, und sucht nach einem Weg, sich
in der Sprache ihre innere Freiheit zu bewahren.
Marlene Streeruwitz gewährt uns einen Insider-Einblick
in das Literaturgetriebe, und es gelingt ihr, aus dem
Ende der Literatur Literatur zu machen.
Foto: Isolde Ohlaum

SALON
Literaturen
Religion
Gegen den
Werterelativismus
Ronald Dworkin
formuliert ein atheistisches
Glaubensbekenntnis
Faust, der Tragödie erster Teil. Zwei
Frischverliebte im Garten: „Nun
sag, wie hast du’s mit der Religion?“,
will Gretchen von ihrem Verehrer wissen.
Faust antwortet etwas zögerlich. Mit einem
Schöpfer, der ihn zur Messe und in
den Beichtstuhl zitiere, könne er wenig
anfangen. Statt in der Kirche mache er
Transzendenzerfahrungen lieber in der
freien Natur oder beim wissenschaftlichen
Studium.
Kurz vor seinem Tod im Jahr 2013
hat sich Ronald Dworkin, der liberale
Star unter den amerikanischen Rechtsphilosophen,
an eine aktualisierte Antwort
auf die Gretchen-Frage gewagt.
Folgt man seinem Begriffsverständnis,
hätte Faust sich sehr wohl als religiösen
Menschen bezeichnen dürfen. Dworkin,
zu Lebzeiten als streitlustiger Intellektueller
berüchtigt, gibt sich in seinem posthum
erschienenen Buch „Religion ohne
Gott“ als Schlichter zwischen Gottesfürchtigen
und Atheisten, zu denen er
sich selbst zählt. Demnach teilen die
meisten Menschen, ob nun konfessionsfrei
oder nicht, denselben „ursprünglich
religiösen Impuls“: Es herrsche in der Regel
Einigkeit darüber, dass Grausamkeit
verwerflich und der Grand Canyon von
überwältigender Schönheit sei. Könnte
man angesichts dieser fundamentalen
Übereinstimmung nicht einen Moment
die Vorstellung eines höchsten Wesens
mit Rauschebart, wie es einst von Michelangelo
an die Decke der Sixtina gemalt
wurde, beiseitelassen und sich vertragen?
Wahrscheinlich werden sich Al-
Qaida-Terroristen und militante Evangelikale
in den USA von diesem Appell
nicht beeindrucken lassen. Anderen mag
die seit der Aufklärung proklamierte
Überzeugung, dass moralische Grundsätze
unabhängig von einem personalen
Gott gelten, wenig originell erscheinen.
Dennoch lohnt es sich, Dworkins Ausführungen
im Detail zu folgen. Statt
einer Sonntagspredigt für das säkularisierte
Bewusstsein liefert er eine konsequent
durchdachte Illustration jener
Position, die unter Philosophen „Wertrealismus“
genannt wird. So ist die Würde
des Menschen für Dworkin nicht nur eine
humanistische Behelfskonstruktion; die
Schönheit des Universums ist nicht auf
irgendeinen Mechanismus der menschlichen
Psyche zurückzuführen. In beiden
Fällen – umfassend hat er dies in
seinem moralphilosophischen opus magnum
„Gerechtigkeit für Igel“ (2012)
erläutert – handelt es sich um „objektive
Werte“, aus denen sich moralische
Grundsätze ergeben, die ebenso wahr
sind wie die Axiome der Mathematik. So
geht es in diesem atheistischen Glaubensbekenntnis
nicht nur darum, moderne
Gotteskrieger zu entwaffnen. Ebenso
entschieden widerspricht Dworkin dem
postmodernen Relativismus, demzufolge
moralische Maßstäbe durch jeweilige
kulturelle Faktoren bedingt werden.
Für einen Wertrealisten hingegen gibt es
unanfechtbare Kriterien, nach denen sich
ethische und politische Grundkonflikte
eindeutig lösen lassen. So vertritt Dworkin
bei der Abtreibung oder mit Blick auf
die Schweizer Debatte um den Bau von
Minaretten eine radikal liberale Position.
Nur über die Prinzipien, auf die er
seine Weltoffenheit stützt, lässt sich nicht
diskutieren.
Ein wenig konturlos fällt die säkularisierte
Unsterblichkeitshoffnung im
Schlusskapitel dennoch aus. Ein Leben,
in dessen irdischem Verlauf Gutes
zustande gebracht wird, kommt laut
Dworkin einem Kunstwerk mit unvergänglichem
Wert gleich. In diesem Zusammenhang
verweist er auf einen
Bewunderer Woody Allens, der dem
Meister einst versicherte, dieser werde
in seinen Werken ewig weiterleben. Allen
fand diesen Gedanken nicht sonderlich
tröstlich: Er würde das ewige Leben
am liebsten in seinem New Yorker Apartment
verbringen. Marianna Lieder
Ronald Dworkin
„Religion ohne Gott“
Aus dem Amerikanischen von Eva Engels
Suhrkamp, Berlin 2014. 145 S., 19,95 €
Jugendbuch
Wenn die Mutter
verschwindet
Tamara Bach erzählt eine
Geschichte ohne Happy End,
aber nicht ohne Hoffnung
Der Tag, an dem Mareikes Mutter
verschwindet, ist ein ganz normaler
Donnerstag. Doch er setzt
eine existenzielle Zäsur im Leben der
17‐jährigen Gymnasiastin. Kein Unfall,
kein Verbrechen, keine Krankheit, auch
kein Suizid: Die Mutter hat sie, ihre beiden
älteren Geschwister und ihren Vater
verlassen. Es findet sich kein Abschiedsbrief,
keine Erklärung. Und die, die etwas
über die Hintergründe wissen müssten,
der Vater, die studierende Schwester,
der große Bruder, sie schweigen.
So versetzt Tamara Bach die Heldin
und Ich-Erzählerin ihres neuen Jugendromans
„Marienbilder“ in einen Zustand
völliger Verlassenheit, den sie im Verlauf
des Buches auch nicht wird überwinden
können. Im Gegenteil wachsen Beklemmung
und Verlorenheit von Tag zu Tag.
Der Vater verstummt fast völlig, die Geschwister
versuchen pragmatisch klarzukommen,
in Schule und Nachbarschaft
gibt es Getuschel. Mareike wird schwanger,
hat eine Fehlgeburt, niemand außer
der Ärztin weiß davon.
Gegen das äußere Schweigen setzt
die preisgekrönte Autorin das innere
Erzählen. Mareikes Gedankenexperimente,
Entwürfe einer Geschichte der
Frauen ihrer Familie und schließlich
drei imaginierte Bahnfahrten als versuchte
Rettung bilden den sprachmächtigen
Kern dieses ungewöhnlichen Buches.
Die Sehnsucht nach der haltenden Mutter
auf den Marienbildern bleibt unerfüllt,
doch die Kraft von Mareikes Sprache
und Erfindungsreichtum lässt die
Leser für sie hoffen. Britta Sebens
Tamara Bach
„Marienbilder“
Carlsen, Hamburg 2014. 134 S., 13,90 €
128
Cicero – 7. 2014

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SALON
Bibliotheksporträt
HEIMAT BEI DEN
HEIMATLOSEN
Die Sängerin Ute Lemper liest in New York Bücher von
Außenseitern und Exilanten. Wenn sie Gedichte von Pablo Neruda
singt, weiß sie: Deutschland liegt hinter ihr
Von SEBASTIAN MOLL
Die Diva ist ungeschminkt. Jedes Fältchen der 50-Jährigen ist sichtbar,
das Haar fällt zauselig um das schmale Gesicht. Ute Lemper trägt verwaschene
Jeans und eine legere Bluse, bequeme Hauskleidung, wie man sie von
einer berufstätigen New Yorker Mutter von vier Kindern erwarten würde.
Auch die Mansarde, in die Lemper uns führt, ist alles andere als glanzvoll.
Das spärliche Mobiliar – ein kleiner Esstisch, ein Sofa, ein Sekretär
nebst Bücherbord – ist eher Flohmarkt als Designer-Boutique. Ebenso die
Bilder an der Wand: naturalistische Etüden, vermutlich von Kunststudenten.
Nur der Blick über den Central Park ist grandios.
Es ist der Arbeitsraum der Lemper, zwei Stockwerke und einen schmalen
Treppenaufgang oberhalb der Familienwohnung auf der Upper West Side
von Manhattan. Hierher zieht sie sich vom Trubel des Familienlebens zurück,
um zu komponieren, zu arrangieren, zu proben. In der Ecke steht ein
elektrisches Klavier nebst Notenständer, in Griffweite Bücherbords.
Ja, natürlich, sagt sie, gebe es mehr Bücher im Hause Lemper, unten in
der Wohnung, doch diese ist für Journalisten tabu. „What you see is what
you get“, rutscht Ute Lemper ins Amerikanische. Sie lebt seit 16 Jahren
hier, ist mit einem New Yorker verheiratet, ihre Kinder sind Amerikaner.
Da schaltet man nicht so leicht ins Deutsche um.
Außerdem, fügt Lemper an, seien alle Bücher, die in ihrem Leben wirklich
wichtig waren, hier. Es sind vor allem Texte, mit denen sie gearbeitet
hat. Da stehen ganz oben Brecht und Weill und Tucholsky, das Berlin der
zwanziger Jahre, mit dessen Liedern ihre internationale Solokarriere begann
und die, zusammen mit ihrer Rolle als Sally Bowles von „Cabaret“
und Lola im „Blauen Engel“, ihr Image geformt haben. Lemper gilt als die
neue Dietrich, die Exil-Deutsche mit dem androgynen Sex-Appeal und jenem
weltmüden Blick, der mehr gesehen hat, als ein Leben aushält.
Das ist Lempers Marke, das kommt gerade in New York gut an, wo sie
auf intimen Bühnen wie „Joe’s Pub“ oder dem „54 Below“ Berliner Luft
verbreitet und die Weimarer Zeit auferstehen lässt. Für sie persönlich bedeuten
die Texte aber mehr als bloß Nostalgie.
130
Cicero – 7. 2014

Fotos: Kai Nedden für Cicero (Seiten 130 bis 133)
Als Münsteraner Bürgertochter in der Bundesrepublik der siebziger
Jahre fand Lemper bei Brecht und Weill eine intellektuelle Heimat. „Ich
habe damals in einer Punkband gespielt, wir haben Pink Floyd und Joni
Mitchell gehört. Aber in Deutschland gab es wenig, an dem man sich orientieren
konnte.“ Allein in der Literatur der Zeit um 1920 fand sie etwas,
das ihr eigenes Lebensgefühl widerspiegelt: das Fremdsein im eigenen Land.
Dieses komplizierte Verhältnis zu Deutschland hat sich Lemper bis
heute bewahrt, nicht zuletzt deshalb hat sie sich New York zur Heimat gemacht,
die Heimatstadt der Heimatlosen. Deutschsein, sagt sie, „das war
für mich immer die Frage, wie man mit der Vergangenheit umgeht, mit der
Wut und der Verzweiflung über das, was war.“
Immer wieder fühlt sie sich zu Autoren hingezogen, für die Fremdheit
und Entfremdung zentral sind. Da steht Joseph Brodsky im Regal, der nach
zwei Jahren in sowjetischen Gulags über Wien in die USA ausgewandert ist.
Direkt daneben findet sich Paul Celan, der rumänische Jude, der den Holocaust
überlebte und dann im Pariser Exil Selbstmord beging.
Ein Bücherbord tiefer das Werk von Charles Bukowski, dem Sohn eines
amerikanischen Soldaten und einer Deutschen, der in den zwanziger Jahren
in Andernach aufwuchs, bevor die Familie nach Los Angeles zog. Die
Gedichte von Bukowski zu vertonen, war eines der jüngsten Großprojekte
von Ute Lemper. „Bukowski ist kein Exilant im klassischen Sinn“, sagt sie,
„und vieles stört mich an ihm, etwa seine Frauenfeindlichkeit.“ Aber Bukowski
sei einer gewesen, der sich immer im Leben selbst zutiefst fremd
gefühlt habe, und das hat die Sängerin angezogen.
Das Buch, das sie in den vergangenen zwei Jahren am meisten beschäftigt
hat, findet Ute Lemper nicht. Sie ruft in der Wohnung an und bittet ihren
ältesten Sohn Max, danach zu schauen. Zehn Minuten später klopft es an der
Tür, Max hat das gute Stück, das Ute Lemper ihre „Bibel“ nennt, aufgetan.
Es ist ein Band mit den berühmten „20 Liebesgedichten“ von Pablo Neruda.
Das rosafarbene Heft mit goldenen Verzierungen auf dem Cover ist
mit Randnotizen übersät. Ute Lemper hat intensiv damit gearbeitet. Das
Ergebnis ist ihre neueste CD, auf der sie zwölf Gedichte auf Englisch und
Spanisch interpretiert: herzzerreißende Balladen zu Tango- und Chanson-
Melodien. Neruda passt in Lempers Galerie der Rastlosen und Unverstandenen.
Der Kommunist, den es ins Exil trieb, der Gerechtigkeit und Frieden
für sein Land wollte und in seinen letzten Tagen den Staatsstreich von Pinochet
erleben musste, dessen Schergen ihn Gerüchten zufolge vergifteten.
Auf ihrem Schreibtisch liegt Paulo Coelhos „Die Schriften von Accra“.
Lemper weiß, dass das Buch hart an der Grenze zum Kitsch entlangschrammt,
„aber da ist etwas, das mich berührt“. Ist es das Wissen, dass
Coelho in ein Irrenhaus gesperrt und gefoltert wurde? Oder die Tatsache,
dass der Brasilianer in der Schweiz lebt, fern der Heimat? Das selbst gewählte
Exil qualifiziert ihn für Lempers Kanon.
SEBASTIAN MOLL lebt wie Ute Lemper als Deutscher seit vielen Jahren in New York
133
Cicero – 7. 2014

SALON
Hopes Welt
REDE, KÜNSTLER, BILDE NICHT NUR!
Wie Elvis Presley mich einmal davor bewahrte, ein unpolitischer
Musiker zu werden, und warum Kunst eine Gewissensfrage ist
Von DANIEL HOPE
Der Filmausschnitt hat sich meinem Gedächtnis
tief eingeprägt: Elvis Presley gibt
1972 eine Pressekonferenz in New York.
Eine Reporterin fragt ihn nach seiner Meinung
zu den Gegnern des Vietnamkriegs. Presleys Gesichtsausdruck
wird ernst: „Honey, ich möchte
lieber meine Meinung für mich behalten. Ich bin
nur Entertainer.“ Viele Jahre später droht die
Welt ihr Gleichgewicht zu verlieren. Gerade in
Bezug auf Russland und die Krimkrise scheint es
mir, als würde sich das „Elvis-Syndrom“ in der
Politik breitmachen. Wenn sich die Politiker jetzt
lieber als Entertainer behaupten wollen, welche
Ambitionen haben dann die echten Künstler?
Klassische Musiker, die eine klare politische
Position beziehen, gibt es heute erschreckend
wenige. Keiner setzte sich mehr für die
Menschenrechte ein und nutzte gleichzeitig die
Musik besser für die Politik als Yehudi Menuhin.
Mit mehr als 500 Konzerten während des Zweiten
Weltkriegs half er Kriegsopfern und Flüchtlingskindern,
trat 1945 noch vor den Befreiten
des Konzentrationslagers Bergen-Belsen auf und
spielte im zertrümmerten Berlin demonstrativ
unter Wilhelm Furtwängler, womit er der erste
jüdische Künstler von Weltrang war, der wieder
in Deutschland Konzerte gab als Zeichen der
Versöhnung.
Daniel Barenboim hat in gewisser Weise Menuhin
beerbt, mit seinem West-Eastern Divan
Orchestra und der Barenboim-Said-Akademie.
Gidon Kremer trommelte Musikerfreunde für ein
Konzert in Berlin zusammen, das er „To Russia
with Love“ nannte, um mit Musik für die Menschenrechte
in Russland zu demonstrieren. Er
sagte: „Künstler sollten nicht bequem im breiten
Strom mitschwimmen.“ Ein Staat könne „Künstler,
Menschen überhaupt zum Schweigen bringen
oder vor die Frage stellen: Kann ich bleiben,
ohne mich verleugnen zu müssen?“
Aber hat ein Künstler das Recht, jenseits
der Kunst seine Ansichten zu teilen? Wenn er es
tut, sagt man ihm oft, wie es bei Goethe heißt:
„Bilde, Künstler! Rede nicht!“ Eine solche Reaktion
ist keineswegs selten. Als ich 2008 die Abflughalle
des Flughafens Tempelhof in einen
Konzertsaal verwandelte, um mein erstes „Tu
was!“-Projekt zu starten, fragte mich ein deutscher
Journalist, wieso „ausgerechnet ein englischer
Geiger nach Berlin kommt, um der deutschen
Reichspogromnacht zu gedenken“. Meine
Antwort war kurz. „Einer musste es ja tun.“
Später entschuldigte sich der Mann für seinen
Tonfall, nicht für seine Worte. Er habe es
satt, von Künstlern zu hören, sie müssten sich
politisch einmischen. Der britische Schauspieler
und Gelegenheitskomiker Russell Brand gab
neulich in einem Fernsehinterview zu, niemals
gewählt zu haben. Brand zufolge sei es ohnehin
Betrug, Wahlen brächten nichts. Der Mann hat
knapp acht Millionen Follower auf Twitter.
Als die Ergebnisse der Europawahlen mitsamt
dem Rechtsruck über den Bildschirm tickerten,
musste ich an Russell Brand und seine Follower
denken, die vielleicht ebenfalls nicht gewählt
haben. Oh Elvis, am Ende hattest du recht!
DANIEL HOPE ist Violinist von Weltrang und schreibt
jeden Monat in Cicero. Sein Memoirenband „Familienstücke“
war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch
„Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“
( Rowohlt ) und die CD „Spheres“. Er lebt in Wien
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators
134
Cicero – 7. 2014

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SALON
Die letzten 24 Stunden
Heute nicht und
morgen nicht
und niemals
ohne Rucksack
GLENN
GREENWALD
Glenn Greenwald
Der amerikanische Jurist und
Journalist enthüllte als Erster die
von Edward Snowden gesammelten
Daten zum NSA-Skandal.
Der 47-Jährige hat darüber nun
das Buch „Die globale
Überwachung“ veröffentlicht
Mir ist klar, dass wir alle
eines Tages sterben müssen.
Mit meinen 47 Jahren
bin ich aber noch viel
zu jung. Ich grüble nicht
die ganze Zeit darüber, wie ich meine
letzten 24 Stunden auf Erden verbringen
würde. Der Tod? Abstrakt vorstellbar,
vielleicht. Aber es fühlt sich nicht so
an, als ob er an der nächsten Ecke lauert.
Im Moment versuche ich, so intensiv wie
möglich zu leben.
Es gab aber im vergangenen Jahr einen
Moment, in dem mir bewusst wurde,
dass ich einem großen persönlichen Risiko
ausgesetzt bin: als ich das Ausmaß
der NSA-Enthüllungen erkannte. Es
war im Flugzeug nach Hongkong. Dort
konnte ich erstmals das Archiv der Dokumente
ganz einsehen, die der Informant
mir und der Dokumentarfilmerin
Laura Poitras gegeben hatte. Ich wusste,
dass ich derjenige sein sollte, diese Story
sehr aggressiv zu verfolgen, in einer Art,
die für einige Menschen höchst umstritten
und bedrohlich sein würde. Ich war
mir absolut sicher, dass das auch einen
Effekt auf mein Leben haben würde.
Ich erinnere mich noch daran, wie
ich mit meinem Lebenspartner David
Miranda darüber gesprochen hatte, bevor
ich nach Hongkong flog. Wir waren
uns sicher, dass ich keine Wahl hatte. Ich
musste es tun. Ich konnte nicht mit dem
Wissen leben – oder sterben –, dass ich
es nicht getan hatte. Auch meine Familie,
besonders mein Bruder Mark und meine
Schwägerin Christine, hatten Angst um
mich. Ich habe trotzdem weitergemacht.
Kurz nach meinen ersten Berichten
im Juni 2013 war es so weit. Ein Korrespondent
des US-Magazins The Atlantic
hörte zufällig, wie sich zwei Agenten
der NSA am Flughafen Washington-Dulles
über die heiklen Veröffentlichungen
unterhielten: Der Informant und sein Reporter
müssten „verschwinden“. Ich war
zu dem Zeitpunkt in Hongkong und habe
das nur am Rande mitbekommen.
Ob ich daran gedacht habe, dass
ich dabei sterben könnte? Wir hatten
alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen
getroffen. Aber dann wollte ich nicht
länger daran denken. Man wird paranoid
oder verrückt, wenn man sich jedes
potenzielle Szenario ausmalt. Journalisten
werden weltweit bedroht.
Kriegsberichterstatter werden getötet.
Es gibt da draußen so viele mutige Journalisten,
ohne dass irgendjemand davon
weiß. Ich wusste, dass mir meine Sichtbarkeit
als Schutz dienen würde.
Ich bin nicht katholisch und glaube
an nichts. Ich bin ohne Religion aufgewachsen.
Alle haben verschiedene Vorstellungen
vom Tod, aber ich habe noch
nie darüber nachgedacht. Man kann nicht
vorhersagen, wie man handeln wird, bis
man tatsächlich in der Situation ist.
Leute errichten im Netz virtuelle
Friedhöfe oder schreiben auf Facebook
Nachrichten an ihre toten Freunde. Ihr
Tod findet damit auch im Netz statt. Mir
scheint das ein angemessener Weg zu sein,
um der Verstorbenen zu gedenken. Menschen
möchten viele Details aus ihrem
Privatleben preisgeben und posten. Ich
urteile nicht darüber. Erwachsene haben
das Recht, selbst zu entscheiden. Es gibt
aber einen gewaltigen Unterschied zwischen
dem, was wir freiwillig im Internet
veröffentlichen, und Dingen, die uns aufgezwungen
werden, weil wir etwas privat
halten wollten und ein anderer es bekannt
macht, es uns also wegnimmt.
Ich weiß nicht, ob auch ich auf Facebook
sterben wollen würde. Welchen
Drink ich an meinem letzten Tag zu mir
nehme, ob ich nochmals ins Internet gehe,
Mails checke – keine Ahnung! Aber eine
Sache ist ganz gewiss: Meinen Rucksack,
den ich immer bei mir habe und in dem
ich die Festplatten von Edward Snowden
trage, werde ich mit ins Grab nehmen.
Aufgezeichnet von PETRA SORGE
136
Cicero – 7. 2014

Foto: Maurice Weiss/Ostkreuz für Cicero
137
Cicero – 7. 2014

POSTSCRIPTUM
N°-7
WULFF
Christian Wulff hat ein Buch über die
Umstände seines Rücktritts als
zehnter Bundespräsident dieses Landes
geschrieben. „Ganz oben, ganz unten“
lautet der Titel, und es ist bezeichnend,
dass Wulff in etlichen Medien allein schon
für diese Wortwahl kritisiert wurde. Ganz
oben, ganz unten – damit lasse sich
vielleicht das wechselvolle Auf und Ab
einer gewöhnlichen Karriere ausloten.
Aber für eine Laufbahn, die immerhin bis
ins höchste Amt im Staate geführt habe,
seien solche Höhenunterschiede die
falsche Bezugsgröße, so der Vorwurf.
Darin kommt zum Ausdruck, was
Christian Wulff vor seiner Wahl zum
Bundespräsidenten in geradezu infamer
Weise zur Last gelegt wurde: dass er nichts
anderes sei als ein Politkarrierist, der im
Gegensatz zu Joachim Gauck kein echtes
Leben vorzuweisen habe. Diese Unterstellung
war so etwas wie die Grundmelodie
während der unwürdigen Hetzjagd auf den
ehemaligen Ministerpräsidenten von
Niedersachsen, der es offenbar in einem
ungeheuerlichen Akt der Selbstanmaßung
gewagt hatte, die Räume von Schloss
Bellevue zu okkupieren.
Die Art und Weise, in der Christian
Wulff zum Rücktritt gezwungen wurde,
war skandalös. Diese Einsicht gilt nicht erst
seit dessen Freispruch in einem Gerichtsverfahren,
das von der Staatsanwaltschaft
ohnehin eher als ein politischer Prozess
angelegt worden war. Wulff ist jetzt ein
freier, ein befreiter Mann. Und er hat sich
die Freiheit genommen, seine Sicht der
Dinge als Buchautor öffentlich zu machen.
Das ist nicht nur verständlich, es ist geradezu
eine Notwendigkeit. Denn die medialen
Mechanismen, welche schließlich zu
Wulffs Demission geführt haben, sind dazu
geeignet, die politische Kultur in der
Bundesrepublik zu ruinieren. Horst Köhler
konnte noch mit vergleichsweise harmlosen
Beleidigungen aus dem Amt getrieben
werden, dem politisch erfahreneren Christian
Wulff war nur mit insinuierter Korrumpierbarkeit
beizukommen.
Eine Zeitung, die ganz wesentlich an
der Hetze gegen Wulff beteiligt war,
empfahl diesem, sich ein Vorbild an Horst
Köhler zu nehmen. Wulffs Vorgänger habe
nach seinem Rückzug aus Bellevue „still
und demütig seine nachpräsidiale Arbeit“
begonnen; Wulff dagegen schreie jetzt
„seine Wut heraus“. Mal ganz dumm
gefragt: Gegenüber wem hätte er sich denn
demütig zeigen sollen? Etwa gegenüber
jenen, die seinen Sturz mit nachgerade
krimineller Energie betrieben? Nein,
Christian Wulffs Buch ist auch kein wütendes
Pamphlet. Es ist eine Richtigstellung: in
eigener Sache, zur richtigen Zeit – und zum
Nutzen vieler.
ALEXANDER MARGUIER
ist stellvertretender Chefredakteur
von Cicero
DIE NÄCHSTE CICERO-AUSGABE ERSCHEINT AM 24. JULI
Illustration: Anja Stiehler/Jutta Fricke Illustrators
138
Cicero – 7. 2014

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