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Armin Eidherr, Salzburg Motive in den jiddischen Autobiografien der ...

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Mutter gegen die “bürgerliche Ordnung im Privatleben, obwohl das se<strong>in</strong>es Vaters<br />

höchstes Ideal war” (vergl. Rawitsch, 1996, S. 233, Anm. 11).<br />

Das Akzeptieren <strong>der</strong> <strong>jiddischen</strong> (und nicht alle<strong>in</strong> jüdischen) I<strong>den</strong>tität gegen die<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Assimilation <strong>in</strong> Österreich-Ungarn und Polen stellt e<strong>in</strong>en Schritt dar,<br />

an <strong>den</strong> beispielsweise ihr Mann nie auch nur gedacht hätte.<br />

Auch wenn diese “Revolte”, dieser Selbstbestimmungswille nicht allzu weit führen<br />

konnte (und durfte), so kann dar<strong>in</strong> doch e<strong>in</strong>e Art von “Grundlage” für die künstlerische<br />

Selbstverwirklichungsmöglichkeit ihrer drei Söhne gesehen wer<strong>den</strong>: “Aber wenn wir, die<br />

Söhne, von irgendwoher das bisschen an künstlerischen Fähigkeiten geerbt haben, so<br />

s<strong>in</strong>d sie ausschließlich von unserer Mutter hergekommen.” (Bergner, 1995, S. 15)<br />

H<strong>in</strong>de Bergner schrieb ihre Er<strong>in</strong>nerungen für Ihre Söhne und Enkelk<strong>in</strong><strong>der</strong>. E<strong>in</strong>en viel<br />

größeren Leserkreis konnte sie sich nicht vorstellen. - Melech Rawitsch dagegen hatte<br />

bereits e<strong>in</strong>e zahlreichere Leserschaft vor Augen.<br />

Die Nie<strong>der</strong>schrift se<strong>in</strong>er Autobiografie bedeutete für ihn e<strong>in</strong>e “äußerliche Pflicht” und<br />

e<strong>in</strong>en “<strong>in</strong>nerlichen Zwang”, weil es darum gehe, e<strong>in</strong>e “Welt, die nicht mehr existiert (...)<br />

und e<strong>in</strong>e zweite, weitere, die schnell und schneller vergeht, ehe die neue entsteht<br />

[geme<strong>in</strong>t ist Rawitschs eigenes Leben und se<strong>in</strong>e Re<strong>in</strong>karnation]” nicht <strong>in</strong> Vergessenheit<br />

geraten zu lassen (Rawitsch, 1996, S. 8).<br />

Rawitsch begreift die Geschichte (o<strong>der</strong> “die Geschichten”) se<strong>in</strong>es Lebens auch als e<strong>in</strong>e<br />

kollektive Geschichte: “Die Wahrheit ist e<strong>in</strong>fach: Ihr müsst - Geschichten -<br />

nie<strong>der</strong>geschrieben wer<strong>den</strong> - und gedruckt, weil sowohl die Menschheit als auch das<br />

jüdische Volk <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts und <strong>der</strong> ersten Hälfte des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts Mittelr<strong>in</strong>ge zwischen zwei ganz beson<strong>der</strong>en Welten s<strong>in</strong>d. Du und de<strong>in</strong>e<br />

Geschichten s<strong>in</strong>d im wesentlichen nicht nur die <strong>in</strong>dividuelle Ganzheit ‘DU’, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong><br />

kollektiver Millionsteljude und Billionstelmensch.” (ibid., S. 10)<br />

Der “Ort” für Rawitschs Memoiren ist “<strong>in</strong> <strong>der</strong> jüdisch-<strong>jiddischen</strong> Literatur (...), e<strong>in</strong>er<br />

Weltliteratur en m<strong>in</strong>iature ...” (ibid., S. 11), weil se<strong>in</strong>e Persönlichkeit nur <strong>in</strong> diesem<br />

Umfeld wachsen und sich vervollständigen konnte. Es war für ihn das e<strong>in</strong>zig vorstellbare<br />

Umfeld, <strong>in</strong> dem sich das Ideal se<strong>in</strong>es Lebens verwirklichen ließ: beizutragen zur<br />

Schaffung e<strong>in</strong>es neuen Menschentyps - gemäß dem Konzept se<strong>in</strong>es lebenslangen,<br />

leuchten<strong>den</strong> Vorbilds als Mensch und Philosoph - Baruch Sp<strong>in</strong>oza, dem er übrigens auch<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch "Sp<strong>in</strong>oza" (Wien 1918, 2. Auflage 1921) e<strong>in</strong> dichterisches Denkmal<br />

geschaffen hat, das <strong>der</strong> angemessenen Wie<strong>der</strong>entdeckung harrt.<br />

Als er sich 1912 <strong>in</strong> Wien ansiedelte, geschah das “mit dem unerschütterlichen Willen, e<strong>in</strong><br />

Schriftsteller <strong>in</strong> Jiddisch und nur <strong>in</strong> Jiddisch zu se<strong>in</strong> und zu bleiben”; e<strong>in</strong> Traum, <strong>den</strong> er<br />

zur Zeit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schrift <strong>der</strong> Memoiren nicht mehr nachvollziehen konnte: “Aber muss<br />

<strong>den</strong>n e<strong>in</strong> Traum logisch se<strong>in</strong>?” (ibid., S. 35)<br />

Anfänglich empf<strong>in</strong>det er das Leben <strong>in</strong> Wien als Befreiung. Die Verschmelzung <strong>der</strong><br />

<strong>jiddischen</strong> mit <strong>der</strong> westlichen Kultur ersche<strong>in</strong>t ihm unerlässlich für die Erreichung<br />

se<strong>in</strong>es humanistischen Ideals - und Wien <strong>der</strong> geeignete Bo<strong>den</strong> für <strong>den</strong> Probelauf dieses<br />

Weltexperiments. Er fühlt sich “neu und frei”, voller Selbstvertrauen, was er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Gedicht aus dieser frühen Wiener Zeit so zum Ausdruck br<strong>in</strong>gt:<br />

“Und unter mir viel schwarze Gassen,<br />

Und über mir Billionen Sterne;<br />

Die Nacht ist kühl - und <strong>in</strong> mir s<strong>in</strong>gt und s<strong>in</strong>gt<br />

E<strong>in</strong> Lied des Neu-Geboren-Wer<strong>den</strong>s.

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