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2004 - Bohemicum Regensburg-Passau

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Herausgegeben im Auftrag des DAAD.<br />

Redaktion: Steffen Höhne und Marek Nekula unter Mitwirkung von Corinna Bilek,<br />

Nicole Birtsch, Ekkehard W. Haring, Sebastian Mancuso, Ina Rheber, Karsten Rinas<br />

und Raoul-Philip Schmidt.<br />

Druckvorlage von Dan Šlosar.<br />

Editionsbeirat: Kurt Krolop (Ehrenvorsitzender des Editionsbeirats), Peter Becher<br />

(München), Klaas-Hinrich Ehlers (Berlin), Ingeborg Fiala-Fürst (Olomouc), Mária<br />

Papsonová (Trnava), Jiří Stromšík (Praha), Dalibor Tureček (České Budějovice),<br />

Jaromír Zeman (Brno).<br />

ISBN 80–7106–731–8<br />

© Nakladatelství Lidové noviny 2005<br />

Inhalt<br />

Jiří Stromšík:<br />

Emil Skála zu Ehren......................................................................................7<br />

Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Emil Skála. 1988–<strong>2004</strong> ...............11<br />

Aufsätze:<br />

Albrecht Greule<br />

Emil Skála und die Kanzleisprachenforschung...........................................19<br />

Mária Papsonová<br />

Eigennamen im ältesten Stadtbuch von Preßburg (1402–1506)..................29<br />

Hildegard Boková<br />

Zur Sprache der Gerichtsordnung von 1581 für die Stadt Haid (Bor u<br />

Tachova)......................................................................................................47<br />

Peter Hans Nelde<br />

Minoritologische Überlegungen zum Deutschen als Konfliktsprache ........61<br />

Peter Ernst<br />

Sprachpragmatische Grundlagen der Sprachgeschichtsschreibung.............77<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien. Ergebnisse<br />

einer Fragebogenerhebung ..........................................................................85<br />

Steffen Höhne<br />

Erfindung von Traditionen? Überlegungen zur Rolle von Sprache und<br />

Kommunikation bei der Konstitution nationaler Identität. ............................ 117<br />

Michael Wögerbauer<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler In den Kaiserl. Königl.<br />

Erblanden“ von 1772................................................................................. 135<br />

Marek Nekula<br />

Prager Brücken und der nationale Diskurs in Böhmen ............................. 163


Inhalt<br />

Martin Humpál<br />

Arnošt Kraus’ Monographie über Bjørnson und Ibsen..............................187<br />

Mirek Němec<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei (1918–<br />

1938) im Spannungsfeld zwischen Staat und Volksgruppe.......................195<br />

Walter Koschmal<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala .....223<br />

Renata Cornejo<br />

Stimmen aus dem „Stummland“. Zum Sprachwechsel von Jiří Gruša<br />

und Ota Filip..............................................................................................251<br />

Literatur- und Forschungsberichte:<br />

Kurt Krolop<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung ..........................................265<br />

Dalibor Zeman<br />

Die Beurteilung der schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen –<br />

retrospektiv betrachtet – unter besonderer Berücksichtigung der<br />

österreichischen Varietät ...........................................................................291<br />

Marek Nekula, Kateřina Šichová<br />

Sprache als Faktor der wirtschaftlichen Integration ..................................317<br />

Neue Literatur:<br />

Hildegard BOKOVÁ (Hg.): Zur Erforschung des Frühneuhochdeutschen in<br />

Böhmen, Mähren und der Slowakei. Vorträge der internationalen Tagung<br />

veranstaltet vom Institut für Germanistik der Pädagogischen Fakultät der<br />

Südböhmischen Universität. České Budějovice 20.-22. September 2001.<br />

Wien (Edition Praesens) <strong>2004</strong>, 244 S. .......................................................337<br />

Ernst EICHLER (Hg.): Selecta Bohemico-Germanica. Tschechisch-deutsche<br />

Beziehungen im Bereich der Sprache und Kultur. Münster, Hamburg,<br />

London (Lit Verlag) 2003, 228 Seiten.......................................................343<br />

Inhalt<br />

Ingeborg FIALA-FÜRST, Jörg KRAPPMANN (Hgg.): Lexikon<br />

deutschmährischer Autoren. Olomouc: Univerzita Palackého v Olomouci<br />

2002/2003 [Loseblattsammlung]. (= Beiträge zur mährischen<br />

deutschsprachigen Literatur 5) ................................................................... 347<br />

Gero FISCHER (Hg.): Z Čech do Vídně. Životní vzpomínky kováře<br />

Josefa Pšeničky. / Von Böhmen nach Wien. Lebenserinnerungen<br />

des tschechischen Schmiedes Josef Pšenička. Brno (Nakladatelství<br />

Doplněk) 2001, 174 Seiten........................................................................ 352<br />

Alena KÖLLNER: Buchwesen in Prag. Von Václav Matěj Kramerius bis<br />

Jan Otto (Buchforschung 1). Wien (Edition Praesens) 2000, 177 Seiten,<br />

28 Abb....................................................................................................... 356<br />

Primus-Heinz KUCHER: Ungleichzeitige / verspätete Moderne.<br />

Prosaformen in der österreichischen Literatur 1820–1880. Tübingen,<br />

Basel (Francke) 2002, 464 Seiten.............................................................. 359<br />

Bedřich W. LOEWENSTEIN: Wir und die anderen. Historische und<br />

kultursoziologische Betrachtungen. Dresden (Thelem) 2003, 436 Seiten. 364<br />

Fritz MAUTHNER: Der neue Ahasver. Ein Roman aus Jung-Berlin.<br />

Hrsg. und mit einem Nachwort von Ludger Lütkehaus. Berlin/Wien (Philo)<br />

2001, 387 S. .............................................................................................. 368<br />

Stefan Michael NEWERKLA: Sprachkontakte Deutsch – Tschechisch –<br />

Slowakisch. Frankfurt/Main (Peter Lang) <strong>2004</strong>, 780 Seiten...................... 374<br />

Heinrich PLETICHA (Hg.): Piaristen und Gymnasiasten. Schülerleben im<br />

alten Prag. (Bibliotheca Bohemica Band 40) Prag, Furth (Vitalis) 2001,<br />

102 Seiten.................................................................................................. 377<br />

Dieter WILDE: Der Aspekt des Politischen in der frühen Lyrik Hugo<br />

Sonnenscheins. Frankfurt/Main, Berlin (Lang) 2002, 322 Seiten. ............ 381<br />

Germanistica Pragensia XVI. Acta Universitatis Carolinae. Philologica 3.<br />

Praha: Univerzita Karlova (Karolinum) 2002 [Sonderheft zu Christian<br />

Heinrich Spieß], 104 Seiten. ..................................................................... 385<br />

Adressen ................................................................................................... 388<br />

Stylesheet ................................................................................................. 391


Emil Skála zu Ehren<br />

Wenn der vorliegende Band der BRÜCKEN Emil Skála gewidmet wird, so<br />

entbehrt dieser Akt schon in Bezug auf den Titel unseres Periodikums nicht<br />

einer gewissen Symbolik: ist der Geehrte doch seit Jahrzehnten einer derer,<br />

die, mitten in den bewegten Zeitläuften, zwischen Tschechen und Deutschen,<br />

zwischen ihren Kulturen und Mentalitäten Brücken zu schlagen bemüht<br />

sind – nicht bloß aus gutem Willen oder emotional-philanthropischen<br />

Beweggründen, sondern weil es ihm sein Beruf als Germanist gebot, den er<br />

mit Ernsthaftigkeit als Berufung und Verpflichtung zu unbestechlicher wissenschaftlicher<br />

Erkenntnis der Fakten verstand und ausübte.<br />

Die ideologiefreie Beschäftigung mit der Geschichte beider Völker, besonders<br />

auf dem Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei, also die geschichtlichen<br />

Tatsachen selbst, lehrten ihn, wie nicht nur schädlich, sondern auch<br />

sinn- und grundlos die gegenseitige Feindschaft und Verständnislosigkeit<br />

beider Volksgruppen auf einem derart schon geologisch durch die umliegenden<br />

Bergketten geschlossenen und von der Natur gleichsam als Einheit<br />

vorgesehenen Gebiet war. Schon wenn man die Tatsachen vorurteilsfrei,<br />

mit klaren, von guten wie schlechten Absichten ungetrübten Augen sieht,<br />

lehren sie jeden, der sehen will, dass die beiden Völker auf weiten Teilen<br />

dieses Gebiets seit Jahrhunderten in solcher gegenseitigen Verflochtenheit<br />

und Abhängigkeit voneinander lebten, die die besten Voraussetzungen für<br />

ein Zusammenleben, nicht nur für ein Neben- und Gegeneinanderleben boten,<br />

dass also Feindschaft überwindbar ist, unter der Voraussetzung allerdings,<br />

dass man sich selbst sowie einander erkennen und verstehen will.<br />

Wohl wissend, dass das Geschehene nicht ungeschehen und das einander<br />

Angetane nicht ungetan gemacht werden kann, hat Emil Skála in seiner professionellen<br />

Laufbahn das Seine dazu getan, Unverständnis und Feindschaft<br />

in der Gegenwart und für die Zukunft durch Erkenntnis und Wissen nach<br />

Maßgabe des Möglichen abzuschaffen. Es war ihm aber nicht weniger klar,<br />

dass auch geistige Brücken nicht in der Luft – durch schöne, wiewohl gut<br />

gemeinte, allgemeine Reden, Bekenntnisse und Herzensergießungen – gebaut<br />

werden, sondern lediglich aus kleinen, aus Schlacke und Schutt der<br />

Geschichte mühsam ausgegrabenen und bedächtig sortierten Steinen und<br />

Steinchen bestehen können.<br />

Zum Brückenschlagen wie zu mühsamer Grabungsarbeit in den Stollen der<br />

Geschichte dürfte Emil Skála bereits durch seine Herkunft vorbestimmt gewesen<br />

sein. Er wurde am 20. November 1928 in einer Bergmannsfamilie in<br />

Líně/Lihn unweit von Pilsen geboren, einem tschechischen Ort mit einer<br />

deutschen Minderheit, die fast ein Viertel der Bevölkerung bildete. Wer in


8<br />

Jiří Stromšík<br />

den 30er Jahren in einem solchen sprachlich wie national gemischten Gebiet<br />

aufwuchs, wo sich der Fall „von Humanität durch Nationalität zur Bestialität“<br />

in horrender Beschleunigung vollzog, musste die Erfahrung machen,<br />

dass Freundschaft und Feindschaft zwischen Volksgruppen kein Fatum,<br />

sondern eine Sache individueller Entscheidung ist und dass – will man darüber<br />

etwas Vernünftiges sagen – konkrete Falluntersuchungen in diesen<br />

Fragen aussagekräftiger, also nützlicher, sind als spekulative Generalisierungen<br />

oder moralische Appelle.<br />

Nach dem Abitur am Realgymnasium in Pilsen studierte Emil Skála in den<br />

Jahren 1947–1951 Germanistik und Anglistik an der Philosophischen Fakultät<br />

der Karls-Universität in Prag und parallel dazu Geographie und Geologie<br />

an der Naturwissenschaftlichen Fakultät. Die Wahl der beiden naturwissenschaftlichen<br />

Fächer ist auch für seine spätere wissenschaftliche<br />

Ausrichtung in seinem Hauptfach, der Germanistik, bezeichnend: Skála war<br />

von Anfang an kein Schmalspur-Germanist und wurde sehr früh zu einem<br />

Forscher mit außerordentlich weitem − heute sagt man: interdisziplinärem −<br />

Interessengebiet und geradezu enzyklopädischen Kenntnissen auf mehreren<br />

Feldern; in der Germanistik promovierte der spätere Linguist mit einer literaturwissenschaftlichen<br />

Arbeit über Hans Sachs’ Gesellschaftskritik.<br />

Seine akademische Laufbahn begann er, nach einem Jahr als Mittelschullehrer,<br />

1952 als Assistent an der Philosophischen Fakultät in Prag. Wichtige<br />

Förderung erhielten seine Forschungsinteressen während der Studienzeit in<br />

Leipzig, wo er in den Jahren 1957–1961 das Habilitationsstudium bei<br />

Theodor Frings absolvierte und mit der grundlegenden Studie Die Entwicklung<br />

der Kanzleisprache in Eger 1310 bis 1660 (ersch. 1967) erfolgreich<br />

abschloss.<br />

Nach der Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit in Prag verlief seine akademische<br />

Laufbahn allerdings nicht immer glatt. Als akademischer Lehrer ohne<br />

Parteiausweis war er zwar auch in den schlimmen Zeiten vor und nach 1968<br />

nicht durch Lehrverbot oder sonstige direkte Maßregelungen des Regimes<br />

betroffen, doch wurde seine Karriere von den regimetreuen akademischen<br />

Behörden und Funktionären auch nicht gefördert oder nur erleichtert. Seine<br />

Leipziger Habilitation wurde nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, automatisch<br />

nostrifiziert, sondern er wurde erst 1967 zum Dozenten ernannt, und es<br />

dauerte noch zwei volle Jahrzehnte, bis ihm 1987, erst in der Zeit der Perestrojka,<br />

die Professur zuerkannt wurde.<br />

Unbeschadet der zeitweise wenig fördernden äußeren Bedingungen und<br />

Umstände seiner Forschungen schuf Emil Skála in Jahrzehnten harter, konzentrierter,<br />

selbstloser und oft auch physisch aufreibenden Arbeit ein imposantes<br />

wissenschaftliches Werk. Schon in den ersten Jahren seiner Tätigkeit<br />

an der Prager Germanistik zeichneten sich seine wichtigsten Forschungsge-<br />

Emil Skála zu Ehren<br />

biete ab: er beschäftigte sich vor allem mit der Geschichte der deutschen<br />

Sprache, insbesondere mit der Entwicklung des Frühneuhochdeutschen,<br />

sowie mit der Dialektologie, wobei sein Augenmerk naturgemäß hauptsächlich<br />

auf die Sprache des Egerlandes sowie auf das Prager Deutsch gerichtet<br />

war; als Mitarbeiter des Literarhistorikers und Lexikographen Hugo Siebenschein<br />

wurde er schon 1953 in die Arbeit am großen Tschechisch-<br />

Deutschen Wörterbuch (erschienen 1970) einbezogen; nicht weniger natürlich<br />

ist im Hinblick auf seine Herkunft aus einem zweisprachigen Gebiet<br />

sein seit den 60er Jahren andauerndes Interesse für historische wie theoretische<br />

Aspekte des Bilinguismus; mit seinen naturwissenschaftlichen Studienfächern<br />

hängen seine über die Grenzen der Germanistik hinausgehenden<br />

Forschungen auf dem Gebiet der Onomastik und historischen Sprachgeographie<br />

zusammen.<br />

Es steht mir als Literarhistoriker nicht zu, sein wissenschaftliches Werk zu<br />

beurteilen − dies haben mit voller Kompetenz Sprachwissenschaftler aus<br />

aller Welt wiederholt getan −, doch auch uns Außenstehenden konnten einerseits<br />

das anerkennende Urteil und der Respekt, die ihm in den Fachkreisen<br />

in wachsendem Maß gezollt wurden, andererseits die allgemein wissenschaftlichen<br />

Qualitäten seiner Arbeit nicht verborgen bleiben. Jeder<br />

Historiker, welcher Richtung auch immer, weiß an Emil Skála zu schätzen,<br />

dass er immer ad fontes geht, dass er zuerst eine oft unvorstellbare Masse an<br />

Originaldokumenten und Materialien aufarbeitet, bevor er zur Auswertung<br />

des Materials bzw. zur Formulierung von Schlussfolgerungen und Thesen<br />

übergeht.<br />

Diese Grundeigenschaften und -prinzipien jedes soliden wissenschaftlichen<br />

Arbeitens hat Emil Skála auch an Generationen von Germanistikstudenten<br />

seiner Universität weitergegeben. Und er hat auf die heranwachsende Generation<br />

nicht nur Spezialkenntnisse, sondern auch etwas von der Weite seines<br />

Wissens zu übertragen getrachtet. Da ich die Ehre und das Vergnügen hatte,<br />

einige Jahre neben und mit ihm zu arbeiten, kann ich bezeugen, dass es ihm<br />

bei vielen Studenten auch gelungen ist: sie waren von seinem wissenschaftlichen<br />

Eifer wie von seinem umfassenden Wissen fasziniert, auch wenn sie<br />

sich andere Lebens- und Berufsziele setzten; unvergesslich bleiben ihnen<br />

noch nach Jahren unter anderem die beliebten, ja berühmten „Skála-<br />

Exkursionen“ – kollektive Forschungsreisen in Archive und Museen (von<br />

Böhmen über die Slowakei bis nach Ungarn), bei denen ihnen der Spezialist<br />

und Enzyklopädist Skála vor Ort, an noch nicht erschlossenen Dokumenten,<br />

vormachte, wie packend die wissenschaftliche Arbeit sein kann. Zu dem,<br />

was die Jüngeren von ihm lernen konnten – lange bevor es allgemein akzeptiert<br />

wurde −, gehört nicht zuletzt sein sachliches und selbstbewusstes, von<br />

einseitigen Schuldzuweisungen wie von Minderwertigkeitsgefühlen freies,<br />

9


10<br />

Jiří Stromšík<br />

von der Vergangenheit unbelastetes, weil auf tiefer Kenntnis der Vergangenheit<br />

beruhendes Verhältnis zu den Deutschen und ihrer Kultur.<br />

Emil Skála kann, wie wenige seiner Zunft, mit Stolz und Genugtuung auf<br />

ein erfülltes wissenschaftliches Leben zurückblicken. Möge dieser Band der<br />

BRÜCKEN, als Ausdruck von Respekt und Sympathie seiner Kollegen und<br />

Nachfolger, dies ihm wie uns allen wieder einmal in Erinnerung rufen.<br />

Jiří Stromšík<br />

Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Emil Skála 1988–<strong>2004</strong> 1<br />

1988<br />

Das Frühneuhochdeutsche in den Städten Böhmens. – In: G. Bauer (Hg.),<br />

Stadtsprachenforschung: Unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse<br />

der Stadt Straßburg in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Vorträge<br />

des Symposiums vom 30. März bis 3. April 1987 an der Universität Mannheim<br />

(= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 488). Göppingen: Kümmerle,<br />

239–270.<br />

Deutsche und tschechische Fachprosa in Böhmen in der Epoche des Humanismus.<br />

– In: H.–B. Harder (Hg.), Studien zum Humanismus in den böhmischen<br />

Ländern. Köln, Wien: Böhlau, 377–403.<br />

Egerer Urgichtenbuch. – In: O. Reichmann, K. P. Wegera (Hgg.), Frühneuhochdeutsches<br />

Lesebuch. Tübingen: Niemeyer, 61–64.<br />

Gaston van der Elst: Aspekte zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache.<br />

Erlangen 1987. – In: Germanistik 113. [Rezension]<br />

1989<br />

Čeština a němčina v českých zemích [Tschechisch und Deutsch in den<br />

böhmischen Ländern]. – In: Jazykové aktuality 26, Praha, 100–103.<br />

Ein gutes Gewürz. – In: B. U. Biere (Hg.), Institut für Deutsche Sprache: 25<br />

Jahre. Mannheim: IDS, 76–77.<br />

Lexikographie in Böhmen vom 13.–19. Jahrhundert. – In: K. Matzel, H.–G.<br />

Roloff (Hgg.), Festschrift für Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag. Bern:<br />

Lang, 692–701.<br />

Linguistisches zum Bilinguismus in Böhmen. – In: H.–W. Eroms (Hg.),<br />

Probleme regionaler Sprachen (= Bayreuther Beiträge zur Dialektologie 4).<br />

Hamburg: Buske, 21–36.<br />

Lubomír Drozd in memoriam. – In: Philologica Pragensia. Praha:<br />

Univerzita Karlova, 212–213.<br />

Za profesorem Lubomírem Drozdem [Lubomír Drozd in memoriam]. – In:<br />

Slovo a slovesnost 50, Praha: Academia, 66–67.<br />

1 Durchgesehen von Johanna Gallupová. – Verzeichnis früherer Schriften von Prof. Emil<br />

Skála aus den Jahren 1954 bis 1987 (zusammengestellt von Jitka Míšová) erschien in<br />

Wiesinger, Peter (Hg.) (1988): Studien zum Frühneuhochdeutschen. Emil Skála zum 60.<br />

Geburtstag am 20. November 1988 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 476). Göppingen:<br />

Kümmerle.


12<br />

Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Emil Skála. 1988–<strong>2004</strong><br />

Zur Bedeutung der frühneuhochdeutschen Quellen in der Tschechoslowakei.<br />

– In: Deutsche Quellen aus dem 14. und 15. Jh. in der Tschechoslowakei.<br />

Texte und Analyse. Hiroshima, 1–4.<br />

Die ‚Ackermann‘-Handschriften E (clm 27063) und H (cgm 579). – In: Philologica<br />

Pragensia. Praha: Univerzita Karlova, 61–62. [Rezension]<br />

Gerhard Wolff, Deutsche Sprachgeschichte. – In: Philologica Pragensia.<br />

Praha: Univerzita Karlova, 62–64. [Rezension]<br />

1990<br />

Die Stadtsprachen in Böhmen zwischen Hus und Müntzer. – In: R. Peilicke<br />

(Hg.), Thomas Müntzers deutsches Sprachschaffen: Referate der internationalen<br />

sprachwissenschaftlichen Konferenz, Berlin, 23.–24.10.1989 (= Linguistische<br />

Studien, Reihe A 207). Berlin: Akad. d. Wiss. d. DDR, 228–251.<br />

Linguistisches zum Bilinguismus in Böhmen. – In: Bayreuther Beiträge zur<br />

Dialektologie 4. Hamburg: Buske, 21–36.<br />

Paläographie nichtgenügend. – In: Austria today: quarterly review of trends<br />

and events. Wien, 1.<br />

Wilhelm von Wenden im Kontext der böhmisch-österreichischen Wechselseitigkeit.<br />

– In: Philologica Pragensia 33/1, Praha: Univerzita Karlova, 10–20.<br />

1991<br />

Deutsch und Tschechisch im mitteleuropäischem Sprachbund. – In: E.<br />

Slembek, (Hg.), Culture and Communication (12th International Colloquium<br />

on Speech Communication). Frankfurt/Main: Verlag für interkulturelle<br />

Kommunikation, 49–58.<br />

Richtigstellung zum Aufsatz ‚Unter König Ottokar wurde deutsch gesprochen‘.<br />

– In: Prager Volkszeitung 25. Praha, 12.<br />

1992<br />

Das Deutsche im Kontakt mit dem Tschechischen. – In: E. Iwasaki (Hg.),<br />

Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Akten<br />

des VIII. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanische<br />

Sprach- und Literaturwissenschaft (IVG), Tokyo 1990 (Bd. 3). München:<br />

iudicium, 97–103.<br />

Das Frühneuhochdeutsche in den Böhmischen Ländern und in der Slowakei.<br />

– In: Jahrbuch der Brüder-Grimm-Gesellschaft 1 (1991). Kassel: Ges.,<br />

117–123.<br />

Das Prager Deutsch. – In: Jahrbuch (= Bayerische Akademie der Schönen<br />

Künste 5). Schaftlach: Oreos, 130–140.<br />

Der Begriff Sudetendeutsche. – In: Gesamtstaatliche Zeitschrift für den<br />

Deutschunterricht 1. Praha, 10.<br />

Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Emil Skála. 1988–<strong>2004</strong><br />

Der Bilinguismus in Mitteleuropa: die deutsch-tschechische Entwicklung. –<br />

In: A. v. Humboldt-Stiftung. Fachsymposium 1991. Geisteswiss. und Literarisches<br />

Übersetzen im internationalen Kulturaustausch. Sonthofen, 133.<br />

Deutsch und Tschechisch im mitteleuropäischen Sprachbund. – In: brücken.<br />

Germanistisches Jahrbuch. N.F. 1. 1991/92. Berlin, Praha, Prešov, 173–179.<br />

Die Zukunft Europas ist mehrsprachig. Vorstellung neuer Mitglieder. – In:<br />

Jahrbuch 1992 / Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Darmstadt,<br />

24–27 u. 153–156.<br />

Křestní jméno Česko [Taufname Tschechien; zus. mit anderen Autoren]. –<br />

In: Lidové noviny. Praha (24.7.1992).<br />

Zur Entwicklung der deutschen grammatischen Terminologie. – In: B.<br />

Schaeder (Hg.), Wortarten: Beiträge zur Geschichte eines grammatischen<br />

Problems (= Reihe Germanistische Linguistik 133). Tübingen: Niemeyer<br />

1992, 277–293.<br />

Zur Verbreitung der mittelhochdeutschen Diphthongierung und Monophthongierung.<br />

– In: Germanistica Pragensia 10. Praha: Univerzita Karlova,<br />

7–18.<br />

1993<br />

– Eintrag Emil Skála in W. Kürschner (Hg.), Linguistenhandbuch. Tübingen:<br />

Günther Narr, 1280.<br />

Der Bilinguismus in Mitteleuropa: Die deutsch-tschechische Entwicklung. –<br />

In: A. P. Frank, K.–J. Maaß, F. Paul, H. Turk (Hgg.), Übersetzen, verstehen,<br />

Brücken bauen. Geisteswissenschaftliches und literarisches Übersetzen im<br />

internationalen Kulturaustausch. Berlin: Erich Schmidt, 766–774.<br />

Die Zweisprachigkeit auf dem Gebiet der Tschechoslowakei. – In: P. Bassola,<br />

R. Hessky, L. Tarnói (Hgg.), Im Zeichen der ungeteilten Philologie.<br />

Festschrift für Karl Mollay zum 80. Geburtstag (= Budapester Beiträge zur<br />

Germanistik 24). Budapest: Elte, 311–319.<br />

Jazyková situace v Čechách v rozmezí let 993–1322 [Die Sprachsituation in<br />

Böhmen in den Jahren 993–1322]. – In: Milénium břevnovského kláštera<br />

993–1993. Praha: Karolinum, 163–171. 2 Karten.<br />

1994<br />

– Eintrag Emil Skála in W. Kürschner (Hg.), Linguistenhandbuch. Biographische<br />

und bibliographische Daten deutschsprachiger Sprachwissenschaftlerinnen<br />

und Sprachwissenschaftler der Gegenwart. Bd. 2 (M-Z). Tübingen:<br />

Narr, 884–885.<br />

A két- és többnyelvüségröl [Von der Zwei- und Mehrsprachigkeit]. – In:<br />

Prágai tükör: kulturális éz közéleti lap. Evf. 2, sz. 3, Budapest: Kalligram<br />

Kiadó, 6–16.<br />

13


14<br />

Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Emil Skála. 1988–<strong>2004</strong><br />

Eduardo Goldstücker octogenario ab amicis collegis discipulis oblata (= Acta<br />

Universitatis Carolinae: Philologica, 1993, 3). [Wiss. Herausgeber]. Praha:<br />

Univ. Karlova, 1994.<br />

Lexikographie in Böhmen im 14.–19. Jahrhundert. – In: Germanoslavica.<br />

Zeitschrift für germanoslavische Studien 1, Nr. 1–2. Praha: Slovanský<br />

ústav, 3–10.<br />

Mundartliches in der Egerer Kanzlei. – In: Germanistica Pragensia 11<br />

(1993). Praha: Univerzita Karlova, 13–24.<br />

Tschechische Exonyma im deutschen Sprachgebiet bis zum Dreißigjährigen<br />

Krieg. – In: H.–B. Harder, H. Rothe (Hgg.), Studien zum Humanismus in<br />

den böhmischen Ländern, Bd. 3. Die Bedeutung der humanistischen Topographien<br />

und Reisebeschreibungen in der Kultur der böhmischen Länder<br />

bis zur Zeit Balbíns. Köln u.a.: Böhlau, 249–256.<br />

Zde nejsou lvi. Jak to vypadá se znalostmi česko-německé historie [Hier<br />

sind keine Löwen. Wie es mit den Kentnissen der tschechisch-deutschen<br />

Geschichte aussieht]. – In: Nedělní Lidové noviny. Praha (15.1.1994), 2.<br />

Zum Prager Deutsch des 14. Jahrhunderts. – In: B. D. Haage (Hg.), Granatapfel.<br />

Festschrift für Gerhard Bauer zum 65. Geburtstag (= Göppinger Arbeiten<br />

zur Germanistik 580). Göppingen: Kümmerle, 13–27.<br />

Zweisprachigkeit und Motivation der mehrsprachigen Erziehung in der<br />

Tschechischen Republik. – In: Thesen, IVth International Conference on<br />

Language and Law. Fribourg 14.–17.9.1994, 286.<br />

1995<br />

Deutsche und tschechische Sprache in den böhmischen Ländern. – In: C.<br />

Gallio, Claudio, B. Heidenreich (Hgg.), Deutsche und Tschechen. Nachbarn<br />

im Herzen Europas. Beiträge zu Kultur und Politik. Köln: Wissenschaft und<br />

Politik, 90–99.<br />

Mundartliches in der Egerer Kanzlei. – In: G. Lerchner, M. Schröder, U.<br />

Fix (Hgg.), Chronologische, areale und situative Varietäten des Deutschen<br />

in der Sprachhistoriographie. Festschrift für Rudolf Große (= Leipziger<br />

Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte 2). Frankfurt/Main,<br />

Berlin u.a.: Lang, 175–184.<br />

1996<br />

Der Begriff Sudetendeutscher. – In: H. L. Arnold u.a. (Hg.), Uferdasein.<br />

Deutschsprachige Literatur in Böhmen. Bautzen: Lusatia, 298–301.<br />

Die Sprachgeschichte des Böhmerwaldes / Jazykové dějiny Šumavy. – In:<br />

V. Maidl (Hg.), Znovuobjevená Šumava / Der wiederentdeckte Böhmerwald.<br />

Eine traditionsreiche europäische Region. Klatovy: Okresní muzeum,<br />

15–29.<br />

Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Emil Skála. 1988–<strong>2004</strong><br />

Tschechisch-deutsche Sprachkontakte. – In: Germanistica Pragensia 12.<br />

Praha, 7–27.<br />

Zweisprachigkeit und Motivation zu mehrsprachiger Erziehung in der Tschechischen<br />

Republik. – In: T. Stammen (Hg.), Politik – Bildung – Religion:<br />

Hans Maier zum 65. Geburtstag. Paderborn [u.a.]: Schöningh, 525–531.<br />

1997<br />

Rilkův vztah k české literatuře a básnictví [Rilkes Stellung zur tschechischer<br />

Literatur und Dichtung]. – In: Rainer Maria Rilke. Evropský básník<br />

z Prahy. Sborník z mezinárodní konference. Jinočany: H & H, 55–70.<br />

Zentrum und Peripherie in der Graphie der Lutherzeit. – In: K. J. Mattheier,<br />

H. Nitta, M. Ono (Hgg.), Gesellschaft, Kommunikation und Sprache<br />

Deutschlands in der frühen Neuzeit: Studien des Deutsch-Japanischen Arbeitskreises<br />

für Frühneuhochdeutschforschung. München: iudicium, 11–22.<br />

1998<br />

– Eintrag Emil Skála in: Kdo je kdo v České republice na přelomu 20. století.<br />

Praha: Agentura kdo je kdo, 532.<br />

– Germanist Emil Skála siebzig Jahre. – In: Prager Volkszeitung 48,<br />

4.12.1988, 2.<br />

– Rudolf Bentzinger: Emil Skála zum 70. Geburtstag. – In: Linguistica Pragensia<br />

8/2, 90–93.<br />

Rilkes Stellung zur tschechischen Literatur und Malerei. – In: P. Demetz, J.<br />

W. Storck, H. D. Zimmermann (Hgg.), Rilke – ein europäischer Dichter aus<br />

Prag. Würzburg: Königshausen & Neumann, 45–55.<br />

So eine Art Landarzt. Tagblatt-Gespräch mit Germanistikprofessor Emil<br />

Skála. – In: Prager Tagblatt 2. Praha, 2.<br />

Versuch einer Definition des mitteleuropäischen Sprachbundes. – In: P.<br />

Ernst, F. Patocka (Hgg.), Deutsche Sprache in Raum und Zeit. Festschrift<br />

für Peter Wiesinger zum 60. Geburtstag. Wien: Ed. Praesens, 675–684.<br />

1999<br />

– Eintrag Emil Skála in: J. Tomeš et al.: Český biografický slovník 20. století.<br />

3 Bde, Bd. 3, Praha: Paseka, 130.<br />

– Theodor-Frings-Preis für Prager Germanisten Prof. Emil Skála. Weltweit<br />

einer der führenden Forscher des Frühneuhochdeutschen. – In: Prager<br />

Volkszeitung 19–20, 14.5.1999, 7.<br />

Der mitteleuropäische Sprachbund. – In: J. Scharnhorst (Hg.), Sprachkultur<br />

und Sprachgeschichte: Herausbildung und Förderung von Sprachbewußtsein<br />

und wissenschaftlicher Sprachpflege in Europa [Tagung in Berlin, 17.–<br />

18.10.1997]. Frankfurt/Main u.a.: Lang, 125–133.<br />

15


16<br />

Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Emil Skála. 1988–<strong>2004</strong><br />

Goethův vztah k češtině [Goethes Stellung zum Tschechischen]. – In: Třebívlice<br />

99. Obec Třebívlice, 75–78.<br />

Was sind böhmische Dörfer. – In: Germanistica Pragensia 14, Praha 1997<br />

[recte 1999], 123–130.<br />

2000<br />

Der Räuber Hotzenplotz. Ortsnamen in Tschechisch Schlesien und ihr<br />

sprachlicher Hintergrund. – In: Prager Volkszeitung 19–20, 12.5.2000, 11.<br />

Deutsche Fachprosa in Böhmen in der Epoche des Humanismus. – In: I.<br />

Barz, U. Fix, M. Schröder, G. Schuppener (Hgg.), Sprachgeschichte als<br />

Textsortengeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gotthard Lerchner.<br />

Frankfurt/Main, Berlin, Bern u.a.: Lang, 113–123.<br />

Deutsche und tschechische Exonyma im mitteleuropäischen Sprachbund. –<br />

In: H. Tiefenbach, H. Löffler (Hg.), Personenname und Ortsname: Basler<br />

Symposion, 6. und 7. Oktober 1997. Heidelberg: Winter, 251–265.<br />

Gibt es Schlesien überhaupt? – In: Prager Volkszeitung 13–14, 31.3.2000, 11.<br />

O původu jmen: Ke vztahu vlastního jména a apelativa [Vom Ursprung der<br />

Namen Skřipel, Skřípová, Skřip a Skřipov: Zur Beziehung des Eigennamens<br />

und Apellativums]. – In: Onomastické práce IV. Sborník rozprav k 70.<br />

narozeninám univ. prof. PhDr. Ivana Lutterera. Praha: Ústav pro český jazyk<br />

AV ČR, 439–441.<br />

Stichwörter für die tschechische Enzyklopädie Universum. Buchstaben A-<br />

Ma, Bd. 1–5.<br />

Středoevropský jazykový svaz [Der mitteleuropäische Sprachbund]. – In:<br />

Přednášky z 43. běhu Letní školy slovanských studií. Praha: Univerzita Karlova,<br />

77–85.<br />

Was sind böhmische Dörfer? – In: Přednášky z 43. běhu Letní školy slovanských<br />

studií. Praha: Univerzita Karlova, 87–95.<br />

2001<br />

Das <strong>Regensburg</strong>er und das Prager Deutsch im Mittelalter. – In: A. Greule<br />

(Hg.), Deutsche Kanzleisprachen im europäischen Kontext. Beiträge zu einem<br />

internationalen Symposium an der Universität <strong>Regensburg</strong>, 5. bis 7.<br />

Oktober 1999 (= Beiträge zur Kanzleisprachenforschung 1). Wien: Ed.<br />

Praesens, 51–62.<br />

Die deutsche Sprache in Tschechien an der Jahrtausendwende. – In: R. Bentzinger<br />

u.a. (Hg.), Sprachgeschichte, Dialektologie, Onomastik, Volkskunde.<br />

Beiträge zum Kolloquium am 3./4. Dezember 1999 an der Johannes-<br />

Gutenberg-Universität Mainz. Wolfgang Kleiber zum 70. Geburtstag (= Zeitschrift<br />

für Dialektologie und Linguistik; Beiheft 115). Stuttgart: Steiner, 127–<br />

131.<br />

Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Emil Skála. 1988–<strong>2004</strong><br />

Die Stadtbücher in Böhmen bis 1526 und die beteiligten Sprachen. – In: F.<br />

Debus u.a. (Hg.), Stadtbücher als namenkundliche Quelle. Vorträge des<br />

Kolloquiums vom 18.–20. September 1998 (= Akademie der Wissenschaften<br />

und der Literatur Mainz, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen<br />

Klasse 7). Stuttgart: Steiner, 237–245, 1 Abb.<br />

Frühneuhochdeutsche Fachprosa in Böhmen: Die Egerer Forstordnung von<br />

1379. – In: A. Braun u.a. (Hg.), Beiträge zu Linguistik und Phonetik. Festschrift<br />

für Joachim Göschel zum 70. Geburtstag (= Zeitschrift für Dialektologie<br />

und Linguistik; Beiheft 118). Stuttgart: Steiner, 48–57.<br />

Stichwörter für die tschechische Enzyklopädie Universum. Buchstaben Ch-<br />

Ž, Bd. 4–10.<br />

2002<br />

Das <strong>Regensburg</strong>er und das Prager Deutsch. – In: S. Näßl (Hg.), <strong>Regensburg</strong>er<br />

Deutsch: Zwölfhundert Jahre Deutschsprachigkeit in <strong>Regensburg</strong> (= <strong>Regensburg</strong>er<br />

Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B.<br />

Untersuchungen 80). Frankfurt/Main u.a.: Lang, 153–170.<br />

Der mitteleuropäische Sprachbund. – In: J. Scharnhorst (Hg.), Sprachkultur<br />

und Sprachgeschichte. Herausbildung und Förderung von Sprachbewußtsein<br />

und wissenschaftliche Sprachpflege in Europa. Frankfurt/Main u.a.:<br />

Lang, 125–133.<br />

Die Ortsnamen von Böhmen, Mähren und Schlesien als Geschichtsquelle. –<br />

In: Bohemia 43/2, 385–411.<br />

2003<br />

Die Ortsnamen von Böhmen, Mähren und Schlesien als Geschichtsquelle. –<br />

In: Přednášky z 46. běhu Letní školy slovanských studií. Praha: Univerzita<br />

Karlova, 123–148.<br />

Jazyk a nářečí Šumavy [Sprache und Dialekte Böhmerwalds]. – In: Šumava.<br />

Příroda, historie, život. Praha: Baset, 493–498.<br />

Rybniční registr chotěšovského kláštera z let 1743–1782. K dvoujazyčnosti<br />

Stříbrska v 18. století [Das Teichregister des Klosters Chotieschau aus den<br />

Jahren 1743–1782. Zur Zweisprachigkeit der Mieser Gegend im 18. Jahrhundert].<br />

– In: Acta Onomastica 54, Praha: Ústav pro český jazyk AV ČR,<br />

125–130.<br />

<strong>2004</strong><br />

Die ältesten Sprachenkarten Europas. – In: Linguistica Pragensia 14/1. Praha:<br />

Univerzita Karlova, 1–6.<br />

17


18<br />

Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. Emil Skála. 1988–<strong>2004</strong><br />

Gibt es den Mitteleuropäischen Sprachbund? – In: The Journal of Intercultural<br />

Studies. The Intercultural Research Institute, Kansai Gaidai University<br />

Publication, Nr. 30. Osaka, 22–29.<br />

Vergleichende historische Topographie von Böhmen, Mähren und Schlesien<br />

auf europäischen Karten der frühen Neuzeit. – In: brücken, N.F. 11, Praha:<br />

Lidové noviny, 79–105.<br />

Texte der Frühen Neuzeit aus der Slowakei (= Beiträge zur Editionsphilologie<br />

3). Berlin: Weidler. (Hrsg. zus. mit I. Piirainen)<br />

Emil Skála und die Kanzleisprachenforschung<br />

Albrecht Greule<br />

Der folgende Forschungsüberblick ist in Dankbarkeit Emil Skála zum 75.<br />

Geburtstag gewidmet. Ohne seine Forschungen gäbe es das internationale<br />

Forschungsparadigma „Kanzleisprachen“ nicht, das heute Forscher und<br />

Forscherinnen weit über die Grenzen von Tschechien, der Slowakei und<br />

Deutschland hinaus zusammenführt.<br />

1. ich rede nach der Sechsischen cantzley<br />

Martin Luthers in der Überschrift gekürzt wiedergegebenes Dictum (vgl.<br />

dazu BESCH 1967: 363) ist neben Äußerungen von Niclas von Wyle<br />

(1478), Fabian Frangk (1531), Martin Opitz (1624) und Justus Georg Schottelius<br />

(1663) der bekannteste Hinweis auf den Vorbildcharakter der in den<br />

Kanzleien der frühneuhochdeutschen Zeit geschriebenen Sprache und deren<br />

sprachausgleichende Wirkung (vgl. BENTZINGER 2000: 1665). Konrad<br />

Burdach erhob 1884 mit den Worten: „Eine Geschichte dieser Kanzleisprache<br />

wäre von höchster Wichtigkeit und höchstem Interesse [...]“ (zitiert<br />

nach BENTZINGER 2000: 1666) die Erforschung der Kanzleisprache(n) zu<br />

einem Programm der germanistischen Sprachgeschichtsschreibung (Das<br />

Folgende nach BENTZINGER 2000: 1666). Noch in der zweiten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts werden Urkundeneditionen und Einzeluntersuchungen zur<br />

Sprache von Kanzleien vor allem des südwestdeutschen, schweizerischen<br />

und schlesisch-lausitzischen Raumes veröffentlicht. In der ersten Hälfte des<br />

20. Jahrhunderts steht der ostmitteldeutsche Raum, insbesondere wegen der<br />

vermuteten Bedeutung der Prager und anderer böhmischer Kanzleien für die<br />

Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache, im Vordergrund. Als<br />

bedeutendste Edition wird in diesem Zeitraum (1929) das Corpus der altdeutschen<br />

Originalurkunden bis zum Jahre 1300 begonnen. Nach 1945 greifen<br />

– fast gleichzeitig – Zdeněk Masařík (1966) in Brünn und Emil Skála<br />

(1967) in Prag mutig das Thema der deutschen Kanzleisprachen in Böhmen<br />

und Mähren wieder auf. Ferner werden in beiden Teilen Deutschlands die<br />

Kanzleisprachen des ostmitteldeutschen, ostoberdeutschen und westoberdeutschen<br />

Raumes erforscht. Während des ganzen 20. Jahrhunderts gilt das<br />

Interesse auch den mittelniederdeutsch schreibenden Kanzleien.<br />

Zu einem wirklich grenzüberschreitenden Forschungsparadigma, an dem<br />

tschechische, slowakische, polnische, ungarische, baltische und deutsche<br />

Forscherinnen und Forscher intensiv mitwirken, wird die Kanzleisprachenforschung<br />

erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Der freie Zugang zu<br />

den Archiven und die Möglichkeit ihrer Erschließung ermöglichen nun die


20<br />

Albrecht Greule<br />

Auswertung reichlich fließender Quellen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen<br />

Geschäftsschrifttums vorwiegend durch Sprachwissenschaftlerinnen<br />

und Sprachwissenschaftler vor Ort. Eine besondere Rolle fällt in einer<br />

Geschichte der Kanzleisprachenforschung dem finnischen, in Münster lehrenden<br />

Sprachwissenschaftler und Germanisten Ilpo Tapani Piirainen zu. Er<br />

bildete mit seinen Archivreisen in Osteuropa und zahlreichen Schriften (seit<br />

1970), vor allem zu den deutschen Kanzleisprachen in der Slowakei, während<br />

der Zeit der Teilung Europas eine wichtige Brücke zwischen Ost und<br />

West (vgl. MEIER/ZIEGLER 2001: 15–17, 603–612).<br />

In dem sich in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts international ausprägenden<br />

Paradigma der Erforschung der historischen deutschen Kanzleisprachen<br />

in Mitteleuropa, dessen Summa in einem vor der Ausarbeitung befindlichen<br />

Handbuch ausgebreitet werden wird (siehe unten) und dessen Forum<br />

der 1997 gegründete Internationale Arbeitskreis Kanzleisprachenforschung<br />

ist (mit bislang drei Symposien), fließen verschiedene Forschungstraditionen<br />

und Forschungsneuansätze zusammen und befruchten sich gegenseitig:<br />

Zuerst die Erforschung der volkssprachlichen Urkunden, deren Zahl zuerst<br />

im 13. Jahrhundert beachtliche Dimensionen erreicht (BENTZINGER 2000:<br />

1666–1669). Da aber in den Kanzleien nicht nur Urkunden ausgefertigt<br />

wurden, sondern auch Aktenstücke, Rechts- und Rechnungsbücher, Briefe<br />

usw. (EGGERS 1969: 23), ist es sinnvoll, das in den Kanzleien fixierte<br />

Schrifttum als ‚Geschäftsschrifttum‛ (Geschäftssprache) zu bezeichnen, das<br />

die engen Grenzen der Urkundensprache bei Weitem überschreitet. Eine<br />

Konstante des Forschungsparadigmas Kanzleisprachen ist die Frage ihrer<br />

Rolle beim Sprachausgleich (BENTZINGER 2000: 1669f.). Diese Fragestellung<br />

setzt voraus, dass in den Schriften der kleineren Kanzleien eher als<br />

in jenen der großen sich Dialekte niederschlagen, dass die Kanzleischreiber<br />

sich also mit der gesprochenen Sprache des Territoriums, für das sie zuständig<br />

sind, auseinander setzten. Deutlich aufeinander bezogen sind Kanzleisprachen-<br />

und historische Stadtsprachenforschung (vgl. BENTZINGER<br />

2001: 25–39); letztere wird in neuerer Zeit wesentlich gefördert durch den<br />

Internationalen Arbeitskreis für Stadtsprachenforschung (vgl. z.B. BISTER-<br />

BROOSEN 1999). Gegenüber der auf den Sprachausgleich bezogenen, älteren<br />

Kanzleisprachenforschung treten in jüngster Zeit die städtischen Kanzleien<br />

in den Vordergrund (ZIEGLER 2001: 69–85). Förderliche Impulse<br />

kommen seit Neuestem auch aus der Textsortenlehre (SPÁČILOVÁ 1998,<br />

MEIER 1999: 131–157), aus der (historischen) Soziolinguistik (MEIER<br />

2002: ZIEGLER 2002) und aus der (historischen) Pragmatik (ERNST 1999:<br />

17–31; MEIER 2002).<br />

Emil Skála und die Kanzleisprachenforschung<br />

2. Kanzlei und Kanzleisprache(n)<br />

Es gehört inzwischen zu den Fixa der deutschen Sprachgeschichtsschreibung,<br />

dass es sich bei den Kanzleien um „Zentralstellen der Landes- oder<br />

Stadtverwaltung“ (EGGERS 1969: 23) handelte. Die Kanzlei als größere,<br />

feste Organisation mit einem Kanzler an der Spitze, mit Notaren, mehreren<br />

Schreibern und anderem Hilfspersonal ist freilich eine eher späte und außergewöhnliche<br />

Erscheinung. Die für eine Kanzlei typische Sprache fassen<br />

wir im Geschäftsschrifttum, das im Auftrag eines Königs, eines Fürsten,<br />

einer Stadt, eines Bischofs oder eines Klosters in deren Kanzlei verfasst<br />

wurde, zusammen. Die Klassifikation der Kanzleisprachen in der Abhängigkeit<br />

von der jeweiligen Herrschaft, womit auch der unterschiedliche<br />

Wirkungskreis und der unterschiedliche Einfluss der Kanzleischreibe auf<br />

den Sprachausgleich zusammenhängt, ist in der Forschung längst erkannt.<br />

Es wird durchaus unterschieden zwischen Schrifttum der kaiserlichen, der<br />

kurfürstlichen, herzoglichen, fürstlichen, bischöflichen und städtischen<br />

Kanzleien. In Anbetracht des aus den Archiven zu Tage geförderten Schrifttums<br />

stehen wir mit einer textsortenspezifischen Analyse der Kanzleisprachen<br />

erst am Anfang. Da dort nicht nur Urkunden geschrieben wurden, sondern<br />

auch Briefe, Register, Rechnungsbücher, Salbücher, Stadtbücher,<br />

Amtsbücher, Testamente und Ähnliches (BENTZINGER 2000: 1665), steht<br />

die Forschung auch vor der schwierigen Aufgabe, quantitative und vor allem<br />

qualitative Grenzen zu ziehen.<br />

Ein Kennzeichen der neueren, besonders auf Ostmitteleuropa gerichteten<br />

Kanzleisprachenforschung ist ihre Konzentration auf die städtischen Kanzleien<br />

und das dort produzierte Schrifttum, nachdem für die Forschung die<br />

Sprache sowohl der Kanzlei der Könige und Kaiser als auch die der kursächsischen<br />

Kanzlei über 100 Jahre im Vordergrund stand. So konzentrieren<br />

sich die jüngsten Bemühungen zum Beispiel von Arne Ziegler, das ‚soziopragmatische<br />

Bedingungsgefüge‛, aus dem sich ein kanzleisprachlicher<br />

Diskurs sowie ein kanzleisprachlicher Schreibusus herausgebildet hat<br />

(ZIEGLER 2001: 75) zu beschreiben, bezeichnenderweise auf die Kanzleien<br />

von Städten, besonders auf die der Stadt Preßburg/Bratislava. Ziegler<br />

beschreibt das diskursive Bedingungsgefüge kanzleisprachlicher Faktoren,<br />

das er in einem Schema entfaltet, folgendermaßen:<br />

Die Kanzlei fungiert als institutioneller Rahmen, der einen spezifischen kanzleisprachlichen<br />

Schreibusus überhaupt erst ermöglicht. Dieser Schreibusus prägt die jeweiligen Kanzleitexte,<br />

die wiederum einen kanzleisprachlichen Diskurs formulieren, der seinerseits Rückwirkungen<br />

auf verschiedene Einflussfaktoren hat und somit auch den konkreten historisch-gesellschaftlichen<br />

Diskurs, der die städtische Kommunikationspraxis ermöglicht, mitgestaltet (ZIEGLER<br />

2001: 75).<br />

21


22<br />

Albrecht Greule<br />

3. Forschungsergebnisse<br />

3.1. Zu verschiedenen Regionen<br />

Dank den Forschungen zur Prager Kanzlei Karls IV. und zum ‚Prager<br />

Deutsch‘ (SKÁLA 1994) gebührt Tschechien, genauer Böhmen, ein Vorrang,<br />

wenn es um die Erforschung der Geschichte der deutschen Sprache<br />

außerhalb Deutschlands geht. Insbesondere Emil Skála und seiner Untersuchung<br />

zur Entwicklung der Kanzleisprache in Eger von 1310 bis 1660<br />

(SKÁLA 1967) sind neue Einsichten in die Stellung der Sprache der Prager<br />

Kanzlei zu verdanken. Als Ergebnis kann die Sprachgeschichtsschreibung<br />

deshalb festhalten, dass die Prager Kanzleisprache zwar „ihr besonderes<br />

Gepräge“ hat, dass sie aber keine Prager Eigenschöpfung ist, sondern dass<br />

„auch sie bereits in einer Traditionslinie steht, die sich vorher schon in den<br />

Kanzleien von Nürnberg und Eger und vielleicht sogar in <strong>Regensburg</strong> zeigt“<br />

(EGGERS 1969: 22). Die Forschungen von Hildegard Boková konzentrieren<br />

sich seit 1981 auf die deutschsprachigen Urkunden und Stadtbucheintragungen<br />

Südböhmens im 14. und 15. Jahrhundert mit einem Schwergewicht<br />

auf der Schreibe der Städte und der Adelsfamilie von Rosenberg (z.B.<br />

BOKOVÁ 1998).<br />

Mähren hat Zdeněk Masařík mit zwei Büchern und mehreren Aufsätzen im<br />

Blick (MASAŘÍK 1966, 1985). Unter den mährischen Städten kommt, was<br />

die Überlieferung deutschsprachiger Texte anbelangt, Olmütz/Olomouc<br />

eine besondere Rolle zu. Um die Hebung und Auswertung der Schätze der<br />

Olmützer Stadtkanzlei hat sich vor allem Libuše Spáčilová im Umfeld einer<br />

Habilitationsschrift verdient gemacht (SPÁČILOVÁ 1998). Neben Einzeluntersuchungen<br />

zu weiteren städtischen Kanzleisprachen in Mähren (Opava/Troppau,<br />

Moravská Třebová/Mährisch Trübau, Ostrava/Ostrau) wurde<br />

durch die Arbeiten von Lenka Vaňková das Interesse auf die Sprache der<br />

Stadtbücher des Kuhländchens, einer deutschen Sprachinsel im östlichen<br />

Teil Nordmährens zwischen dem Gesenke und den Beskiden am Oberlauf<br />

der Oder, deren Eintragungen im 16. Jahrhundert beginnen, gerichtet<br />

(VAŇKOVÁ 1999).<br />

Am umfangreichsten sind die Forschungen zu den deutschen Kanzleisprachen<br />

in der Slowakei (vgl. GREULE/MEIER 2003), was nicht zuletzt mit<br />

der großen Energie zusammenhängt, die Ilpo Tapani Piirainen mit seinen<br />

Schülern Jörg Meier und Arne Ziegler seit dreißig Jahren auf die dort produzierte<br />

und archivierte gewaltige Textmenge aufwenden (PIIRAINEN<br />

2001). Diesem Engagement ist es auch zu verdanken, dass für die sprachgeschichtliche<br />

Auswertung des slowakischen Materials auch einheimische<br />

Germanistinnen und Germanisten begeistert werden konnten. Dazu gehören<br />

Mária Papsonová (Prešov) und L’udmila Kretterová (Nitra). Ich kann hier<br />

nur ganz punktuell die slowakischen Kanzleiorte und Quellen auflisten, zu<br />

Emil Skála und die Kanzleisprachenforschung<br />

denen bislang Ergebnisse vorliegen: Banská Štiavnica/Schemnitz (Sándor<br />

Gárdonyi, L. Kretterová), Kremnica/Kremnitz (S. Gárdonyi, I.T. Piirainen),<br />

Stadtwissbuch von Smolník/Schmölnitz (S. Gárdonyi), Stadtrechtsbuch von<br />

Žilina/Sillein (I.T. Piirainen, M. Papsonová), Stadtbuch von Krupina/Karpfen<br />

(Karl-Heinz Grothausmann), Stadtbuch Košice/Kaschau (O.R.<br />

Halaga, I.T. Piirainen), Zipser Willkür (M. Papsonová), Glenica/Göllnitz<br />

(Helmut Protze), Bratislava/Preßburg (Rainer Paul, I.T. Piirainen); Stadtbuch<br />

von Švedlár/Schwedler (I.T. Piirainen/J. Meier), Levoča/Leutschau (J.<br />

Meier, I.T. Piirainen), Kežmarok/Käsmark (I.T. Piirainen/A. Ziegler), Lubica/Leibitz<br />

(I.T. Piirainen). (Bezüglich der genauen bibliographischen Angaben<br />

wird auf die Bibliographie zur Kanzleisprachenforschung, von Jörg<br />

Meier und Arne Ziegler, die im 2003 Praesens Verlag Wien erschienen ist,<br />

verwiesen.)<br />

Die geographische und historische Nähe der slowakischen Hauptstadt Bratislava/Preßburg<br />

zu Wien legt es nahe, hier auch die Forschungen zur Wiener<br />

Stadtsprache im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, die vor allem<br />

von Peter Ernst betrieben werden (z.B. ERNST 1994), in das Spektrum der<br />

mitteleuropäischen Kanzleisprachenforschung einzuordnen. – Noch wenig<br />

ist erstaunlicherweise zu den deutschen Kanzleisprachen in Ungarn bekannt.<br />

Den neuesten Stand der Forschung hält Péter Bassola fest (BASSOLA 2001).<br />

Nebst der Erfassung der Kanzleisprache einiger weniger Schreiborte in<br />

Schlesien (vgl. PIIRAINEN 1994) konzentriert sich das Forschungsinteresse<br />

in Polen bislang auf Krakau und Thorn. Im einen Fall führt Józef Wiktorowicz,<br />

im anderen Fall Józef Grabarek die Forschung an (WIKTORO-<br />

WICZ 1981, GRABAREK 1984).<br />

Fast als terra incognita müssten die Kanzleisprachen in den baltischen Ländern<br />

bezeichnet werden, gäbe es nicht einige Untersuchungen zur deutschen<br />

Kanzleisprache in Lettland (vgl. LELE-ROZENTALE 2001). Die Kanzleisprachen<br />

des Baltikums sind im engen Zusammenhang mit der Entwicklung<br />

der in den Kanzleien Norddeutschlands verwendeten Schreibe und des<br />

Übergangs von der (mittel-)niederdeutschen zur hochdeutschen Schreibsprache<br />

(vgl. RÖSLER 1997) zu sehen.<br />

3.2. Zu den linguistischen Analysebereichen<br />

Das oben nur andeutungsweise skizzierte Bild der bisherigen Forschungsaktivitäten<br />

und Forschungsergebnisse nach Regionen vermittelt noch keinen<br />

Eindruck von der Breite der sprachwissenschaftlichen Perspektiven, unter<br />

denen die Kanzleisprachen untersucht wurden und werden. Größte Bedeutung<br />

kommt zuerst einer Reihe von Editionen kanzleisprachlicher Texte zu,<br />

die von Ilpo Tapani Piirainen und seinen Schülern selbst vorgenommen<br />

oder angeregt wurden und erste sprachwissenschaftliche Auswertungen ent-<br />

23


24<br />

Albrecht Greule<br />

halten. Die Kanzleisprache wird sodann auf allen Ebenen der Sprachstruktur<br />

untersucht: im Bereich von Phonologie, Morphologie, Lexik (auch interferenzielle<br />

Lexik), Lexikographie und Semantik, Phraseologie (besonders die<br />

Formeln), Syntax, Stilistik und Pragmatik. Dabei stehen gewissermaßen im<br />

Nachklang zur Frage des Sprachausgleichs Untersuchungen zum Verhältnis<br />

von Lautung und Schreibung in einzelnen Kanzleien rein zahlenmäßig noch<br />

im Vordergrund. In den variationslinguistischen Bereichen liegen Forschungsergebnisse<br />

zu den Schreibdialekten, zur Schreibgeographie ganzer<br />

Regionen wie Mähren (MASAŘÍK 1985), zu einem Atlas frühmittelniederdeutscher<br />

Schreibsprachen (RÖSLER 2000) und zur Rechtssprache vor,<br />

nicht zuletzt auch solche zur Mehrsprachigkeit in Kanzleitexten. Darüber<br />

hinaus gibt es einzelne Ansätze einer regionspezifischen Sprachgeschichtsschreibung.<br />

Auch hier gehört Emil Skála mit einem Aufsatz zu den Anfängen<br />

der deutschen Schriftsprache in der Slowakei (SKÁLA 1983) zu den<br />

Vorreitern.<br />

4. Gegenwärtige Aktivitäten und Forschungsdesiderate<br />

Ein Resümee der beeindruckenden Aktivitäten und Leistungen zahlreicher<br />

Forscherinnen und Forscher im Paradigma Kanzleisprache(n) lässt gleichzeitig<br />

auch die Lücken und Forschungsdesiderate deutlich hervortreten. Es<br />

sind zunächst ‚territoriale‛ Lücken, die es zu füllen gilt. Auf Forschungslükken<br />

zu den Kanzleisprachen des Baltikums wurde bereits hingewiesen. So<br />

gut wie nichts wissen wir von deutschen Kanzleisprachen in Russland und<br />

auf dem Balkan (Rumänien). Auch in Polen klaffen trotz der beachtlichen<br />

Aktivitäten der dortigen Germanisten noch Forschungslücken, z.B. in<br />

Schlesien. Ähnliches gilt für Böhmen, besonders für Nordböhmen. Für<br />

Böhmen ist – nach Auswertung der Archive (vgl. TIŠEROVÁ 2001) –<br />

durchaus eine Mähren (vgl. MASAŘÍK 1985) vergleichbare frühneuhochdeutsche<br />

Sprachgeographie vorstellbar. Auch die Ansätze zu Wörterbüchern<br />

des Frühneuhochdeutschen in der Slowakei und in Ungarn sollten gefördert<br />

werden. Noch kaum in das hier vorgestellte Paradigma sind die Kanzleien<br />

und Kanzleisprachen im westlichen Mitteleuropa integriert. Ferner gilt es in<br />

der Zukunft, das kanzlei-interne Schrifttum (Kanzleibücher u.ä.) auszuwerten,<br />

um noch mehr über die Vorgänge innerhalb von Kanzleien selbst zu<br />

erfahren.<br />

Durch Symposien zu den Kanzleisprachen in regelmäßiger Abfolge (Bydgoszcz<br />

1997, <strong>Regensburg</strong> 1999, Münster 2001, Bochum 2003) mit den entsprechenden<br />

Publikationen, einer Bibliographie und vor allem einem Handbuch<br />

ist die große Gemeinde der Kanzleisprachenforscherinnen und -forscher<br />

mit großem Engagement bemüht, die genannten und weitere<br />

Forschungslücken sukzessive zu schließen. In dem von Albrecht Greule,<br />

Emil Skála und die Kanzleisprachenforschung<br />

Jörg Meier und Arne Ziegler herausgegebenen Handbuch Kanzleisprachenforschung<br />

wird durch die Mitarbeit der namhaften Fachleute der internationalen<br />

Forschergemeinschaft ein umfassender Überblick über Gegenstand,<br />

Geschichte, wissenschaftliche Voraussetzungen und Stand der Kanzleisprachenforschung<br />

geboten. Den Kern darin bilden Überblicke über die Kanzleien<br />

auf niederdeutschem (Kap. V) und hochdeutschem Sprachgebiet (Kap.<br />

VI) sowie über Kanzleien am Rande und außerhalb des geschlossenen deutschen<br />

Sprachgebiets.<br />

Literaturverzeichnis<br />

BASSOLA, Péter (2001): Zur deutschen Kanzleisprache in Ungarn. – In: A.<br />

Greule (Hg.), Deutsche Kanzleisprachen im europäischen Kontext (= Beiträge<br />

zur Kanzleisprachenforschung 1). Wien: Edition Praesens, 189–201.<br />

BENTZINGER, Rudolf (2000): Die Kanzleisprachen. – In: W. Besch u.a.<br />

(Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen<br />

Sprache und ihrer Erforschung. 2., vollst. neubearb. u. erw. Aufl., 2.<br />

Halbbd., Berlin, New York: de Gruyter, 1665–1673.<br />

BESCH, Werner (1967): Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15.<br />

Jahrhundert. München: Francke.<br />

BISTER-BROOSEN, Helga (1999): Beiträge zur historischen Stadtsprachenforschung<br />

(= Schriften zur diachronen Sprachwissenschaft 8). Wien:<br />

Edition Praesens.<br />

BOKOVÁ, Hildegard (1998): Der Schreibstand der deutschsprachigen Urkunden<br />

und Stadtbucheintragungen Südböhmens in vorhussitischer Zeit<br />

(1300–1419). Frankfurt/Main: Lang.<br />

EGGERS, Hans (1969): Deutsche Sprachgeschichte III. Das Frühneuhochdeutsche.<br />

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.<br />

ERNST, Peter (1994): Die Anfänge der frühneuhochdeutschen Schreibsprache<br />

in Wien (= Schriften zur diachronen Sprachwissenschaft 3). Wien: Edition<br />

Praesens.<br />

ERNST, Peter (1999): Pragmatische Aspekte der historischen Kanzleisprachenforschung.<br />

– In: A. Greule (Hg.), Deutsche Kanzleisprachen im europäischen<br />

Kontext (= Beiträge zur Kanzleisprachenforschung 1). Wien: Edition<br />

Praesens, 17–31.<br />

GRABAREK, Józef (1984): Die Sprache des Schöffenbuchs der Alten Stadt<br />

Toruň. Rzeszów: Wyd. Wyższej Szkoły Pedag. w Rzeszowie.<br />

25


26<br />

Albrecht Greule<br />

GREULE, Albrecht (Hg.) (2001): Deutsche Kanzleisprachen im europäischen<br />

Kontext (= Beiträge zur Kanzleisprachenforschung 1). Wien: Edition<br />

Praesens.<br />

GREULE, Albrecht/MEIER, Jörg (Hg.) (2003): Deutsche Sprache in der<br />

Slowakei. Bilanz und Perspektiven ihrer Erforschung. Wien: Edition Praesens.<br />

LELE-ROZENTALE, Dzintra (2001): Die mittelniederdeutschen Texte aus<br />

der Rigaer Ratskanzlei. Forschungsstand, -desiderate, -möglichkeiten. – In:<br />

A. Greule (Hg.), Deutsche Kanzleisprachen im europäischen Kontext (=<br />

Beiträge zur Kanzleisprachenforschung 1). Wien: Edition Praesens, 297–<br />

309.<br />

MASAŘÍK, Zdeněk (1966): Die mittelalterliche deutsche Kanzleisprache<br />

Süd- und Mittelmährens. Brno: Opera Universitatis.<br />

MASAŘÍK, Zdeněk (1985): Die frühneuhochdeutsche Geschäftssprache in<br />

Mähren. Brno: Opera Universitatis.<br />

MASAŘÍK, Zdeněk (2001): Die Erforschung der frühneuhochdeutschen<br />

Kanzleisprachen in Mähren. Ergebnisse und Ausblick. – In: A. Greule<br />

(Hg.), Deutsche Kanzleisprachen im europäischen Kontext (= Beiträge zur<br />

Kanzleisprachenforschung 1). Wien: Edition Praesens, 75–84.<br />

MEIER, Jörg (1999): Städtische Textsorten des Frühneuhochdeutschen. Die<br />

Leutschauer Kanzlei im 16. Jahrhundert. – In: H. Bister-Broosen (Hg.), Beiträge<br />

zur historischen Stadtsprachenforschung (= Schriften zur diachronen<br />

Sprachwissenschaft 8). Wien: Edition Praesens, 131–157.<br />

MEIER, Jörg (2002): Städtische Kommunikation in der Frühen Neuzeit.<br />

Historische Soziopragmatik und Historische Textlinguistik. Habil.–Schrift,<br />

Universität Bochum, Druck: Frankfurt/Main: Lang (<strong>2004</strong>).<br />

MEIER, Jörg/ZIEGLER, Arne (Hg.) (2001): Deutsche Sprache in Europa.<br />

Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Ilpo Tapani Piirainen zum 60.<br />

Geburtstag. Wien: Edition Praesens.<br />

PIIRAINEN, Ilpo Tapani (1994): Erforschung deutschsprachiger Handschriften<br />

des 14.–18. Jahrhunderts in schlesischen Archiven in Polen. – In:<br />

Kwartalnik Neofilologiczny 46, 239–250.<br />

PIIRAINEN, Ilpo Tapani (2001): Dreißig Jahre Forschungen an deutschen<br />

Handschriften in der Slowakei. – In: M. Elmentaler (Hg.), Regionalsprachen,<br />

Stadtsprachen und Institutionssprachen im historischen Prozess.<br />

(= Schriften zur diachronen Sprachwissenschaft 10). Wien: Edition Praesens,<br />

223–239.<br />

Emil Skála und die Kanzleisprachenforschung<br />

RÖSLER, Irmtraud (1997): Fürstenkanzlei und lokale Domanialkanzleien –<br />

zwei Ausprägungen herzoglichmecklenburgischer Kanzleien im 16. Jahrhundert.<br />

– In: J. Grabarek (Hg.), Deutschsprachige Kanzleien des Spätmittelalters<br />

und der frühen Neuzeit. Bydgoszcz: Wydawn. Uczelniane WSP,<br />

143–157.<br />

RÖSLER, Irmtraud (2000): Das DFG-Projekt „Atlas frühmittelniederdeutscher<br />

Schreibsprachen“: Möglichkeiten der namenkundlichen Auswertung<br />

des Quellenkorpus. – In: F. Debus (Hg.), Stadtbücher als namenkundliche<br />

Quelle (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen<br />

der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse. Einzelveröffentlichung<br />

Nr. 7, Jahrgang 2000). Mainz, Stuttgart: Franz Steiner, 87–105.<br />

SKÁLA, Emil (1967): Die Entwicklung der Kanzleisprache in Eger 1310–<br />

1660 (= Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen). Berlin:<br />

Deutsche Akademie der Wissenschaften.<br />

SKÁLA, Emil (1983): Die Anfänge der deutschen Schriftsprache in der<br />

Slowakei. – In: Festschrift für Laurits Saltveit zum 70. Geburtstag, hrsg.<br />

von J. O. Askedal u.a.. Oslo, Bergen, Tromsö: Universitetsforlaget, 182–<br />

193.<br />

SKÁLA, Emil (1994): Zum Prager Deutsch des 14. Jahrhunderts. – In: U.<br />

Müller u.a. (Hg.), Granatapfel. Festschrift für Gerhard Bauer zum 65. Geburtstag.<br />

Göppingen: Kümmerle, 13–27.<br />

SPÁČILOVÁ, Libuše (1998): Das Frühneuhochdeutsche in der Olmützer<br />

Stadtkanzlei (bis 1550). Eine textsortengeschichtliche Untersuchung und<br />

linguistische Aspekte. Habil.–Schrift Olomouc, Druck: Berlin: Weidler<br />

(<strong>2004</strong>).<br />

TIŠEROVÁ, Pavla (2001): Deutschsprachige Handschriften und Dokumente<br />

des Mittelalters und der frühen Neuzeit in den böhmischen Archiven. –<br />

In: A. Greule (Hg.), Deutsche Kanzleisprachen im europäischen Kontext (=<br />

Beiträge zur Kanzleisprachenforschung 1). Wien: Edition Praesens, 63–73.<br />

VAŇKOVÁ, Lenka (1999): Die frühneuhochdeutsche Kanzleisprache des<br />

Kuhländchens (= Sprache – System und Tätigkeit 27). Frankfurt/Main:<br />

Lang.<br />

WIKTOROWICZ, Józef (1981): System fonologiczny języka niemieckiego<br />

kniąg meijskich Krakowa w XIV wieku. Warszawa: Wydwa Uniw. Warszawskiego.<br />

ZIEGLER, Arne (2001): Orte des Frühneuhochdeutschen. Die Kanzlei. – In:<br />

J. Meier, A. Ziegler (Hg.), Deutsche Sprache in Europa. Geschichte und<br />

27


28<br />

Albrecht Greule<br />

Gegenwart. Festschrift für Ilpo Tapani Piirainen zum 60. Geburtstag.<br />

Wien: Edition Praesens, 69–85.<br />

ZIEGLER, Arne (2003): Städtische Kommunikationspraxis im Spätmittelalter.<br />

Historische Soziopragmatik und Historische Textlinguistik. Berlin:<br />

Weidler.<br />

Eigennamen im ältesten Stadtbuch von Preßburg (1402–1506)<br />

Mária Papsonová<br />

1. Einleitung<br />

Im vorliegenden Beitrag soll ein Teil des reichhaltigen Namenguts des ältesten<br />

Stadtbuches von Bratislava/Preßburg vorgestellt werden, das vor allem<br />

Eintragungen aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts enthält. Wie man<br />

den Begleittexten der 1999 von Arne Ziegler vorgelegten Edition entnehmen<br />

kann, handelt es sich hierbei um den ersten der 221 umfangreichen, in<br />

deutscher Sprache kontinuierlich bis zum Jahr 1938 aufgezeichneten Bände,<br />

die in der Sammlung Actionale Protocollum im Stadtarchiv von Bratislava<br />

inventarisiert sind (ZIEGLER 1999: 15; PIRAINEN 1996: 233).<br />

Mit dem buchstabengetreuen Abdruck des ältesten Stadtbuches wurde der<br />

Forschung nicht nur ein wichtiges sprachliches Zeugnis des Frühneuhochdeutschen,<br />

sondern auch ein unschätzbares Dokument zur mittelalterlichen<br />

Geschichte der Stadt zugänglich gemacht, das Einblicke in Vermögensverhältnisse<br />

und Beschäftigungsbereiche ihrer Bürger ermöglicht und Schlussfolgerungen<br />

über ihre Kontakte zu anderen Städten sowie über die Urbanisierung<br />

dieses bedeutenden Handelsortes ziehen lässt. Neben Kauf- und<br />

Pachtverträgen enthält das Stadtbuch Eintragungen, die über Testamente,<br />

Erbangelegenheiten, Pfändungen und Bürgschaften Auskunft geben, es<br />

kommen aber auch Beschlüsse des Stadtrates über die Bestrafung von Verbrechern<br />

und Übeltätern vor, darüber hinaus sind auch Satzungen von drei<br />

Zünften (Bäcker, Kürschner und Tuchscherer) ins Stadtbuch eingetragen<br />

worden (vgl. ZIEGLER 1999: 16 f.).<br />

Aus diesen Angaben zum Inhalt lässt sich schlussfolgern – und auf diese<br />

Tatsache weist auch Arne Ziegler in der Einleitung zu seiner Edition hin –,<br />

dass der Preßburger Kodex eine Vielzahl an Namen enthält, denn die vor<br />

dem Stadtrat abgeschlossenen, schriftlich nicht nur für die Zeitgenossen,<br />

sondern auch für die Nachkommen festgehaltenen Rechtshandlungen und<br />

Vereinbarungen beziehen sich auf konkrete Personen und Liegenschaften,<br />

die explizit genannt und lokalisiert werden.<br />

Für die Zwecke der vorliegenden Darstellung wurden die zwischen 1403<br />

und 1411 deutsch verfassten Eintragungen der Folien 5 bis 50 exzerpiert. 1<br />

1 Nicht berücksichtigt wurden die Seiten 1–5, deren Texte infolge starker Beschädigung<br />

inhaltlich kaum zu erschließen sind, sowie die im übrigen Textkorpus immer wieder<br />

vorkommenden lateinischen Eintragungen. Die hinter den Beispielen stehenden Ziffern<br />

geben die Folie der Handschrift bzw. – falls auf einem Blatt mehrere Eintragungen stehen<br />

– die Nummer der Eintragung auf jeweiligem Blatt an.


30<br />

Mária Papsonová<br />

Das in dieser Probe enthaltene namenkundliche Material repräsentiert alle<br />

Gruppen von nomina propria, besonders stark sind jedoch die Personen-<br />

und Flurnamen vertreten, während die eigentlichen Ortsnamen vor allem als<br />

Bestandteil von Personennamen (als Herkunftsnamen und fakultative Zusätze)<br />

nachzuweisen sind.<br />

2. Flurnamen<br />

Zu dieser Gruppe werden neben den Benennungen für Örtlichkeiten außerhalb<br />

der Stadt meist auch die Namen von Ortsteilen gezählt, soweit sie nicht<br />

amtliche Geltung bekommen haben (SCHWARZ 1957: 1557). Bei den außerhalb<br />

der Stadt gelegenen Flurteilen handelt es sich fast ausschließlich um<br />

Weinberge, die vererbt, verkauft oder verpfändet werden, in der Stadt selbst<br />

sind oft Häuser Gegenstand analoger Rechtshandlungen. Um dem Bedürfnis<br />

der Orientierung, der Identifizierung und der Individualisierung im Raum<br />

(AGRICOLA et al. 1970: 718) möglichst genau entgegenzukommen, werden<br />

in den Eintragungen des Preßburger Stadtbuches sowohl bei den Flur- als<br />

auch bei den Ortsteilen mehrere Möglichkeiten genutzt.<br />

2.1. Nur selten wird bei der Lokalisierung der Liegenschaft lediglich eine<br />

Bezeichnung angeführt, z.B.:<br />

[ein Weingarten] geleg(e)n Im Pfaff 5/3, an der fuchsleytten 8, auff der Strass 21, dassein drey<br />

weingarten, Der ain ist Der loffler genant, der ander Rassingrab(e)n, der Dritt Smydel 16,<br />

Drey Weingerten, der ain auff dem woczengrunt vnd der ander Inder poshait vnd der drit im<br />

wurczenpach, Vnd ain haus, gelegen auf Tuna newsidel 24, von eins weing(arten) weg(e)n,<br />

gleg(e)n in den pistriczer 36/3, vnder den Kesten pe(u)men 38/1<br />

[ein Haus] pey sand Michels tor 5/2, auff Schöndorff(er) gassen 9/2, vnd(er) der stieg 22/2.<br />

2.2. Viel öfter ist die Lage der Örtlichkeit durch mindestens eine weitere<br />

Angabe, meist aber durch mehrere Zusätze präzisiert. Die Verbindung vor<br />

der Stat zu prespurch (neben: in der Stat zu prespurch) sowie das Wort<br />

newsidel als zweites Glied der Flurbezeichnung (auf Tuna/Tuenaw newsidel,<br />

auf Spytal newsidel) lassen auf Erweiterung der bewohnten Fläche auch<br />

auf den Raum außerhalb der Stadtmauern schließen. Besonders die Lage der<br />

Weingärten auf der Stat gepiet wird genau angegeben: wie bei den Häusern<br />

werden außer dem Flurnamen oft auch die Besitzer der zu beiden Seiten<br />

liegenden Grundstücke (Weinberge, Häuser) genannt: 2<br />

2 Zur besseren Verständlichkeit wurde in den hier zitierten Proben eine Textsegmentierung<br />

vorgenommen. Da in der Handschrift, folglich auch im buchstabengetreuen Abdruck<br />

jegliche Satzzeichen fehlen, ist es oft mühsam, den Sinn des Textes, besonders<br />

die (Verwandschafts)Beziehungen der genannten Personen, zu erschließen.<br />

Eigennamen im ältesten Stadtbuch von Preßburg (1402–1506)<br />

Setzen wir In, dem vorbenanten Jacob Bisschoff all vnser hab, als hernach nemlich<br />

geschrib(e)n stet: zway hewser, glegen zu prespurch in der Stat vnd ligent peyde gegen den<br />

Fleisch penkchen vber zu prespurch, auch vnser weingarte(n), glegen auf der Stat gepiet: der<br />

ayn ligt an der fuchsleyten, zenest Michels des Salcz(er) weing(arten), anderthalb(e)n zenest<br />

des Muln(er) weing(arten) von pistritz; der ander weing(arten) ligt an der Tuenawleiten, gena(n)t<br />

der Tynir, and(er)thalben zenest Merttenis des protess(er) weing(arten; Der Dritt<br />

weing(arten) jn dem wolffleins grunt zenest vn(d) ist genannt der honigler, zenest Moritz des<br />

Kuellen weing(arten); der vierd weingarte(n) hayst der Gern, ze nest dem weg; der fvmft<br />

weing(arten) heyst der weyntegl, zenest eberharts des wynndeks weing(arten); der Sechst heyst<br />

der Mulslag, zenest Hanns Pertolds weing(arten) mit allen den nutzen vnd rechten, di zu den<br />

obgen(an)t(en) Hewsern vnd Weingarten gehorn 40 hat Im […] zu phanndt geseczt einen ledig(e)n<br />

freyn weing(arten), gleg(e)n Jm Kyenolczgreben, zenest der Hawer czech weing(arten),<br />

anderhalb(e)n zenset (‚zenest‘) Vlreichs des Rokkengeribs Weing(arten) 45/2<br />

[ein Haus] geleg(e)n an der wedricz, als man get In dy sudlukken 8, geleg(e)n In der Stat zu<br />

prespurkch, ainhalb(e)n zenest der Stat Mawr, Anderhalb(e)n zenest des prewssen haws 35/3,<br />

glegen zu prespurch vor der Stat auf Spytal newsidel, aintthalben zenest hannsen des marichekker<br />

haws, anderthalb(e)n zenest hanasen der Berberin Svn haws 44/2, ein Halbs haws,<br />

gleg(e)n vor der Stat zu presburch auf Schondorffer gassen, aintthalb(e)n zenest hannsen des<br />

hyerssen haws, anderthalb(e)n zenest Mendleins des wachsgiesserhaws 46/2, jr haws, gleg(e)n<br />

zu prespurch in der Stat, aintthalb(e)n zenest des veytleins haws, anderthalb(e)n zenest Hannsen<br />

des Rosenwerg(er) haws 49/2.<br />

Diesen Beispielen, die nur eine kleine Auswahl des erhobenen Materials<br />

darstellen, ist zu entnehmen, dass zu Beginn des 15. Jahrhunderts wohl die<br />

meisten Weinberge, bei weitem aber nicht alle Teile der Stadt ihren eigenen<br />

Namen trugen. Zu Orientierungszwecken musste deswegen oft die Nachbarschaft<br />

herangezogen werden (pey/vor sand Michels tor, gegen den fleisch<br />

penkken vber, pey dem Nunnen chloster, u. a., am häufigsten einthalben<br />

zenest ... anderthalben zenest …). Dies ist auch in den wenigen Belegen der<br />

Fall, in denen ein Straßenname erscheint – neben der öfter genannten<br />

Schöndorffer gassen ist einmal von der Sluter gassen, einmal von Messer<br />

gessel die Rede – in der Mehrheit der Fälle sind aber auch die zu beiden<br />

Seiten Wohnenden genannt (s. o. 46/2; mehr dazu s. auch Wohnstattnamen<br />

3.2.2). Für Flurteile, die keinen selbständigen Namen tragen, sondern nach<br />

Nachbarschaft heißen, wurde die Benennung ‚Flurbezeichnungen‘ geprägt<br />

(SCHWARZ 1957: 1557; SONDEREGGER 1985: 2071).<br />

3. Personennamen<br />

Im Rahmen dieser Gruppe sollen die im analysierten Textkorpus vorkommenden<br />

Rufnamen (Männer, Frauen) in Bezug auf ihre Herkunft vorgestellt<br />

werden, eingehender werden die männlichen Beinamen als Vorläufer der<br />

späteren Familiennamen behandelt. Diesen Ausführungen muss jedoch vorausgeschickt<br />

werden, dass zum Vergleich neben den verfügbaren theoretischen<br />

Arbeiten (s. Literaturverzeichnis) nur Teilergebnisse ähnlich ausgerichteter<br />

Untersuchungen herangezogen werden konnten (vgl. NAU-<br />

31


32<br />

Mária Papsonová<br />

MAMNN 2000; SPÁČILOVÁ 2000), nicht aber die bestehenden Namenbücher<br />

bzw. etymologische Namenwörterbücher (vgl. FLEISCHER 1964:<br />

194ff.).<br />

3.1 Rufnamen<br />

Das Bild, das die in Preßburg zu Beginn des 15. Jahrhunderts bezeugten<br />

Rufnamen bieten, entspricht weitgehend dem der Zentralgebiete, in denen<br />

sich im 15./16. Jh. der Wandel von den Namen germanisch-deutscher Herkunft<br />

zu solchen christlichen Ursprungs vollzieht (AGRICOLA et al. 1970:<br />

654 f.; NAUMANN 2000: 21ff.; SEIBICKE 1982: 135). Zwar sind im<br />

Preßburger Stadtbuch noch verhältnismäßig viele altdeutsche Rufnamen zu<br />

belegen (ihr Verhältnis zu christlichen beträgt bei den Männernamen ca. 4 :<br />

5), die Zahl der Namenträger mit den Fremdnamen ist jedoch beträchtlich<br />

höher.<br />

3.1.1 Von den altdeutschen Rufnamen ist Ulrich 3 mit verschiedenen Varianten<br />

am häufigsten zu belegen, ihm folgen Dietrich, Eberhard und Friedrich.<br />

Das Namenzweitglied der dithematischen Formen ist meist erhalten (Gothart,<br />

Leynhart/Lienhard, Wollfhard/Wolffard, Lamprecht), ahd. -rîch(i) erscheint –<br />

dem oberdeutschen Usus der Preßburger Kanzlei entsprechend – auch diphthongiert<br />

(Vlreich neben Vlrich, Heinreich/Heinrich/Hinrych, Dietreich,<br />

Fridreich). Neben diesen Vollformen stehen einstämmige Kürzungen<br />

(Vl/Vll/Wll), Kontraktionen (Erhard/Erhart neben Eberhart) sowie Namenformen,<br />

„die aus Kürzung und gleichzeitiger Erweiterung der gekürzten Form<br />

um ein Wortbildungssuffix hervorgegangen sind“ (SEIBICKE 1982: 128).<br />

Neben Conrad und dessen Varianten Kuncz/Chuncz sind es vor allem Kurzformen<br />

mit kosendem Charakter, wobei als Ableitungssuffix sowohl -(e)l<br />

(Dietl/Dytel, Fridel), als auch -lein (Kunczlein, Mendl/Mendel/Mendlein,<br />

Rudl/Rudel/Rudlein, Vllein/Wllein) nachzuweisen sind. Allerdings lassen sich<br />

die auch in der Funktion des Beinamens (Beispiele s. u. 3.2.1) belegten<br />

Kurzformen zu Mend- (Mand-?, Meind-) ohne einschlägige Literatur nicht<br />

eindeutig einer bestimmten Vollform zuordnen (vielleicht zu dem als<br />

Zweitname bezeugten Rufnamen Manhard/Menhart), das Gleiche gilt für<br />

den zweimal belegten Rufnamen Ernot (zu Gernot?).<br />

Mit diphthongiertem Stammvokal und apokopiert erscheinen je einmal die<br />

monothematischen Rufnamen Brawn (zu Bruno) und Hawg (zu Hugo).<br />

3 Die in der Handschrift sowohl groß als auch klein geschriebenen Personennamen werden<br />

in diesem Teil des Beitrags mit Majuskeln wiedergegeben. Die sonstige Groß- und<br />

Kleinschreibung entspricht der Originalhandschrift (der Edition).<br />

Eigennamen im ältesten Stadtbuch von Preßburg (1402–1506)<br />

3.1.2 Bei Fremdnamen stehen die seit dem 13. Jahrhundert auch in den Zentralgebieten<br />

beliebten Heiligennamen (Johannes, Nikolaus, Martin, Michael,<br />

Petrus, Andreas, Jakob) an der Spitze (AGRICOLA et al. 1970: 655;<br />

SEIBICKE 1982: 135), die der gleichen Abschleifung und Umgestaltung<br />

unterliegen wie die germanisch-deutschen Rufnamen. In größter Belegdichte<br />

und mit den meisten mundartlichen Varianten kommt Johannes vor, verschiedene<br />

eingedeutschte (umgelautete, Kurz- und Verkleinerungs-) Formen<br />

sind aber auch bei anderen „Standardnamen“ zu finden, so z. B.<br />

Francz, Lorencz, Moritz, Mathes, Paulein neben Paul, Jorig/Jorg/Jorgein<br />

(zu Georg). Vereinzelt sind Augustine, Partel (zu Bartholomäus), Gilgein<br />

(zu Ägidius, vgl. FLEISCHER 1964: 61) und Jobst (zu Jodocus, vielleicht<br />

durch Vermischung mit Hiob, vgl. FLEISCHER 1964: 126) zu belegen.<br />

Wie bei den einheimischen Rufnamen kann der Name ein und derselben<br />

Person innerhalb einer Eintragung in mehreren Varianten und in wechselnder<br />

Schreibweise erscheinen – eine relativ einheitliche Schreibung zeigen<br />

nur Michel (6 mal), Simon/Symon (4 mal) und Philipp (2 mal).<br />

Mit dem slavischen Suffix -usch erscheinen vereinzelt (je einmal) die Diminutivformen<br />

von Johannes und Nikolaus. Der im Unterschied zu deutschen<br />

Gebieten öfter belegte Rufname Stephan (5 mal) / Stephel (6 mal) geht<br />

höchstwahrscheinlich auf den ersten ungarischen König und Landespatron<br />

Ungarns zurück. Nachstehend die verschiedenen Schreibungen, Kurz- und<br />

Koseformen der am häufigsten belegten Heiligennamen:<br />

22 Hans/Hanns, 7 Hansel, 5 Hensel, 2 Johan(n), 2 Henslein, 1 Johannes, 1 Janns, 1 Hanslein,<br />

1 Janusch<br />

12 Peter, 7 Petrein, 1 Petrul<br />

5 Nikel, 4 Niclas/Niklas, 3 Nikl, 2 Niklein/Nyklein, 1 Nikusch<br />

4 Mertein, 3 Mert/Mertt, 1 Martine, 1 Mart, 1 Mertten<br />

10 Jacob, 3 Jakel, 1 Jokel<br />

7 Andre, 1 Anderl, 1 Enderll<br />

3.1.3 Auch bei den weiblichen Namen, die jedoch bei weitem nicht so eine<br />

bunte Skala wie die männlichen zeigen, überwiegen wie in den Zentralgebieten<br />

eindeutig verschiedene Varianten der biblischen Namen Katharina,<br />

Elisabeth, Margarethe, Dorothea, Anna und Agnes, zwei Frauen heißen<br />

Kunigund (geschrieben auch Kvnigund, Chunigund, Chwnigundis), vereinzelt<br />

erscheinen Augustine, Christein, Gerdrawt, Percht und Wentel:<br />

14 Kathrey/Katrey, 1 Katherina, 1 Katherine, 1 Katherey, 1 Gotrein<br />

12 Elsbeth/Elsbet, 4 Elspet, 1 Elisabeth, 1 Ersbeth<br />

2 Margret, 1 Margaretha, 3 Margareth, 1 Margeret<br />

3 Dorothee, 2 Dorothea, 2 Dorothe<br />

4 Agnes, 2 Angnes, 1 Angles<br />

33


34<br />

Mária Papsonová<br />

Nicht zu belegen sind die Namen der neuen Kirchenheiligen Joseph und<br />

Maria, die erst seit dem 16. Jh. an Verbreitung gewinnen (vgl. SCHWARZ<br />

1966: 1571; SEIBICKE 1985: 2156) und in der überwiegend katholischen<br />

Slowakei bis zur Gegenwart an der Spitze der häufigst getragenen Vornamen<br />

stehen (vgl. ĎURČO 2003: 137).<br />

3.2 Beinamen<br />

Als Beinamen werden bei geschichtlicher Betrachtung „solche Namen bezeichnet,<br />

die als zweite Namen zu Rufnamen treten, soweit sie noch individuell<br />

sind, d. h. noch nicht vererbt werden.“ (SCHWARZ 1966: 1574). Man<br />

spricht auch von zusätzlichen Namen, Zu- oder Nachnamen (SEIBICKE<br />

1982: 181). Auch wenn sie zusammen mit Rufnamen seit dem späten Mittelalter<br />

zu Familiennamen werden konnten, kann man in den Beinamen der<br />

untersuchten Zeit noch nicht Familiennamen selbst sehen. Wie bei den Heiligennamen<br />

sind auch in der Annahme der Doppelnamigkeit die oberitalienischen<br />

Städte führend. Über Südfrankreich erfasst diese Erscheinung seit<br />

dem 12. Jh. zuerst die großen rheinischen Städte. Im Laufe der folgenden<br />

drei Jahrhunderte wurde von Westen und Süden aus nach Osten und Norden<br />

fast ganz Deutschland davon erfasst (SCHWARZ 1966: 1573ff.;<br />

FLEISCHER 1964: 84 f.).<br />

Die Beinamen werden aus demselben sprachlichen Material wie die späteren<br />

Familiennamen gebildet, setzen also entweder alte Rufnamen fort oder<br />

verwenden die neuen Heiligennamen, sind Übernamen, Herkunfts- und Berufsnamen.<br />

Der Übergang ist fließend und nicht immer kann entschieden<br />

werden, ob es sich noch um einen individuellen Beinamen oder schon um<br />

einen erblichen Familiennamen handelt. Von diesem kann man erst sprechen,<br />

wenn die Erblichkeit feststeht, wenn also Geschwister denselben<br />

Beinamen tragen (AGRICOLA et al. 1970: 659). Dass dies im Preßburg des<br />

beginnenden 15. Jahrhunderts noch nicht immer der Fall ist, bezeugt eine<br />

Eintragung aus dem Jahre 1409, in der zwei Brüder mit verschiedenen unterscheidenden<br />

Zusätzen (Beinamen) erscheinen:<br />

Jt(em), Es sind fur vns kumen der vppig Janns an aym teil, vnser mitpurger, vnd fraw Katrey,<br />

Michels des Salczer witib an dem andern teil [...] nu hat der obgen(an)t vppig hanns gerugt auf<br />

dy selb(e)n weing(arten), di sein pruder Michel Salczer in der gen(an)t(en) fraw(e)n Katrein<br />

gewalt der arbitt hat. Nu hab wir dem egen(an)t(en) hannsen, des Michels prued(er), di vorben(an)t(en)<br />

erib weing(aren) zugesprochen [...] Vnd halber teil derselben weing(arten) den<br />

egen(an)t(en) vppigen hannsen, des egen(an)t(en) Michels prued(er) vnd auf sein erb(e)n. 37/3<br />

Daneben sind aber auch Geschwister mit dem gleichen Beinamen (Herkunft)<br />

nachzuweisen, um Brüder kann es sich auch in zwei weiteren Belegen<br />

(Herkunft, Beruf) handeln:<br />

Eigennamen im ältesten Stadtbuch von Preßburg (1402–1506)<br />

dassy schuldig sind den erb(ar)n Mathesen von Ach vnd Hansen von Ach [...] peyden geprud(er)n<br />

36/2<br />

das sy schuldig sind [...] gotharten von leyskirchen vnd Ernoten, peyde purg(er) zu Koln an<br />

dem Reyn; dy vorben(an)ten cholner 45/1<br />

Hanns Rvsenwerger [...] vnd sein gesell(e)n hanns vnd Fridreich Fleichschhakker 49/1<br />

Wie diese Textausschnitte zeigen, kann dieselbe Person bisweilen verschieden<br />

bezeichnet werden, da dem Schreiber mehrere Möglichkeiten dafür zur<br />

Verfügung standen, nicht nur der Beiname, sondern auch der Beruf, die<br />

Herkunft, das Verhältnis zu einer anderen Person usw.<br />

Man pflegt die Familiennamen einzuteilen in solche (1) aus Rufnamen, (2)<br />

nach der Wohnstätte, (3) nach der Herkunft, (4) nach dem Beruf, (5) aus<br />

Übernamen.<br />

3.2.1 Familiennamen aus Rufnamen<br />

Diese Gruppe von Doppelnamen im analysierten Textkorpus kann folgendermaßen<br />

charakterisiert werden: Bis auf wenige Ausnahmen (Christan/Cristan/Kristan,<br />

Franczel, Petrein) herrschen unter Zweitnamen eindeutig<br />

die germanisch-deutschen Rufnamen vor. Es handelt sich dabei um<br />

solche Namen, die in beiden Funktionen (als Rufnamen und Beinamen)<br />

überhaupt nicht oder nur vereinzelt (so Christan/Cristan/Kristan, Lamprecht,<br />

Mendel) nachzuweisen sind. Beide Namen stehen syntaktisch ungebunden<br />

und werden zuweilen auch zusammen geschrieben, vgl:<br />

Anderl günther vnd all sein Erb(e)n 5/3, der erber man Andregunther, vnser mitgeswarner<br />

Purg(e)r; den obgenante(n) Andre guntther; derselb andreguntther 37/1, Jacob christan; der<br />

vorbenant Jacobchristan/Jacobkristan 33/3.<br />

Wie bei den Rufnamen sind auch in der Funktion des Beinamens Ableitungen<br />

mit -(e)l und -lein beurkundet. Von der Instabilität des Zweitnamens<br />

zeugen verschiedene für dieselbe Person verwendete Varianten wie paul<br />

Mendel; paul Meindel; des egenan(ten) Paul Meindels; Dem selb(e)n paul<br />

Maindlein 7.<br />

Die Zugehörigkeit zu derselben sprachlichen Kategorie (Namenklasse)<br />

kommt auch darin zum Ausdruck, dass beide Glieder des Doppelnamens in<br />

obliquen Kasus dekliniert werden können, wobei der Vorname meist<br />

schwache Formen aufweist, während beim Nachnamen beide Deklinationsweisen<br />

festzustellen sind. Bei mehrmaliger Nennung derselben Person werden<br />

nicht nur die fakultativen Zusatzelemente (Angehörigkeit zur Stadtgemeinde,<br />

Funktion im Ratsgremium, Wohnort etc.), sondern oft auch ein<br />

Glied des Doppelnamens weggelassen:<br />

35


36<br />

Mária Papsonová<br />

Stephel parchtold, vns(er) mitpurg(er) 10/2, zenest hanns perchtholds haws 35/2, zenest Hanns<br />

Pertolds weing(arten) 40/1, zenest hansen des p(er)chtolden weingarte(n) 43, gelten schullen<br />

Hansen perchtolden 31/1<br />

nikl leopold (Nom.); des obgen(an)t(en) Nikl leopolds hausfr(au); dem vorbenante(n) [...] nikl<br />

leopolden 38/1<br />

dem Erb(ar)n Simon Engelbrecht, purg(er) cze chollen; dem vorgena(n)ten Symon Engelbrecht;<br />

dem selb(e)n Symon 31/2, schuldig ist Symon Engelbrechten Kolner; dem [...] Symon<br />

Engelbrechten; dem egen(an)ten engelbrechten; der vorben(an)t Symon engelbrecht 50/2<br />

Jacob wietreich von koll(e)n; dem obgenant(en) wietreich; der selbig Jacob witreich 34/1<br />

Die mit -man als Zweitglied gebildeten Rufnamen und patronymischen Bildungen<br />

(Ableitungen) können dem vorausgehenden Namen mit dem bestimmten<br />

Artikel angeschlossen werden:<br />

der egenant peter herman; petrein den herman (Akk.) 14/1<br />

Jorig Kunczelman von Dynkkelspurch; derselb Jorig Kunczelman; demselb(e)n Kvnczelman,<br />

Jorig genant; wider den obgen(an)t(en) Kunczelman, Jorig genant 42/2, mit dem [...] Jorigen<br />

dem Kvnczelman; mit dem obgen(an)t(en) Jorigen dem Kvnczelman; dem […] Jorgen dem<br />

chvnczelman 42/3<br />

3.2.1.1. Nur mit einem Namen (Rufnamen) treten in analysierten Texten<br />

fast immer die Pfarrer auf, was nach Schwarz (1966: 1575) jedoch nicht<br />

heißen muss, „dass sie keinen Familiennamen geführt haben, sondern dass<br />

dieser nicht als notwendig empfunden wurde, weil die Beisetzung des Titels<br />

genügte.“ Neben der im nachgestellten Zusatz bestimmten Standeszugehörigkeit<br />

wird dem Einzelnamen das Substantiv her(r), zuweilen auch das Adjektiv<br />

erbar vorangestellt. Solche Angaben, die die gesellschaftliche Stellung<br />

der genannten Person ausdrücken (SPÁČILOVÁ 2000: 93), sind als<br />

Titel vor allem bei Personen zu bezeugen, die ein besonderes Ansehen genießen,<br />

wie Bürgermeister und Geschworene (s. o. 37/1), Bischof, Großrat<br />

(s. u. 3.2.4):<br />

her Erhard, des laytner Capplan czu wyenn 5/1, her(r)en Martem, pharrer czu sand Mertem<br />

(Dat.) 5/2, vor ainem Erb(ar)n priest(er), h(err)n lorenczen, phrwentn(er) czu sand lorenczen<br />

Kirchen, seinem peycht vater, vnd vor and(er)n Erbern Hausgenassen 12, Her Stephan, pawmeister<br />

vnd Korherr zu sand mertten Kirichen zu prespurch, auch pharre zu sand Larenzen<br />

daselbs; der obgen(an)t her Stephan 44/2 zenest hern Stephan, dy zeit pharrer zu sand Michels,<br />

weingarten zu prespurch 47/2, Her Stephan, Korherre vnd pharrer zu sant larenczen Kirichen<br />

von der Stat zu prespurch; der egen(an)t her Stephan 48/1<br />

Nur vereinzelt (bei der Lageangabe) erscheint allein der Titel ohne Namen:<br />

cze negst des phaffen auff dem steyg 33/1, zenest des pharrer weing(arten)<br />

vo(n) sand Mertten 37/1.<br />

3.2.1.2 Wenn die Bürger nur mit einem Namen genannt werden (oft ebenfalls<br />

bei Lagenagabe), handelt es sich um seltene Rufnamen, die als erste<br />

Namenbestandteile nicht nachzuweisen sind, vgl.:<br />

Eigennamen im ältesten Stadtbuch von Preßburg (1402–1506)<br />

czwissen Stephel des Ledror weing(ar)ten vnd des p(er)nhartels; wenn dy Runssen (= FlurN)<br />

Stephel den ledrer vnd den pernharden an gehöret 5/3, Jostel, vnser mit gesworen purg(er) vnd<br />

Fraw Anna, sein haws Fraw; dem egenanten Jostel, Irem chan man; der egenant Jöstel; zu<br />

nechst ainthalb(e)n des hartmans weingarten 13, zu nechst des lienhard(e)n hause 26/1, zu nest<br />

des Waczlab(e)n hause 31/1, La(m)precht, vnser mitpurg(er) vnd katherey, sein Hawsfraw;<br />

dem selbig(e)n lamprecht 31/2, ainthalb(e)n zenest des veytleins haws; zenest des Jobsts<br />

weing(arten) 49/2<br />

Nur mit dem Rufnamen erscheint auch der in einer knappen Eintragung auf<br />

Fol. 21 genannte Übeltäter (Mich(el), vor dem selb(e)n Micheln 21/2).<br />

3.2.1.3 Die Sonderstellung der jüdischen Bürger innerhalb der soziologischen<br />

Schichtung des Spätmittelalters zeigt sich auch darin, dass sie keinen<br />

Beinamen tragen. Bei der Erstnennung wird dem Namen immer die Bezeichnung<br />

„Jude“ beigefügt. In diesem Zusammenhang ist jedoch hervorzuheben,<br />

dass bereits das Stadtprivileg für Preßburg aus dem Jahr 1291 eine<br />

Regelung enthält, laut der die Juden den anderen Bürgern gleichgestellt<br />

werden (vgl. ZIEGLER 1999: 10):<br />

czu nechst des Juden heff 11/1, choler, der Jude; der egen(nannte) Jude; der egen(nannte)<br />

koler, der Jude 13, Eysakch von Galicz, der Jwde, Die czeit cze presspurg gesessen; der obgenan(n)t<br />

Eysakch; der selbig eysakch 33/1<br />

3.2.1.4 Zur Unterscheidung zwischen älterer und jüngerer Generation werden<br />

die flektierten attributiven Zusätze alt und jung verwendet. Diese Zusätze<br />

sind aber nicht auf Rufnamen beschränkt; sie können auch vor andere<br />

Personennamen, so vor Berufsbezeichnungen, treten und sind kaum von<br />

Übernamen mit solchen adjektivischen Attributen zu trennen wie lang, wenig,<br />

üppig (SEIBICKE 1982: 185, Beispiele s. o. 3.2 und u. 3.2.5.1). Als<br />

Übernamen werden auch die mit dem Suffix -er der stark flektierten Adjektive<br />

gebildeten Verbindungen (Junker Petrein) gewertet (AGRICOLA et al.<br />

1970: 667):<br />

ainthalb(e)n czu nechst des Jungen Goczen hause vnd anderthalb(e)n czu nechst der Alten<br />

meindlin hause 7, der Alt gotz vnd Jacob göcz, sein Sun, patron der phrwent 14/1, dem alt(e)n<br />

goczen 26/2, der Alt Gebhard; auf den egen(an)t(en) gebharten 44/1.<br />

Aber: von Junkcher pertleins […] gescheft weg(e)n 44/2, zenest Junkcher petreins Haws 47/1<br />

(unflektiert).<br />

3.2.1. Familiennamen nach der Wohnstätte<br />

Beispiele für diese jüngste Namengruppe (AGRICOLA et al. 1970: 679;<br />

FLEISCHER 1964: 160) sind im analysierten Teil des ältesten Stadtbuchs<br />

von Preßburg nur spärlich zu belegen. Beinamen, die die Lage der Wohnstätte<br />

innerhalb der Stadt angeben, enthalten die Präpositionen an und bei,<br />

37


38<br />

Mária Papsonová<br />

die mit ihnen eingeleiteten attributiven Zusätze werden stets mit dem Artikel<br />

verwendet. Rufname + Präp. + Art. + Örtlichkeitsbezeichnung:<br />

hans, der Merteins sun am markcht; der egenant hans, der Merteins sun amb Markcht 11/2,<br />

Partel pey dem vischer türm(e)l vnd Elsbeth, sein hausfraw; vnd hab(e)n In do fur zu phant<br />

gesatzt Ir hause, geleg(e)n pey dem vischer türm(e)l 19/1, Nikusch bey dem tor, vnser mitpurg(er);<br />

der obgen(an)t Nikusch pey dem tor 50/2<br />

Ohne genaue Lokalkenntnis ist jedoch die Zuordnung von manchen<br />

Beinamen (Wohnlage? Herkunft?) kaum möglich, so z. B.: fridreichs von<br />

Scharfenek 11/1, Eberhart wynndek 42/3, eberhart windek, vns(er) mitburg(er)<br />

44/2, hanns vom Dikch; dem obgen(an)t(en) hansen vom Dikch<br />

41/1, Hanns vom Dikch, purg(er) zu Koln am Rein; des Johanns brief vom<br />

Dikch; Johan vom dikch 44/3.<br />

3.2.2 Familiennamen nach der Herkunft<br />

Häufiger zu belegen sind Beinamen, die Zugezogene nach ihrem Herkunftsort<br />

oder -land bezeichnen. In dieser Gruppe sind Namen vertreten, die<br />

auf einen Volks-, Stammes- oder Ländernamen zurückgehen, und solche, in<br />

denen ein Ortsname enthalten ist.<br />

Benennungen, die die Volks- oder Stammeszugehörigkeit enthalten, stehen<br />

im Nominativ syntaktisch ungebunden, in den obliquen Kasus werden sie<br />

dem Rufnamen mit dem Artikel angeschlossen. Der auf Bayern zurückgehende<br />

Name (29/1) erscheint mit dem Diminutivsuffix -l.<br />

Rufname + (Art.) + abgeleitete Personenbezeichnung:<br />

Nikel swab, Elsbeth, sein hawsfraw 20, zu nechst des lorenczen galicz(er) weing(ar)ten 26/1,<br />

Hansel payerl; hens(e)l payerl vn(d) Dorothea, sein(er) hawsfraw güter 29/1, Jacob walich,<br />

vns(er) mitpurg(er); der vorben(an)t Jacob walich; derselb Jacob 38/2, mit Symon dem vng(er)<br />

42/2, wy das er ein haws v(er)chaufft hat [...] philippen dem Behem, vns(er)m mitp(ur)g(er) zu<br />

prespurch, vnd elspeten, seiner hausfr(au) 44/2, Jorig Behem; den oftgen(an)ten Jorigen 46/1,<br />

Fraw Gerdrawt, weylent hannsen des Frankche(n) hausfr(au) 48/2<br />

3.2.3.2 Unter den Orten, die die Herkunft der benannten Person bezeichnen,<br />

überwiegen die mit dem Grundwort -dorf gebildeten Siedlungsnamen, die<br />

sich höchstwahrscheinlich auf das Einzugsgebiet der Stadt beziehen<br />

(SCHWARZ 1957: 1578). Die Herkunftsangabe wird mit der Präposition<br />

von angeschlossen, daneben stehen aber auch die für das Oberdeutsche charakteristischen<br />

Bildungen mit dem Suffix -er (SEIBICKE 1985: 2159;<br />

FLEISCHER 1964: 109 f.), denen in obliquen Kasus der Artikel vorangestellt<br />

wird.<br />

Rufname + von + Ortsname:<br />

philipp von Schroffendorff, ain geswaren purg(er) 5/2, phillip von Scherffendorff; den<br />

egen(anten) philippen von scherffendorff 10/1, Margareth, hanses von Rorenpach hawsfraw<br />

Eigennamen im ältesten Stadtbuch von Preßburg (1402–1506)<br />

15, philippen von Scharffendorff (Akk.) 16, gelt(e)n schull(e)n hansen von Mayncz; dem hansen<br />

von Maincz vnd dem Arkenstein (Wohnstätte?) 17/2, wll von Cusz Vnd chwnigu(n)dis, sein<br />

hausfraw 32, Hawg von Rupperstorff, di zeit gesessen zu Newnwurch marct (Neuenburg ?);<br />

hincz dem egen(an)t(en) hawge(n) 38/2<br />

Rufname + (Art.) + Einwohnerbezeichnung:<br />

Hanns schonndorffer 26/2, von Hinrrych dem Kollner; der Kolner vorgeschrib(e)n 29/1, peter<br />

Redendorff(er) 38/1, zenest hannsen des marichekker haws 44/2, der erber man fridreich haberstorffer,<br />

Vns(er) mitp(ur)g(er) vnd Margret, sein hausfr(au) 45/1, Fraw Dorothee, lorentz<br />

des Rosenwerg(er) witib, vnser mitp(ur)gerinn 47/1, Hanns Rvsenwerger, vns(er) mitpurg(er)<br />

49/1, anderthalb(e)n zenest Hannsen des Rosenwerg(er) haws 49/2<br />

Nur der vereinzelt belegte Ortsname auf -feld steht syntaktisch ungebunden:<br />

(Rufname + Ortsname):<br />

czu nechst hansen sachsenfeld haus 11/1, Hanns Sachssenfeld, vnser mitpurg(er), vnd elspet,<br />

sein hausfraw 36/2.<br />

Mit der Präposition aus wird der Zusatz aus der Schutt verwendet, der nicht<br />

auf einen Orts-, sondern auf einen Raumnamen zurückgeht (Schütt – zwei<br />

Inseln der Donau zwischen Preßburg und Komorn/Komárno): Caspar aus<br />

der Schut; der egen(nannte) Caspar 9/1, zenest pawrn weing(arten) aus der<br />

Schutt 48/2.<br />

Zu belegen sind aber auch Namen, deren formale Zusammensetzung darauf<br />

hindeutet, dass zur Identifizierung der Personen mindestens zwei der genannten<br />

Bildungsweisen verwendet werden (vgl. auch o. dem hansen von<br />

Maincz vnd dem Arkenstein 17/2):<br />

Nikel pechem von Reykendorff(er) vn(d) Agnes, sein hawsfraw; von dem egenante(n) Nikl pechem<br />

vn(d) Agnes, sein(er) hawsfrawen 23, pravn von lechnich Kolner; der praun; dem praun<br />

25/1, praun von lechnich, dem chölner 25/2, Brawn von lachnik, pug(er) cze Kolle(e)n; dem<br />

obgenan(n)t Brawn Koln(e)r; der obgenan(n)t Brwn 34/2, gegen Hanns Trosperch von Nürnwerch;<br />

derselbe Hanns Trosperch 40/1, dem Augustine lebyczer von olmuncz; der vorbenant<br />

augustine 47/2.<br />

Als fakultativer Zusatz sind schließlich die Angaben zur Herkunft – vor<br />

allem bei der Erstnennung der von weit her Stammenden – bei allen Namengruppen<br />

nachzuweisen.<br />

3.2.4 Familiennamen aus Berufsbezeichnungen<br />

Zusammen mit den Übernamen stellen die Charakteristika, die die soziale<br />

(wirtschaftliche, rechtliche) Position einer Person und ihrer Familie innerhalb<br />

der spätmittelalterlichen Gemeinschaft angeben, die umfangreichste<br />

Gruppe der Beinamen dar. Die beurkundeten, oft speziellen Berufsbezeichnungen<br />

zeugen von der hohen wirtschaftlichen Entwicklungsstufe der Stadt,<br />

die im Mittelalter zu den wichtigsten Zentren des Handels und der hand-<br />

39


40<br />

Mária Papsonová<br />

werklichen Produktion auf dem Gebiet der heutigen Slowakei zählte<br />

(ŠPIESZ 1972: 21).<br />

3.2.4.1 Echte Berufsbezeichnungen bzw. Beinamen, die andere Erwerbstätigkeiten<br />

bezeichnen, können ohne syntaktische Bindung stehen, oft wird<br />

aber auch noch der Artikel gebraucht, der ursprünglich in den appellativischen<br />

Zusätzen dazugehörte. Dieser wird entweder dem Beinamen oder<br />

dem Gesamtnamen vorangestellt. In den obliquen Kasus können beide<br />

Glieder des Doppelnamens unflektiert stehen, in anderen Fällen wird nur<br />

der Rufname (stark oder schwach) bzw. – viel seltener – nur der Berufsname<br />

(wie das entsprechende Apellativum) dekliniert, es sind aber auch Doppelnamen<br />

zu belegen, deren beide Glieder die starken Genitivflexive aufweisen:<br />

Rufname + Berufsbezeichnung:<br />

von des egen(anten) hansen waldchnecht wegen 12, peter Drescher vnd Chwnigund, sein<br />

hawsfraw 14/2, hans mülier 21, Stephel pinter vnd Agnes, sein hawsfraw 22/2, zu nechst paul<br />

fleischhakker wein(ar)ten 29/1, Lamprecht gurteler; der selbig lamprecht 34/1, Stephan puchler<br />

Vnd Jacob hawer 36/1, Michel Hamwot, vnser mitpurg(er) 39/2, zenest Michels Salcz(er)<br />

weingarte(n) 43, zenest Niklas des alt(e)n wagn(er) haws, anderthalb(e)n zenest Desselb(e)n<br />

Niklas wagn(er) Sun haws 50/1 u. a. m.<br />

(Art.) + Rufname + (Art.) + Berufsbezeichnung:<br />

der Erber man Dyetreich der lainwoter; des egen(anten) Dytel lainwoter 5/1, Mendel der<br />

wachsgiesser; dy fraw Kathrey, des Mendel wachsgiesser hausfraw 9/2, zu nechst hansen des<br />

mülner weingarten 13, herre hans der maurer; der egenant Hans(e)l Nepawer; hansel den<br />

Nepaw(er) 14/1 pet(er) pawer; der pet(er) pawer; czissen (‚zwischen‘) hansen kerner hause<br />

vnd peter pawern hause 29/2, Lamprecht der peysser 35/2, Stephan Wotzner, des egen(anten)<br />

hannsen des Wotzner vater 38/1, aber auch: cze nagst des leynharts waltknechts weingart(e)n<br />

32, czu nechst Mertts des smides weing(ar)ten 22/1.<br />

Wie in anderen Gruppen werden dem Doppelnamen bei der Erstnennung oft<br />

auch fakultative Herkunftsangaben nachgestellt:<br />

Andre der pletner von wyenn vnd Fraw Elsbeth, hanses des waldchnecht, dem got genade<br />

witibe; der egenant Andre pletner 12 Jakob cholbel von gmunden 17/3, hincz hansen haymwach<br />

kolner; derselb Hanns haymwach; vber desselb(e)n hansein des haymwachs geltschult<br />

39/1, hanns heymwach Koln(er); der vorbenant hanns heymwach 41/2, vlreich fleischhakker<br />

von Schakkenstorf; der erber man Rudel pawr, weylent gesessen zu Schakenstorff 39/2.<br />

(Der in zwei Eintragungen bezeugte Zweitname heimwach könnte als<br />

‚Dorfwächter‘, aber auch als ‚Dorfbach‘ gedeutet werden, das letztere würde<br />

demnach eher auf eine Wohnstätte hinweisen.)<br />

Mit Hilfe von solchen Zusätzen werden auch die Besitzer der in der Stadt<br />

bzw. ihrer nächsten Umgebung gelegenen Mühlen unterschieden, vgl. zenest<br />

des Muln(er) weing(arten) von pistritz 40/1, 43 (in beiden Eintragun-<br />

Eigennamen im ältesten Stadtbuch von Preßburg (1402–1506)<br />

gen identisch!), petrvl mulner von musschans dorff 47/1. Davon, dass die zu<br />

Beginn des 15. Jahrhunderts in Preßburg als Beinamen verwendeten Berufsbezeichnungen<br />

eher noch an die einzelne Person und ihre jeweilige Berufstätigkeit<br />

gebunden sind, zeugt auch das auf fol. 21 verzeichnete geschefft,<br />

Ddas hans mülier dem got genade getan hat […] It(em) seinen<br />

chindlein czwain hat er geschafft di mul der weydricz sowie czway tail an<br />

der Tunaw mül vnd den dritten tayl seiner hawsfrawen.<br />

Umgekehrt kann zur Unterscheidung von zwei Personen mit demselben<br />

Beinamen der Beruf als zusätzliche Angabe appositionell nachgestellt werden:<br />

wl kolman, der Visch(er) 30/2, fraw Angles, des alten Kolman, des<br />

pekchen, hausfraw 40/2.<br />

Stellvertretend für weitere zahlreiche Berufe und Berufsbezeichnungen, die<br />

im ältesten Stadtbuch von Preßburg nachzuweisen sind, sollen hier noch<br />

diejenigen Beinamen genannt werden, die mit dem Weinbau und Weinausschank<br />

zusammenhängen und auf die Bedeutung dieser Erwerbstätigkeit in<br />

der Stadt hinweisen:<br />

paul spicz(er) (mhd. spitzer = der die Weinbergpfäle zuspitzt) 6/1, Hanns Dauher 17/2, Vlrich<br />

der dawher 32, Vlrich dawher, vnser mitpurg(er) 39/1, vll Dawher, vnser mitp(ur)g(er) 40/1,<br />

der vorbenant vlreich dawher 43 (mhd. den wîn dûhen = keltern), hans der leitgob; hansen<br />

dem leitgeb 33/2 (mhd. lîtgebe = Schenkwirt), vlreichs [...] des Hongler 36/2, zenest Hannsen<br />

Des Hengeweyner Weing(arten) 46/2 (mhd. hengeler = Weinziher, Weinruffer, Hengler), Peter<br />

weynwachter, vns(er) mitwoner 47/2.<br />

Bei hochgestellten weltlichen und geistlichen Personen wird in der Funktion<br />

des Beinamens das ausgeübte Amt angegeben. Dies betrifft zwei in den Eintragungen<br />

wiederholt als Gläubige auftretende, aus Köln stammende Patrizier,<br />

deren Namen bei der Erstnennung Adjektive und Substantive vorangestellt<br />

werden, die Ehrerbietung ausdrücken. Der fakultative Zusatz zur<br />

Herkunft wird entweder mit den Präpositionen von und zu angeschlossen<br />

oder durch eine Ableitung mit -er ersetzt:<br />

dem Erb(ar)n man Cristan Grossrat, purg(er) zu Chölln an dem Reyn; der egen(nannte) Cristan<br />

19/1, Cristan grossrat, Dem Chölner; der egen(nannte) Cristan 22/1, dem Erb(ar)n<br />

man(n)e Cristan Grossratt, purg(er) von Chollen; der obgena(n)te Cristan greissratt 32;<br />

Jacob Bisscholff von Koln; der obgenant Jacob Bisscholff; derselb Jacob 40/1, dem erbern<br />

mann Jacoben dem pisscholff, p(ur)g(er) zu Koln; derselb Jacob pisscholff 43<br />

3.2.4.2 Zu dieser Gruppe von Beinamen gehören auch die spärlich bezeugten<br />

mittelbaren (metaphorischen, metonymischen) Berufsbezeichnungen wie hansel<br />

molfleysch 14/1, hans(e)l Sygel 14/2 Stephan Spendlein 36/1, fraw Anna,<br />

Seydleins von weyden Witib 48/1, Seydlglymph, vns(er) mitp(ur)g(er) 49/1<br />

sowie der einzige in zwei Eintragungen des analysierten Materials anzutreffende<br />

Satzname: hans eylaussemrokch 33/2, zenest Joh(a)ns des eylausdem<br />

Rokchs haws 47/1.<br />

41


42<br />

Mária Papsonová<br />

Übrigens könnte man die mittelbaren Berufsnamen durchaus auch der<br />

Gruppe 5 zuschlagen: So wie die Übernamen machen sie deutlich, „wie sehr<br />

die Namengebung – oder besser: die Fixierung einer Bezeichnung als Name<br />

für eine Person und deren Familie – von der umgebenden Gemeinschaft<br />

abhing oder zumindest mitbestimmt wurde.“ (SEIBICKE 1982: 191 f.).<br />

3.2.5 Familiennamen aus Übernamen<br />

Sehr bunt ist die Gruppe der Beinamen, die ursprünglich den heutigen<br />

Spitznamen entsprechen und dem Menschen nach seinen auffallenden körperlichen<br />

oder geistigen Eigenschaften von seinen Mitbürgern gegeben<br />

wurden. Bei den dafür benutzten Wortarten überwiegen Substantive und<br />

Adjektive.<br />

3.2.5.1 Die Adjektive werden sowohl attributiv als auch – mit Substantivierung<br />

– in appositioneller Nachstellung mit dem Rufnamen verbunden, wobei<br />

in beiden Positionen auch der Artikel stehen kann. In den obliquen Kasus<br />

flektiert das Adjektiv schwach, nur vereinzelt sind auch unflektierte<br />

oder starkflektierte Formen nachzuweisen.<br />

Adj.–attribut + Rufname:<br />

dy im (nun?) des langen hansleins, des fleysch hakker von Turnaw hawsfraw ist 7, zu nechst<br />

[...] des swarczen wllein weing(ar)ten 20, der wenig hans(e)l; dem wenig(e)n henslein 30/1,<br />

der oftgenant wenig Rudl; hintz dem egenante(n) rudlein dem wenigen 37/1, vppig Janns; den<br />

egen(an)t(en) vppigen hannsen (Dat.) 37/3, dem Schonn Jacobn von wienn 48/2<br />

Rufname + Apposition:<br />

di Nu hansel des slechtn hawsfraw ist 19/2, anderthalben des Jorgen Froleich weingarte(n)<br />

26/2, hanns Swynden, purg(er) zu Koln am Rein (Dat.) 40/1, zenest Moritz des Kuellen<br />

weing(arten) 40/1, zenest Moritzen des chuellen weingarten 43, Hanns Swynnd Kolner; demselben<br />

Hanns Swinden 43, frawn angnesen vater, genant Hanns vneer, vnderkeuffel zu wienn<br />

37/1, Hanns Kraws, vns(er) mitp(ur)g(er) 45/2, zenest Hanns Reynes weing(arten) 46/2<br />

Stets mit Artikel und unflektiert ist das Stoffadjektiv gulden bezeugt:<br />

der Gulden Jorig; der gulden jorig 32, zenest Jorgein des guldein weingarte(n) 36/1, am Andern<br />

teil des guld(en) Jorgeins weing(arten) 37/1.<br />

Nur in appositioneller Nachstellung erscheint das ursprüngliche Partizipium<br />

unverricht:<br />

Hans vnu(er)richt 9/2, cze nagst des vnu(er)richts wey(n)gart(e)n 32.<br />

Sowohl auf ein Adjektiv als auch auf ein schwaches Maskulinum kann der<br />

Zuname Czach (mhd. zâch) zurückgehen: Michel, Des czachen sun von posing;<br />

der egen(nannte) Mich(el) czach, dem […] Micheln Dem czachen 8.<br />

Eigennamen im ältesten Stadtbuch von Preßburg (1402–1506)<br />

3.2.5.2 Unter den als Übernamen beurkundeten Substantiven sind sowohl<br />

Simplizia als auch Ableitungen und Zusammensetzungen vertreten. In den<br />

meisten Fällen werden sie dem Rufnamen syntaktisch ungebunden und unflektiert<br />

nachgestellt, Bildungen wie Stawenantel 22/1, des kaczrwdleins 32,<br />

Hupphel Janusch 35/3, schad enderll/schadenderll 36/3 stellen eher eine<br />

Ausnahme dar:<br />

Reindel der Sneknoll 6/1, hans paskert von chrachau 10/1, der Erber man Vlr(ich) Rauhenworter,<br />

vns(er) Stat Richter; des egen(anten) Vlr(ich) Rauhenworter 10/2, petrein dem hayden 13,<br />

lorencz kappfar 15, hans(e)l Rauhenworter; Elsbeth, die hansel den Rauhenworten zu ainem<br />

chan man gehabt hat 16 (auch 15, 41/1), dem Erb(ar)n man Niclasen dem hundler vnd […]<br />

petrein dem list 11/1, vlr(ich) Kyczmag(e)l 16, 17/1, von peter czetswasser 18/1, dem […]<br />

Mendlein dem Munklein 24, Vlreich Rokkengarb 25/2, dem Erb(ar)n man Mertein dem protess(er)<br />

26/1, des Nikel lamp Witib 30/1, Stephel polpparcz 30/2, hanns straubenpart 31/1<br />

Jacob frawnkind 36/1, Conrad Kyczmagen, di zeit p(ur)germeist(er) 4l/1, Niclas dem pleykroph<br />

42/1, Vlreichs des Rokkengeribs Weing(arten) 45/2, Pet(er) Munich, vns(er)<br />

mitp(ur)g(er) 46/1, zenest hannsen des hyerssen haws 46/2, zenest Nykleins des fullenwolfs<br />

haws 48/1, zenest Michels des Varbueben weing(arten) 49/1 u.a.<br />

Nur vereinzelt ist die Ableitung mit -man (And(re) trautman 15), eine adverbiale<br />

Fügung (zenest des vornneben weing(arten) 46/2) bzw. Satznamen<br />

(Rantschaus 6, Vlreich vanh(er)nwinter 33/1) nachzuweisen, wobei sich bei<br />

dem letztgenannten Beleg auch um einen Herkunfts- oder Wohnstattnamen<br />

handeln könnte. Das gleiche gilt für Beinamen wie Johannes Schachen<br />

(Gen.) 15, Ffrancz lindel 26/1, Steph(e)l wisenring 30/1.<br />

In anderen Fällen können wiederum ein Berufsname und ein Übername<br />

konkurrieren, so z. B.:<br />

hansen dem lachwtel 5/2, hansen dem lachutel 11/1, cze negst des lachhwtleyns haws 33/1<br />

pet(er) aysfandel 9, der Störenvogel czu sand Merteins Kirch(e)n 11/2, Vlreich härtel / vlr(ich)<br />

hart(e)l 23, heinr(ich) Rek von Nürenberg 25, Mert Wadelsnitz(er); vll Smelczel 41/3,<br />

Heinr(ich) dem Fikelscherer, purg(er) zu Nurnwerch 49/1.<br />

Der eindeutigen Erklärung entziehen sich auch Namen wie vlrich, des Schekenhon(er)<br />

Svn von Regenspurgkch 17/3, Jacoben dem oberhoner, Burg(er)<br />

zu Regenspurkch 35/2 u. a. m.<br />

Auch wenn manche Erklärung im gegenwärtigen Stadium noch offen gelassen<br />

werden muss, bestätigen bereits die ersten Untersuchungsergebnisse die<br />

bekannte Tatsache, dass Stadtbücher eine einmalige Quelle für historisch<br />

ausgerichtete onomastische Forschungen darstellen. Das im ältesten Stadtbuch<br />

von Preßburg erhobene Namenmaterial zeichnet sich durch eine große<br />

Variabilität und durch Konkurrenzen verschiedener Art aus. Es zeugt davon,<br />

dass sich im Preßburg des angehenden 15. Jahrhunderts die Zweinamigkeit<br />

durchsetzt, die Beinamen sind jedoch noch nicht fest. Einen über-<br />

43


44<br />

Mária Papsonová<br />

zeugenden Beweis dafür, dass die eigentliche Identifikationsfunktion immer<br />

noch dem Rufnamen zukommt, bringt eine Eintragung auf fol. 18: Der<br />

Mann, der Nikel hieß, sich aber Hensel genannt hat, wird u. A. dafür bestraft,<br />

dass er seinen (Ruf)Namen willkürlich geändert hat. Anstelle des<br />

Beinamens steht einmal ein Rufname (Pal) mit der Herkunftsangabe, einmal<br />

sein Beruf (dies ergibt sich eindeutig aus dem Text; mhd. nâchrichter –<br />

Scharfrichter, Henker; Scherge, Gerichtsdiener), bei dritter Nennung wird<br />

lediglich der Herkunftsort angegeben:<br />

Vonn hensel des Nachrichter weg(e)n, der sich Nikel pal hayst von sigerhartsdorff.<br />

It(em) wir hab(en) Nikel von Sigharczdorff Jn vnser fenknucz gehabt Dar vmb, Das er sich<br />

hensel genennet hat vnd hat gefangen aus gelassen vnd hat sein frumes weib siczen lassen Jn<br />

vns(er) Stat vnd hat offenleichen pey den hurren gewaltiget […] Auch hat er an vnsern will(e)n<br />

di lewte gemaulpaut, geslag(e)n vnd wbel erczogn noch seinem muet wider recht.<br />

Literatur<br />

AGRICOLA et al. (1970): Die deutsche Sprache – Kleine Enzyklopädie.<br />

Hrsg. von E. Agricola, W. Fleischer, H. Protze unter Mitwirkung von W.<br />

Ebert. 2. Band (6. Deutsche Namenkunde). Leipzig: VEB Bibliographisches<br />

Institut, 647–684.<br />

ĎURČO, Peter (2003): Deutsche Familiennamen in der Slowakei oder was<br />

kann ein elektronisches Namenkorpus der Anthroponymieforschung anbieten.<br />

– In: A. Greule, J. Meier (Hrsg): Deutsche Sprache in der Slowakei.<br />

Wien: Edition Prasens, 137–146.<br />

FLEISCHER, Wolfgang (1964): Die deutschen Personennamen. Geschichte,<br />

Bildung und Bedeutung. Berlin: Bibliographisches Institut.<br />

KOSS, Gerhard (2002): Namenforschung. Eine Einführung in die Onomastik.<br />

Tübingen: Niemeyer.<br />

NAUMANN, Horst (2000): Eigennamen im Frühneuhochdeutschen in<br />

Grimma. – In: Germanistisches Jahrbuch Ostrava/Erfurt (Literaturwissenschaft,<br />

Linguistik, Publizistik). Ostrava: Universitas Ostraviensis Facultas<br />

Philosophica, 19–25.<br />

PIIRAINEN, Ilpo Tapani (1996): Das älteste Stadtbuch von Preßburg/Bratislava<br />

aus den Jahren 1402–1506. Ein Beitrag zum Frühneuhochdeutschen<br />

in der Slowakei. – In: Neuphilologische Mitteilungen 2 XCVII.<br />

Helsinki, 231–236.<br />

Eigennamen im ältesten Stadtbuch von Preßburg (1402–1506)<br />

SCHWARZ, Ernst ( 2 1966): Orts- und Personennamen. – In: Deutsche Philologie<br />

in Aufriss. Hrsg. von W. Stammler. Berlin: Erich Schmidt Verlag,<br />

Sp. 1523–1598.<br />

SEIBICKE, Wilfried (1982): Die Personennamen im Deutschen. Berlin/New<br />

York: de Gruyter.<br />

SEIBICKE, Wilfried (1985): Überblick über Geschichte und Typen der<br />

deutschen Personennamen. – In: W. Besch, O. Reichmann, S. Sonderegger<br />

(Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen<br />

Sprache und ihrer Erforschung. 2. Teilb. (Handbücher zur Sprach- und<br />

Kommunikationswissenschaft 2.2). Berlin, New York: de Gruyter, 2148–<br />

2163.<br />

SONDEREGGER, Stefan (1985): Terminologie, Gegenstand und interdisziplinärer<br />

Bezug der Namengeschichte. – In: Handbücher zur Sprach- und<br />

Kommunikationswissenschaft 2.2. Berlin, New York: de Gruyter, 2067–<br />

2087.<br />

SPÁČILOVÁ, Libuše (2000): Deutsche Testamente von Olmützer Bürgern.<br />

Entwicklung einer Textsorte in der Olmützer Stadtkanzlei in den Jahren<br />

1416–1566 (= Schriften zur diachronen Sprachwissenschaft 9). Wien: Edition<br />

Praesens.<br />

ŠPIESZ, Anton (1983): Remeslá, cechy a manufaktúry na Slovensku<br />

[Handwerke, Zünfte und Manufakturen in der Slowakei]. Martin: Osveta.<br />

45


Zur Sprache der Gerichtsordnung von 1581 für die Stadt Haid<br />

(Bor u Tachova)<br />

Hildegard Boková<br />

1. Einleitung<br />

In seiner Untersuchung des Egerer Urgichtenbuches schreibt der Jubilar<br />

Emil Skála auf S. LI der Einleitung:<br />

[...] daß [...] Orte in der Tschechoslowakei, große und kleine, im frühneuhochdeutschen Mosaik<br />

zum Gesamtbild dieser Epoche der deutschen Schriftsprache erheblich beitragen können.<br />

Die Tschechoslowakei ist für das Frühneuhochdeutsche ein ideales Land der Mitte zwischen<br />

dem Norden und Süden mit einer dynamischen Entwicklung. (SKÁLA 1972)<br />

Diese Feststellung, inzwischen vielfach bestätigt durch zahlreiche Untersuchungen,<br />

wollen wir erneut bekräftigen, indem wir versuchen, dem oben<br />

genannten Mosaik ein weiteres Steinchen hinzuzufügen.<br />

Gegenstand der vorliegenden Sprachanalyse ist die erst vor kurzem bekannt<br />

gewordene Aufzeichnung der Gerichtsordnung aus dem Jahre 1581 für die<br />

unweit der bayerischen Grenze gelegene westböhmische Stadt Haid (Bor u<br />

Tachova). Die sprachliche Untersuchung der Gerichtsordnung von Haid<br />

erscheint uns deswegen nützlich, weil sie ein amtliches Dokument aus einem<br />

kleinen Ort bearbeitet, der nahe der Stadt Eger/Cheb liegt, deren<br />

Schreibsprache im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Emil<br />

Skála mehrere Untersuchungen gewidmet hat.<br />

Die Stadt Haid gehörte seit den ersten historischen Erwähnungen im 13.<br />

Jahrhundert dem westböhmischen Herrengeschlecht derer von Schwanberg,<br />

die sie bis zum Jahre 1650 besaßen. Der Ort verdankte seine Prosperität der<br />

günstigen Lage an der Handelsstraße zwischen Nürnberg und Prag. 1 Die<br />

Herren von Schwanberg verliehen ihrer Stadt im Laufe der Jahrhunderte<br />

mehrere Privilegien, von denen die ältesten lateinisch geschrieben waren,<br />

seit dem 16. Jahrhundert deutsch. 2 Die Wahl der deutschen Sprache berücksichtigte<br />

vor allem die deutschsprachige Bevölkerung der Stadt; die weit<br />

verzweigte Familie der Herren von Schwanberg war (trotz ihrem im 13. Jh.<br />

angenommenen modischen deutschen Namen) tschechisch, aber seit dem<br />

16. Jh. haben sich einige ihrer Zweige germanisiert.<br />

1 Die Geschichte von Haid fassen BAHLCKE/EBERHARD/POLÍVKA (1998: 183–184),<br />

in aller Kürze übersichtlich zusammen, dort auch weiterführende Fachliteratur.<br />

2 Verzeichnis und Inhalt (stellenweise auch Wortlaut) der Privilegien für Haid siehe bei<br />

SCHMIDT (1929). Das Original der Gerichtsordnung von 1581, das nach ihrem Wortlaut<br />

von den Ausstellern besiegelt wurde und also eine ähnliche Form wie die übrigen<br />

Privilegien hatte, ist wohl verschollen, denn die genannte Studie erwähnt es nicht.


48<br />

Hildegard Boková<br />

Die fast zeitgenössische Abschrift des nicht erhaltenen Originals der Gerichtsordnung<br />

für Haid aus dem Jahre 1581 wurde erst 2002 entdeckt. In<br />

diesem Jahr wurden alte Drucke aus dem Stadtmuseum von Netolitz (Netolice)<br />

als Dauerleihgabe zur sachgemäßen Bearbeitung und Aufbewahrung<br />

der Südböhmischen Wissenschaftlichen Bibliothek Budweis (Jihočeská vědecká<br />

knihovna v Českých Budějovicích) anvertraut; sie werden jetzt in<br />

ihrer Zweigstelle für historische Bücherfonds in Goldenkron (Zlatá Koruna)<br />

aufbewahrt. 3 Das untersuchte Konvolut, in dem sich die Gerichtsordnung<br />

befindet, trägt hier die Signatur 1 NE R 153. Die Grundlage des Konvoluts<br />

bildet der Druck Das Behmische Rechtt. Wie dasselbe in des Königreichs<br />

Beheim Neüen Stadt Prag in vblichem Brauch gehalten wirdt, Kurtz vnd<br />

rund, auch in ordentlichen Titeln verfasset vnndt verteutschett. Jetzo Zů erst<br />

in offnen druck ausgegeben, Leipzig 1607. Es handelt sich um die deutsche<br />

Übersetzung des bekannten tschechischen Rechtsbuches von Pavel Kristián<br />

von Koldín Práva městská království českého [Die Stadtrechte des böhmischen<br />

Königreichs] Praha 1579. Vor dem Titelblatt des Buches ist die behandelte<br />

Gerichtsordnung eingebunden, nach dem Ende des Buches folgen<br />

weitere eingebundene juristische Dokumente. 4 Der ganze Band diente offensichtlich<br />

amtlichen Bedürfnissen der Stadt als ein Werk, in dem alle<br />

wichtigen Gesetze, gedruckt oder handschriftlich, vereinigt waren und so<br />

zur Verfügung standen. In der rechten unteren Ecke des Druckes befindet<br />

sich der Besitzervermerk ‚Thom. Fabri Tach‘, die Eintragung auf der Rückseite<br />

erhellt die weiteren Schicksale des Buches:<br />

Dieses Buch habe ich vndersunterschriebener nach h. Thomae Fabri seel. Todt zu Tachau von<br />

gesambten Mattheßerischen Erben, bey gehaltener Abtheilung, neben andern büchern mehr,<br />

vor meine grosse gehabte mühewaltung, verehrt bekommen, den 6. May Ao. 1622. Johann<br />

Subeck Stadtschreiber zur Heyd mp.<br />

3 Die Verfasserin des vorliegenden Beitrags bedankt sich herzlich bei der Leitung der<br />

Südböhmischen Wissenschaftlichen Bibliothek, insbesondere bei Herrn Mgr. Jindřich<br />

Špinar, dass er sie auf diesen interessanten deutschen Text aufmerksam machte und sein<br />

Studium ermöglichte.<br />

4 Zuerst folgt auf nur modern mit dem Bleistift nummerierten Seiten 1–18: „Erbeinigung<br />

zwischen der Cron Böhem vnnd Chur Pfaltz auffgericht vnnd Renouirt den 28. Novemb.<br />

Anno Christi 1595“, die Seite 19 ist leer, auf S. 20–35 steht (mit einer anderen<br />

Hand geschrieben) „Extract Oder: Auszug allerley Straffen vnnd Peenen, aus der<br />

Landsordnung der Cron Böheimb, so im 1589. Jahr ausgangen“, auf S. 36–54 „Patientia.<br />

Auszug Allerley Strafen vnnd Peenen aus den StadtRechten dess Königreichs Böhem.<br />

1577.“ (mit der gleichen Hand wie das vorherige Stück) und anschließend auf folgenden<br />

62 Blättern „Der. Röm.Key. auch zu Hungarn vnd Böheimb etc. Königl.<br />

Meyestet. Ferdinandi des Dritten Uber der Neuen Landes Ordtnung des Königreichs<br />

Böheimb Publicirte Königliche Declaratorien Vndt Nouellen. M.D.C.XXXX.“, wobei<br />

das Register zu diesem Werk sich auf dem Rückendeckel des Konvoluts befindet.<br />

Zur Sprache der Gerichtsordnung von 1581 für die Stadt Haid<br />

Die Hand dieses Schreibers findet sich in den handschriftlichen Teilen des<br />

Konvoluts sonst nirgendwo. Ob die Vereinigung von Abschriften der<br />

Rechtsdokumente und des Buches in mehreren Etappen oder, und das<br />

scheint uns wahrscheinlicher, auf einmal erfolgte, lässt sich nicht feststellen;<br />

frühestens ist dies in den 40er Jahren des 17. Jahrhunderts geschehen,<br />

weil das letzte eingebundene Stück sich auf die Zeit nach 1640 bezieht.<br />

Möglicherweise handelte es sich um Schriftstücke, die in der Stadtkanzlei<br />

bereits früher vorhanden waren und nun im Konvolut vereinigt wurden.<br />

Wie es im Text (S. 3) heißt, ist die Gerichtsordnung von „Hannß Georg<br />

Herr Von Schwamberckh, auff RansPurckh, Haeydt, Worlieckh, Röm. Kay.<br />

May. H. Rath, Vnnd Herr Hannß Wilhelmb auch Von Schwamberckh, auf<br />

Haeydt. Klingenberckh. vnd Gesterscham, haubtman deß Pulsner Craeiß“<br />

herausgegeben worden. Es handelt sich um Johann Wilhelm I. /Jan Vilém I.<br />

(† 1590) aus der Hauptlinie der Schwanberger (die Linie von Haid/Bor) und<br />

um Johann Georg/Jan Jiří († 1617) aus der Linie von Ronsperg/Poběžovice.<br />

5 Die Datierungsformel „So beschehen Donnerstag nach S. Andarey<br />

[!] des Heilligen Apostils in 1581 Jahrß“ bereitet einige Schwierigkeiten,<br />

die jedoch für die sprachliche Untersuchung nicht relevant sind. 6<br />

Die Gerichtsordnung von 1581 umfasst insgesamt 14 unnummerierte, von<br />

einer einzigen Hand geschriebene Seiten des Folioformats. Die Seitenzählung<br />

ist modern, mit Bleistift durchgeführt. Die Seiten 1–2 bringen kurze<br />

Inhaltsangaben der 38 Punkte der Gerichtsordnung, sie selbst folgt auf S. 3–<br />

16. Der Charakter der Schrift sowie die Verwendung von Majuskeln und<br />

Minuskeln weisen auf eine Entstehungszeit der Abschrift an der Wende<br />

vom 16. zum 17. Jh. hin. Es ist nicht eindeutig klar, ob die am linken Rand<br />

der Seite 14 von der gleichen Hand geschriebene Jahreszahl 1619 mit dem<br />

Jahr der Entstehung der Abschrift in Zusammenhang steht.<br />

Die Gerichtsordnung für Haid enthält insgesamt 38 nummerierte Artikel,<br />

die einmal die Machtbefugnisse des Richters betreffen und einige Schwurformeln<br />

bringen, zum anderen Strafen für gängige Gesetzesübertretungen<br />

sowie für Verbrechen (aus dem Text ist ersichtlich, dass die Stadt Halsgerichtsbarkeit<br />

hatte) festlegen.<br />

5 Die Stammbäume der Schwanberger Linien siehe bei BĚLOHLÁVEK (1985: 462–<br />

466). Schmidt (1929: 12) verzeichnet nur den Stammbaum der Haidaer Linie.<br />

6 Im Jahre 1581 fiel der Andreas-Tag (30. November) auf einen Donnerstag<br />

(GROTEFEND 1922/1984: Kalendertafel Nr. 5, 146–147). Deshalb ist die im Text vorkommende<br />

Formulierung „beschehen Donnerstag nach S. Andarey (!) des Heilligen<br />

Apostils in 1581“ kaum korrekt. Eine andere Möglichkeit wäre, dass hier die auf den 9.<br />

Mai fallende Translatio dieses Apostels (GROTEFEND 1922/1984: Namenregister 33)<br />

gemeint war, dann wäre das Datum der Ausstellung 11.5.1581.<br />

49


50<br />

Hildegard Boková<br />

2. Graphematik<br />

Der Text weist einige sich wiederholende Besonderheiten auf: Präfixe, vor<br />

allem ver-, zuweilen auch vn-, sind häufig vom folgenden Wortteil abgesetzt<br />

(wir berücksichtigen dies nicht). Über steht immer ein Schrägstrich<br />

(ú) ohne Umlautwert. hat immer Trema (ÿ).<br />

2.1. Distribution von und <br />

Im alten und neuen Diphthong tritt häufig, aber nicht konsequent auf:<br />

immer in -ley (z.B. aller ley, wesserley), immer in Zwey, zwayfeldige, immer<br />

in drey, 11× in bey – 1× bei, es gibt nur sey (Konj.) – aber immer sein<br />

(Inf., Pron.), 4× schreyen – 1× schreien, freyhaeit – aber freier, freiheit; für<br />

mhd. /i/ wird verwendet bei dryttes, fry, In Sygell, Jacoby (2×), lyset,<br />

Sy; sonst überwiegt in allen Positionen . Die Schreibung erscheint<br />

initial mit Konsonantwert, z.B. Jacoby, Jagdt, Jahr, Die Jönigen, Jungen,<br />

Justitien; bei den mhd. Pronomen mit anlautendem /ie/ überwiegt die gekürzte<br />

Form: Ider (15×), Imandt (6×), nur einmal ist Jetweder belegt.<br />

Initial steht immer für /u/, z.B. vber, vnd, vnder, vnser, vrtheilen, vrttel;<br />

als Konsonantzeichen überwiegt initial , mit Ausnahme von vatters,<br />

Viertten, viehe, vingers; bei mhd. vor zeigt sich Formenvielfalt: vor (28×),<br />

vor tretten – for brengen, zuuor (2×); fast immer erscheint das Präfix ver-,<br />

aber 2× auch uer-; im Fremdwort wird geschrieben: priuilegien, priuilegirtten,<br />

einmal auch in geuettern; wird nur als Konsonantzeichen<br />

verwendet, z.B. wie, wirdt, welche; in hawen, hawer ist es noch erhalten<br />

und dient zur Wiedergabe des Diphthongs, der aber auch anders bezeichnet<br />

wird: ver Trauede, abhauung.<br />

2.2. Längenbezeichnung<br />

Langvokale – sowohl alte mhd. Längen als auch durch frnhd. Dehnung entstandene<br />

– werden unterschiedlich gekennzeichnet. Am seltensten erscheint<br />

Doppelschreibung (insgesamt 5×): baar, gaar (2×), haasen, steetig; Dehnungs-h<br />

ist relativ häufig (insgesamt 68×), z.B. begehre, ehren, fehl, Ihme,<br />

Ihm, Ihnen, Ihr, Jahr, mehr, ohne; es tritt auch da auf, wo es sich in der heutigen<br />

Norm nicht durchgesetzt hat, z.B. gebihrt, Nahmen (4×), behn (mhd.<br />

pên), gefehl (mhd. bevelch – 2×), Plohe (mhd. blâ – 3×), Pöhnfahl, Pöhnfall,<br />

schwehre (schwöre), wehr (Pron.), wohren (Waren); ohne phonisches<br />

Korrelat bzw. ohne Längenwert erscheint in genohmen, gleuch fehls,<br />

Mauhl (2×), Pöhnfahl, schaff fehl (7×), wahrm, Zohl (2×); hat ebenfalls<br />

die Funktion der Längenbezeichnung sowohl für den monophthongierten<br />

mhd. Diphthong als auch für gedehntes mhd. /i:/; ausschließlich erscheinen<br />

wie, die, diese; sie (8×) – aber Sy (1×), weiter wird geschrieben in<br />

dieb, friedt (2×), frietlich, gebieths, hielte, alhie, hiemitt, hierinnen, hiermitt,<br />

Zur Sprache der Gerichtsordnung von 1581 für die Stadt Haid<br />

lieb (2×), schiessen, Vieh(e) (4×), viertten (2×) – aber virtte, wieder (wieder,<br />

wider), Zier; ohne phonetischen Wert erscheint der Digraph in abstiech,<br />

hielff (7×), schieckett; eine besondere Schreibung zeigt Niehemanden, wo<br />

möglicherweise noch ein Reflex des alten Diphthongs zu sehen ist. Einige<br />

mhd. Langvokale haben keine Bezeichnung: Ersten, hoch bzw. hach.<br />

2.3. Kürzenbezeichnung<br />

Die Vokalkürze wird häufig durch Doppelkonsonant bezeichnet (z.B. brennen,<br />

dannen, erkennen, Erkriffen, innern, Pfennig), daneben erscheint Doppelschreibung<br />

nicht selten noch ohne phonetischen Wert – siehe unter 2.6.<br />

2.4. Umlautbezeichnung<br />

Der Primärumlaut wird geschrieben (z.B. bechen, beschediget, lesterung),<br />

das auch für mhd. /æ/ verwendet wird (z.B. Schmehe); der Sekundärumlaut<br />

erscheint als (dreyfältigkeitt, fällen, Pänckhen) 7 , aber auch als<br />

(Necht); der Umlaut der übrigen Vokale wird nur teilweise bezeichnet.<br />

Neben (burgschafft, 2× fruchten, gefuhrt, gehultz, geschudt, thur, vn<br />

Nutze, wurffen, Zuckhen,) steht vereinzelt (müß), es gibt nur <br />

(glaubiger, 10× Hausser), lediglich der Umlaut von mhd. /o, ô/ wird immer<br />

als wiedergegeben (dörffern (6×), höltzern, löblich (4×); gehöret, Grölen,<br />

töddtlichen) 8 . Vor den Suffixen -lich und -nus stehen umgelautete (Bescheulich,<br />

gentzlichen, 2× löblich, tödtlichen; gefengnus) und unumgelautete<br />

(Erbarlich, geburliche, 2× verbruchlich, vngebuhrlich; 6× gefangnus)<br />

Vokale.<br />

2.5. Wiedergabe der alten und neuen Diphthonge<br />

Mhd. /ei/ wird überwiegend (156×), vereinzelt auch (12×) geschrieben<br />

(z.B. algemeiner, drunckenheidt, fleisch, klein; -ley, Zwey – siehe<br />

auch 2.1.), als erscheint es in Kaiserliche, Waiz, als in Haydt,<br />

Kay., zwayfeldige, mit besonderer Schreibung in anhaeimischen, Aeigennes,<br />

Craeiß, freyhaeit, vnhaeil; Haeydt (4×), Aeydt (2×), Kaeysserlich. Mhd. /î/<br />

erscheint überwiegend als (z.B. sein, Zeit), aber auch als : schreyer<br />

(3×), schreyt, sey (9×), drey (7×), bey (9×).<br />

Mhd. /ou/ tritt nur als auf, z.B. auch, augen, kaufen, ebenso wie mhd.<br />

/û/, z.B. haus, auß, auf (16×) – dagegen steht 27× vff.<br />

7 Vgl. SKÁLA (1967: 77): „Die ersten ä-Schreibungen [...] ab 1558 ...“.<br />

8 Vgl. SKÁLA (1972: XX): „[...] mitunter nicht bezeichnet. [...] Die regelmäßige Schreibung<br />

ist ö.“ Ähnlich ist der Befund in Skála (1967: § 4, 28: „[...] häufig unbezeichnet.“<br />

51


52<br />

Hildegard Boková<br />

Mhd. /öu/ ist immer ohne Umlautbezeichnung (z.B. glaubiger, kauffer),<br />

dagegen erscheint mhd. /iu/ meist als (z.B. Euer, freunden, gethreulichen,<br />

heundigen, leuchter, leuthe, steuher) – aber auch 1× Hausser (Plur.).<br />

2.6. Konsonantendopplung und -häufung<br />

In finaler Position wird insgesamt 39× geschrieben, z.B. bekröftigett,<br />

geltt, hatt, -keitt, mitt; medial steht sowohl nach Digraphen als auch<br />

Monographen und ebenfalls nach Konsonanten, insgesamt 65×, z.B. Hachzeitten,<br />

hietten, hitten, leitten, totten, hirtten, Viertten, virtten, vrttel, Zentten;<br />

ist besonders häufig in finaler Position (78×), wobei es durch Synkope<br />

entstanden sein kann (z.B. findt, geschudt, Verwundt, Wirdt), meist<br />

aber nur eine graphische Erscheinung ist (z.B. friedt, schandt), auch unorganisches<br />

t erscheint in dieser Schreibung (Imandt – nur so); einmal findet<br />

sich medial im Ortsnamen Haeydte. 9<br />

Die Schreibung gibt es final insgesamt 51×, vor allem wortgebunden<br />

in dorff, hielff, stroff, schaff, vff – auff; in medialer Position steht einerseits<br />

als Kürzenzeichen (5×): bedröffente, Waffen (3×), andererseits ohne<br />

phonetische Funktion (43×): z.B. geruffen, gestrafft, Herschafft, kauffer,<br />

wurffen; auch initial erscheint es vereinzelt: ffragt. Die Schreibung <br />

zeigt sowohl medial als auch final zum einen Kurzvokal an (Donnerstag,<br />

dann, mann, wann), zum anderen ist sie ohne phonetischen Wert (Aeigennes,<br />

braunne, dennen, 3× gebornne, geschlagenner, geschwornne, 2×<br />

Hannß, hinnauß, Sohnnes, 3× Vnnd, vnderthannen; denn (den), feuerenn,<br />

verbottenn). Für sind insgesamt 50 Belege vertreten, 36× in medialer<br />

Position als Reflex von mhd. /``/, z.B. gassen, grosse, lassen, schiessen,<br />

stossen, fleissig – aber auch fleisich), 13× als Doppelschreibung ohne phonetischen<br />

Wert, z.B. Hausser, hassen (Hasen), krassen (Gräser), Kaeysserlichen,<br />

weissen (Waisen), einmal auch mittelbar final (Krassmath).<br />

2.7. Wiedergabe von mhd. /pf/<br />

Die mhd. Affrikate tritt als initial auf: Pfandt, Pfennig (2×), Pferd; in<br />

medialer Position stehen und neben einander: schepfen –<br />

schepffen, Zappfenbuhrgelt. Andere Graphien sind nicht belegt.<br />

2.8. Wiedergabe von mhd. /s/ und /`/<br />

Sowohl für mhd. /s/ als auch für /`/ wird bzw. geschrieben, wobei<br />

wortgebunden gewisse Vorlieben erkennbar sind: nur waß, 17× daß (Art.) –<br />

1× das, 10× daß (Konj.) – 2× das, 12× auß – 2× aus, 1× auser, als Einzelbe-<br />

9 Vgl. Skála (1972 XXVIf.), wo sowohl für als auch für zahlreiche Belege<br />

angeführt werden. Ebenso in Skála (1967: § 99, 116f.).<br />

Zur Sprache der Gerichtsordnung von 1581 für die Stadt Haid<br />

lege für mhd. /`/ faß, gemeß, 2× graß (groß), Haß, 2× muß, müß (müßig),<br />

Raß; für mhd. /s/ immer biß, 11× alß – 1× als, 8× hauß – 1× haus, 6× -nuß –<br />

1× -nus, als Einzelbeleg Craeiß, 2× graß, Kraß (Gras), 2× Hannß, Zinß – 2×<br />

Zins. Auch Genitivformen haben einige Male : je 1× deß, Herrenß,<br />

Jahrß, manß, Sohnß – 15× des, je 1× Herrns, Herrens, Sohns, Sohnnes. Die<br />

übrigen zahlreichen Genitive und der Fugenlaut im Kompositum sind als<br />

erhalten (z.B. gottes, Weibs; gerichts ordnung, herbergs leitten). Zur<br />

Doppelschreibung siehe auch 2.6. Als Besonderheit erscheint 2×<br />

in wirtzhauß/s. Die Graphie , wird sonst nur für die Affrikata verwendet,<br />

medial und final steht immer (z.B. besetzen, gantze, gehultz,<br />

Parmhertzig – aber Waiz), initial immer (z.B. Zeit, Zol, Zuckhen). Das<br />

ältere ist nicht mehr vertreten.<br />

2.9. Mhd. Auslautverhärtung<br />

Als Reflex der mhd. Auslautverhärtung bzw. als Ausdruck einer gewissen<br />

Unsicherheit könnte die vorherrschende Schreibung angesehen werden<br />

(s. 2.6.), daneben erscheint final (geltt, gedreitt) und altes (4× felt,<br />

frietlich, 4× gelt, Irgent, Jetweder, schult), vereinzelt wird final schon <br />

geschrieben (Aeyd, frid, Radhauß, Schand sowie immer vnd). Mhd. /b/ und<br />

/g/ unterliegen nicht mehr der Auslautverhärtung: z.B. dieb, gab, halb,<br />

Korb; 10 Herberg, obrig, Parmhertzig, Sontag.<br />

2.10. Großschreibung<br />

Majuskeln treten ungeregelt bei unterschiedlichen Wortarten auf: z.B. Von<br />

Schmehe vnd schandt worden; So braunne oder Plohe fleke gefunden; Von<br />

der dryttes gerichtes hielff – Von der Viertten gerichtes hielff; folgt Eines<br />

Richters Aeydt. Konsequent groß geschrieben werden Personen- und Ortsnamen:<br />

z.B. Hannß Georg Herr Von Schwamberckh, auff RansPurckh<br />

Haeydt, Worlieckh, Röm. Kay. May. H. Rath, Vnnd Herr Hannß Wilhelmb<br />

auch von Schwamberckh, auf Haeydt. Klingenberckh. Vnd Gesterscham,<br />

haubtman deß Pulsner Craeiß; dagegen ist die Großschreibung von christlichen<br />

Begriffen nicht immer zu finden: z.B. gottes vatters, Sohns vnd heilligen<br />

geistes; In Nahmen der heilligen dreyfeltigkeitt Amen;<br />

Bestimmte für den Text wichtige Begriffe, wie „Amt“, „Obrigkeit“, „Richter“,<br />

„Stadt“ haben entweder ausschließlich oder überwiegend Majuskeln:<br />

3× Ambt – 2× ambt, 14× Obrigkeith – 2× obrigkeith; immer Richter; 13×<br />

Stadt – 9× stadt.<br />

10 Skála (1972: XXVI) bringt Belege für finales .<br />

53


54<br />

Hildegard Boková<br />

3. Lautstand<br />

3.1. Vokalismus<br />

3.1.1. Diphthongierung und Monophthongierung<br />

Die nhd. Diphthongierung hat sich vollständig durchgesetzt, einzige Ausnahme<br />

ist vff (26×) 11 , dem 18× auf(f) gegenübersteht. Mhd. /ie/ ist weitgehend<br />

graphisch erhalten (vgl. 2.1.); Mhd. /uo/ ist durchgehend monophthongiert<br />

(z.B. buch, bludt, fluchen, fru, geruffen, gnugsamb), nur in<br />

den Formen des Verbs mhd. tuon erscheint auch Digraphie (6× thuen – 5×<br />

thun).<br />

3.1.2. Rundung und Entrundung<br />

Die hohe Frequenz von labialisierten und delabialisierten Schreibungen<br />

deutet auf eine gewisse Unsicherheit in der Aussprache und einen Hang zur<br />

Hyperkorrektheit hin. Mhd. /e/ als ist belegt in bedröffente, bekröftigett,<br />

Die Jönigen, 3 földigkeit, hörbergs – aber 4× herberg, Pödgewandt,<br />

Verdrögen, wörden; mhd. /i/ als , also ohne Umlautbezeichnung, zeigt<br />

sich in besuchdigtt, besuchdigung, buhr, Pulsner Craeiß; 12 mhd. /ei/ bzw.<br />

/î/ wird geschrieben in gleuchen (3×) – aber 2× gleich, gereucht, feuer,<br />

reuchen, streuch, teuch. Entrundete Aussprache 13 wird reflektiert in<br />

für mhd. /iu/ (2× leitten, heiser), in der Schreibung , , für<br />

mhd. /ü/ bzw. /üe/ (fry, gebihrt, gerist, hitten, hiethen, hietten, schietten, zu<br />

drige – aber behutten) sowie in für mhd. /ö/ bzw. /œ/ (ent Plesstt, hehere,<br />

heltzern, heren, kende, mechte, schwehre, Vermeg – aber gehöret, höltzern).<br />

3.1.3. Synkope und Apokope<br />

Nicht apokopierte Formen sind wortgebunden bei einigen Belegen in der<br />

Überzahl, z.B. 7× knechte – 5× knecht (Dat.), 41× solle (Ind.) – 6× sol; weiter<br />

erscheinen sie in 2× deme, gehe (jäh), 4× Ihme, klage, 3× Schmehe, 3×<br />

tage, 4× viehe, 2× vnrechte, 2× zum Tothe; attributive Adjektive und Pronomen<br />

haben die Endung weitgehend erhalten (z.B. braun oder plohe fleke,<br />

daß Zehende schaff, zwayfeldige straff – aber Peinlich recht); Apokope<br />

zeigt sich in 78× dem, nur hilff, nur recht, schadt, nur straff, tag (Pl.), 2× die<br />

wirdt. Das Präfix mhd. ge- ist weitgehend erhalten (z.B. gemein, gericht),<br />

aber vor l und n wird immer synkopiert (glaubiger, gleich, gnade, gnedig,<br />

gnugsamb). In der Endung des Verbs (3. Sg. oder Part. II) sind synkopierte<br />

11 Skála (1972: XXV) hat 71,24 % vff gegen 28,76 % auf.<br />

12 Skála (1967: § 110, 96) führt Pülßen an.<br />

13 Sowohl in Skála (1972: XX, XXI, XXIII) als auch in Skála (1967: § 81, 88; § 89, 100; §<br />

94, 108) gibt es zahlreiche Belege für Entrundung.<br />

Zur Sprache der Gerichtsordnung von 1581 für die Stadt Haid<br />

gegenüber den Vollformen stärker vertreten: 23× -et (z.B. begnadet, beschediget,<br />

er dappet, gehet, schreibet, sitzet, spillet, stehet, verwundet) und<br />

35× -t (z.B. folgt, gehegt, gereucht, 10× gibt – 1× gibet, verkaufft, Verwundt).<br />

Nahezu ausgewogen ist das Auftreten von synkopierten und Vollformen<br />

beim Adjektiv ander: 5× andern, 1× andre – 5× andere.<br />

3.2. Konsonantismus<br />

3.2.1. /s/ vor Konsonant<br />

Einmal kommt alte Schreibung vor (slag), die übrigen Belege haben <br />

(1× geschwornne, 3× Schmehe, 2× Schwamberckh, je 1× schwehre, schweige).<br />

14<br />

3.2.2. Unorganisches t<br />

Entgegen dem heutigen Usus wird t in anderst (3×) angefügt (Skála 1972:<br />

134); Imandt (6×) ist ausschließlich mit belegt, auch Obst hat bereits<br />

, in Predig ist noch kein t angetreten.<br />

3.2.3. Assimilation, Dissimilation<br />

Mhd. /mb/ ist erhalten (4× Ambt, dorumb, 2× vmb, 2× widerumb), wird<br />

auch an etymologisch unberechtigter Stelle geschrieben (13× einemb – 24×<br />

keinem/meinem/seinem/einem, 3× frembten, gnugsamb, 2× kombt, Nemblichen,<br />

Nimbt, versamblet, Wilhelmb) (vgl. SKÁLA 1972: XXVII; 1967: §<br />

97, 113). Das Substantiv mhd. phenninc/phennic erscheint in der dissimilierten<br />

Form: Pfennig.<br />

3.3. Dialektzüge<br />

3.3.1. Bairische Merkmale<br />

a > o: Verdumpfung wird 7× in der Schreibung reflektiert (z.B. Nachtborn,<br />

noch – 13× nach, obwehr – 7× ab, Purgschofft – 29× -schafft, stroff – 2×<br />

straff, sockh), wobei die Formen auf eindeutig überwiegen. 15<br />

o/ô > a: Den leicht überwiegenden -Schreibungen (11 Belege, z.B.<br />

graß, hach, Raß, Wachen) stehen in den gleichen Lexemen Formen auf <br />

gegenüber (8 Belege, z.B. grosse, hoch, Rossen, wochen). Die Vermischung<br />

von lokalem dâr, dâ und temporalem dô zeigt sich sowohl in -Formen<br />

(15×) als auch in solchen auf (10×): z.B. alda, da, damit, darauf, darinnen,<br />

darvon/davon, darzu – do, dorauff , dorumb, dor von.<br />

i > ie: Die für das Bair. typische Graphie vor r ist nur einmal belegt<br />

(wierdt), sonst wird bzw. geschrieben (z.B. wirdt, hirtt; Ihr); das<br />

14 Skála (1972: XXXIII) und Skála (1967) in jüngeren Belegen (§ 107, 139) haben nur .<br />

15 Auch Skála (1967: § 77, 76) bringt zahlreiche Belege für Verdumpfung.<br />

55


56<br />

Hildegard Boková<br />

Numerale vier sowie das Adverb hier schwanken zwischen (2× viertte,<br />

3× hie/r) und (1× virtte, 2× hir).<br />

Sprossvokal: Es gibt keinen Beleg für Sprossvokal an den gewöhnlichen<br />

Stellen (Kirchen). Dafür erscheint einmal a in Pranda wein. 16<br />

mhd. -nisse > -nus/nuß: Es gibt nur Belege auf -nus/-nuß (z.B. gefangnuß,<br />

gefengnus, Verzeichnuß).<br />

Part. Präs. auf -und: Es gibt nur Belege für -end, z.B. folgenden, fressende,<br />

gebuhrende, ligende.<br />

/b/ als : Die Schreibung in initialer und mittelbar initialer Position<br />

erscheint 16× (z.B. Parmhertzig, entPlesstt) dagegen wird 52× geschrieben,<br />

nicht mitgezählt wurden das nur so erscheinende bey und das<br />

Präfix be-. Ausschließlich erscheint in ge-/verbot sowie – mit der einzigen<br />

Ausnahme Pranda wein – vor r (z.B. braun, brechen, brengen, brennen).<br />

Beide Graphien im gleichen Lexem finden sich bei bludt – Plutt,<br />

burgschafft (2×) – Purgschofft und buxen – Puxen (2×). 17<br />

/b/ als und /w/ als ist nicht belegt.<br />

/k/ und /ck/ als : Während initial ausschließlich vorkommt,<br />

wird es medial nur 4× geschrieben (2× aker, 2× fleke); erscheint<br />

medial 6× (drunckenheidt, flecke, hackern, mercklichem, schieckett,<br />

Zuckt) und final 1× (schock). Die für das Bairische typischen Graphien<br />

, , (ähnlich Skála 1967: § 101, 124) treten nur medial<br />

und final auf: abstiech; handtwerckhes, hinweckh, Klingenberckh,<br />

Mürckhen, Pänckhen, RansPurckh, schockh, schreckhlicher, Schwamberckh<br />

(2×), sockh, stuckh, Worlieckh, Zuckhen; bunkhten, Merkhen, Zukhen.<br />

/g/ als : Wortgebunden wird vor r 8× geschrieben in erkreifft (2×),<br />

Erkriffen, Krass/ß (4×), krassen 18 ; insgesamt 11× steht dagegen vor r <br />

(z.B 2× graß, groschen, grosse, grundt).<br />

3.3.2. (Ost)mitteldeutsche Merkmale<br />

o > a in ausgewählten Lexemen (ab, ader, dach, nach, sal, van, wal): Es<br />

erscheinen nur ob, oder, sol, von, wohl; lediglich 4× tritt dach gegen 1×<br />

doch auf.<br />

16 Skála (1967: § 78, 81) hat brandtewein. In Skála (1972: XVII) ist als Sprossvokal <br />

belegt.<br />

17 Sowohl in Skála (1967: § 97, 112) als auch in Skála (1972: XXVI) ist der Befund anders,<br />

es überwiegt dort .<br />

18 Skála (1967: §102, 126) hat ebenfalls Belege für , denn „[...] in der Egerer Mundart<br />

sind beide Gutturale zusammengefallen und k gilt in Egerer Texten anlautend schon Anfang<br />

des 16. Jahrhunderts.“<br />

Zur Sprache der Gerichtsordnung von 1581 für die Stadt Haid<br />

u/ü > o/ö: Vor Nasal hat sich durchgesetzt (besonder, Donnerstag,<br />

sonderlich, 8× sonder(n),3× Sontag – aber 2× besunder).<br />

i > e: Das Verb mhd. bringen hat in seinem einzigen Beleg die md. -<br />

Form (brengen). Das Partizip von mhd. beschrîben erscheint dagegen als<br />

beschriben.<br />

mhd. friunt: Das Substantiv erscheint 2× in der md. Version (frundt, frunden),<br />

einmal ist es diphthongiert (freunden).<br />

e > i in unbetonter Silbe: In unbetonter Silbe wird durchgehend geschrieben,<br />

nur einmal ist belegt (Apostils).<br />

ver- als vor-: Das Präfix ist nur mit belegt. 19<br />

Lenisierung: Mhd. /t/ erscheint als (so auch in SKÁLA 1972:<br />

XXVIII) (insgesamt 32×) häufig nach l (11×) und n (5×): z.B. drey feldigkeitt,<br />

ehengemeldens, scheldens, schulden, schuldig; benandens, erkandnuß,<br />

genanden, heundigen, Winders – aber 34× erscheint nach l : z.B. dreyfeltigkeitt,<br />

dulten, gultig, nur halten, schelten, schultig/schulten. Initial ist <br />

vor allem belegt vor r (10×): z.B. bedrachten, bedretten, bedrift, dreiben,<br />

drunckenheidt, gedragen, gedreitt, Verdrögen, einmal vor Vokal (er dappet);<br />

intervokalisch steht in sanftmudigen, dreimal auch in der Endung<br />

des Verbs (an Zeigede, auf gesetzde, beklagde, ver Trauede) sowie einmal<br />

nach r (garden). 4× hat die Verbendung : bedachte, beschedigten, ent<br />

leibten, hochgelobten, einmal : beklagdten. Dagegen gibt es zwei Fälle<br />

von für mhd. /d/: bette, hatter.<br />

Mhd. /k/ als kommt ganz vereinzelt vor (beklagde).<br />

Mhd. /p/ als 20 wird initial 4× geschrieben in behn, beinlicher, bershon,<br />

bunkhten; dagegen stehen 19 Belege mit (4× Peinlich, 3× Pershon,<br />

Plotz, 7× Pöhn, 4× Predig).<br />

3.3.3. Gemeinsame Merkmale<br />

/â/ als : Verdumpfung ist 5× belegt in Plohe (3×), Plosen, vnderthon –<br />

aber gethan, vnderthannen, dagegen ist wesentlich häufiger erhalten<br />

(insgesamt 33×), z.B. gnaden, Jahrß, massen, Rath, straff, verwahren. 21<br />

4. Dialektzüge auf morphologischer Ebene<br />

4.1. Bairische Merkmale<br />

Die bairischen Kennformen tege, schol, hiet, -und sind in unserm Text<br />

nicht belegt; es erscheinen tage, soll, hette, -ende. 22<br />

19 Dagegen hat Skála (1967: 347) auch vor-.<br />

20 Belege auch in Skála (1967: § 96, 110f.).<br />

21 Ebenso in Skála (1972: XVIIIf.) und in Skála (1967: § 82, 89).<br />

22 Skála (1967: § 175, 251 und § 177, 256) hat ebenfalls nur soll und hette.<br />

57


58<br />

Hildegard Boková<br />

4.2. (Ost)mitteldeutsche Merkmale<br />

Die Kennformen quam und gewest sind nicht belegt; der Text hat kein Präteritum<br />

von mhd. quemen und kein Partizip des verbum substantivum.<br />

5. Besonderheiten im lexikalischen Bereich<br />

Negation: Es überwiegen Formen mit (nicht 24×, Nichtes, Mit nichten);<br />

6× ist nit belegt. Es gibt keine Mehrfachnegation.<br />

unz – bis: nur biß (8×)<br />

immer – alweg: alle weg, 2× alle wege<br />

pferd – ros: Rossen, Raß – Pferdt 23<br />

fleischer: fleisch hacker, fleisch hawer 24<br />

Wochentage: 3× Sontag, Donnerstag<br />

6. Schlussbemerkungen<br />

Die Sprache des analysierten Textes zeigt deutliche Übereinstimmungen mit<br />

den Ergebnissen, die Emil Skála in seinen Untersuchungen zu Egerer<br />

Denkmälern gewonnen hat. Auch unser Text hat neben bairischen Zügen<br />

einige ostmitteldeutsche Schreibformen. Allerdings sind hier die Dialektmerkmale<br />

stellenweise schwächer ausgeprägt als bei den Egerer Texten,<br />

was wohl mit der geringeren Textmenge unseres Denkmals zusammenhängt.<br />

Unser Material fügt sich also gut in das Bild des Egerer Sprachraums<br />

im Untersuchungszeitraum ein.<br />

Literatur<br />

BAHLCKE, Joachim/EBERHARD, Winfried/POLÍVKA, Miroslav (Hgg.)<br />

(1998): Böhmen und Mähren, Handbuch der historischen Stätten. Stuttgart:<br />

Kröner, 183–184.<br />

BĚLOHLÁVEK, Miloslav et al. (Hg.) (1985): Hrady, zámky a tvrze<br />

v Čechách, na Moravě a ve Slezsku. Západní Čechy [Burgen, Schlösser und<br />

Vesten in Böhmen, Mähren und Schlesien. Westböhmen]. Praha: Nakladatelství<br />

Svoboda.<br />

GROTEFEND, Hermann (1922/1984): Taschenbuch der Zeitrechnung des<br />

deutschen Mittelalters und der Neuzeit. 5. Aufl. Hannover 1922: Hahnsche<br />

Buchhandlung. Nachdruck Leipzig 1984.<br />

23 Skála (1967: § 182, 275) und Skála (1972: Register) haben mehr pferd als roß.<br />

24 In Skála (1972: 143) ist fleischhacker belegt.<br />

Zur Sprache der Gerichtsordnung von 1581 für die Stadt Haid<br />

SCHMIDT, Georg (1929): Privilegien der Herren von Schwanberg für ihre<br />

Stadt Haid. – In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in<br />

Böhmen 67, 1–36.<br />

SKÁLA, Emil (1967): Die Entwicklung der Kanzleisprache in Eger 1310–<br />

1660. Berlin: Akademie-Verlag.<br />

SKÁLA, Emil (1972): Das Egerer Urgichtenbuch (1543–1579). Berlin:<br />

Akademie-Verlag.<br />

59


Minoritologische Überlegungen zum Deutschen<br />

als Konfliktsprache<br />

Peter Hans Nelde<br />

Emil Skála hat sich ein Leben lang mit der deutschen Sprache in jeglicher<br />

Hinsicht befasst – diachronisch, synchronisch, sprachgeschichtlich, kontaktlinguistisch.<br />

Germanistische Linguistik ohne seinen Namen ist schlechthin<br />

unvorstellbar. Dafür gebührt ihm Dank, der ihm – aus meiner Sicht – vor<br />

allem deshalb zukommt, weil er als Forscher die Außenperspektive vertritt,<br />

die sich über zahlreiche binnendeutsche Tabus und politische Frustrationen<br />

hinwegsetzen konnte und damit der germanistischen Linguistik zuweilen<br />

unorthodoxe, jedoch stets anregende Impulse verleihen konnte.<br />

Ad multos annos!<br />

1. Ideologie und Sprachpolitik<br />

Wo setzt Sprachideologie an – beim einzelnen Sprecher, seinen Vorurteilen<br />

und Stereotypen, bei Sprachgemeinschaften oder bei denjenigen, die Sprechern<br />

und Sprachgemeinschaften die Regeln ihres sprachpolitischen Handelns<br />

auferlegen? Wie auch immer, Sprachplanung und Sprachpolitik sind<br />

hervorragende Ideologieinstrumentarien, an deren kulturpolitischem Durchsetzungsvermögen<br />

im gegenwärtigen Europa jedoch erhebliche Zweifel<br />

bestehen. Ergebnisse jüngster kontaktlinguistischer Untersuchungen lassen<br />

beispielsweise Zweifel daran aufkommen, dass Sprachgemeinschaften und<br />

Sprecher durch eine extensive Sprachgesetzgebung besser geschützt werden<br />

als durch überlieferte orale Handlungsanweisungen, wie sie in Ländern wie<br />

der multilingualen Schweiz eine staatserhaltende und bürgernahe Rolle<br />

spielen. Aus dieser Sichtweise verlieren sorgfältig ausgearbeitete sprachgebrauchsregulierende<br />

Texte aller demokratischer Herrschaftsformen wie sie<br />

in Verfassungen, Dekreten und Erlässen aller Art ihren Niederschlag finden,<br />

erheblich an Bedeutung und ihre für kleine Sprachgemeinschaften offensichtlich<br />

lebenserhaltende positive Wirkung ist nicht immer nachweisbar.<br />

Aus jüngsten kontaktlinguistischen Projekten zur Sprach- und Kulturpolitik<br />

von Minderheitssprachen und -kulturen wie EUROMOSAIC (The production<br />

and reproduction of the minority language groups in the European Union),<br />

GOTAP (Community development and language planning in the periphery),<br />

ATGEM (A training and consulting programme for community<br />

development for European minorities in the periphery) und NET (New European<br />

Language Policy) lässt sich deshalb folgern:<br />

1) Gesetzgeberisch oktroyierter Schutz von Sprachen und Kulturen hat für<br />

die sprachpolitische Praxis häufig nur deklamatorischen Wert.


62<br />

Peter Hans Nelde<br />

2) Detaillierte Verschriftlichung von Schutzmaßnahmen, Regelsystemen<br />

und daraus folgenden Sanktionen ist keine Garantie für das Überleben<br />

von Sprach- und Kulturgemeinschaften (vgl. die unterschiedliche Minderheitensituation<br />

in der Schweiz und in Frankreich).<br />

3) Sprachpolitik auf ideologischer Basis existiert überall dort, wo neben<br />

der Erstsprache Zweit-, Schul-, Nachbar-, Migranten- und Fremdsprachen<br />

Teil des nationalen Bildungssystems ausmachen, mit der Folge,<br />

dass die jeweilige Sprachpolitik Teil der Bildungspolitik oder sogar mit<br />

ihr kongruent ist. So entspricht der so genannten Fremdsprachenpolitik<br />

in Deutschland, die mit wenigen Ausnahmen das Englische zur Pflichtschulsprache<br />

dekretiert, einer – im soziologischen Sinne – elitären<br />

Sprachpolitik, die, ohne den marktökonomischen Bedarf des Englischen<br />

zu hinterfragen, die Prestigesprache und damit die Sprache der ökonomischen<br />

Elite so sehr in den Vordergrund stellt, dass für die von der Europäischen<br />

Union propagierte Einheit in der Verschiedenheit in der<br />

schulsprachlichen Praxis – und damit in der Bildungs- und Sprachpolitik<br />

des Landes – wenig übrig bleibt.<br />

Eine ähnlich gleichermaßen sprach- wie bildungspolitisch bestimmte Debatte<br />

haben sich die Vereinigten Staaten in der English Only- bzw. English<br />

Plus-Diskussion erlaubt, wobei es hierbei bildungspolitisch um die gänzliche<br />

Abschaffung von Zweitsprachen im höheren Unterricht (Englisch only)<br />

ging. Die Reduzierung des Begriffes Zweisprachigkeit auf die zuweilen<br />

sozial motivierte Kombination Englisch und Spanisch unterstreicht eine<br />

weitere Verengung des amerikanischen Mehrsprachigkeitsbegriffes. Diese<br />

europäischen wie amerikanischen Beispiele zeigen somit, dass Sprachpolitik<br />

auch dort existiert, wo dieser Begriff in der öffentlichen Diskussion<br />

kaum Verwendung findet: Sie tritt umso deutlicher als Bildungspolitik in<br />

Erscheinung.<br />

Diese Unsicherheit im Bereich der Sprachpolitik zeigt sich im europäischen<br />

Kontext bereits in einem hohen Grad an Inkompatibilität in der Terminologie.<br />

Während der größte Teil der europäischen Sprachen zur Abgrenzung<br />

unserer Thematik über drei, teilweise unterschiedlich definierte Begriffe<br />

verfügt (so im Englischen: Language Planning, Language Policy, Language<br />

Politics oder im Niederländischen: taalplanning, taalbeleid, taalpolitiek),<br />

beschränken sich andere Sprachen auf zwei Begriffe (wie das Deutsche:<br />

Sprachplanung, Sprachpolitik) oder gar nur auf einen einzigen Begriff (so<br />

konzentriert sich das Französische auf den modernen Begriff<br />

l’aménagement linguistique, der sicherlich sachdienlicher und europagerechter<br />

ist als die veralteten Termini planification linguistique und politique<br />

linguistique).<br />

Minoritologische Überlegungen zum Deutschen als Konfliktsprache 63<br />

Eine Ideologisierung der Sprachpolitik zeigt sich allerdings nicht nur im<br />

Bildungssystem, sondern vor allem im Bereich der Minderheitenpolitik.<br />

Von den 480 Millionen Einwohnern der Europäischen Union, die sich ungefähr<br />

120 unterschiedlicher Sprachen befleißigen, verteilen sich 80 Sprachen<br />

auf 40 bis 70 Millionen Minderheitensprecher, die häufig als Bewohner peripherer<br />

Regionen zu den Schwachen und politisch wie ökonomisch Unterdrückten<br />

der jeweiligen Staaten gehören. Formen der Benachteiligung dieser<br />

kleinen Sprachgemeinschaften hängen von staatlichen Ideologien ab, die<br />

in Europa als zentralistische oder subsidiäre Konzepte gekennzeichnet werden<br />

können. Benachteiligt von sprachpolitisch zentralistischen, oft aber<br />

auch subtilen subsidiären Maßnahmen fallen die defensiv-partikularistischen<br />

und ethnozentrischen Reaktionen von Minderheiten besonders ins<br />

Auge. Bis in die Forschung hinein lässt sich der fehlende Wille beobachten,<br />

als Schwache, Benachteiligte oder gar Unterdrückte zusammenzuarbeiten:<br />

Autochthone (indigene Minderheiten) und Allochthone (Migranten) weigern<br />

sich, gemeinsam zu forschen und – obwohl sie den gleichen Unterdrückungsmechanismen<br />

ausgesetzt sind – sprachpolitisch gemeinsam zu<br />

agieren. Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass zentralistische Konzepte,<br />

wie wir sie im mediterranen Bereich antreffen, weniger minderheitenfreundlich<br />

sind als die subtileren und der Basis näher stehenden subsidiären<br />

Konzepte föderaler Staaten (Deutschland, Skandinavien und teilweise<br />

auch Großbritannien).<br />

2. Kontaktlinguistische Bedingungen der Konfliktanalyse<br />

Von allen sprachwissenschaftlichen Disziplinen scheinen die Kontaktlinguistik<br />

und die Soziolinguistik sich besonders zur Darstellung und Analyse<br />

ideologischer Strukturen in der Sprachpolitik zu eignen. Vornehmlich kontaktlinguistische<br />

Modelle haben sich in letzter Zeit mit ideologisch bedingten<br />

Sprachkonflikten befasst.<br />

Kontaktlinguistik ist per definitionem multidisziplinär, erfasst Sprachkontaktphänomene<br />

unterschiedlichster Art (sprachliche und außersprachliche)<br />

und trägt zur Konfliktanalyse und -lösung bei.<br />

Vier kontaktlinguistische Voraussetzungen scheinen uns bei der Behandlung<br />

von Sprachkonflikten und deren Neutralisierung von Bedeutung:<br />

1) Es gibt keinen Kontakt zwischen Sprachen, sondern nur zwischen<br />

Sprechern und Sprachgemeinschaften (HAARMANN 1980, OKSAAR<br />

1980). Dadurch wird die Vergleichbarkeit von ein und derselben Sprache<br />

in unterschiedlichen Kontexten (z. B. Italienisch in Slowenien und<br />

in der Schweiz) weitgehend eingeschränkt. Sicherlich tragen diese<br />

multikausalen Konflikte unterschiedlichste Formen – vom offenen


64<br />

Peter Hans Nelde<br />

Ausbruch von Feindseligkeiten (Kosovo 1998) bis zur Sublimierung<br />

subkutaner Konflikte in harmoniebedürftigen sozialen Gruppen<br />

(Skandinavien). Eine der Hauptursachen für die Konfliktträchtigkeit<br />

sprachlicher Gemeinschaften aller Arten liegt in der Asymmetrie jeglicher<br />

Form von Mehrsprachigkeit. Es gibt auf dieser Welt keine kongruenten<br />

Sprachgemeinschaften, die die gleiche Zahl von Sprechern<br />

haben, deren Sprachen das gleiche Prestige aufweisen, deren Sozialprodukt<br />

identisch und deren Lebensqualität vergleichbar ist. Deshalb<br />

ist Kontakt ohne Konflikt nur schwer nachzuweisen:<br />

2) Auch wenn die Aussage, es gäbe keinen Sprachkontakt ohne Sprachkonflikt<br />

(„Nelde’s Law“, s. DE BOT 1997) übertrieben erscheinen<br />

mag, so ist im Bereich der europäischen Sprachen gegenwärtig keine<br />

Kontaktsituation denkbar, die sich nicht auch als Sprachkonflikt beschreiben<br />

ließe. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang<br />

auch Mattheiers (1984) Aussage zu frequent vorkommenden Sprachkonflikten<br />

unter monolingualen Sprechern.<br />

3) Die Kontaktlinguistik sieht Sprache gewöhnlich als wesentliches Sekundärsymbol<br />

für zugrunde liegende Konfliktursachen sozioökonomischer,<br />

politischer, religiöser oder historischer Art. Hierdurch erscheint<br />

der Sprachkonflikt gewissermaßen als das ‚kleinere Übel‘, da offensichtlich<br />

sich in vielen Fällen Sprachkonflikte leichter korrigieren und<br />

neutralisieren lassen als primär soziopolitische und andere, außersprachlich<br />

bestimmte Konflikte. Politisierung und Ideologisierung des<br />

Faktors Sprache führen zu zahlreichen Konflikten, bei denen Sprache<br />

oft als nebensächlich erscheint, jedoch leicht als Sekundärsymbol eingesetzt<br />

werden kann. Die Reihe der Beispiele im gegenwärtigen Ost-<br />

und Südosteuropa ist endlos. Bosnien-Herzegowina: Wird neben dem<br />

erst 1992 aufgegebenen Serbokroatisch und den Nachfolgesprachen<br />

Serbisch und Kroatisch eine Sprache ‚Bosnisch‘ entstehen? Moldawien:<br />

Ist die Einheit eines Staates aufrecht zu erhalten, wenn das Land<br />

durch die gleiche Sprache getrennt wird, und zwar in unterschiedliche<br />

Alphabete (lateinisch und kyrillisch) und eine unterschiedliche Lexik?<br />

Weißrussland: Kann eine Sprache in einem jungen Staat überleben,<br />

wenn nur noch 10 % der Schuljugend auf Weißrussisch unterrichtet<br />

wird?<br />

4) Die Kontaktlinguistik macht nicht nur deutlich, dass Konflikte nicht<br />

ausschließlich negativ beurteilt werden sollten, sondern weist zugleich<br />

nach, dass aus Konflikten neue Strukturen entstehen können, die – im<br />

Falle der Minderheitssprecher – günstiger sein können als die vorhergehenden.<br />

Minoritologische Überlegungen zum Deutschen als Konfliktsprache 65<br />

3. ‚Natürliche‘ und ‚künstliche‘ Konflikte<br />

Es gibt neben den traditionellen Sprachkonflikten mit historischen Bezügen<br />

die gegenwärtigen Konflikte zwischen Migranten und einheimischer Bevölkerung,<br />

zwischen Autochthonen und Allochthonen, die für oder gegen ihre<br />

Assimilation, Integration etc. kämpfen. Hier handelt es sich um ‚natürliche‘<br />

Konflikte, die ich von den ‚künstlichen‘ und durch die Schaffung neuer<br />

(sprach)politischer Strukturen selbst erzeugten Konflikten unterscheiden<br />

möchte. Gerade letztere führen zu einem Vergleich des alten Babel mit dem<br />

modernen Brüssel: über 4000 Übersetzer und Dolmetscher, die in der Europäischen<br />

Union in 20 Amts- und Arbeitssprachen arbeiten, häufig beeinflusst<br />

und bedrängt von ein paar Dutzend Minderheitssprachen, von denen<br />

viele um ihr Überleben kämpfen. Fast ein Zahlenspiel: Wenn es neunzehn<br />

Möglichkeiten gibt, zwanzig Sprachen zu verwenden, dann ergeben sich<br />

daraus 380 Kombinationen, eine Vielzahl, die der flämische Maler Pieter<br />

Breughel bei der Anfertigung seines berühmten Gemäldes Der Turmbau zu<br />

Babel wohl noch nicht berücksichtigen konnte, da sein Gebäude nicht die<br />

ausreichende Zahl von Simultandolmetscherkabinen (auf dem Gemälde als<br />

„Fensterhöhlen“) enthält, die die gegenwärtige EU-Kommission benötigt.<br />

Es dürfte deutlich sein, dass auch die Schaffung eines einheitlichen Europas<br />

keine Lösung für natürlich gewachsene oder künstlich geschaffene Konflikte<br />

garantiert.<br />

Welche Lösungsmöglichkeiten bieten sich demnach an?<br />

1) Die Einführung einer Plansprache (Esperanto, Gebärdensprache) etc.;<br />

2) die Übernahme einer starken internationalen Verkehrssprache als lingua<br />

franca (Englisch);<br />

3) die Bevorzugung von wenigen Hauptsprachen (z. Bsp. Deutsch, Französisch<br />

und Englisch);<br />

4) die Beibehaltung des status quo (20 Amts- und Arbeitssprachen).<br />

Kann der gegenwärtige Zustand (Lösungsmöglichkeit 4), d. h. die Akeptanz<br />

der Sprachenvielfalt weiter ausgebaut und fortgesetzt werden? Zur Vermeidung<br />

babylonischer Verhältnisse werden sicherlich Einschränkungen der<br />

Sprachenfreiheit in Kauf genommen werden müssen. Die Erweiterung der<br />

EU wird das Schema der fast automatischen Anerkennung von Nationalsprachen<br />

als Gemeinschaftssprachen durchbrechen müssen und statt der<br />

vierten Lösung die dritte oder eine weitere ins Gespräch bringen.<br />

Die Schwierigkeiten bei der Förderung und Betreuung von Minderheitssprachen<br />

durch eine Amtsstelle der EU, an der Sprachenpolitik für die kleineren<br />

Sprachen und mit den europäischen Minderheiten bereits betrieben<br />

wird (Abteilung Sprachpolitik), zeigt, wie delikat und hindernisreich jegliches<br />

Engagement einer politischen Instanz sich gestaltet.


66<br />

Peter Hans Nelde<br />

Es gibt weder eine Einigung über die Zahl der Minderheitensprachen und<br />

-sprecher in der Union (mindestens 80 Minderheiten in Abhängigkeit von<br />

unterschiedlichen kontaktlinguistischen Definitionen) noch über ihre Bezeichnung<br />

– etwas hilflos und künstlich klingt der Terminus ‚lesser used<br />

languages‘ –, die allerdings im Französischen zu den terminologisch keineswegs<br />

deckungsgleichen ‚langues moins répandues‘ mutieren, noch über<br />

gemeinsame sprachpolitische Richtlinien dieser – wegen ihrer historisch<br />

gewachsenen Sozialstrukturen wohl unvergleichlichen – Sprachgemeinschaften.<br />

Ohne die beispielhafte Zurückhaltung der Minderheitensprachpolitiker<br />

wären neue ‚künstliche‘ Konflikte kaum vermeidbar.<br />

4. Deutsch als Konfliktsprache – ein Beispiel<br />

Obwohl Deutsch mit 95–100 Millionen Sprechern in Europa sicherlich nach<br />

dem Russischen die größte Sprache ist, fällt seine Zweit- und Drittrolle als<br />

Fremdsprache im Unterricht, als Originalsprache für Ausschreibungen und<br />

Erlässe der EU, als Verhandlungssprache in multinationalen Gipfelgesprächen,<br />

als Umgangssprache in den europäischen Institutionen, kurz als internationale<br />

Sprache besonders ins Auge. Dafür mag unter anderem das erhöhte<br />

Konfliktpotential des Deutschen ausschlaggebend sein. Dies sollen einige<br />

Beispiele erläutern:<br />

1) Das Deutsche weist einen hohen Grad von Konfliktgefährdung auf, da<br />

seine Kontaktfrequenz höher ist als die anderer Staaten. Das heutige<br />

Deutschland grenzt an neun Nachbarstaaten; in den meisten Nachbarländern<br />

wird Deutsch (als Minderheits- oder Mehrheitssprache) gesprochen;<br />

in wenigstens fünfzehn Staaten wird deutsch gesprochen.<br />

2) Deutschland kennt im Bereich der allochthonen Minderheiten eine<br />

besonders breite Konfliktdiversifizierung. Man möge sich nur einmal<br />

das Spektrum an Zuwanderern vor Augen führen, die sich in den letzten<br />

zwanzig Jahren um Aufnahme und Integration bemühten. Für den<br />

nicht Eingeweihten ist es sicherlich nicht ganz einfach, die Bezeichnungen<br />

für diese Zuwanderer zu unterscheiden und, falls sie bedeutungsgleich<br />

sind, den unterschiedlichen ideologischen Blickwinkel zu<br />

erkennen, der sich hinter dieser umfassenden Terminologie verbirgt:<br />

Fremdarbeiter, Gastarbeiter, ausländischer Arbeitnehmer, Arbeitsimmigrant,<br />

Arbeitsemigrant, Umsiedler, Aussiedler, Spätaussiedler, Rücksiedler,<br />

Asylant, Asylsucher, Wirtschaftsflüchtling, Migrant, Remigrant<br />

– um nur einige herauszugreifen. Für die interkulturelle Kommunikation<br />

innerhalb Europas kommt als weiteres Missverständnis bzw. als<br />

weiterer Konflikt die Tatsache hinzu, dass die anderen Mitgliedsländer<br />

(mit der Ausnahme Luxemburgs) keinen vergleichbaren Zuwandererschub<br />

kennen und deshalb in Ermangelung eines ähnlichen sachlichen<br />

Minoritologische Überlegungen zum Deutschen als Konfliktsprache 67<br />

und ideologischen Hintergrunds viele Begriffe in ihren eigenen<br />

sprachlichen Kontext nicht übertragen können.<br />

3) Ideologien spielen beim Sprachkontakt mit dem Deutschen offensichtlich<br />

eine besondere Rolle. So kann die Vergangenheit Deutschlands –<br />

und hier vor allem das Dritte Reich mit dem Zweiten Weltkrieg – als<br />

Konflikthypothek gesehen werden. Die „Bildformung“ – wie der ins<br />

Deutsche übertragene niederländische Terminus lautet – oder Stereotypbildung<br />

(BREITENSTEIN 1968) ist zur Genüge aus der medialen<br />

Unterhaltungsindustrie bekannt. Seit den fünfziger Jahren (!) erfolgreiche<br />

Fernsehserien und Sitcoms wie Hogan’s Hero’s/Ein Käfig voller<br />

Helden (in den USA auf vielen Sendern bis heute ausgestrahlt, in Zentraleuropa<br />

seit 2000 werktags täglich auf Kabel 1) oder jüngst Allo, allo<br />

(Großbritannien, seit 1998 auf verschiedenen westeuropäischen<br />

Sendern) sind hervorragende Beispiele einseitiger Schwarzweißdarstellungen,<br />

in denen die deutschen die ‚tumben Tore‘ abgeben – naive,<br />

plumpe Verbrecher, eingefangen mit einem Hauch folkloristisch untermauerter<br />

Sympathie: ein gefundenes Fressen für Attitüden- und Vorurteilsforscher.<br />

Die Folge dieser ‚Vergangenheitsbewältigung‘ ist –<br />

zumindest für Deutschlerner – ein Spracherwerb, der eine außersprachliche<br />

Hypothek mit einschließt und damit wohl den Zugang zum<br />

Deutschen erschwert.<br />

4) Deutsch ist die größte Minderheitensprache im gegenwärtigen Europa,<br />

wird mit völlig unterschiedlichen Staatsauffassungen und politischen<br />

Konzepten, Strukturen und somit Minderheitskonflikten konfrontiert.<br />

Weltanschauliche Symbiosen zwischen der Eigenkultur und der Gastlandkultur<br />

zu finden, zwischen früheren sozialistischen und auf der<br />

anderen Seite westlichen Demokratien, zwischen sozioökonomisch<br />

benachteiligten und am neoliberalen Aufschwung teilhabenden<br />

Staatsmehrheiten dürfte den Deutschen außerhalb der traditionell<br />

deutschsprachigen Staaten nicht immer leicht gefallen sein, wie ein<br />

Blick auf die Liste der wichtigsten Länder beweist, in denen Deutsch<br />

auch heute noch als Minderheitssprache gesprochen wird: Dänemark,<br />

Belgien, Luxemburg, Frankreich, Italien, Slowenien, Kroatien, Slowakei,<br />

Tschechien, Ungarn, Rumänien, Ukraine, Russland, Polen.<br />

5) Als Vorurteilskonflikt macht sich ein Lernkonflikt bemerkbar, der davon<br />

ausgeht, dass Deutsch eine besonders schwere Sprache sei. Argumentativ<br />

werden dabei objektive linguistische Kriterien und subjektive<br />

Kriterien vermischt, wie Herbert Christ (1980, 1992) überzeugend<br />

nachgewiesen hat.<br />

6) Obendrein wird sowohl der Erwerb wie die Beherrschung einer deutschen<br />

Standardsprache durch einen Plurizentrikkonflikt erschwert.


68<br />

Peter Hans Nelde<br />

‚Butcher‘ (engl.) und ‚boucher‘ (frz.) haben eben nicht eine, sondern<br />

zahlreiche Entsprechungen, die von allen Deutschsprachigen offensichtlich<br />

verstanden werden, von denen aber nur jeweils eine Entsprechung<br />

zum jeweiligen – aktiv verwendeten – Idiolekt gehört (Schlachter,<br />

Schlächter, Fleischer, Metzger etc.).<br />

7) Schließlich stellt sich das Deutsche als eine potentielle europäische<br />

Konfliktsprache dar, da die qualitative und quantitative internationale<br />

Unterrepräsentierung (vgl. den Gebrauch des Deutschen bei internationalen<br />

Organisationen wie UNO, UNESCO, aber auch bei der EU)<br />

im Falle einer sozioökonomischen oder politischen Benachteiligung<br />

aufgrund des relativ eingeschränkten Mitspracherechts der Deutschen<br />

gegebenenfalls zu Spannungen führen kann. Allerdings legen die<br />

Deutschen zur Zeit eine relativ große Disziplin an den Tag, das heißt,<br />

sie leiten aus der deutschen Förderung und Finanzierung internationaler<br />

Institutionen keine Machtansprüche ab und vermeiden alle aus einer<br />

sprachlichen Hintanstellung eventuell resultierenden Konflikte.<br />

Es wäre wünschenswert, wenn die hier angedeutete ‚Deutsch im Konflikt‘-<br />

Problematik einmal in einer multidisziplinären Gesamtdarstellung analysiert<br />

würde. Daraus ließen sich sicherlich Konfliktvermeidungsstrategien ableiten.<br />

Im europäischen Kontext, der durch zahlreiche Spannungen und Konflikte,<br />

in deren Mittelpunkt häufig unterdrückte, benachteiligte oder einfach<br />

kleine Sprachgemeinschaften (Minderheiten) stehen, soll nunmehr versucht<br />

werden, einige der Strategien, die zur Konfliktneutralisierung beigetragen<br />

haben, zu überprüfen.<br />

5. Ansätze zur Konfliktneutralisierung<br />

Welche Konzepte haben mehrsprachige Staaten in Europa entwickelt und<br />

welche von ihnen haben in mehrsprachigen Sprachgemeinschaften zu einem<br />

friedlicheren Miteinander geführt? Trotz einer zum Teil völlig unterschiedlichen<br />

Ausgangslage lassen sich einige gemeinsame Konzepte herausarbeiten,<br />

zu denen Länder wie Belgien, Luxemburg, aber auch die Schweiz und<br />

die in diesen Ländern verwendeten Konfliktvermeidungsstrategien in besonderer<br />

Weise beigetragen haben.<br />

a) Das Territorialprinzip<br />

Viele Einsprachige stellen sich ein zweisprachiges Land als eines vor, in<br />

dem die Bürger zwei Sprachen sprechen. Zweisprachigkeit kann jedoch<br />

auch bedeuten, dass zwei Sprachen Seite an Seite existieren und beide Sprachen,<br />

zumindest theoretisch, den gleichen Status und gleiche Rechte haben.<br />

Diese sogenannte institutionalisierte Mehrsprachigkeit ist eine Folge des<br />

Minoritologische Überlegungen zum Deutschen als Konfliktsprache 69<br />

Territorialprinzips, das den Bewohner einer Region, die von den zuständigen<br />

Behörden zu einem einsprachigen Gebiet erklärt wurde, zwingt, die<br />

Regionalsprache zumindest in der offiziellen Kommunikation zu gebrauchen.<br />

Das Territorialprinzip muss vom Individualprinzip unterschieden<br />

werden. Letzteres erlaubt jedem Sprecher den Gebrauch seiner Mutter- oder<br />

einer anderen Sprache in allen offiziellen und privaten Domänen unabhängig<br />

von seinem Wohnort.<br />

Obwohl das wenig flexible Territorialprinzip durchaus kritisch gesehen<br />

wird, funktioniert es in verschiedenen mehrsprachigen Ländern, besonders<br />

den reicheren wie Kanada, Belgien und der Schweiz, recht gut. Anfänglich<br />

standen sich die beiden Prinzipien der Mehrsprachigkeit z. B. in Belgien<br />

konträr gegenüber: Das Individualprinzip herrschte bis in die sechziger Jahre<br />

und führte infolge der sprachlichen Asymmetrie im Lande und des daraus<br />

folgenden hohen Prestiges der romanischen Sprache zu weitgehender Französierung<br />

des Landes. Bemerkenswert sind die Folgen des Territorialprinzips<br />

im zweisprachigen Brüssel. Hier wurde die berühmt-berüchtigte ‚liberté<br />

du père (!) de famille‘ (die Wahlmöglichkeit einer der nationalen Sprachen<br />

durch das Familienoberhaupt) erst in den siebziger Jahren aufgegeben. Statt<br />

für eine bilingualisierte Struktur hat sich Brüssel momentan für zwei parallele<br />

einsprachige Systeme in den offiziellen Domänen (Bildung, Verwaltung,<br />

‚Betriebssprache‘) entschieden. Die zwei größten Landesteile sind in<br />

Übereinstimmung mit dem Territorialprinzip mit Ausnahme einiger weniger<br />

Sprachgrenzgemeinden entweder einsprachig Französisch oder Niederländisch.<br />

Diese Anwendung des Territorialprinzips wurde von Außenstehenden<br />

gleichzeitig mit Ablehnung und Bewunderung aufgenommen, da so offenbar<br />

eine kleine mehrsprachige Nation überleben konnte. Die Konsequenzen<br />

für den einzelnen Sprecher sind im Falle Belgiens indes groß: während sozialer<br />

Aufstieg vor der Einführung dieses Konzeptes unabdingbar mit der<br />

Beherrschung zweier Sprachen (zumindest im Fall der flämischen und deutschen<br />

Bevölkerungsgruppen) verbunden war, kann das Leben heute in vielen<br />

Bereichen in einer Sprache verlaufen, nämlich der Sprache des jeweiligen<br />

Gebiets.<br />

Der belgische Staat ist sehr sensibel, was die Beachtung der Rechte der einzelnen<br />

Sprachgruppen im Land angeht. Selbst sehr kleinen Minderheiten<br />

wird ein gleichberechtigter Status eingeräumt. Ein Teil der deutschsprachigen<br />

Minderheit in Ostbelgien, die weniger als 1 % der Gesamtbevölkerung<br />

ausmacht, profitiert von der Sprachenregelung zwischen den beiden großen<br />

Landesteilen und wird ähnlich behandelt wie die Niederländisch- und Französischsprachigen,<br />

was zur Folge hat, dass Deutsch zur dritten Nationalsprache<br />

landesweit aufgestiegen ist. So sind z.B. alle Hinweisschilder auf


70<br />

Peter Hans Nelde<br />

dem Brüsseler Flughafen viersprachig – die drei offiziellen Sprachen Niederländisch,<br />

Französisch, Deutsch und obendrein – als internationale Luftverkehrssprache<br />

– Englisch und zwar konsequent in dieser Reihenfolge, um<br />

jede Hintansetzung einer Sprachgemeinschaft zu vermeiden. Auch die belgische<br />

Autobahnpolizei berücksichtigt entsprechend alle drei nationalen<br />

Sprachen und wird bei der Verhängung einer Verkehrsstrafe dem Autofahrer<br />

zuerst die Möglichkeit geben, sich zwecks Zahlung einer Strafe für Protokollzwecke<br />

für eine der drei nationalen Sprache zu entscheiden.<br />

Natürlich ist ein solches Vorgehen kostspielig, aber anscheinend im Rahmen<br />

von Sprachkonfliktvermeidungsstrategien doch sinnvoll. Wieviel andere<br />

Länder gestehen einer Sprache mit so wenig Sprechern einen solchen<br />

Status zu? Ohne Zuerkennung eines solchen Status ergäben sich aus dieser<br />

sprachlichen Asymmetrie jedoch auf lange Sicht wohl noch größere Konflikte<br />

und zwar sowohl im wirtschaftlichen wie im politischen Bereich. Die<br />

belgische Konfliktregelung kann mit einigen Einschränkungen somit in<br />

sprachplanerischer Hinsicht als Vorbild für die Europäische Union gelten.<br />

b) Entemotionalisierung<br />

Ein anderes positives Ergebnis des Sprachenstreites in Belgien ist eine gewisse<br />

Entemotionalisierung der Sprachenfrage. Es ist jedoch nicht leicht,<br />

Sprach- und Kulturkonflikten die Emotionen zu ‚entziehen‘ und diese Thematik<br />

zu versachlichen. Mit der Einführung des Territorialprinzips hoffte<br />

der belgische Gesetzgeber, dass eine strenge Sprachenregelung in wenigen<br />

grundsätzlichen Lebensbereichen genug Raum für die größtmögliche Freiheit<br />

des Sprachgebrauchs auf anderen Gebieten lassen würde. Während die durch<br />

das Territorialprinzip geforderte Einsprachigkeit in den meisten mehrsprachigen<br />

Ländern mindestens zwei Domänen betrifft (das Bildungssystem und die<br />

öffentliche Verwaltung), kommt in Belgien die ‚Betriebssprachendomäne‘<br />

hinzu. Wie bereits angedeutet, muss die Sprache des Territoriums in allen<br />

formellen Verträgen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gebraucht<br />

werden. Spannungen, die sich aus sozial determinierter Sprachwahl (wenn<br />

z.B. ein Manager eine andere Sprache als die Gewerkschaftsvertreter gebraucht)<br />

ergeben können, werden dadurch reduziert.<br />

Zusammen mit der Sprachgesetzgebung wurde ein Plan zur Föderalisierung<br />

und Regionalisierung entwickelt, der eine zentralisierte Sprachplanung nach<br />

dem Vorbild Frankreichs verhindern sollte. Da solch regionalisierte Sprachplanung<br />

(in Belgien ‚kommunalisiert‘ genannt) innerhalb der verschiedenen<br />

Sprachgruppen nur in einigen wenigen, aber nichtsdestoweniger entscheidenden<br />

Lebensbereichen angewendet wird, verhält sich der Staat in den übrigen<br />

Domänen überwiegend permissiv und kompensiert Gesetzesstrenge<br />

im sprachlich-kulturellen Bereich mit Liberalität und Toleranz.<br />

Minoritologische Überlegungen zum Deutschen als Konfliktsprache 71<br />

c) Sprachenzählungen<br />

Statt dem Vorbild Nordamerikas und Russlands zu folgen, die ihre Einwohner<br />

in groß angelegten Sprachenzählungen (‚Zensus‘) den vorhandenen<br />

Mehr- und Minderheitensprachen zuordnen, hat Belgien in der demographischen<br />

Erfassung von Minderheiten seinen eigenen Weg eingeschlagen, ausgehend<br />

von dem Prinzip, dass die Rechte und Pflichten einer Mehrheit oder<br />

Minderheit nicht ausschließlich von ihrer zahlenmäßigen Stärke abhängig<br />

seien. Dass die Größe einer Sprachgemeinschaft nicht mehr länger der entscheidende<br />

Faktor im Bereich der Sprachplanung ist, bedeutet, dass Überlegungen<br />

zum Schutz einer Sprachgemeinschaft von der Annahme ausgehen,<br />

dass eine numerische und sozioökonomisch benachteiligte Minderheit mehr<br />

Unterstützung als die mit ihr konfrontierte Mehrheit benötigt, um Gleichberechtigung<br />

zu erlangen. Demzufolge hat der belgische Staat die Sprachenzählung<br />

als Teil der Volkszählung abgeschafft und damit sicher auch beachtlich<br />

zu einer Entemotionalisierung beigetragen.<br />

Da Belgien sich in dieser Hinsicht von den meisten anderen mehrsprachigen<br />

Nationen unterscheidet, wollen wir die besonders konfliktträchtige Frage<br />

der Sprachenzählung etwas genauer betrachten. Wir haben hervorgehoben,<br />

dass Zweisprachigkeit stets asymmetrisch ist, bilinguale Sprecher werden<br />

immer aus dem einen oder anderen Grund in Abhängigkeit von ihrem sozioökonomischen<br />

Status, der kulturellen Identität, etc. eine Sprache bevorzugen.<br />

Deswegen kann die Datensammlung über Bi- oder Multilingualität<br />

in einer Region in Form einer zahlenmäßigen Erfassung der Sprecher kaum<br />

sozial zuverlässige Informationen liefern. So gaben in der Zählung von<br />

1933 in Martelingen, einem kleinen Dorf an der Grenze zwischen Luxemburg<br />

und Belgien, 93 % der Einwohner an, deutschsprachig zu sein, und nur<br />

7 % behaupteten, sie seien frankophon (NELDE 1979). 1947, bei der letzten<br />

amtlichen Volkszählung in Belgien, schien sich die Situation umgekehrt zu<br />

haben: die Mehrheit der Sprecher behauptete, sie seien Frankophone und<br />

nur wenige Prozent sahen sich selbst als Deutschsprecher. Der Grund für<br />

diesen Unterschied liegt auf der Hand: die meisten Dorfbewohner waren zu<br />

Zeiten beider Zählungen zweisprachig, jedoch wurde 1933 Deutsch aus<br />

weltanschaulicher Perspektive (Zeit des Faschismus) eher bevorzugt, während<br />

die gleiche Sprache 1947 – nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg –<br />

wenig beliebt war und es folglich wünschenswert erschien, mehr Französisch<br />

zu sprechen. Deshalb sollten quantitative Daten einer Sprachenzählung<br />

in mehrsprachigen Konfliktsituationen mit Skepsis behandelt werden,<br />

da die Informationen, die sie über Mehrsprachigkeit zu geben scheinen, oft<br />

durch außersprachliche Faktoren verzerrt sind.


72<br />

Peter Hans Nelde<br />

d) Positive Diskriminierung<br />

Als logische Konsequenz aus den Vorüberlegungen zur Entemotionalisierung<br />

und zur Sprachenzählung soll die positive Diskriminierung von<br />

Sprachminderheiten in den Mittelpunkt gerückt werden, ein Aspekt, der von<br />

großem Nutzen für die sprachlichen Minderheiten im zukünftigen Europa<br />

sein könnte. Positive Diskriminierung heißt, dass die Minderheit mehr<br />

Rechte und Vorteile bekommt, als ihr zahlenmäßig nach dem Proporzsystem<br />

zustünden, um ein vergleichbares sprachliches Reproduktionspotential<br />

wie die Mehrheit entwickeln zu können.<br />

Im Falle der hier besprochenen asymmetrischen und insbesondere der institutionalisierten<br />

Mehrsprachigkeit sollte, wenn nötig, die Struktur des Bildungssystems<br />

die Minorität explizit fördern, um zu entsprechenden Ergebnissen<br />

wie die Mehrheit zu gelangen. In der Praxis kann das z.B. bedeuten,<br />

im Schulunterricht kleinere Klassenstärken für kleinere Sprachgruppen zu<br />

akzeptieren, sowie für bessere Bezahlung der Lehrkräfte, an die besondere<br />

Anforderungen gestellt werden, zu sorgen. Minderheitsschüler sollten mehr<br />

Rechte und Vorteile haben, gerade weil sie vom Sozialprestige her und auch<br />

zahlenmäßig oft die schwächere Gruppe sind, damit sie auf lange Sicht die<br />

gleichen sozialen Aufstiegschancen wie die Mehrheitsbevölkerung haben.<br />

Eine andere Form positiver Diskriminierung ist eine Belohnung aller derjenigen,<br />

die in einer zweisprachigen Situation ihren Lebensunterhalt verdienen<br />

müssen. So könnte z.B. ein Briefträger in einer mehrsprachigen Stadt<br />

wegen des erhöhten Arbeitsaufwandes mehr verdienen als sein einsprachiger<br />

Arbeitskollege. Offensichtlich würde das auch zu einer Hebung des Prestiges<br />

und des Status von Zweisprachigen führen.<br />

6. Kontaktlinguistische Evaluierung<br />

Dieser Bereich der kontaktlinguistischen Forschung wächst und verändert<br />

sich ständig. Die Gründe hierfür sind überdeutlich: Erstens lagen die dörflichen<br />

Gemeinschaften, die die Sprache und andere Identitätsmarker ihrer<br />

Minderheit konservierten, oft in der Peripherie der verschiedenen europäischen<br />

Staaten, und aus diesem Grunde wurden sie in der Vergangenheit<br />

häufig als marginal betrachtet. Wenn sie am Wohlstand und ökonomischen<br />

Fortschritt teilhaben wollten, mussten sie sich in den Prozess der Urbanisierung<br />

und Industrialisierung integrieren. Sie verloren während dieses Prozesses<br />

in vielen Fällen ihre Besonderheiten, einschließlich ihrer Sprache. Nun<br />

finden sich eine Reihe dieser Gemeinschaften im Herzen des neuen Europa<br />

wieder, da sie entlang der Grenzen und damit in neuen Kontaktachsen liegen.<br />

Geographisch und geopolitisch sind sie somit nicht länger marginal.<br />

Weiterhin kann es durchaus sein, dass ein übernationales Europa Regionalismus<br />

eher toleriert als die früheren Nationalstaaten. Das bedeutet, dass<br />

Minoritologische Überlegungen zum Deutschen als Konfliktsprache 73<br />

sich diese Gemeinschaften in einem Umschichtungsprozess befinden. Es ist<br />

notwendig, diesen Prozess zu untersuchen. Um zu verstehen, was in einigen<br />

dieser Gemeinschaften bereits passiert ist und noch passieren wird, müssen<br />

wir uns vor allem mit den Sprechergruppen beschäftigen, denen es gelungen<br />

ist, ihre Sprache und Tradition zu erhalten. Minderheitsgruppen wie die Katalanen<br />

geben Aufschluss darüber, was zur Erhaltung und Förderung einer<br />

Minderheitengruppe beitragen kann. Hier verdient die lokale und regionale<br />

Entwicklung mehr Aufmerksamkeit.<br />

Zweitens ist die Mehrsprachigkeit in europäischen Großstädten ein relativ<br />

junges Phänomen. In einigen Fällen wurde sie bereits genauer – empirisch –<br />

unter die Lupe genommen, in anderen Fällen bleibt noch eine Menge zu tun,<br />

um die kontaktlinguistische Entwicklung besser zu verstehen. Es betrifft<br />

hier ein Gebiet, in dem sich Vorurteilsforschung und Linguistik oft berühren<br />

und wo sich Probleme und Konflikte aus multilingualem und multikulturellem<br />

Kontakt ergeben können. Diese erklären sich soziologisch aus Versuchen<br />

der dominanten Gruppe, sozialen Aufstieg für ihre Mitglieder zu<br />

sichern, aber auch aus einem Gefühl der Bedrohung, da sich durch den Zuzug<br />

anderer Gruppen die eigene Identität zu verwischen scheint.<br />

Drittens bleibt das Problem der Sprachen in der Europäischen Union weitgehend<br />

undiskutiert und deshalb ungelöst. Was immer die Lösung sein wird<br />

– drei, vier, elf oder zwanzig Arbeitssprachen – das Europa der Zukunft<br />

wird nicht einsprachig sein. Der Beitritt der skandinavischen Nachbarn –<br />

Länder, die traditionell Englisch als Zweitsprache bevorzugen – und Österreichs<br />

zur Union 1995 komte bereits das bisherige sprachliche Machtgleichgewicht<br />

in Brüssel, Luxemburg und Straßburg verändern und hat bereits<br />

die Debatte neu belebt.<br />

Viertens müssen wir uns mit den Sprachkonflikten entlang der Grenzen der<br />

erweiterten EU im Osten auseinander setzen, wo Sprache mehr und mehr zu<br />

einem Symbol wiedererwachenden Nationalismus zu werden scheint. Hier<br />

muss zwischen Konflikten mit historischen Wurzeln und solchen, die künstlich<br />

– aus Gründen der Grenzverschiebung, der Staatsneugründung oder einfach<br />

aus ideologischen Motiven – entfacht wurden, unterschieden werden.<br />

Mögliche Ursachen für Sprachkonflikte existieren demnach überall in der<br />

Welt wie auch in Europa, die sich häufig als polarisierende Tendenzen bemerkbar<br />

machen: Neben länderübergreifenden Zusammenschlüssen<br />

(NAFTA in Nord- und Mittelamerika, EU in Europa) nehmen gleichzeitig<br />

Nationalismus und Regionalismus zu (Euregio, Alpen-Adria-Regio, Neugründungen<br />

wie Slowenien, Estland u.v.a.). Aus der Geschichte kennen<br />

wir die möglichen Konsequenzen der Unterdrückung von Konflikten. Deshalb<br />

sollten wir als Kontaktlinguisten sinnvolle Beiträge zur Analyse, Beschreibung<br />

und Kontrolle komplexer linguistischer Situationen leisten, wie


74<br />

Peter Hans Nelde<br />

sie sich vor den Augen des Forschers welt- und europaweit tagtäglich abspielen.<br />

7. Schlussbemerkung<br />

Wir haben uns bei unseren Überlegungen zur Sprachideologie von kontaktlinguistischen<br />

Analysen zur Sprachpolitik leiten lassen und dabei auf eine<br />

Grundsatzdiskussion zum Begriff Ideologie in den jeweiligen Sprachräumen<br />

(die englische ‚ideology‘ und die französische ‚idéologie‘ im Gegensatz<br />

zur deutschen ‚Weltanschauung‘) verzichtet. Ideologie als Teil sämtlicher<br />

gegenwärtiger Herrschaftsformen, als Kolonialismus oder als<br />

Postkolonialismus unter dem Feigenblatt der Demokratie, als Teil modernistischer<br />

oder postmodernistischer Gesellschaftsanalysen hat längst in Soziologie<br />

und Kontaktlinguistik Einzug gehalten, wie Louis-Jean Calvets Arbeiten<br />

zum ‚Krieg der Worte‘ und zur ‚Glottophagie‘, in jüngster Zeit aber<br />

auch im modernen Konzept eines Diskurses der Streitkultur (argument culture)<br />

Deborah Tannens zur Genüge gezeigt haben. Eine Verflechtung dieser<br />

unterschiedlichen Ansätze würde die kontaktlinguistische Diskussion um<br />

ideologische Aspekte der Sprachpolitik vermutlich bereichern.<br />

Literatur<br />

DE BOT, Kees (1997): Neldes Law Revisited: Dutch as a Diaspora Language.<br />

– In: W. Wölck, A. de Houwer (Hg.), Recent Studies in Contact Linguistics<br />

(Plurilingua XVIII), Bonn: Dümmler, 51–59.<br />

BREITENSTEIN, Rudolf (1968): Der häßliche Deutsche? München: Beck.<br />

CALVET, Louis-Jean (1987): La guerre des langues et les politiques linguistiques.<br />

Paris: Payot.<br />

CHRIST, Herbert (1980): Fremdsprachenunterricht und Sprachenpolitik.<br />

Stuttgart: Klett-Cotta.<br />

CHRIST, Herbert (1992): Fremdsprachenunterricht für das Jahr 2000.<br />

Stuttgart: Klett-Cotta.<br />

GOEBL, Hans/NELDE, Peter et al. (Hg.) (1996): Kontaktlinguistik I. Berlin,<br />

New York: de Gruyter (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft<br />

12).<br />

GOEBL, Hans (1997): Die altösterreichische Sprachenvielfalt und -politik<br />

als Modellfall von heute und morgen. – In: U. Rinaldi, R. Rindler-Schjerve,<br />

M. Metzeltin (Hg.), Sprache und Politik, Wien: Istituto Italiano di Cultura,<br />

103–121.<br />

Minoritologische Überlegungen zum Deutschen als Konfliktsprache 75<br />

GRIN, François (1996): The economics of language: survey, assessment<br />

and prospects. – In: International Journal of the Sociology of Language<br />

121, 17–44.<br />

HAARMANN, Harald (1980): Multilingualismus I, II. Tübingen: G. Narr.<br />

MATTHEIER, Klaus (1984): Sprachkonflikte in einsprachigen Ortsgemeinschaften.<br />

Versuch einer Typologie. – In: E. Oksaar (Hg.), Spracherwerb,<br />

Sprachkontakt, Sprachkonflikt. Berlin, New York: de Gruyter, 197–204.<br />

NELDE, Peter (1976): Volkssprache und Kultursprache. Wiesbaden: Steiner.<br />

NELDE, Peter/STRUBELL, Miquel/WILLIAMS, Glyn (1995): Euromosaic<br />

(I) – Produktion und Reproduktion der Minderheiten-Sprachgemeinschaften<br />

in der Europäischen Union. Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen<br />

der EG.<br />

NELDE, Peter/STRUBELL, Miquel/WILLIAMS, Glyn (2000): Euromosaic<br />

(II) (unveröffentliches Manuskript).<br />

NELDE, Peter et. al. (2005): Euromosaic (III) (im Druck).<br />

OKSAAR, Els (1980): Mehrsprachigkeit, Sprachkontakt, Sprachkonflikt. –<br />

In: P. Nelde (Hg.), Sprachkontakt und Sprachkonflikt. Wiesbaden: Steiner,<br />

43–52.<br />

TANNEN, Deborah/LEAPMAN, Michael (1999): The argument culture:<br />

changing the way we argue and debate. London: Virago.


Sprachpragmatische Grundlagen der Sprachgeschichtsschreibung<br />

Peter Ernst<br />

Der Ruf nach einer „Pragmatisierung der Sprachwissenschaft“ ist nicht neu.<br />

Spätestens seit der ‚Pragmatischen Wende‘ zu Ende der 60er-Jahre des 20.<br />

Jahrhunderts, die die gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaften eingefordert<br />

hat, fragt man nach der konkreten kommunikativen Funktion historischer<br />

Sprachen, etwas, das man als ‚Historische Pragmatik‘ oder „Historische<br />

Pragmalinguistik“ bezeichnen könnte, je nachdem, wie weit oder eng<br />

man den Begriff Pragmatik verstehen will. Um diesen Ruf besser verstehen<br />

zu können, sollte man sich das klassische dreistufige Semiotikmodell von<br />

Charles William Morris wieder ins Gedächtnis bringen, das das sprachliche<br />

Zeichen in Beziehung setzt zu anderen sprachlichen Zeichen (Syntaktik), zu<br />

den Designata (Semantik) und schließlich zu den Sprachverwendern (Pragmatik)<br />

(vgl. MORRIS 1938/1972). Grundlage jeglicher sprachpragmatischer<br />

Überlegungen sind also der Zeichenverwender und die konkrete<br />

Situation der Zeichenverwendung.<br />

Wer nun aber gleich einen „Paradigmenwechsel“ in der Historischen<br />

Sprachwissenschaft im Sinne von Kuhns „wissenschaftlicher Revolution“<br />

sehen will (KUHN 1969), sollte nicht vergessen, dass man von Beginn der<br />

modernen Sprachwissenschaft am Anfang des 19. Jahrhunderts auch stets<br />

den Zeichenverwender im Auge hatte und sich nicht scheute, ihn bei der<br />

Sprachbeschreibung mit einzubeziehen – auch wenn man dies natürlich<br />

nicht Sprachpragmatik genannt hat.<br />

1. Aufgaben und Ziele der Historischen Pragmalinguistik<br />

Die Sprachpragmatik betrachtet Sprache bekanntlich als Handeln und handeln<br />

kann man sowohl mit mündlichen als auch mit schriftlichen Sprachformen.<br />

Sprache als Form sozialen Handelns betrifft ihre Einbettung in soziale<br />

und situative Zusammenhänge, wie sie an bestimmten sprachlichen<br />

Mitteln (z.B. der Deixis, dem Ausdruck der Sozialstellung des Sprechers<br />

oder Adressaten u.v.a.m.) auch in historischen Texte greifbar wird<br />

(CHERUBIM 1984: 803).<br />

In diesem Sinne gibt es eine Reihe von Strömungen der historischen<br />

Sprachwissenschaft, die in ihren Grundansichten und ihrer Methodik durchaus<br />

als Vorläufer der Historischen Pragmatik angesehen werden können:


78<br />

Peter Ernst<br />

• die Frage nach den sprachexternen Ursachen von Laut- und Sprachwandel<br />

• kulturgeschichtlich bedingte Änderungen im Wortschatz (historische<br />

Semantik)<br />

• die Verbindung zwischen (lokal)historischen Vorgängen und sprachlichen<br />

Erscheinungen (Theodor Frings)<br />

• der Einfluss der Kultur- und Geistesgeschichte auf die Sprache (Konrad<br />

Burdach)<br />

• die Frage nach der Verwendung bestimmter Gegenstände und ihre Spuren<br />

in der Benennung dieser Gegenstände (‚Wörter und Sachen‘, dazu<br />

PANAGL 1977: 400) u.a.m.<br />

Eine pragmatisch ausgerichtete Sprachgeschichtsschreibung muss über die<br />

Ziele einer reinen historischen Linguistik hinausgehen. Die Ziele der historischen<br />

Pragmalinguistik kann man weiter differenzieren, indem man sucht<br />

nach<br />

• „Sprachgebrauchskonventionen in einer (bestimmten) historischen Sprach(gebrauchs)gemeinschaft“<br />

und<br />

• der „Entwicklung bestimmter Sprachgebrauchskonventionen über einen<br />

bestimmten Zeitraum“ hinweg (vgl. BAX 1983: 3).<br />

Dies kann sich in mehreren konkreten Richtungen äußern wie:<br />

• in den Ansätzen einer pragmatisierten historischen Semantik, die etwa<br />

Bedeutungswandel nicht nur durch die Umprägung von Inhalten erklärt,<br />

sondern das kultur- und geistesgeschichtliche Umfeld sowie die Einwirkung<br />

von Situation und Sprachhandlungselementen mit berücksichtigt;<br />

• einer historischen Sprechakttheorie, die bestimmte Sprachhandlungstypen<br />

aus schriftlichen Dialogstrukturen extrahiert. Es erhebt sich dabei<br />

die Frage, ob Unterschiede zwischen historisch dokumentierten Sprechakten<br />

(etwa der rituellen Beschimpfung des Feindes vor dem Kampf)<br />

und heutigem Sprachgebrauch festgestellt werden können;<br />

• einer historischen Partikelforschung, die derzeit nur in Ansätzen vorliegt;<br />

• einer historisch ausgerichteten Überprüfung der Grice’schen Konversationsmaximen,<br />

etwa ob sie für frühere Zeiten auch gelten bzw. inwieweit<br />

sie modifiziert werden könnten;<br />

• einer historischen Textlinguistik, d. h. einer Textgrammatik, die ihre<br />

Verfahrensweisen an historischen Texten erprobt und gegebenenfalls<br />

modifiziert oder neu formuliert;<br />

• einer historischen Soziolinguistik u. a. m.<br />

Sprachpragmatische Grundlagen der Sprachgeschichtsschreibung<br />

Schließlich kann die pragmatische Sprachgeschichtsforschung wie jede Wissenschaftsdisziplin<br />

als reiner Selbstzweck betrieben werden oder mit konkreten<br />

Applikationsabsichten, etwa als Hilfsmittel, um literarische und andere<br />

Texte aus dem historischen Kontext interpretieren zu können.<br />

2. Sprachpragmatische Grundlagen der Sprachgeschichtsschreibung<br />

Dabei sind prinzipiell mehrere Untersuchungsarten denkbar: Man kann historische<br />

Texte eindimensional auffassen und danach fragen, welche Kommunikationsvorgänge<br />

in einem Text geschildert werden; man kann also<br />

Dialoge (direkte Rede) untersuchen oder Reflexe gesprochener Sprache und<br />

daran die pragmalinguistischen Methoden anwenden.<br />

Es gibt Texte, die gesprochene Sprache, etwa direkte Rede, schriftlich festhalten<br />

analog zur mündlichen Kommunikation. Eine Reihe von Untersuchungen<br />

zur historischen Pragmalinguistik fallen in diese Sparten, etwa jene<br />

von Stefan Sonderegger (1980) über das gesprochene Althochdeutsch oder<br />

von Helmut Henne (1980) zur Rekonstruktion gesprochener Sprache im<br />

18. Jahrhundert. Marcel Bax (1991) hat in historischen Texten wie dem<br />

Hildebrandslied und anderen Werken Dialogstrukturen offen gelegt, Peter<br />

Wiesinger (1996) suchte nach den Reflexen gesprochener Sprache im bairischen<br />

Frühneuhochdeutsch. Allerdings werden auf diese Art nur Sprachhandlungen,<br />

die gleichsam im Text ‚eingefroren‘ sind, dokumentiert. Man<br />

muss aber nicht auf dieser Stufe stehen bleiben. Ein Text interagiert nämlich<br />

auch mit dem Rezipienten, für den er gedacht ist, und zwar im Augenblick<br />

der Rezeption. Das soziale Handeln tritt also aus der Textebene heraus und<br />

wird gleichsam ‚zweidimensional‘. Zu jedem Text gehört aber nicht nur ein<br />

(realer oder fiktiver) Rezipient, sondern natürlich auch ein Textproduzent<br />

oder Autor. Damit tritt eine weitere Dimension hinzu.<br />

Wenn wir die Vorgänge des Textproduzierens und -rezipierens als eigenständige<br />

Stufen ansehen, so müssen sie sich in ihrer Wesensart vom reinen<br />

Text, der gleichsam als ‚Konservierungsmittel‘ dieser Vorgänge dient, unterscheiden.<br />

Dies ist nicht unwesentlich für unser Modell, denn auch diese<br />

Zeit kann auf die Produktion und Rezeption einwirken:<br />

a) auf die Produktion insofern, als ein Text für spätere Rezipienten konzipiert<br />

sein kann oder aber darauf vergessen wird, dass ein Text (auch) zu<br />

einem späteren Zeitpunkt rezipiert wird<br />

b) auf die Rezeption insofern, als die verstrichene Zeit die Rezeption einschränken<br />

oder generell unmöglich machen kann.<br />

3. Ein sprachpragmatisches Textmodell für die Sprachgeschichte<br />

Um keine terminologischen Missverständnisse hervorzurufen und vor allem<br />

um nicht den anachronistischen Verdacht aufkommen zu lassen, die Lingui-<br />

79


80<br />

Peter Ernst<br />

stik fühle sich gegenüber naturwissenschaftlichen Disziplinen benachteiligt<br />

und strebe deswegen die Verwendung ihrer Terminologie an, werden wir im<br />

Folgenden statt des Ausdrucks ‚Dimension‘ den Ausdruck ‚Ebene‘ bevorzugen.<br />

Mit ‚Ebene‘ werden die Textebene und die außersprachliche Ebene<br />

(Produzent und Rezipient) vom linearen Vorgang der Produktion, Rezeption<br />

sowie der Textbezüge (mit ‚Stufe‘ bezeichnet) unterschieden.<br />

Wenn wir die Vorgänge des Textproduzierens und -rezipierens als eigenständige<br />

Stufen ansehen, so müssen sie sich in ihrer Wesensart vom reinen<br />

Text, der gleichsam als Konservierungsmittel dieser Vorgänge dient, unterscheiden.<br />

Wir kommen damit zu folgender Matrix:<br />

Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3<br />

Produzent Ebene 1 Rezipient<br />

Ebene 2 Text Text Ebene 2<br />

Unter Ebene 1 können die sprachexternen Aspekte von Sprache subsumiert<br />

werden, unter Ebene 2 die sprachinternen. Ebene 1 umfasst damit alles, was<br />

üblicherweise als Kontext bezeichnet wird: Die Umstände der Produktion<br />

(Ebene 1, Stufe 1) und der Rezeption (Ebene 1, Stufe 3). Damit sind die<br />

außersprachlichen Bezüge gemeint wie Situation, Ort und Zeit der Äußerung,<br />

Sozialverhalten der Teilnehmer usw. So wird dieser Teil der Kommunikation<br />

im eigentlichen Sinn pragmalinguistisch, denn einer Tradition seit<br />

Bloomfield folgend, kann man diese sprachexternen Begleitumstände als<br />

‚Bedeutung‘ des sprachlichen Zeichens auffassen:<br />

Genauso sagen wir, dass eine an sich unbedeutende sprachliche Äußerung wichtig ist, weil sie<br />

eine Bedeutung hat: Die Bedeutung besteht aus eben jenen wichtigen Dingen, mit<br />

denen die Sprachäußerung verbunden ist, nämlich den nichtsprachlichen Vorgängen.<br />

(BLOOMFIELD 2001: 54).<br />

Die Stufen 1 bis 3 sind linear aufzufassen, da sie chronologisch aufeinander<br />

folgen: Zuerst muss ein Text verfasst werden, bevor er rezipiert werden<br />

kann. Sie sind aber nicht als synchron zu verstehen, da zwischen dem Produzieren<br />

und dem Rezipieren des Textes eine Zeitspanne verstreichen kann,<br />

die von sprachexternen Faktoren (Qualität des Schreibmaterials) oder<br />

sprachinternen Faktoren (Veränderung des Sprachsystems) determiniert ist.<br />

Dies ist nicht unwesentlich für unser Modell, denn auch diese Zeit kann auf<br />

die Produktion und Rezeption einwirken:<br />

Sprachpragmatische Grundlagen der Sprachgeschichtsschreibung<br />

1. auf die Produktion insofern, als ein Text für spätere Rezipienten konzipiert<br />

sein kann oder aber vergessen wird, dass ein Text (auch) zu einem späteren<br />

Zeitpunkt rezipiert wird;<br />

2. auf die Rezeption insofern, als die verstrichene Zeit die Rezeption einschränken<br />

oder generell unmöglich machen kann.<br />

Diese Produktions- und Rezeptionsvorstellungen werden üblicherweise<br />

auch als Sinn angesprochen. Das Modell hat den Vorteil, nicht nur die Phasen<br />

der Textproduktion und -rezeption besser unterscheiden zu können,<br />

sondern auch sprachpragmatische Aspekte wie die Produzentenintention<br />

und die Rezipientenerwartung einbeziehen zu können:<br />

Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3<br />

Produzent Ebene 1 Rezipient<br />

Ebene 2 Text Text Ebene 2<br />

Zu den Aufgaben der historischen Pragmalinguistik gehört nicht nur, Phänomene<br />

zu untersuchen, die der zweiten Ebene angehören. Diesem Bereich<br />

entstammt die Textkritik, die seit den Zeiten von Karl Lachmann großartige<br />

Erfolge zu verzeichnen hat. Sie bleibt jedoch immer nur der Textebene verhaftet<br />

in dem Sinn, dass die strenge Lachmann’sche Textkritik von einem<br />

einzigen und einheitlichen Archetyp ausgeht, der durch Handschriftenvergleich<br />

rekonstruiert werden kann. Im Gegensatz dazu kann man den Entstehungsprozess<br />

eines Werks auch als Übergang von Ebene 1 in Ebene 2 verstehen,<br />

an dem nicht nur der Autor, sondern auch die verschiedenen<br />

Schreiber, Redaktoren oder später Setzer und Buchdrucker aktiv und textkonstituierend<br />

beteiligt sind.<br />

Ebene 2 gehören alle Belange an, die die Textinterna betreffen. Kriterium<br />

für ihre Aufrechterhaltung ist die Identität des Kanals; also bleiben auch<br />

Elemente der gesprochenen Sprache, wenn sie im Text ‚eingefroren‘ sind,<br />

in diesem Gegenstandsbereich.<br />

Obwohl die Erkenntnisse aus der zweiten Stufe von Belang sind, erscheint<br />

es wichtiger, die erste und dritte Stufe (auf Ebene 1) zu analysieren. So<br />

kann man in Stufe 1, wie bereits erwähnt, leichter differenzieren zwischen<br />

dem Willen des Autors und dem des Schreibers. Andererseits sind Autoren<br />

bzw. Schreiber durch ihr Wissen und die (wahren oder vermuteten) textkonstitutiven<br />

Merkmale an die Anforderungen ihres Textes gebunden. Dies<br />

81


82<br />

Peter Ernst<br />

wird durch den Pfeil vom Text in Richtung auf den Produzenten symbolisiert.<br />

Auf Stufe 3 wiederum kann die Erwartungshaltung der Rezipienten<br />

auf den Text einwirken. Zu fragen ist nach der Erwartung, die ein Rezipient<br />

an einen Text stellt, was er darin zu finden meint und inwieweit dies zurückwirkt<br />

auf die Produktion des Textes, wenn dem Produzenten die Erwartungshaltung<br />

des Rezipienten bekannt ist (an dieser Stelle möchte ich mich<br />

bei meinem Freund und Kollegen Dr. Arne Ziegler, Münster, herzlich für<br />

die fruchtbaren Diskussionen bedanken).<br />

Die Tauglichkeit dieses Modells sollte sich an praktischen Untersuchungen<br />

erweisen. Auch sollte ein Modell so geartet sein, dass es in entsprechender<br />

Weise abgeändert oder modifiziert werden kann. All dies hat durch die Praxis<br />

pragmatischer Sprachgeschichtsforschung zu erfolgen (vgl. dazu in<br />

ERNST 2001, 2002, <strong>2004</strong> sowie die wichtigen Arbeiten von MEIER <strong>2004</strong><br />

und ZIEGLER 2003). 1<br />

Literaturverzeichnis<br />

BAX, Marcel M. H. (1983): Die lebendige Dimension toter Sprachen. Zur<br />

pragmatischen Analyse von Sprachgebrauch in historischen Kontexten. –<br />

In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 11, 1–21.<br />

BAX, Marcel M. H. (1991): Historische Pragmatik: Eine Herausforderung<br />

für die Zukunft. – In: D. Busse (Hg.), Diachrone Semantik und Pragmatik.<br />

Untersuchungen zur Erklärung und Beschreibung des Sprachwandels (=<br />

Reihe Germanistische Linguistik 113). Tübingen: Niemeyer, 37–65.<br />

BLOOMFIELD, Leonard (2001): Die Sprache. Deutsche Erstausgabe,<br />

übersetzt, kommentiert und herausgegeben von P. Ernst und H. Ch. Luschützky.<br />

Wien: Edition Praesens.<br />

CHERUBIM, Dieter (1984): Sprachgeschichte im Zeichen der linguistischen<br />

Pragmatik. – In: W. Besch, O. Reichmann, S. Sonderegger (Hg.),<br />

Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache<br />

und ihrer Erforschung (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft<br />

2.1). Berlin, New York: de Gruyter, 802–815.<br />

ERNST, Peter (1994): Die Anfänge der frühneuhochdeutschen Schreibsprache<br />

in Wien (= Schriften zur diachronen Sprachwissenschaft 3). Wien: Edition<br />

Praesens..<br />

1 Siehe hierzu auch die Besprechung von Boková (<strong>2004</strong>) in diesem Bnd.<br />

Sprachpragmatische Grundlagen der Sprachgeschichtsschreibung<br />

ERNST, Peter (1995): Anfänge der frühneuhochdeutschen Schreibsprache<br />

in Wien. – In: Österreich in Geschichte und Literatur mit Geographie 39<br />

Heft 3 (276), 173–188.<br />

ERNST, Peter (2001): Pragmatische Aspekte der historischen Kanzleisprachenforschung.<br />

– In: Deutsche Kanzleisprachen im europäischen Kontext.<br />

Beiträge zu einem internationalen Symposium an der Universität <strong>Regensburg</strong>,<br />

5. bis 7. Oktober 1999 (= Beiträge zur Kanzleisprachenforschung 1).<br />

Hrsg. von A. Greule. Wien: Edition Praesens, 17–31.<br />

ERNST, Peter (2002): Pragmalinguistik. Grundlagen, Anwendungen, Probleme.<br />

Berlin, New York: de Gruyter.<br />

ERNST, Peter (<strong>2004</strong>): Kanzleisprachen als Quelle der Historischen Pragmalinguistik.<br />

– In: H. Boková (Hg.), Zur Erforschung des Frühneuhochdeutschen<br />

in Böhmen, Mähren und der Slowakei. Vorträge der internationalen<br />

Tagung veranstaltet vom Institut für Germanistik der Pädagogischen Fakultät<br />

der Südböhmischen Universität. České Budějovice 20.–22. September<br />

2001. Wien: Edition Praesens, 9–19.<br />

HENNE, Helmut (1980): Probleme einer historischen Gesprächsanalyse.<br />

Zur Rekonstruktion gesprochener Sprache im 18. Jahrhundert. – In: H. Sitta<br />

(Hg.), Ansätze zu einer pragmatischen Sprachgeschichte. Zürcher Kolloquium<br />

1978 (= Reihe Germanistische Linguistik 21). Tübingen: Niemeyer,<br />

89–102.<br />

KUHN, Thomas K. (1969): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.<br />

Frankfurt/Main: Suhrkamp.<br />

MEIER, Jörg (<strong>2004</strong>): Städtische Kommunikation in der Frühen Neuzeit.<br />

Historische Soziopragmatik und Historische Textlinguistik (= Deutsche<br />

Sprachgeschichte, Texte und Untersuchungen 2). Frankfurt/Main: Lang.<br />

MORRIS, Charles William (1938): Foundations of the Theory of Signs.<br />

Chicago. (= International Encyclopedia of Unified Science I, Foundations<br />

of the Unity of Science 2). Deutsche Ausgabe: Grundlagen der Zeichentheorie,<br />

Ästhetik der Zeichentheorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972.<br />

PANAGL, Oswald (1977): Pragmatische Perspektiven in der historischen<br />

Sprachwissenschaft. – In: G. Drachmann (Hg.), Akten der 2. Salzburger<br />

Frühlingstagung für Linguistik. Salzburg vom 29. bis 31. Mai 1975. Tübingen:<br />

Niemeyer, 388–412.<br />

POLENZ, Peter von (1980): Zur Pragmatisierung der Beschreibungssprache<br />

in der Sprachgeschichtsschreibung. – In: H. Sitta (Hg.), Ansätze zu einer<br />

pragmatischen Sprachgeschichte (= Reihe Germanistische Linguistik 21).<br />

Zürcher Kolloquium 1978. Tübingen: Niemeyer, 36–51.<br />

83


84<br />

Peter Ernst<br />

QUASTHOFF, Uta (1975): ‚Homogenität‘ versus ‚Heterogenität‘ als Problem<br />

der historischen Sprachwissenschaft. – In: Beiträge zur Grammatik<br />

und Pragmatik (= Skripten Linguistik und Kommunikationswissenschaft<br />

12). Hrsg. von V. Ehrich und P. Finke. Kronberg/Taunus, 1–21.<br />

SITTA, Horst (1980) (Hg.): Ansätze zu einer pragmatischen Sprachgeschichte.<br />

Zürcher Kolloquium 1978 (= Reihe Germanistische Linguistik 21).<br />

Tübingen: Niemeyer<br />

SONDEREGGER, Stefan (1980): Gesprochene Sprache im Althochdeutschen<br />

und ihre Vergleichbarkeit mit dem Neuhochdeutschen – Das Beispiel<br />

Notkers des Deutschen von St. Gallen. – In: H. Sitta (Hg.), Ansätze zu einer<br />

pragmatischen Sprachgeschichte (= Reihe Germanistische Linguistik 21).<br />

Zürcher Kolloquium 1978. Tübingen: Niemeyer, 71–88.<br />

WIESINGER, Peter (1996): Schreibung und Aussprache im älteren Frühneuhochdeutschen.<br />

Zum Verhältnis von Graphem – Phonem – Phon am bairisch-österreichischen<br />

Beispiel von Andreas Kurzmann um 1400. (= Studia<br />

Linguistica Germanica 42) Berlin, New York: de Gruyter.<br />

ZIEGLER, Arne (2003): Städtische Kommunikationspraxis im Spätmittelalter.<br />

Historische Soziopragmatik und Historische Textlinguistik (= Germanistische<br />

Unterischungen zur Sprachgeschichte 2). Berlin: Weidler.<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien.<br />

Ergebnisse einer Fragebogenerhebung<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

1. Ziele und Durchführung der Untersuchung<br />

Im folgenden Beitrag möchte ich einige Ergebnisse meiner Untersuchung<br />

zum Anredeverhalten in Deutschland, Österreich und Tschechien vorstellen.<br />

Den Anstoß für diese Untersuchung gaben mir persönliche Erfahrungen<br />

während meines Lektorates in Prag zu Beginn der neunziger Jahre. Ich kam<br />

damals von der Freien Universität aus Berlin, wo wir wenigstens in der Anfangszeit<br />

meines Studiums die Assistenten und einige jüngere Professoren<br />

noch geduzt und mit Vornamen angeredet hatten. In Prag fand ich mich unversehens<br />

in einem universitären Kontext wieder, in dem bei jeder denkbaren<br />

Gelegenheit in der Anrede säuberlich zwischen „pane doktore“, „paní<br />

docentko“ und „pane profesore“ unterschieden wurde. Ein wahrhaft anregendes<br />

Kontrasterlebnis! Ich habe daraufhin gemeinsam mit Magdalena<br />

Kneřová 1992/93 den ersten Teil der Untersuchung durchgeführt, von der<br />

hier berichtet werden soll. 1 Den zweiten Durchlauf dieser Fragebogenerhebung<br />

habe ich in den Jahren 2000/2001 dann allein unternommen.<br />

Was waren die Ziele dieser beiden Erhebungen? Ich wollte erstens empirisch<br />

überprüfen, ob sich die individuellen Erfahrungen meiner Prager Zeit<br />

verallgemeinern lassen. Zum Titelgebrauch im Deutschen gibt es bis heute<br />

bedauerlich wenige Studien, zum Titulieren im Tschechischen noch weniger.<br />

2 Quantitativ wird der Titelgebrauch auch im Deutschen überhaupt nur<br />

in zwei kleineren Arbeiten untersucht. 3 Auch zu anderen Aspekten der An-<br />

1 Vorläufige Ergebnisse dieser Befragung gingen in die von Emil Skála und mir betreute<br />

Diplomarbeit von Magdalena Kneřová ein, die die pronominale Anrede, den Titelgebrauch<br />

und die Verwendung des Vokativs im Tschechischen untersucht (KNEŘOVÁ<br />

1994). Einen kurzen Abriss einiger Ergebnisse geben KNEŘOVÁ (1995) und EHLERS<br />

/ KNEŘOVÁ (1997).<br />

2 Gegenüber der auch in der Öffentlichkeit viel stärker diskutierten pronominalen Anrede<br />

wird die nominale Anrede von der Forschung vergleichsweise wenig bearbeitet. Titel<br />

und Titelgebrauch im Tschechischen behandeln in den letzten Jahren allerdings die informativen<br />

Arbeiten von RATHMAYR (1992), BERGER (1995) und BERGER (2001).<br />

3 FINKENSTAEDT (1981: 25–27) berichtet von einer kleinen Befragung unter 131 Lehrern,<br />

Studenten und Schülern. An dieser Untersuchung haben wir uns in einem Testlauf<br />

zunächst orientiert. Auf die kontrastive Fragebogenuntersuchung von BRÜHL (1982)<br />

mit je 100 dänischen und deutschen Informanten sei hier nur verwiesen, sie konnte aus<br />

sprachlichen Gründen nicht berücksichtigt werden. RATHMAYR (1992: 267) stützt ihre<br />

Darstellung zum Russischen, Serbokroatischen und Tschechischen „auf eigene, in der<br />

ersten Hälfte des Jahres 1991 durchgeführte Umfragen.“ Die Zahl der Befragten bleibt


86<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

rede mangelt es bis heute an deutsch-tschechischen kontrastiven Untersuchungen.<br />

Es musste mir also zweitens und hauptsächlich darum gehen, Einzelheiten<br />

über den Gebrauch vergleichbarer Anredeformen in den beiden Sprechergemeinschaften<br />

zu ermitteln. Welches sind die Normen des Anredeverhaltens<br />

im Deutschen und Tschechischen? Und wie sind die Konventionen des<br />

Sprachgebrauchs über die sozialen Gruppierungen in beiden Sprachgemeinschaften<br />

verteilt? 4 Beim zweiten Durchlauf der Untersuchung habe ich besondere<br />

Aufmerksamkeit auch auf die regionale Differenzierung gelegt.<br />

Einige österreichische Informanten, die uns eher zufällig in die erste Untersuchung<br />

‚gerutscht‘ waren, wichen in ihren Antworten so signifikant von<br />

den bundesdeutschen Ergebnissen ab, so dass ich die Studie fortan als gewissermaßen<br />

dreisprachig deutsch-tschechisch-österreichisch angelegt habe.<br />

Von Beginn an hat mich drittens besonders die Frage interessiert, ob das<br />

tschechische Anredeverhalten auf den gesellschaftlichen Systemwandel<br />

nach der politischen Wende reagiert hat bzw. reagieren wird. Auch innerhalb<br />

des deutschen Anredeverhaltens gibt es meiner eigenen Intuition nach<br />

in der jüngeren Vergangenheit deutliche Verschiebungen, die eine genauere<br />

Beobachtung lohnen. Im Hinblick auf diesen diachronischen Aspekt des<br />

Anredeverhaltens möchte ich meine Untersuchung als Langzeitstudie in<br />

Intervallen von etwa zehn Jahren wieder aufgreifen, um Veränderungen<br />

unter ähnlichen Vorgaben beobachten zu können. Einstweilen ist aber die<br />

Auswertung der bisherigen Ergebnisse noch nicht ganz abgeschlossen.<br />

Als erster Zugang zu dem kaum erforschten Themenbereich scheint mir die<br />

Form einer Fragebogenerhebung sinnvoll. Es ist klar, dass mit einer solchen<br />

Erhebung eher das reflektierte Normbewusstsein der Informanten erfasst<br />

wird als deren tatsächlicher Sprachgebrauch. 5 Ich sehe aber kaum eine an-<br />

bei Rathmayr aber ebenso ungeklärt wie beispielsweise der Aufbau und die Fragestellungen<br />

ihres Erhebungsbogens.<br />

4 Unter Norm soll dabei mit Eugenio Coseriu die usuelle Verwendung der Mittel verstanden<br />

werden, die das Sprachsystem vorgibt (vgl. COSERIU 1979).<br />

5 Es wäre also grundsätzlich denkbar, dass unsere Informanten ihren tatsächlichen Titelgebrauch<br />

in der reflektierten Selbsteinschätzung übertrieben hoch ansetzen. Nach<br />

NEKVAPIL/NEUSTUPNÝ (im Druck: 12) könnte der gesellschaftliche Wandel hin zur<br />

Markwirtschaft bei den Tschechen das Gefühl erzeugt haben, die häufige Verwendung<br />

von Titeln sei nun eigentlich besonders angebracht, auch wenn sie diesem Normbewusstsein<br />

tatsächlich gar nicht nachkommen. Meine eigenen Erfahrungen im deutsch-tschechischen<br />

Kontakt weisen allerdings sehr deutlich darauf hin, dass die Selbsteinschätzung<br />

meiner Informanten den tschechischen Titelgebrauch einigermaßen realistisch<br />

beschreibt. Auch andere Erfahrungsberichte von persönlichen deutsch-tschechischen<br />

Begegnungen belegen, dass der bundesdeutsche und der tschechische Titelgebrauch<br />

stark divergieren. Vgl. z.B. BERGER (2001: 8, Anm. 23). Selbsteinschätzung der Befragten<br />

und ihr tatsächlicher Usus fallen hier also keineswegs weit auseinander.<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

dere Möglichkeit, mit vertretbarem Zeitaufwand quantitative Daten zum<br />

Anredeverhalten zu erlangen. Im Unterschied zu älteren Fragebogenerhebungen<br />

zur Anrede in einzelnen Sprachen, die sich meist nur auf kleine,<br />

geschlossene Informantengruppen bezogen, war es mir wichtig, einen möglichst<br />

großen und breit gestreuten Kreis von Sprechern zu befragen, der<br />

auch in Zukunft beliebig zu erweitern ist. Meine Erhebung arbeitet also mit<br />

einem offenen Sample. Die Fragebögen mussten also entsprechend knapp<br />

gefasst und ebenso leicht auszufüllen wie bequem auszuwerten sein.<br />

Die Funktion der Anrede wird in den europäischen Sprachen meist entweder<br />

durch Nomen (wie Namen, Titel, Spitznamen, Kosewörter usw.) oder<br />

durch Pronomen und die entsprechende Personalendung des Verbs ausgefüllt.<br />

Um aus beiden formalen Bereichen wenigstens einen Teilaspekt zu<br />

beleuchten, habe ich einen Bogen zum Duzen/Siezen bzw. tykání und vykání<br />

und einen zweiten zum Gebrauch von Titeln verteilt. Im Folgenden<br />

möchte ich aber aus Raumgründen nur einige Ergebnisse des Titelbogens<br />

vorstellen. Von diesem Bogen haben wir in der ersten Erhebungsphase etwa<br />

700 Exemplare gesammelt. In der zweiten Phase 2000/2001 kamen noch<br />

einmal etwa 600 Exemplare hinzu. Bis heute habe ich genau 1324 Bogen<br />

zum Titelgebrauch ausgewertet: 718 davon aus Deutschland, 475 aus<br />

Tschechien und 131 aus Österreich. Gegenstand dieses Bogens sollte nicht<br />

nur die Verwendung der klassischen akademischen Titel sein, sondern gerade<br />

mit Blick auf die tschechischen Verhältnisse auch Funktionsbezeichnungen<br />

wie „Herr Lehrer“, „Herr Bürgermeister“ oder „Frau Ministerin“.<br />

Ich möchte mich jetzt nicht länger mit detaillierten Vorüberlegungen zu<br />

Wesen und Funktion der Anrede mit derartigen Nomen und dem Vergleich<br />

ihrer Stellung im jeweiligen Sprachsystem aufhalten. Einen wichtigen Punkt<br />

aber, der die Vergleichbarkeit dieser Formen im Deutschen und Tschechischen<br />

gewährleistet, muss ich wenigstens kurz berühren. Anders als die<br />

pronominale Anrede mit Du und Sie bzw. ty und vy werden die Anredenomen<br />

in beiden Sprachen syntaktisch ausgegliedert. Die Anredenomen<br />

fungieren hier nicht als Satzglieder, sondern sie werden dem jeweiligen<br />

Satzzusammenhang vor-, ein- oder nachgeschaltet. Etwa so:<br />

Frau Ministerin, wollen Sie zu der Frage Stellung nehmen?<br />

Wollen Sie, Frau Ministerin, zu der Frage Stellung nehmen?<br />

Wollen Sie zu der Frage Stellung nehmen, Frau Ministerin?<br />

Durch die fehlende syntaktische Einbindung ist die Verwendung von Anredenomen<br />

im Deutschen und Tschechischen gleichermaßen fakultativ. Das<br />

steht im Gegensatz zur pronominalen Anrede, bei der sich die Sprecher beider<br />

Sprachen jederzeit entscheiden müssen, ob sie duzen/tykat oder siezen/vykat<br />

87


88<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

Abbildung 1: Fragebogen zum Gebrauch von Titeln und Funktionsbezeichnungen<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

wollen und dieser grammatischen Obligation nur durch umständliche Formen<br />

der Anredevermeidung aus dem Wege gehen können. In solchen Fällen<br />

wird beispielsweise auf Indefinitpronomen oder Passivkonstruktionen ausgewichen:<br />

Könnte mir mal jemand die Tür aufhalten?<br />

Hier darf eigentlich nicht geraucht werden.<br />

Bevor ein Sprecher aus der großen Fülle verschiedener Titel und Funktionsbezeichnungen<br />

auszuwählen hat, steht er vor der Entscheidung, ob er überhaupt<br />

einen Titel verwenden will oder nicht. Und genau an dieser Stelle<br />

setzt unser Fragebogen an.<br />

Der Bogen, den wir in einer deutschen und einer tschechischen Version verteilt<br />

haben, hat drei Abschnitte (vgl. Abbildung 1). Im ersten wenden wir<br />

uns an die Informanten mit der Bitte, in der vorgegebenen Liste von Adressaten<br />

diejenigen zu markieren, die sie mit Titel anreden würden. Da diese<br />

Frage keine Situation konkretisiert, in der die gedachte Anrede vorzustellen<br />

wäre, scheint sie auf den ersten Blick recht unspezifisch. Im Sprachvergleich<br />

zeigte sich jedoch schnell, dass die Ergebnisse mit situativen Parametern<br />

vergleichsweise schwach korreliert sind. Wir hielten also an der unspezifischen<br />

Fragestellung fest, weil sie als tertium comparationis für den<br />

Titelgebrauch in den drei Ländern sehr signifikante Profile von Antworten<br />

erbringt. Die Auswahl der vorgegebenen Adressaten haben wir nach einem<br />

Testlauf des Bogens vor allem im Bereich der nichtakademischen Adressaten<br />

erweitert und im Hinblick auf die Unterschiede im deutschen und tschechischen<br />

Gesundheitssystem ausdifferenziert. 6<br />

Mit der offenen Frage im Mittelteil des Bogens hofften wir, ausdrückliche<br />

Umschreibungen des Normbewusstseins der Informanten zu elizitieren. Tatsächlich<br />

begründen viele Informanten hier ihre Titelvergabe und führen an,<br />

was ihrer Meinung nach das Anredeverhalten beeinflusst. Andere Informanten<br />

bewerten hier den allgemeinen Titelgebrauch aus ihrer subjektiven<br />

Sicht. Da schreibt beispielsweise eine 21–jährige Studentin aus <strong>Regensburg</strong>:<br />

6 Da die Institution des „Hausarztes“ im tschechischen Gesundheitssystem am Anfang der<br />

neunziger Jahre noch unbekannt war und bis heute weniger etabliert ist als im deutschen,<br />

musste die Gruppe der Ärzte so ausdifferenziert werden, dass sich in Teilbereichen<br />

vergleichbare Ergebnisse ergeben würden. Wir haben also auf dem tschechischen<br />

wie auf dem deutschen Bogen zwischen primář/Chefarzt und lékař/Arzt im Krankenhaus<br />

unterschieden und diese Unterscheidung nur auf dem deutschen Bogen zusätzlich<br />

um den Hausarzt ergänzt.<br />

89


90<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

Generell spreche ich niemanden mit seinem Titel an. Schließlich hat ja jeder einen Vor- und<br />

Nachnamen.<br />

Ein 25–jähriger Student aus Frankfurt (Oder) hält Titel für „völlig veraltet“,<br />

würde „natürlich aber Herr Doktor zum Arzt sagen, sollte ich nicht seinen<br />

Namen kennen“. Eine 33–jährige Büroangestellte aus Wien hat zwar zehn<br />

der Adressaten für eine Titelanrede markiert, meint aber dennoch: „Die persönliche<br />

Anrede finde ich höflicher.“ Auch wenn bei weitem nicht alle unserer<br />

Informanten auf die Frage im Mittelteil des Fragebogens geantwortet<br />

haben, eröffnen schon die gesammelten Kommentare einen aufschlussreichen<br />

Einblick in verbreitete Einstellungen gegenüber den Titeln und geben<br />

wertvolle Beschreibungen ihrer Semantik und sozialen Funktion. Über die<br />

tatsächlichen Motive der Sprecher/Informanten, einen Titel zu vergeben<br />

oder nicht, vermag eine quantitative Studie naturgemäß nur oberflächliche<br />

Anhaltspunkte zu geben. Hier müsste die Fragebogenerhebung durch gezielte<br />

qualitative Analysen ergänzt werden. Einen möglichen Ausgangspunkt<br />

für derartige vertiefende Untersuchungen könnten beispielsweise die<br />

Antworten auf die offene Frage im Mittelteil meines Fragebogens bieten.<br />

Die systematische Auswertung dieser Antworten steht aber noch aus.<br />

Im unteren Abschnitt des Bogens baten wir die Informanten schließlich um<br />

Angaben zu ihrer Person. Diese Angaben erlaubten uns dann einzelne, nach<br />

sozialen Parametern homogenisierte Vergleichsgruppen aus dem Sample<br />

herauszufiltern. 7<br />

2. Vergleich der drei Ländergruppen<br />

In einem ersten Schritt sollen die drei Ländergruppen als ganze miteinander<br />

verglichen werden. Ich habe dazu sämtliche Antworten aller Informanten<br />

aus dem betreffenden Land zusammengefasst und dann ermittelt, welcher<br />

prozentuale Anteil dieser Antworten positiv, das heißt für eine Titelvergabe<br />

ausgefallen war. Die Ergebnisse dieses Ländervergleichs sind in Tabelle 1<br />

zusammengefasst.<br />

7 Bei der Auswertung der Bogen des ersten Durchlaufs verwendeten wir ein von Pavel<br />

Kneř eigens für unsere Zwecke geschriebenes Programm. Die Ergebnisse des zweiten<br />

Durchlaufs wertete ich mit SPSS aus.<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

Tabelle 1: Titelgebrauch im Ländervergleich<br />

In X % aller Fälle entschieden sich die Befragten FÜR eine Titelvergabe<br />

N = Gesamtzahl der Befragten<br />

Jahr der Befragung Deutsche Österreicher Tschechen<br />

1992/1993<br />

28,84 %<br />

(N= 438)<br />

68,24 %<br />

(N= 17 !)<br />

68,46 %<br />

(N= 254)<br />

2000/2001<br />

30,75 % 58,94 % 73,94 %<br />

(N= 280) (N= 114) (N= 221)<br />

Die Resultate beider Erhebungen ähneln einander sehr stark. Sie weichen in<br />

den absoluten Prozentwerten nur geringfügig voneinander ab. Damit stimmen<br />

also auch die Relationen zwischen den Ergebnissen aller drei Ländergruppen<br />

in beiden Erhebungen augenfällig überein. 8<br />

Demnach entsprechen die Antworten meiner österreichischen Informanten<br />

viel eher den tschechischen Ergebnissen als den bundesdeutschen. Die<br />

Österreicher vergaben etwa doppelt so häufig einen Titel wie die deutschen<br />

Befragten unter den gleichen Bedingungen. Die Werte der tschechischen<br />

Titelvergabe lagen in beiden Erhebungen sogar noch etwas über den Antworten<br />

der Österreicher. Meine individuellen Erfahrungen mit dem Anredeverhalten<br />

im deutsch-tschechischen Kontrast werden also auf eindrucksvolle<br />

Weise bestätigt. Zudem belegt meine Untersuchung die Existenz einer<br />

bemerkenswert großen Kluft im Anredeverhalten innerhalb des deutschen<br />

Sprachgebietes. Über die österreichische „Titelwut“ (ASSERATE <strong>2004</strong>:<br />

258) finden sich zwar gelegentlich spöttische Bemerkungen in deutschen<br />

Benimmbüchern und auch die Fachliteratur verweist sporadisch auf den<br />

„starke[n] Gebrauch von Titeln aller Art“ (MUHR 1993: 30) in Österreich.<br />

Gerade die für den deutsch (österreichisch) – tschechischen Sprachkontakt<br />

relevante grammatische und anwendungsbezogene Literatur übergeht aber<br />

häufig die Tatsache, dass innerhalb des deutschsprachigen Raumes mit sehr<br />

großen Differenzen im Anredeverhalten zu rechnen ist. In dem zweisprachigen<br />

Leitfaden für die deutsch-tschechische Wirtschaftskommunikation<br />

von Baxant, Rathmayr und Schulmeisterová findet sich beispielsweise die<br />

folgende Aussage:<br />

Sowohl im Deutschen als auch im Tschechischen redet man Personen mit Herr/Frau und dem<br />

Titel oder Dienstgrad an. [...] Im allgemeinen entsprechen die Titel in der Tschechischen Republik<br />

denen im deutschsprachigen Raum. Einen Unterschied gibt es beim Titel Ingenieur.<br />

(BAXANT/RATHMAYR/SCHULMEISTEROVÁ 1995: 46)<br />

8 Der Wert für die österreichische Ländergruppe des ersten Durchlaufs ist bei nur 17<br />

Befragten allerdings nicht sehr verlässlich.<br />

91


92<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

In dieser Wiener Veröffentlichung wird offensichtlich die österreichische<br />

Perspektive unbesehen als gesamtdeutsche verallgemeinert. 9 Den umgekehrten<br />

Fall dokumentiert die kontrastive deutsch-tschechische Grammatik<br />

von Štícha:<br />

Na rozdíl od češtiny se v němčině obvykle neužívá titulu doktor, docent, profesor při oslovování<br />

kolegy na pracovišti. (ŠTÍCHA 2003: 25)<br />

Im Unterschied zum Tschechischen benutzt man im Deutschen die Titel Doktor, Dozent, Professor<br />

bei der Anrede von Kollegen am Arbeitsplatz gewöhnlich nicht.<br />

Der sehr viel seltenere deutsche Titelgebrauch wird bei Štícha auch für Gesprächssituationen<br />

außerhalb des Arbeitsplatzes, etwa in Interviews mit öffentlichen<br />

Funktionsträgern, belegt. Die hier beschriebenen Konventionen<br />

verallgemeinern aber den bundesdeutschen Sprachgebrauch und wären für<br />

den österreichischen Kontext ganz unangemessen.<br />

Der große Abstand zwischen der deutschen Titelkonvention einerseits und<br />

der österreichischen und tschechischen andererseits war bei der Auswertung<br />

der Fragebogen zumeist schon auf den ersten Blick an der unterschiedlichen<br />

Dichte angekreuzter Adressaten zu erkennen. Während 71,49 % der tschechischen<br />

Informanten und immerhin 48,24 % der österreichischen Informanten<br />

auf ihrem Bogen zehn und mehr Adressaten für eine Titelanrede ankreuzten,<br />

markierten überhaupt nur 7,85 % der bundesdeutschen Informanten<br />

zehn oder mehr der vorgegebenen Adressaten als titelwürdig. 10<br />

3. Titelvergabe gegenüber einzelnen Adressaten des Fragebogens<br />

Um die Ergebnisse des umfassenden Ländervergleichs genauer beurteilen<br />

zu können, müssen sie durch die Vorgabe engerer Auswertungsparameter<br />

differenziert werden. Es soll deshalb überprüft werden, ob sich hinter diesen<br />

Ergebnissen nicht vielleicht Unterschiede im Verhalten gegenüber einzelnen<br />

Adressatengruppen verbergen. So könnte es beispielsweise sein, dass<br />

Deutsche, Österreicher und Tschechen in ihrer Titelvergabe gegenüber<br />

manchen der vorgegebenen Adressaten weitgehend übereinstimmten, Österreicher<br />

und Tschechen aber zusätzlich noch weitere Personen mit Titel bedacht<br />

hatten. Tabelle 2 zeigt, dass diese Vermutung nicht zutrifft.<br />

9 Die den tschechischen Lesern empfohlenen deutschen Mustersätze würden sich in einem<br />

bundesrepublikanischen Kontext entsprechend teilweise sehr exotisch ausnehmen:<br />

„Frau Direktor, ich möchte Ihnen unseren neuen Mitarbeiter, Herrn Ingenieur Hoffmann<br />

vorstellen.“ – „Herr Gouverneur, ich möchte Ihnen Frau Magister Doležalová vorstellen. Frau<br />

Magister wird an den Verhandlungen teilnehmen.“ (BAXANT/RATHMAYR/SCHUL-<br />

MEISTEROVÁ 1995: 50, 51)<br />

10 Diese Werte ergaben sich bei der Erhebung 2000/2001 mit 280 deutschen, 114 österreichischen<br />

und 221 tschechischen Informanten.<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

Tabelle 2: Ergebnisse für die einzelnen Adressaten des Titel-Fragebogens,<br />

Erhebung 1992/1993<br />

X % der befragten Tschechen bzw. Deutschen entschied sich FÜR einen<br />

Titel<br />

Tschechen<br />

Deutsche<br />

(N= 254)<br />

(N= 438)<br />

Beamter (Stadtverwaltung) 16 % > 5 %<br />

Direktor eines Betriebes 81 % > 18 %<br />

Hausarzt 49 %<br />

Minister 85 % > 39 %<br />

Professor (Universität) 92 % > 49 %<br />

General 68 % > 28 %<br />

Arzt im Krankenhaus 92 % > 62 %<br />

Ingenieur 78 % > 6 %<br />

Polizist 14 % > 7 %<br />

Assistent (Universität) 54 % > 6 %<br />

Chefarzt 93 % > 59 %<br />

(Bundes)präsident 91 % > 58 %<br />

Lehrer am Gymnasium 68 % > 7 %<br />

Bürgermeister 70 % > 24 %<br />

Abgeordneter 51 % > 9 %<br />

Tabelle 2 schlüsselt einmal die Häufigkeit der Titelvergabe für jeden der<br />

Adressaten unseres Bogens einzeln auf. Ich bringe hier die Ergebnisse des<br />

ersten Durchlaufs, bei dem die Österreicher zahlenmäßig noch zu schwach<br />

vertreten waren, als dass verlässliche Werte zu erwarten wären. Im deutschtschechischen<br />

Verhältnis erwies sich, dass sich die tschechischen Informanten<br />

ausnahmslos gegenüber jedem der vorgegebenen Adressaten sehr viel<br />

häufiger für eine Titelvergabe entschieden als die Deutschen. Die Differenzen<br />

im Anredeverhalten beziehen sich also nicht auf einzelne Adressatenkreise,<br />

sie sind zwischen den Ländergruppen adressatenabhängig.<br />

Dabei sind die Unterschiede in der Titelvergabe für die einzelnen Adressaten<br />

zum Teil außerordentlich groß. Die deutschen und die tschechischen<br />

Ergebnisse liegen in drei Fällen sogar über 60 %-Punkte auseinander. Gegenüber<br />

einer Reihe von Personen hielten die tschechischen – wie auch die<br />

österreichischen – Informanten die Verwendung eines Titels gleichsam für<br />

obligatorisch (Professor, Ärzte, Präsident). Hier fielen die Antworten auf<br />

dem Bogen zu über 90 % positiv aus. Deutsche dagegen sehen selbst bei<br />

den meistbetitelten Adressaten immer noch einen sehr großen Ermessensspielraum.<br />

Die Werte erreichen hier kaum einmal die Höhe von 60 %. Das<br />

heißt: Fast die Hälfte der Befragten sieht noch in diesen Fällen keinen unabweisbaren<br />

Anlass für eine Titelvergabe.<br />

93


94<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

Derartige Unterschiede im Anredeverhalten werden nicht ohne Folgen für<br />

Situationen interkultureller Kommunikation bleiben. Da Gesprächspartner<br />

mit Anredeformen unter anderem ausdrücken, wie sie ihre persönliche und<br />

soziale Beziehung auffassen, wird ein ‚falsches‘ bzw. unerwartetes Anredeverhalten<br />

nahe liegender Weise als Ereignis auf der Beziehungsebene zwischen<br />

den Kommunikationspartnern interpretiert. Aus der Sicht deutscher<br />

Sprecher muss das tschechische Anredeverhalten als übertriebene Titelei<br />

erscheinen. Aus tschechischer Sicht dürfte das deutsche Verhalten dagegen<br />

als bewusste Verweigerung des gebührenden Titels wahrgenommen werden.<br />

Erfahrungsberichte aus deutsch-tschechischen Jointventure-Unternehmen<br />

deuten darauf hin, dass hier tatsächlich derartige Perspektivübertragungen<br />

die interkulturelle Kommunikation beeinträchtigen. Das ergibt sich<br />

etwa aus der Studie von Nekula und Höhne zur Kooperation von VW und<br />

Škoda. 11<br />

Unglücklicherweise bestätigen die Unterschiede zwischen den sprachpragmatischen<br />

Normen bestehende Negativstereotype über die jeweils andere<br />

Nation: das bis in die Gegenwart bestimmende tschechische Bild von „dem<br />

deutschen Überlegenheitsgefühl, der Arroganz und Expansionslust“ (ŠMÍ-<br />

DOVÁ 2001: 523) der Deutschen. Und auf deutscher Seite stereotype Erfahrungen<br />

mit der angeblichen tschechischen Autoritätsfixiertheit. Die je<br />

nach Perspektive übertriebene oder vorenthaltene Statusanerkennung durch<br />

die Titelanrede ist fatalerweise dazu angetan, den historisch gewachsenen<br />

Fremdstereotypen in aktuellen deutsch-tschechischen Kontaktsituationen<br />

auf kommunikativer Ebene immer wieder neue Evidenz zu verschaffen. 12<br />

Zurück zu den Ergebnissen des Fragebogens. Während also Deutsche und<br />

Tschechen bei allen vorgegebenen Adressaten des Bogens unterschiedlich<br />

oft für eine Titelvergabe votierten, stimmt aber die Rangfolge der Häufigkeit<br />

in beiden Sprechergemeinschaften ganz auffallend überein. Tabelle 3<br />

ordnet die Adressaten unseres Bogens nach der Häufigkeit, mit der sie mit<br />

Titel bedacht wurden, zu einem deutsch-tschechischen ‚Titelranking‘.<br />

11 Die Transkription der Interviews dieser Untersuchung liegt bislang nur als Privatdruck<br />

NEKULA/HÖHNE (1995) vor. Eine Veröffentlichung ist für das Jahr 2005 vorgesehen.<br />

12 Auch im tschechisch-österreichischen Verhältnis gibt es zwischen den Anredekonventionen<br />

und der allgemeinen Fremdwahrnehmung eine auffallende Parallelität: „Die<br />

‚Österreicher‘ werden von den Tschechen oft gar nicht als ‚Deutsche‘ bezeichnet. Auf<br />

der Beliebtheitsskala rangieren sie soziologischen Umfragen zufolge bei der Bevölkerung<br />

in Böhmen und Mähren ganz oben, deutlich vor den ‚deutschen Deutschen‘. Die<br />

Tschechen meinen feststellen zu können, dass ihnen die Österreicher im Charakter näher<br />

sind“ (ŠMÍDOVÁ 2001: 519–520). Die Ähnlichkeit der sprachpragmatischen Normen<br />

könnte auch hier das historisch begründete Gefühl besonderer ‚mentaler‘ Nähe in<br />

Kontaktsituationen kommunikativ bestätigen.<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

Tabelle 3: Titelvergabe für die einzelnen Adressaten des Titelbogens nach<br />

Häufigkeit geordnet, Erhebung 1992/1993<br />

X % der befragten Deutschen bzw. Tschechen entschied sich FÜR einen<br />

Titel<br />

Rang- Deutsche<br />

Anrede Tschechen<br />

Anrede mit<br />

folge (N= 438)<br />

mit Titel (N= 254)<br />

Titel<br />

1. Arzt im Krankenhaus 62 % Chefarzt 93 %<br />

2. Chefarzt 59 % Arzt im Krankenhaus 92 %<br />

3. Bundespräsident 58 % Professor an der Univ. 92 %<br />

4. Professor an der Univ. 49 % Präsident 91 %<br />

Hausarzt 49 % -<br />

5. Minister 39 % Minister 85 %<br />

6. General 28 % Direktor 81 %<br />

7. Bürgermeister 24 % Ingenieur 78 %<br />

8. Direktor 18 % Bürgermeister 70 %<br />

9. Abgeordneter 9 % General 68 %<br />

10. Lehrer am Gymnasium 7 % Lehrer am Gymnasium 68 %<br />

11. Polizist 7 % Assistent an der Univ. 54 %<br />

12. Assistent an der Univ. 6 % Abgeordneter 51 %<br />

13. Ingenieur 6 % Beamter Stadtverwaltg. 16 %<br />

14. Beamter Stadtverwaltg. 5 % Polizist 14 %<br />

‚Titelhelden‘ waren für die deutschen wie tschechischen Informanten gleichermaßen<br />

die Ärzte. Der Beamte der Stadtverwaltung findet sich hier wie<br />

da am untersten Ende der Rangfolge. 13 In einzelnen Fällen wie beim Minister<br />

und beim Lehrer liegen Adressaten im Titelranking auf derselben Stufe.<br />

Im Übrigen liegen die Plätze hier meist nicht mehr als eine Stufe in der Folge<br />

auseinander. Offensichtlich sind also die Kriterien, nach denen bei Deutschen<br />

und Tschechen Titel vergeben werden, insgesamt sehr ähnlich. Informanten<br />

beider Länder sind sich weitgehend einig, welchen Adressaten<br />

am ehesten eine Titelanrede zukommen würde und welchen eher nicht. Die<br />

Tschechen entschieden sich dann aber in allen Einzelfällen sehr viel häufiger<br />

für einen tatsächlichen Titelgebrauch.<br />

Die Übereinstimmung in der Rangfolge der Titelvergabe deutet auf übereinstimmende<br />

soziale Werte hin. Offenbar besteht zwischen Deutschen und<br />

Tschechen große Einigkeit, welches besonders anerkennenswerte gesellschaftliche<br />

Positionen sind. Interessante Ausnahmen finden wir aber beim<br />

General, dem Abgeordneten und dem Polizisten. Sie lagen im tschechischen<br />

Titelranking jeweils drei Plätze niedriger als im deutschen. Hier bilden sich<br />

1992/93 und auch 2000/2001 wahrscheinlich noch Nachwirkungen der poli-<br />

13 Dies entspricht recht genau den Ergebnissen der Befragung deutscher Lehrer, Studenten<br />

und Schüler bei FINKENSTAEDT (1981).<br />

95


96<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

tischen Vergangenheit Tschechiens ab. Repräsentanten des Staates und seiner<br />

Exekutive sind in Tschechien wohl vergleichsweise schlechter angesehen<br />

als in Deutschland.<br />

4. Abhängigkeit der Ergebnisse vom Alter der Informanten<br />

Nach dem allgemeinen Vergleich der drei Ländergruppen stellt sich nun die<br />

Frage, wie sich der Titelgebrauch über verschiedene soziale Gruppierungen<br />

innerhalb der drei Sprechergemeinschaften verteilt. Am stärksten war die<br />

Verwendung von Titeln vom Alter der Informanten abhängig. Um Vergleichswerte<br />

zu erhalten, habe ich meine Informanten in drei Altersgruppen<br />

eingeteilt: die unter 30–jährigen, die 30– bis 50–jährigen und die über 50–<br />

jährigen. Ich habe dann errechnet, welcher Prozentsatz der vorgegebenen<br />

Anredefälle des Fragebogens von der jeweiligen Vergleichsgruppe mit Titel<br />

bedacht worden ist. Tabelle 4 und 5 stellen die Ergebnisse für die beiden<br />

Erhebungen 1992/1993 und 2000/2001 gesondert dar.<br />

Tabelle 4: Häufigkeit der Titelvergabe in der jeweiligen Altersgruppe, Erhebung<br />

1992/1993<br />

X % aller Entscheidungen der jeweiligen Altergruppen FÜR eine Titelvergabe<br />

1992/1993 bis 30 Jahre 30 – 50 Jahre über 50 Jahre<br />

Tschechen<br />

65,5 %<br />

(N= 139)<br />

65, 76 %<br />

(N= 55)<br />

77,14 %<br />

(N= 60)<br />

Deutsche<br />

25,26 %<br />

(N= 294)<br />

30,26 %<br />

(N= 111)<br />

55,28 %<br />

(N= 41)<br />

Tabelle 5: Häufigkeit der Titelvergabe in der jeweiligen Altersgruppe, Erhebung<br />

2000/2001<br />

X % aller Entscheidungen der jeweiligen Altersgruppe FÜR eine Titelvergabe<br />

2000/2001 bis 30 Jahre 30 – 50 Jahre über 50 Jahre<br />

Tschechen<br />

72,78 %<br />

(N= 162)<br />

74,12 %<br />

(N= 45)<br />

83,26 %<br />

(N= 17)<br />

Österreicher<br />

57,72 %<br />

(N= 82)<br />

56,92 %<br />

(N= 26)<br />

80 %<br />

(N= 5!)<br />

Deutsche<br />

31,40 %<br />

(N= 233)<br />

24,32 %<br />

(N= 37)<br />

41,88 %<br />

(N= 8!)<br />

Es ist vorab festzuhalten, dass sich die eingangs thematisierte Länderrelation<br />

in beiden Befragungsdurchgängen auch für jede der Altersgruppen sehr<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

deutlich bestätigt. In jeder der Spalten beider Tabellen stehen die Werte in<br />

Relationen zueinander, die sich schon beim übergreifenden Ländervergleich<br />

in Abschnitt 2 herausgestellt hatten. Auch innerhalb jeder Altersgruppe entschieden<br />

sich die Österreicher etwa doppelt so häufig für eine Titelvergabe<br />

wie die Deutschen. Und in allen Fällen lagen die Werte der tschechischen<br />

Informanten etwas höher als die der österreichischen Vergleichsgruppe.<br />

Auch hier liegt stets der Wert der tschechischen Antworten noch über den<br />

hohen österreichischen Ergebnissen. Noch die jüngsten Tschechen vergaben<br />

auf diese Weise erheblich häufiger Titel als die ältesten deutschen Informanten.<br />

Es scheint, dass die Länderrelation als solche weitgehend unabhängig<br />

vom Alter der befragten Deutschen, Tschechen und Österreicher ist.<br />

Innerhalb der jeweiligen Sprechergemeinschaften zeigt sich dagegen eine<br />

deutliche Altersabhängigkeit der Titelvergabe. Dies zeigt ein Vergleich der<br />

Ergebniswerte in den einzelnen Zeilen der Tabelle 4 und 5. In allen drei<br />

Ländern entschied sich die älteste Generation viel häufiger für einen Titelgebrauch<br />

als die jüngste Generation ihrer Landsleute. Gleichwohl fügt sich<br />

die Altersabhängigkeit der Titelvergabe nicht zu einer eindeutigen Zuordnung<br />

etwa der Art, dass mit steigendem Alter auch das Titulieren zunähme.<br />

Vielmehr füllte die jüngste und die mittlere Altersgruppe der Tschechen<br />

ihre Fragebogen auffallend ähnlich aus und erst bei den über fünfzigjährigen<br />

Tschechen stieg die Titelvergabe sprunghaft an. Die Ergebnisse für die<br />

österreichischen Informanten zeigen ein ganz ähnliches Profil, wenn auch<br />

auf einem etwas niedrigeren Niveau. Dem Titelgebrauch nach gibt es in<br />

diesen beiden Sprechergemeinschaften eigentlich nur zwei Altersgruppen:<br />

die unter Fünfzigjährigen und die über Fünfzigjährigen.<br />

Ein viel dynamischeres Bild bieten die Antworten der Deutschen. Hier<br />

nahm bei der Befragung am Anfang der 90er Jahre die Häufigkeit der Titelvergabe<br />

mit dem Alter der Informanten stetig zu. Der Sprung zwischen der<br />

mittleren und der ältesten Altersgruppe war allerdings auch hier besonders<br />

groß. Bei der zweiten Erhebung 2000/2001 verwendete die jüngste Generation<br />

der Deutschen dann aber etwas häufiger Titel als die mittlere.<br />

Wenn man das Sprachverhalten der verschiedenen Altersgruppen einer<br />

Sprechergemeinschaft mit Willam Labov als „apparent time“ 14 , also als ein<br />

14 LABOV (1965: 308–309). Diese Interpretation von Daten verschiedener Altersgruppen<br />

ist bekanntlich besonders im Zusammenhang mit der Dialektologie kritisiert worden.<br />

Demnach bildet sich etwa im abnehmenden Gebrauch des Dialekts in der berufstätigen<br />

Generation weniger die Diachronie ab als vielmehr Sprachveränderungen während des<br />

Lebenszyklus des Sprechers, der nach Abschluss seines Berufslebens durchaus wieder<br />

zum Dialekt zurückkehren könne. Ähnlich argumentiert FINKENSTAEDT (1981: 27)<br />

in Bezug auf den Titelgebrauch: die jüngste Altersgruppe auch seiner Informanten verwende<br />

deshalb so wenig Titel, weil sie mit den „Regeln für die Sprachverwendung in<br />

97


98<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

sichtbares Abbild von Prozessen des Sprachwandels interpretiert, dann wäre<br />

die Norm des Titelgebrauchs im Tschechischen und Österreichischen in den<br />

letzten Jahrzehnten recht stabil geblieben. Die Antworten der deutschen<br />

Informanten lassen dagegen auf fortschreitende Veränderungen schließen.<br />

Hier nahm der Gebrauch von Titeln und Funktionsbezeichnungen demnach<br />

in der jüngeren Vergangenheit ständig ab. Die Ergebnisse der letzten Befragung<br />

könnten darauf hindeuten, dass diese Entwicklung ihren tiefsten Punkt<br />

bereits durchschritten hat und neuerdings eine gegenläufige Tendenz wirksam<br />

wird.<br />

5. Titelvergabe und Geschlechtszugehörigkeit der Befragten<br />

Ein sozialer Parameter, der in der Anredeforschung regelmäßig Beachtung<br />

findet, weil er in der Tat für viele Anredesysteme eine wichtige Rolle spielt,<br />

ist die Geschlechtszugehörigkeit der Gesprächspartner. Da unser Fragebogen<br />

die vorgegebenen Adressaten nicht nach dem Geschlecht differenziert,<br />

lässt sich mit seiner Hilfe nur die Frage stellen, ob die Häufigkeit des Titelgebrauchs<br />

von der Geschlechtszugehörigkeit der Befragten abhängig ist.<br />

Schon bei der ersten Erhebung 1992/1993 hatten sich in den Ergebnissen<br />

aber keine besonders klaren Konturen abgezeichnet. Offenkundig geht die<br />

Geschlechtszugehörigkeit der Informanten in allen drei untersuchten Ländern<br />

als Faktor eher untergeordneter Bedeutung in das Anredeverhalten ein<br />

und wird von anderen sozialen Parametern, wie beispielsweise dem Alter,<br />

überlagert. Um eine eventuelle Abhängigkeit zwischen Titelvergabe und<br />

Geschlecht erkennbar zu machen, war es also notwendig, sehr stark sozial<br />

homogenisierte Vergleichsgruppen gegenüber zu stellen. Ich habe aus den<br />

Antworten der Erhebung von 2000/2001 einmal nur solche Informanten<br />

herausgefiltert, die unter 30 Jahre alt waren, in der Großstadt lebten, studierten<br />

und aus dem jeweils angegebenen Land stammten und die dortige<br />

Staatssprache als ihre Muttersprache angegeben hatten. Innerhalb dieses eng<br />

begrenzten Informantensamples habe ich dann die Antworten der Männer<br />

und Frauen gegenübergestellt. Die Ergebnisse dieser Gegenüberstellung<br />

zeigt die Tabelle 6.<br />

konkreten Situationen des Erwachsenenlebens“ noch nicht vertraut sei. Dieser Interpretation<br />

widerspricht mein Befund, dass jedenfalls bei den bundesdeutschen Informanten<br />

die Häufigkeit der Titelverwendung über alle drei herausgegriffenen Altersgruppen<br />

schrittweise zunahm. Auch die tschechischen und österreichischen Werte steigen erst<br />

am Ende der Berufstätigkeit sprunghaft an. Diese Ergebnisprofile sind mit der Wirkung<br />

von Erwachsenenalter oder Berufstätigkeit nicht zu erklären. Für eine diachronische Interpretation<br />

sprechen auch Befunde früherer Zeitstufen, wie sie etwa in Abschnitt 6 und<br />

7 ausgewertet werden.<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

Tabelle 6: unterschiedlicher Titelgebrauch der Geschlechter?<br />

In X % der vorgegebenen Fällen entschieden sich die Informanten FÜR<br />

eine Titelvergabe<br />

Vergleichsgruppen: Informanten unter 30 Jahren aus der Großstadt, die StudentInnen sind,<br />

aus dem jeweiligen Land stammen und die jeweilige Staatssprache als Muttersprache angaben.<br />

Erhebung 2000/2001<br />

Tschechische<br />

Österreichische<br />

Deutsche<br />

Männer 67,5 % (N= 20)<br />

Frauen 74,52 % (N= 30)<br />

Männer 63,7 % (N= 9!)<br />

Frauen 63,7 % (N= 9!)<br />

Männer 22,36 % (N= 26)<br />

Frauen 26,8 % (N= 50)<br />

Auch hier ist zunächst einmal festzuhalten, dass sich im Verhältnis der hier<br />

betrachteten Vergleichsgruppen wieder sehr deutlich die Länderrelationen<br />

abzeichnen, von denen in Abschnitt 2 und 3 die Rede war. Für die Häufigkeit<br />

der Titelvergabe durch meine Befragten ist offenkundig die Frage sehr<br />

viel bedeutsamer, ob sie in Deutschland, Österreich oder Tschechien aufgewachsen<br />

sind, als die Frage, welches Geschlecht diese Befragten haben.<br />

Die Gegenüberstellung jeweils der männlichen und der weiblichen Informanten<br />

innerhalb der drei Ländergruppen gibt dann aber Anhaltspunkte<br />

dafür, dass die Geschlechtszugehörigkeit eine gewisse Rolle für die Häufigkeit<br />

der Titelvergabe spielt. Besonders die tschechischen Informantinnen<br />

aus dem vereinheitlichten Sample entschieden sich bei meiner Befragung<br />

etwas häufiger für eine Titelvergabe als ihre männlichen Landsleute. Dieses<br />

Verhältnis zwischen den Geschlechtern kehrt, allerdings noch schwächer<br />

ausgeprägt, bei der Gegenüberstellung der bundesdeutschen Geschlechtergruppen<br />

wieder. Die absoluten Zahlen der befragten Österreicher waren in<br />

den sozial vereinheitlichten Vergleichsgruppen leider so niedrig, dass ihren<br />

Antworten keine allgemeinere Aussagekraft zugesprochen werden kann. 15<br />

Auch die Werte der deutschen und tschechischen Geschlechtsgruppen<br />

müssten durch nachfolgende Untersuchungen größeren Umfangs bestätigt<br />

werden, da sie nur wenig profiliert sind. Grundsätzlich dürfte die Tendenz<br />

weiblicher Informanten, sich eher für eine Titelvergabe zu entscheiden als<br />

ihre männlichen Landsleute, darauf zurückgehen, dass Frauen sich in den<br />

fraglichen Gesellschaften bis heute eher in rangniedrigeren Positionen wie-<br />

15 Die Ergebniswerte der jeweils neun Österreicher und Österreicherinnen stimmen hier<br />

nur zufällig überein. Im Einzelnen haben die Informanten durchaus unterschiedliche<br />

Adressaten mit Titel bedacht. Die Werte liegen dabei in beiden Fällen untypisch für diese<br />

Altersgruppe über dem Landesdurchschnitt (vgl. Abschnitt 2) und sind daher kaum<br />

verlässlich.<br />

99


100<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

derfinden und eine Statusanrede ‚nach oben‘ für üblicher halten als männliche<br />

Befragte.<br />

6. Titelgebrauch regional differenziert<br />

Die Gegenüberstellung von Informanten aus Österreich und Deutschland hatte<br />

in den vorangegangenen Abschnitten immer wieder gezeigt, dass innerhalb<br />

des deutschen Sprachgebietes mit großen Differenzen in den Konventionen<br />

des Titelgebrauchs gerechnet werden muss. Es erhebt sich nun die Frage, ob<br />

es auch innerhalb der drei untersuchten Länder regionale Differenzierungen<br />

des Anredeverhaltens gibt. Das bei GROBER-GLÜCK (1994) vorgestellte<br />

Kartenmaterial zeigte ja noch für die Zeit um 1930 jedenfalls für das soziale<br />

Leben außerhalb der Städte eine sehr deutlich gegliederte deutschsprachige<br />

‚Anredelandschaft‘. Die Verfasserin rekonstruiert in ihrem Buch auf der Basis<br />

der damaligen Fragebogenerhebung zum deutschen Volkskundeatlas die Anredeverhältnisse<br />

auf den Bauernhöfen. Demnach war die heute weitgehend<br />

standardisierte Distanzanrede mit Sie und Herr/Frau + Name im agrarischen<br />

Umfeld noch um 1930 deutlich auf Mitteldeutschland begrenzt, während an<br />

den nördlichen und östlichen Rändern des deutschen Sprachgebietes und insbesondere<br />

im süd(west)deutschen Raum um diese Zeit noch Formen wie das<br />

Erzen oder das Ihrzen oder die nominale Anrede beispielsweise mit Bauer/Bäuerin<br />

weite und dominante Verbreitung hatten.<br />

Was die hier interessierende Anrede mit Titeln betrifft, gibt die linguistische<br />

Fachliteratur kaum einmal Hinweise auf regionale Differenzierungen. Eher<br />

noch finden wir in Benimmbüchern und Briefstellern gelegentlich Bemerkungen<br />

zur regionalen Gliederung des Anredegebrauchs. Für die Zeit um<br />

1933 konstatiert etwa das Anstandsbuch von Ilse Meister:<br />

Während man im Ausland längst auch in den höchsten Kreisen jeden mit seinem Namen anredet,<br />

sind wir vorläufig nur in der ersten Gesellschaft Norddeutschlands so weit. Im übrigen<br />

plagen wir uns weiter mit der Titelfrage herum und kommen häufig genug in die peinlichste<br />

Verlegenheit, wenn wir mit jemand sprechen, dessen genauen Titel wir nicht wissen.<br />

(MEISTER zit. nach KRUMREY 1984: 421–422)<br />

Eine Nord-Süd-Gliederung der Titelanrede legt auch das Benimmbuch von<br />

Meissner nahe, das im Jahr 1954 beobachtet, nur noch „im Süden Deutschlands“<br />

seien die „Ehemannstitel für die Gattin“ in Gebrauch, „während im<br />

Norden deren Abschaffung ziemlich allgemein ist“ (MEISSNER 1954:<br />

111). Etwa zur selben Zeit lokalisiert KAMPTZ-BORKEN (1955: 127) den<br />

häufigen Gebrauch von Titeln überhaupt „im Süden des Sprachgebietes<br />

(einschließlich Österreich)“. Bei MUHR (1993: 31) wird für Österreich zusätzlich<br />

„auf ein starkes West-Ost-Gefälle verwiesen“:<br />

Je weiter im Osten Österreichs, um so wichtiger ist der Rang des Gesprächspartners als Kommunikationsfaktor.<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

Um regionale Unterschiede im Titelgebrauch genauer erfassen zu können,<br />

habe ich beim zweiten Durchlauf meiner Fragebogenerhebung gezielt an<br />

verschiedenen Orten Daten gesammelt. 16 Die Erhebungsorte sollten dabei<br />

zum einen eine Nord-Süd-Dimension von Norddeutschland über Mitteldeutschland,<br />

Tschechien bis Österreich erfassen. Zum anderen sollte quer<br />

zu dieser Achse eine mögliche Ost-West-Differenzierung innerhalb der drei<br />

Länder beobachtet werden können. Die Karte in Abbildung 2 gibt meine<br />

Erhebungsorte in dem untersuchten deutsch-deutschen, deutsch-tschechischen<br />

und deutsch-österreichischen Grenzraum wieder. Es sind dies von Norden<br />

nach Süden: Braunschweig, Berlin, Frankfurt (Oder), Jena, <strong>Regensburg</strong>,<br />

Karlovy Vary, Prag, Hradec Králové, Salzburg und Wien. Um Überschneidungen<br />

mit anderen sozialen Parametern zu vermeiden, habe ich als Vergleichsgruppen<br />

die am jeweiligen Ort ansässigen Muttersprachler unter<br />

dreißig Jahren aus dem Sample herausgefiltert. Leider zeigte sich erst nach<br />

Abschluss der Erhebung, dass selbst diese im Sample eigentlich sehr stark<br />

vertretene Informantengruppe an einigen Erhebungsorten nur schwach bzw.<br />

in Braunschweig sogar gar nicht repräsentiert war. Auch die Differenzen<br />

zwischen den Werten einzelner Regionen sind mitunter so gering, dass sie<br />

eventuell auf andere als regionale Aspekte zurückzuführen sind. Die Ergebnisse<br />

sind also mit großer Vorsicht zu bewerten und müssen durch nachfolgende,<br />

statistisch besser fundierte Untersuchungen abgesichert werden.<br />

16 Hierbei konnte ich mich auf die freundliche Hilfe von ortsansässigen Kolleginnen und<br />

Kollegen stützen, die meine Fragebögen in ihrem Bekanntenkreis und insbesondere an<br />

Hochschulen verteilten. Für ihre Unterstützung danke ich sehr herzlich Ursula Doleschal,<br />

Gudrun Held, Steffen Höhne, Magdalena Kneřová, Marek Nekula, Jiří Nekvapil,<br />

Václav Maidl, Marie Vachková, Jürgen Zeck und Jiří Zeman.<br />

101


102<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

Abbildung 2: Titelgebrauch der unter 30–jährigen regional differenziert<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

Die in die Karte auf Abbildung 2 eingetragenen Werte fügen sich im Großen<br />

und Ganzen zu folgendem vorläufigen Bild: Innerhalb des deutschösterreichischen<br />

Sprachraumes steigt die Häufigkeit der Titelvergabe von<br />

Nord nach Süd recht deutlich an. Zugleich erhöht sich innerhalb der drei<br />

untersuchten Länder die Häufigkeit der Titelvergabe von West nach Ost.<br />

Dass die Werte für Prag gegenüber Karlovy Vary leicht zurückgehen, erklärt<br />

sich aus der Abhängigkeit der Titelverwendung von der Größe des<br />

Wohnorts der Informanten. In Tschechien und Deutschland wurde in den<br />

großen Städten etwas seltener ein Titel gewählt als auf dem Land. 17<br />

Als Hypothese für eine genauere Untersuchung könnte also die Faustregel<br />

formuliert werden, dass eine Person um so wahrscheinlicher mit einem Titel<br />

angesprochen werden dürfte, je weiter sie sich im deutschen Sprachgebiet in<br />

südöstlicher Richtung fortbewegt. Die Ergebnisse von Abbildung 2 bestätigen<br />

also tendenziell auch für die Gegenwart Befunde zur regionalen Gliederung<br />

des deutschen Titelgebrauchs, wie sie in älteren Benimmbücher gelegentlich<br />

angeführt werden. Für den tschechischen Sprachraum ergibt meine<br />

Erhebung für die West-Ost-Gliederung ein ähnliches Bild leichter Zunahme<br />

der Bereitschaft, Titel zu verwenden.<br />

Dieses Bild einer kontinuierlichen Zunahme darf aber nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

dass sich das zu erwartende Anredeverhalten beim Überschreiten<br />

der Grenzen zwischen den drei Ländern jeweils sprunghaft ändert.<br />

Besonders deutlich wird dies an der deutsch-tschechischen Grenze, wo auf<br />

der Strecke zwischen Jena oder <strong>Regensburg</strong> auf deutscher und Karlovy Vary<br />

auf tschechischer Seite die Häufigkeit der Titelvergabe meiner Informanten<br />

um über 38 %-Punkte anstieg. Aber auch die deutsch-österreichische<br />

Grenze markiert eine sprunghafte Zunahme des Titelgebrauchs. Während<br />

die Informanten in <strong>Regensburg</strong> in einem Drittel aller vorgegebenen Anredefälle<br />

einen Titel wählten, vergab die Vergleichsgruppe aus Salzburg schon<br />

in der Hälfte aller Möglichkeiten einen Titel (und verhielt sich damit übrigens<br />

gewissermaßen erstaunlich ‚unösterreichisch‘, nämlich im Vergleich<br />

mit anderen österreichischen Informanten überaus sparsam in der Titelvergabe).<br />

Ein vergleichender Blick auf die Befragungsergebnisse der drei<br />

Hauptstädte Berlin, Prag und Wien zeigt, dass sich die regionale Variation<br />

innerhalb der drei Länder auf sehr unterschiedlichen Niveaus vollzieht.<br />

17 Die bis 30–jährigen tschechischen Informanten vom Dorf vergaben in 77,31 % der Fälle<br />

einen Titel, die entsprechende Vergleichsgruppe aus der Großstadt nur in 70,42 % der<br />

Fälle. Während der Unterschied zwischen den Vergleichsgruppen vom Dorf und aus der<br />

Großstadt in Deutschland ganz ähnlich ausfiel (30,25 % gegenüber 24,8 %), waren die<br />

Werte für die Wohnortgröße bei den österreichischen Informanten nahezu ausgeglichen.<br />

103


104<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

Tabelle 6: Vergleich der Titelvergabe in den drei Hauptstädten<br />

Bei X % der vorgegebenen Fälle Entscheidungen FÜR einen Titel<br />

aus Berlin<br />

22,71 %<br />

(N= 59)<br />

Muttersprachliche Informanten unter 30 Jahren<br />

aus Wien<br />

58,33 %<br />

(N= 28)<br />

aus Prag<br />

70,14 %<br />

(N= 50)<br />

Hier finden wir in scharfem Kontrast die Länderrelationen wieder, die sich<br />

auch unter Vorgabe anderer Untersuchungsparameter in meinem Datenkorpus<br />

immer wieder abgezeichnet hatten. Welche Parameter auch immer angelegt<br />

wurden, um das Informantensample zu differenzieren, immer kehrten<br />

im Verhältnis der jeweiligen Vergleichsgruppen aus den drei Ländern die<br />

Relationen wieder, die sich schon anfangs beim allgemeinen Ländervergleich<br />

gezeigt hatten. Zwar variiert die Titelvergabe innerhalb der drei<br />

Sprechergemeinschaften je nach dem sozialen Profil oder der regionalen<br />

Herkunft der jeweiligen Informanten, diese Variation vollzieht sich aber bei<br />

Deutschen einerseits und Österreichern wie Tschechen andererseits in einer<br />

sehr unterschiedlichem Bandbreite von Ergebniswerten. Wie immer die sozialen<br />

Rollen des ‚Angeredeten‘ und des ‚Sprechers‘ in der Anrededyade<br />

besetzt waren, die der Fragebogen imaginiert, stets wurden erheblich häufiger<br />

Titel vergeben, wenn die ‚Sprecher‘ Österreicher oder Tschechen waren,<br />

als wenn es sich um deutsche Vergleichspersonen handelte. In die Begrifflichkeit<br />

der Dialektologie könnte man diesen Befund etwa so<br />

übertragen: Die Staatsgrenzen zwischen Deutschland einerseits und Österreich<br />

und Tschechien andererseits markieren den Verlauf einer recht ausgeprägten<br />

pragmatischen Isoglosse.<br />

7. Schlussbetrachtungen: k.u.k. Konventionen?<br />

Ich möchte die Differenzen im Titelgebrauch zwischen den drei Ländern<br />

abschließend auf ein vereinfachtes Schema der politischen Geographie im<br />

Untersuchungsraum projizieren. Mein Untersuchungsgebiet wäre nach<br />

Maßgabe der staatspolitischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert sehr grob<br />

in vier Teilgebiete zu unterteilen. Abbildung 3 soll diesen Sachverhalt in<br />

Form einer stark schematisierten geographischen Karte wiedergeben.<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

Abbildung 3: der Untersuchungsraum staatspolitisch gegliedert<br />

D (West)<br />

A<br />

D (Ost)<br />

Aus der Perspektive der größten und dominantesten Differenzen in meinen<br />

Fragebogenergebnissen wäre der Untersuchungsraum dagegen in nur zwei<br />

Teilgebiete zu gliedern. Ein Gebiet, in dem man eine Titelvergabe eher für<br />

Ermessenssache und vielfach sogar für ganz unüblich hält. Und ein Gebiet,<br />

in dem der Gebrauch von Titeln und Funktionsbezeichnungen als üblich<br />

und oft sogar als obligatorisch empfunden wird. Das ist etwas überraschend,<br />

da naheliegende Erklärungen für große Unterschiede im Anredeverhalten<br />

offensichtlich nicht oder erst in zweiter Linie greifen.<br />

Was wäre zu erwarten gewesen? Nahe gelegen hätte erstens, dass die Anredekonventionen<br />

sprachspezifisch sind. Während an der Grenze zwischen<br />

Deutschland und Tschechien nicht nur verschiedene Nationalsprachen, sondern<br />

sogar zwei unterschiedliche Sprachzweige aneinander stoßen, trennt<br />

die deutsch-österreichische Grenze nach v. Polenz allenfalls regionale Varietäten<br />

derselben Sprache:<br />

Das österreichische Deutsch nimmt bis heute [...] vollgültig und in allen soziolinguistischen<br />

Hinsichten an der modernisierenden Weiterentwicklung der deutschen Standardsprache teil,<br />

wenn auch mit einigen hundert bewußten eigenen Varianten. (POLENZ 1999: 118) 18<br />

Demnach hätten sich in meinen Ergebnissen zum Titelgebrauch räumliche Verhältnisse<br />

wie in Abbildung 4 mit dem schärfsten Profil abzeichnen müssen.<br />

18 Die Diskussion um den Status des österreichischen Deutsch im Spannungsfeld einer<br />

„österreichisch-nationalen“ und einer „deutsch-integrativen“ Perspektive umreißt<br />

WIESINGER (1995).<br />

CZ<br />

105


106<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

Abbildung 4: der Untersuchungsraum sprachlich gegliedert<br />

D (West)<br />

A<br />

D (Ost)<br />

So war es aber nicht. Vielmehr belegen meine Ergebnisse, dass Sprachgebrauch<br />

und Sprachsystem in ihrer räumlichen Erstreckung durchaus nicht<br />

zur Deckung kommen müssen. Die Konventionen des Sprachverhaltens<br />

können den Geltungsbereich einer Nationalsprache sowohl über- als auch<br />

unterschreiten.<br />

Das ist freilich eine Grundeinsicht der Soziolinguistik und auf der Linie der<br />

klassischen soziolinguistischen Anredeforschung hätte denn auch eine zweite,<br />

nahe liegende Erklärung für große Differenzen im Anredeverhalten gelegen.<br />

Seit den Impuls gebenden Arbeiten von Roger Brown und Albert Gilman<br />

aus den frühen sechziger Jahren wurde und wird die Herausbildung<br />

und Entwicklung von Anredekonventionen vorrangig mit ihrem gesellschaftlichen<br />

Kontext in Verbindung gesetzt. Die Auflösung der starren<br />

Standeshierarchie und die zunehmende soziale Mobilität der europäischen<br />

Gesellschaften hat nach Brown und Gilman einen Übergang europäischer<br />

Anredesysteme von der „Machtsemantik“ zu einer „Solidaritätssemantik“<br />

(BROWN / GILMAN 1980: 167ff.) zur Folge gehabt. Insbesondere der Begriff<br />

der Solidarität verbindet sich für heutige Leser mit etwas irreführenden<br />

Konnotationen. Ich würde deshalb in Anlehnung an Angelika Linke den<br />

betreffenden Prozess lieber als einen Übergang von einer (feudalen) Höflichkeit<br />

der vertikalen Distanz zu einer (bürgerlichen) Höflichkeit der horizontalen<br />

Distanz sprechen (vgl. LINKE 1998). Diese Entwicklung drückt<br />

sich nach Brown und Gilman unter anderem in einem Bedeutungswandel<br />

der Anredepronomen vieler europäischer Sprachen aus. 19 Anredepronomen<br />

wie du und Sie oder tu und vous stehen heute nicht mehr für soziale Über-<br />

und Unterordnungsverhältnisse, sondern für unterschiedliche Grade der Di-<br />

19 In der räumlichen und materiellen Gestaltung von Briefen vollzieht sich im Laufe des<br />

19. und 20. Jahrhundert eine parallele Entwicklung, vgl. EHLERS (im Druck).<br />

CZ<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

stanz bzw. Vertrautheit zwischen den Gesprächspartnern. Parallel zu diesem<br />

Bedeutungswandel der Anredepronomen vollzog sich in vielen europäischen<br />

Sprachen ein fortschreitender Abbau des Titelgebrauchs. Die (horizontal)<br />

distanzierte Anrede mit Herr/Frau + Nachname trat auch im Deutschen<br />

mehr und mehr an die Stelle der (vertikal) hierarchisierenden Titel-<br />

oder Funktionsanreden.<br />

Neben diesen sehr langfristigen Wandlungen zeigen aber gerade die deutschen<br />

Verhältnisse, dass Anredekonventionen mitunter auch sehr rasch und<br />

sensibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren können. Hier wäre<br />

der erdrutschartige Umbruch des Anredeverhaltens an bundesdeutschen<br />

Universitäten nach 1968 zu nennen, der sich dann als so genannte ‚Duzwelle‘<br />

auch auf andere Bereiche der Gesellschaft ausbreitete. In wenigen Jahrzehnten<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg ist außerdem das Fräulein als Anredenomen<br />

so weit außer Gebrauch gekommen, dass es heute wohl endgültig<br />

aus dem System der deutschen Nominalanrede getilgt ist.<br />

Eine derartig sensible Anbindung von Anredekonventionen an gesellschaftliche<br />

Prozesse ließe wohl erwarten, dass sich im Anredeverhalten der Befragten<br />

in deutlicher Weise der Verlauf des Eisernen Vorhangs abzeichnete,<br />

der über mehr als vier Jahrzehnte verschiedene Gesellschaftssysteme trennte<br />

und zugleich den kommunikativen Austausch der Bevölkerungen im Untersuchungsraum<br />

rigide beschränkte. Unter dieser Perspektive wäre also etwa<br />

das folgende Bild wahrscheinlich gewesen:<br />

Abbildung 5: der Untersuchungsraum nach politischer Blockbildung gegliedert<br />

D (West)<br />

A<br />

D (Ost)<br />

Stattdessen heben die Ergebnisse meines Titelbogens in der politischen<br />

Geographie die nordwestlichen Konturen ein Staatsgebildes heraus, das seit<br />

1918 nicht mehr besteht (vgl. Abbildung 6).<br />

CZ<br />

107


108<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

Abbildung 6: der Untersuchungsraum nach Titelgebrauch gegliedert<br />

D (West)<br />

A<br />

D (Ost)<br />

Auf diesem nordwestlichen Gebiet der Donaumonarchie wären also die Titelkonventionen<br />

von dreimaligem politischen Systemwechsel weitgehend<br />

unberührt geblieben: der Zeit der Republiken, der unterschiedlich langen<br />

Phase der nationalsozialistischen Diktatur und der Nachkriegsordnung mit<br />

einer neuen Blockbildung. 20 Auch durch den vierten, neuerlichen Systemumbruch<br />

1989 hat sich augenscheinlich an der Länderrelation im deutschösterreichisch-tschechischen<br />

Titelgebrauch – jedenfalls bislang – grundsätzlich<br />

noch nichts geändert.<br />

Es ist außerordentlich bemerkenswert, dass sich gerade der Titelgebrauch<br />

von einer viereinhalb Jahrzehnte währenden Trennung zwischen kapitalistischer<br />

und sozialistischer Gesellschaftsform offenbar unberührt zeigt. Titel<br />

und Funktionsbezeichnungen beziehen sich explizit auf gesellschaftliche<br />

Rollen und Rangordnungen. Ihre Verwendung erfolgt typischerweise in<br />

nonreziproken, asymmetrischen Anredeverhältnissen, denn diese Formen<br />

akzentuieren gerade die vertikalen sozialen Differenzen zwischen den Gesprächspartnern.<br />

Titelkonventionen wie die tschechische, die in vielen Gesprächssituationen<br />

und mit hoher Frequenz das Bestehen von Statusdifferenzen<br />

zwischen den Gesprächsteilnehmern explizieren, bezeichnet<br />

BERGER (2001: 8) zu recht als „antiegalitär“.<br />

Man säße allerdings einem simplen Widerspiegelungsmodell auf, wollte<br />

man die sozialdeiktische Funktion dieser und anderer Anredeformen so ver-<br />

20 Auch im polnischen Sprachraum werden bis heute Titel- und Funktionsbezeichnungen<br />

sehr häufig benutzt (vgl. z.B. BERGER 2001). Die polnischen Anredeverhältnisse lassen<br />

sich aber nicht ohne Weiteres mit den tschechischen oder deutschen vergleichen,<br />

denn hier ist die nominale Anrede syntaktisch eingebunden und damit konstitutionell<br />

anders determiniert als die fakultative Titelanrede in den beiden anderen Sprachen. Es<br />

wäre im Licht meiner Ergebnisse sehr interessant, die Titelkonventionen in anderen Regionen<br />

der ehemaligen Donaumonarchie zu untersuchen.<br />

CZ<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

stehen, dass sich im Anredeverhalten gesellschaftliche Verhältnisse unmittelbar<br />

abbildeten. Vielmehr drücken die Gesprächspartner durch die Wahl<br />

der Anredeformen aus, welche zwischen ihnen bestehenden sozialen Differenzen<br />

oder Gemeinsamkeiten sie für die jeweils aktuelle Kommunikationssituation<br />

als relevant ansehen. Anredeübergänge, etwa vom Siezen zum Duzen<br />

oder vom Titulieren zur bloßen Verwendung des Namens, die von den<br />

Gesprächspartnern meist metakommunikativ thematisiert werden, zeigen,<br />

dass die Beteiligten die Interpretation ihrer sozialen Beziehung in gewissen<br />

Grenzen gemeinsam aushandeln können. Schon Brown und Gilman sahen<br />

in dem eigentümlichen Anredestil einer Person oder einer Gruppe daher<br />

immer auch den Ausdruck einer „Ideologie“ 21 – im verstärkten Duzen<br />

drücke sich etwa die vorrangige und gewollte Orientierung an Gleichheit<br />

und Gemeinsamkeiten aus. Die spezifischen Anredekonventionen einer<br />

Sprechergruppe bilden also nicht einfach die sozialen Verhältnisse in dieser<br />

Gruppe ab, sondern die Art, wie diese Verhältnisse von dieser Gruppe üblicherweise<br />

interpretiert werden. Die Ergebnisse meiner Untersuchung belegen,<br />

dass zwischen der Entwicklung gesellschaftlicher Machtformationen<br />

und der Entwicklung ihrer kommunikativen Realisierung keine unmittelbaren<br />

Entsprechungen bestehen müssen.<br />

Deutschsprachige Benimmbücher und Briefsteller des 19. Jahrhunderts<br />

vermitteln das Bild einer fortschreitenden „Vereinfachung des aus älterer<br />

Zeit stammenden Titelwesens“ (WAGNER 1875: 328). Damit folgte auch<br />

der deutsche Sprachgebrauch grundsätzlich der gesamteuropäischen Tendenz<br />

zum Titelabbau, von der Brown und Gilman sprachen. Allerdings bedauerten<br />

die Benimmbuchautoren schon im 19. Jahrhundert eine deutliche<br />

Verspätung der deutschen Verhältnisse gegenüber dem Ausland.<br />

Obwohl es zwar wünschenswerth ist, daß die Deutschen mit ihrem Titelwesen die verständige<br />

Einfachheit anderer Nationen, z.B. der Franzosen und Engländer, nachahmen und den höchst<br />

pedantischen Formeln entsagen möchten, so sind wir doch genöthigt, so lange eine Beschränkung<br />

darin nicht allgemein geworden ist, der herrschenden Sitte oder Unsitte zu huldigen,<br />

wenn wir uns nicht eine Verletzung der Höflichkeit schuldig machen wollen. (RAMMLER<br />

1876: 60)<br />

Gerade im gern geübten Vergleich mit England und Frankreich sticht<br />

Deutschland der Anstandsliteratur zu Folge noch bis weit in das 20. Jahrhundert<br />

als „das Land der ‚Doktoren‘, der ‚Räte‘, der ‚Konsulen‘ der Direktoren‘“<br />

(GRAUDENZ 1971: 25) heraus.<br />

Dabei scheinen die deutschsprachigen Benimmbücher lange Zeit keine Unterschiede<br />

zwischen Deutschland und Österreich wahrzunehmen. Erst nach<br />

21 Vgl. den Abschnitt „Semantik, Sozialstruktur und Ideologie“ in BROWN / GILMAN<br />

(1982: 179 ff.).<br />

109


110<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

dem Zweiten Weltkrieg beginnt hier „der Süddeutsche und besonders der<br />

Österreicher“ (KAMPTZ-BORKEN 1955: 127) mit seiner nicht nachlassenden<br />

„Lust am Titel“ (OHEIM 1956: 357) aufzufallen.<br />

Einigermaßen schlimm und schon nicht mehr so ganz in unsere Zeit passend ist es, daß im<br />

Bereich der deutschen Zunge zur Anrede auch noch ein Titel gehört, wenn der Höflichkeit<br />

Genüge getan werden soll. Dies ist zwar bei anderen Kulturnationen auch der Fall, aber der<br />

deutschsprachige Mensch tut in dieser Hinsicht anscheinend doch ein wenig zu viel des Guten,<br />

besonders wenn er im Süden des Sprachgebietes (einschließlich Österreich) siedelt.<br />

(KAMPTZ-BORKEN 1955: 127)<br />

Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg scheint ein Auseinanderdriften des<br />

norddeutschen und des österreichisch-süddeutschen Sprachgebrauchs in<br />

Kontaktsituationen manifest geworden zu sein. So berichtet der Sudetendeutsche<br />

Eugen Lemberg, der sich nach dem Krieg in die „fremde Welt“<br />

der Region Kassel versetzt sah, die sudetendeutschen Flüchtlinge seien hier<br />

„von den Einheimischen wegen unserer österreichischen Höflichkeit als<br />

unterwürfig verachtet“ (LEMBERG 1986: 203) worden. Die altösterreichische<br />

Höflichkeit wirkte also bereits im Nachkriegsdeutschland devot. Daran<br />

dürfte der häufige Titelgebrauch entscheidenden Anteil gehabt haben.<br />

Wo die Divergenz des deutschen und des österreichischen „Titelwesens“<br />

angesprochen wird, werden gern auch Erklärungen für Besonderheiten des<br />

österreichischen Sprachgebrauchs versucht. OHEIM (1956: 357) begründet<br />

die besondere österreichische „Lust am Titel“ beispielsweise als Ausdruck<br />

einer allgemein traditionsorientierten und gleichsam sentimentalen Mentalität:<br />

Der Blick des Österreichers ist rückwärts in die glorreiche Vergangenheit gerichtet. (ebd.)<br />

SPILLNER (2001: 32) verweist auf kulturgeschichtliche Besonderheiten<br />

und sieht einen „Grund für eine mögliche Vorliebe für allerlei Titulierungen“<br />

darin, „dass in Wien lange das spanische Hofprotokoll galt, von dem<br />

Teile alle historischen und politischen Veränderungen überstanden haben.“<br />

TRIFELS (o.J. [1974]: 131) interpretiert das Fortbestehen adliger Titulaturen<br />

als eine Art sozialpsychologischer Trotzreaktion darauf, dass in Österreich<br />

1918 anders als in Deutschland „die Weiterführung der Adelsprädikate<br />

verboten“ wurde. MUHR (1993: 30) erklärt den starken Titelgebrauch<br />

„aus den korporatistischen Strukturen“ der gegenwärtigen Gesellschaft<br />

Österreichs, denen sozialpsychologisch „ein erhebliches Maß an Akzeptanz<br />

von Obrigkeit und Autorität“ korrespondiere.<br />

Die Interpretation der vom deutschen Usus stark abweichenden Titelkonvention<br />

bedient sich also einstweilen der verschiedensten kulturalistischen,<br />

mentalistischen oder historischen Erklärungsmuster. Es ist freilich überhaupt<br />

die Frage, ob eine einzelne sprachliche Form und ihr Gebrauch mit<br />

dem Gesamtzusammenhang von Kultur und Gesellschaft in direkte Bezie-<br />

Zur Anrede mit Titeln in Deutschland, Österreich und Tschechien<br />

hung gesetzt werden kann. Derartige kulturalistische Kurzschlüsse waren<br />

typisch für die „kulturkundlichen“ Ansätze in der Sprachwissenschaft des<br />

frühen 20. Jahrhunderts. 22 Ein recht deutliches Beispiel für derartige Kurzschlussargumentationen<br />

findet sich für den Bereich der Anrede heute etwa<br />

bei Anna Wierzbicka. Wierzbicka bezeichnet das universell anwendbare<br />

englische you als „very democratic, it is a great social equaliser“<br />

(WIERZBICKA 1991: 47). So wird dieses Pronomen als ein sprachlicher<br />

Reflex der „Anglo-Saxon culture“ angesehen, zu deren zentralen Werten es<br />

gehöre, jedem Menschen eine unverletzliche Privatsphäre zuzubilligen.<br />

Being the great equaliser, the English you keeps everybody at a distance – not a great distance,<br />

but a distance; and it doesn’t allow anybody to come really close. (ebd.: 48)<br />

Das Englische hätte demzufolge „no devices“ (ebd.), besondere Intimität<br />

gegenüber dem Angesprochenen zum Ausdruck zu bringen. Das mag für<br />

die pronominale Anrede als solche richtig beobachtet sein. Selbstverständlich<br />

bieten aber schon die nominalen Anredeformen des Englischen vielfältige<br />

Möglichkeiten ganz ‚undemokratische‘ Statusdifferenzen ebenso wie<br />

engste Intimität (z.B. Kosewörter und -namen) auszudrücken. Bedenkt man<br />

zudem die reichen Differenzierungsmöglichkeiten vertikaler und horizontaler<br />

Distanz auf anderen Sprachebenen des Englischen, muss die Argumentation<br />

Wierzbickas als unhaltbare kulturalistische Überfrachtung der Bedeutung<br />

eines einzelnen sprachlichen Mittels erscheinen.<br />

Ähnlich wäre es sicher verfrüht, den divergierenden Titelgebrauch allein<br />

schon als Indiz kultureller oder mentaler Differenzen zwischen Deutschland<br />

und Österreich-Tschechien zu interpretieren. Bevor von den Konventionen<br />

des Titelgebrauchs auf Kultur und Gesellschaft zu schließen ist, müsste zunächst<br />

geprüft werden, ob diese Konventionen Teil eines verschiedene<br />

sprachliche Ebenen und Kommunikationsdomänen übergreifenden ‚Höflichkeitsstils‘<br />

sind. Zu fragen wäre etwa, ob sich auch jenseits des Titelgebrauchs<br />

in Österreich und Tschechien Züge einer hierarchie-orientierten<br />

Höflichkeit ausmachen ließen, die zumindest in verbaler Kommunikation<br />

im Deutschen nicht oder nicht in gleicher Ausprägung und Frequenz anzutreffen<br />

wären? 23 Im Übrigen dürfte das Fortbestehen sprachlicher Konven-<br />

22 Berüchtigt ist beispielsweise Eugen Lerchs Schluss von der Häufigkeit des „Heischefuturums“<br />

(Verwendung des Futurs in direktiven Sprechakten) im Französischen auf den<br />

impulsiven und rücksichtslosen „französischen Nationalcharakter“, auf den Lerch unter<br />

anderem in seinem Artikel über „Französische Sprache und französische Wesensart“ zurückkommt<br />

(LERCH 1930: 104–107).<br />

23 Die Arbeiten Rudolf Muhrs zum Österreichischen gehen in diese Richtung, vgl. MUHR<br />

(1993) und (1995).<br />

111


112<br />

Klaas-Hinrich Ehlers<br />

tionen kulturalistischer oder soziologischer Interpretation weniger zugänglich<br />

sein als deren Veränderung.<br />

A (communicative) politeness style can be fossilized and remain unchanged, at least for some<br />

time. (NEKVAPIL / NEUSTUPNÝ (im Druck: 4)<br />

Aus der Sicht der dynamischen Entwicklung der Anrede im (nord)deutschen<br />

Sprachgebrauch und auch vor einem allgemeineren westeuropäischen<br />

Hintergrund könnten die Titelkonventionen in Tschechien und Österreich<br />

tatsächlich als ‚fossilisiert‘ bezeichnet werden. Wie alle ‚Fossilien‘ sagen<br />

uns diese Konventionen mehr über die Vergangenheit als über die Gegenwart.<br />

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115


Erfindung von Traditionen? Überlegungen zur Rolle von Sprache<br />

und Kommunikation bei der Konstitution nationaler Identität.<br />

Steffen Höhne<br />

Im Kontext der Herausbildung moderner Nationalismen kommt bekanntlich<br />

der Sprache als Identitätsfaktor eine zentrale mobilisierende Bedeutung zu,<br />

was sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in den Böhmischen Ländern in<br />

einer Vielzahl an politischen Auseinandersetzungen zeigt, an denen sich<br />

harte Machtdivergenzen dokumentieren. Erinnert sei hier nur an die Badeni-<br />

Krise des Jahres 1897,<br />

die wohl schwerste Staatskrise, die die späte Monarchie erschüttert hat, eine Orgie an Gewalt,<br />

Dummheit, antislawischer und antisemitischer Pöbelei in den Straßen und im Parlament, ein<br />

Menetekel, das den von vielen als unvermeidlich gesehenen Untergang eines längst als anachronistisch<br />

empfundenen Staatsgebildes vorwegzunehmen schien [...]. (BURGER 1998:<br />

201) 1<br />

In der Folge der am 5.4.1897 für Böhmen, am 22.4.1897 für Mähren erlassenen<br />

Sprachenverordnungen, mit denen in den Kronländern Böhmen und<br />

Mähren beide Landessprachen „im inneren und äußeren Dienstverkehr der<br />

Behörden einander gleichgestellt“ wurden (HÖNSCH 1992: 393), kam es<br />

zu massiven Ausschreitungen, in deren Folge die Sprachenverordnungen<br />

gekippt wurden und Badeni zurücktreten musste. Dieser Konflikt steht somit<br />

im Zentrum einer Entwicklung, in der das Bestehen zweier oder mehrerer<br />

Sprachen zunehmend nicht als Ausdruck kulturellen Reichtums verstanden<br />

wird und die als Basis für das Ideal einer monolingualen, nationalen<br />

Schulbildung dient.<br />

Dabei ist die seit dem Hochmittelalter in den Böhmischen Ländern vorzufindende<br />

Zweisprachigkeit bei stabilen Sprachgrenzen, darauf hat Emil<br />

Skála in seinen sprachhistorischen Arbeiten explizit hingewiesen, ein wichtiges<br />

kulturkonstitutives Element. Schließlich offenbart sich dem Betrachter<br />

diese Kultur als Ergebnis interdependenter Prozesse oder, nach Palacký, als<br />

‚Ringen mit dem Deutschthum‘ auf fast allen Gebieten des menschlichen<br />

Lebens. Allerdings lässt sich an dem jeweils veränderten Status der einen<br />

oder anderen Sprache schon in vornationaler Zeit der jeweilige Wechsel in<br />

1 Burger unternimmt in ihrem Beitrag den Versuch einer Ehrenrettung Badenis (s.a.<br />

BURGER/WOHNOUT 1995), dessen Sprachenverordnungen auf dem Prinzip sprachlicher<br />

und nationaler Gleichberechtigung basierten (BURGER 1998: 209). Zu den<br />

Sprachreformen siehe auch MACKOVÁ (1998) und MIKUŠEK (1998); ferner Abdruck<br />

der Sprachenverordnungen bei FISCHEL (1910: 246ff.).


118<br />

Steffen Höhne<br />

der politischen Herrschaft ablesen. 2 Auf die partielle Verdrängung der deutschen<br />

Sprache in der Hussitischen Periode folgt mit der Herrschaft der<br />

Habsburger auf dem böhmischen Thron (1526) eine ,Rückkehr‘, nach der<br />

Schlacht am Weißen Berg (Bílá hora) eine zunehmende Dominanz des<br />

Deutschen – neben dem Lateinischen als Bildungssprache – in der öffentlichen<br />

Kommunikation. Ungeachtet der Erneuerten Landesverordnung<br />

(1627/28) (FISCHEL 1910: 10–17), in der die beiden Landessprachen offiziell<br />

gleichgestellt worden waren, wurde das Tschechische zunehmend aus<br />

Schulen und Verwaltung verdrängt, bis die Gegenbewegung im Rahmen der<br />

Nationalen Wiedergeburt die Marginalisierung des Tschechischen als öffentliche<br />

Sprache beendete. 3 Mit den Reformen des Jahres 1867 kam es zur<br />

juristischen Gleichberechtigung der großen Nationen in der Habsburger<br />

Monarchie, in deren Folge viele neue, auch höhere Schulen mit Tschechisch<br />

als Unterrichtssprache gegründet wurden und an deren Ende die Etablierung<br />

einer tschechischen Universität stand, hervorgegangen aus der Teilung der<br />

Prager Carolo Ferdinandea im Jahre 1882. Bezogen auf Böhmen führen<br />

diese langfristigen, sprach- wie bildungshistorischen 4 Entwicklungen seit<br />

dem späten 18. Jahrhundert, als bekanntlich mit Herder die Historisierung<br />

des Denkens einsetzte, 5 zur Herausbildung von unterschiedlich attribuierten<br />

Bildungs- und Kommunikationssystemen und zu einer Koppelung des<br />

sprachhistorischen Prozesses an die Konstitution nationaler Kulturen und<br />

damit Identitäten. Wird bei Wilhelm von Humboldt diese Entwicklung noch<br />

aus einer supranationalen Perspektive analysiert, 6 so kommt es in der Folge<br />

je nach inhaltlicher Bestimmung zur Herausbildung exklusiver Konzepte<br />

von Nation (BÄR 2000), denen unterschiedliche Diskurse zugrunde liegen.<br />

2 Zur Datierung des modernen Nationalismus und seiner Abgrenzung gegenüber früheren<br />

Formen siehe WEHLER (2001) und PLANERT (2002).<br />

3 Auf Residuen der Ausbildung in tschechischer Sprache auch während des ‚Temno‘<br />

(Finsternis), z. B. in den Priesterseminaren, weist ANNA DRABEK (1996) hin.<br />

4 Zur Rolle der Schulvereine in diesem Kontext siehe ZAORAL (1995) und LUFT<br />

(1995).<br />

5 Zum Einfluss Herders auf die tschechische Emanzipationsbewegung siehe SUNDHAUßEN<br />

(1973), DREWS (1990), POVEJŠIL (1996).<br />

6 Wilhelm von Humboldt (1973: 139f.) hat den engen, interdependenten Zusammenhang<br />

von Sprache und Nation erkannt: „Jede Sprache empfängt eine bestimmte Eigentümlichkeit<br />

durch die Nation und wirkt gleichförmig bestimmend auf diese zurück. […] Da<br />

die Entwicklung seiner menschlichen Natur im Menschen von der Sprache abhängt, so<br />

ist durch diese unmittelbar selbst der Begriff der Nation als der eines auf bestimmte<br />

Weise sprachbildenden Menschenhaufens gegeben. Die Sprache aber besitzt auch die<br />

Kraft, zu entfremden und einzuverleiben, und teilt durch sich selbst den nationellen Charakter,<br />

auch bei verschiedenartiger Abstammung, mit.“ [kursiv S.H.]<br />

Erfindung von Traditionen? Überlegungen zur Rolle von Sprache …<br />

119<br />

a) Aus den Vorstellungen eigenständiger und vor allem unterscheidbarer<br />

Kulturen entsteht ein kulturell determinierter Nationsbegriff, der<br />

kulturelle Artefakte zum Ausdruck und Eigentum des Kollektivs erklärt.<br />

b) Aus dem politischen Diskurs der Aufklärung um ein selbstbestimmtes<br />

Gemeinwesen entwickelt sich ein politisch determinierter Nationsbegriff.<br />

c) Die Vorstellungen von Existenz und Distinktion individueller Sprachen<br />

führen zu einem sprachlichen Nationsbegriff, der, vor allem in<br />

der Zeit der Romantik, mit einer pathetischen Aufwertung der<br />

Volkssprache als Muttersprache verknüpft und mit dem ein monolinguales<br />

Ideal zunehmend als Basis nationaler Identität eingesetzt<br />

wird. 7<br />

d) Annahmen geographischer und klimatischer Einflussgrößen, aus<br />

denen sich ähnliche physische, psychische und/oder intellektuelle<br />

Eigenschaften entwickeln, bilden die Voraussetzung für einen lebensräumlich-charakterlichen<br />

Nationsbegriff.<br />

e) Die Idee gemeinsamer Abstammung schließlich führt zur Herausbildung<br />

eines genetischen Nationsbegriffs.<br />

Es ist eine Gemengelage dieser Konzepte, mit denen die Vorstellungen von<br />

Nation im Verlauf des 19. Jahrhunderts strategisch zur Konstitution nationaler<br />

Selbstbilder von Gruppen und Gesellschaften, die dadurch Tragfähigkeit<br />

und Kontinuität erhalten sollen, eingesetzt werden. Sprache und Kultur gelten<br />

gemäß dieser panlinguistischen Auffassung (v. POLENZ 1998) als konstitutive<br />

Merkmale von Nation und Nationalität. Distinktionsmerkmale<br />

werden semantisch aufgewertet und nationalisiert bzw. ethnisiert, Sprache<br />

und Kultur als Nationalkultur respektive -sprache mutieren zu Trägern kollektiver<br />

Verwurzelung und Selbstvergewisserung. Auf die daraus resultierenden<br />

nationalen Konflikte innerhalb der Habsburger Vielvölkermonarchie<br />

reagierte man mit unterschiedlichen sprachpolitischen Lösungsversuchen,<br />

so der eingangs erwähnte Kasimir Badeni mit seinem Versuch,<br />

durch zweisprachige Amtierung in zweisprachigen Kronländern die vollkommene Gleichberechtigung<br />

beider Landessprachen als äußere und innere Amtssprachen herzustellen und auf<br />

diese Weise eine transnationale Lösung des Nationalitätenproblems gegenüber einer nationalautonomistischen<br />

durchzusetzen. (BURGER 1998: 208) 8<br />

7 Allerdings handelt es sich dabei um einen Prozess, der in Westeuropa deutlich früher als<br />

in Mitteleuropa einsetzt, vgl. TRABANT (1990: 11ff.).<br />

8 Als weiterer sprachpolitischer Lösungsvorschlag lässt sich die so genannte Taaffe-<br />

Stremayr’sche Sprachverordnung für Böhmen ansehen (Verordnung des Ministers des


120<br />

Steffen Höhne<br />

Für die Sprachgeschichte, für die Fragen der Funktion von Sprache im Kontext<br />

gesellschaftlicher Kommunikation an Relevanz gewinnen, ergeben sich<br />

daraus Konsequenzen. Eingebettet in die Geschichte der sozialen Beziehungen<br />

und Prozesse bzw. in die Geschichte der sozio-kommunikativen Beziehungen<br />

verändert sich ihre Perspektive: Sprachgebrauchsgeschichte bzw.<br />

Sprachbewusstseinsgeschichte, Pragmalinguistik, Sprachkontaktgeschichte<br />

rücken in das Zentrum des Interesses (hierzu MATTHEIER 1998). Die Abkehr<br />

von der systemorientierten bzw. -zentrierten Linguistik durch die<br />

kommunikativ-pragmatische Wende der 1970er Jahre und die damit eingeleitete<br />

Hinwendung zu einer kommunikationsorientierten Betrachtung kollektiver<br />

Deutungsmuster einer Sprachgemeinschaft eröffnet darüber hinaus<br />

Möglichkeiten, die Annäherungen an die philologische Methodik erlauben.<br />

Denn Sprachgeschichte, verstanden als Mentalitäts- oder Diskursgeschichte<br />

und auch als Kulturgeschichte, versteht Texte als Äußerungsensemble, mit<br />

dem ein Thema, z. B. die Identifikation der eigenen Gruppe und ihre Abgrenzung<br />

von anderen, verhandelt wird.<br />

In der Perspektive der Diskursgeschichte werden Quellentexte dergestalt zum Gegenstand der<br />

Sprachgeschichte, dass sie wieder zu Gesprächsbeiträgen werden; und zwar dadurch, dass man<br />

sie als Komponenten eines Zeitgespräches auffasst. Wieder eingebettet in die – je rekonstruierten<br />

– diskursiven und historischen Zusammenhänge, deren Teil sie einmal waren, stellen sich<br />

die Quellentexte als die Elemente einer diskursiven Auseinandersetzung dar, in der sich Denken,<br />

Fühlen, Wollen – die Mentalitäten – der historischen Subjekte ebenso artikulieren wie<br />

konstituieren. (HERMANNS 1995: 91)<br />

Im Hinblick auf die Konstitution sprachnationaler Identität sind somit<br />

sprach- und kommunikationsreflexive Texte in den Böhmischen Ländern<br />

der Neuzeit von besonderem Interesse. Nimmt man als Ausgangspunkt die<br />

Zeit der Aufklärung, 9 so dominieren Apologien der Volkssprache, die zu<br />

Innern und der Justiz vom 19. April 1880, L.G.Bl. Nr. 14, betreffend den Gebrauch der<br />

Landessprachen im Verkehre der politischen, Gerichts- und staatsanwaltschaftlichen<br />

Behörden im Königreiche Böhmen mit den Parteien und autonomen Organen,<br />

FISCHEL 1910: 208f.); ferner wäre an das multilinguale Konzept von Jan Evangelista<br />

Purkyně, Austria Polyglotta, zu denken. Dieses idealistische Manifest empfiehlt Polyglottie<br />

als Lösung nationaler Konflikte: „gesetzlich eingeführt und streng ausgeführt<br />

werde die Erlernung der österreichischen Hauptsprachen an den mittleren und höheren<br />

Schulen, den Realschulen und den Gymnasien.“ (PURKYNĚ 2002: 355)<br />

9 Die so genannte vornationale Zeit reicht in Österreich bis ins 18. Jahrhundert. In dieser<br />

Phase konnte eine gemeinsame Sprache aufgrund der geringen Alphabetisierungsrate,<br />

der Verankerung im Dialekt, der Existenz verschiedener Sprachen und der geringen<br />

Mobilität (Ausnahme: Militärdienst) nicht als Identitätsmerkmal fungieren (hierzu<br />

WIESINGER 2000). Erst als mit den josephinischen Reformen die deutsche Sprache<br />

seit dem Ende des 18. Jahrhunderts „zum polyfunktionalen Koine der öffentlichen Domänen<br />

der Monarchie geworden“ ist (v. LEEUVEN-TURNOVCOVÁ 2001: 253), setzt<br />

ein Prozess der Aufwertung der so genannten Volkssprachen ein.<br />

Erfindung von Traditionen? Überlegungen zur Rolle von Sprache …<br />

einer von historischen und sozialen Kontexten losgelösten Größe wird. So<br />

wird z. B. dem Tschechischen eine von den Sprechern unabhängige Natur<br />

mit inhärenten Gesetzmäßigkeiten zugesprochen, die Sprache entsprechend<br />

häufig in organischer (botanischer) Begrifflichkeit beschrieben. Emphatisch<br />

hervorgehoben wird die Nützlichkeit, die Sprache des Volkes zu reden, die<br />

Sprache des Volkes sei zudem, so Balbín (1775), „schön, kernig, kraftvoll,<br />

dabei aber auch zierlich und biegsam im Ausdruck“ (SCHAMSCHULA<br />

1990: 340) und daher dem Griechischen und Lateinischen vergleichbar und<br />

natürlich dem Deutschen überlegen. In diesem Verständnis ist Sprache eine<br />

eigenständige Entität, die auf das Denken, Fühlen und Handeln Einfluss<br />

nimmt und dem individuellen Zugriff zumindest in Teilen entzogen ist<br />

(GARDT 1999: 93).<br />

In der nächsten Generation (in Anlehnung an das Drei-Stufen-Schema von<br />

Miroslav Hroch, dem heuristische Qualitäten nicht abgesprochen werden<br />

können) folgt eine Überblendung des Sprachlichen mit dem Kulturell-<br />

Ethnischen (Sprache als Konstituente zu Volk, Kultur und Nation), Ethisch-<br />

Moralischen (Sprache als Konstituente zu Sitte und Moral), Politischen<br />

(Sprache als Konstituente zu Nation, Reich und Land) und Anthropologischen<br />

(Sprache als Konstituente zu Stamm, Rasse und Volk). Im Resultat<br />

erfolgt eine Identifikation des Sprachcharakters mit dem Volks- oder Nationalcharakter<br />

und seiner Artefakte, dies im Übrigen durch Josef Jungmanns<br />

Gespräche über die tschechische Sprache (Rozmlouvání) bereits im Jahre<br />

1803 (1806 publiziert), also ca. 5 Jahre vor den einschlägigen Texten von<br />

Fichte und Jahn!<br />

Charakteristika für das Lob des Tschechischen – man findet Analogien auch<br />

im Deutschen – sind:<br />

121<br />

a) Hohes Alter und genealogische Reinheit, ein Ideal einer reinen, von<br />

auswärtigen Einflüssen möglichst unberührten Sprache, z. B. über<br />

biblische Legitimation, Urslawen- respektive Germanenmythos etc.;<br />

b) Die Behauptung einer ontologischen (referentiellen) Adäquatheit,<br />

also eine besondere Zuverlässigkeit bei der Abbildung von Welt, z. B.<br />

über die Annahme einer umfassenden onomatopoetischen Motiviertheit<br />

des tschechischen Wortschatzes;<br />

c) Annahme einer inneren Homogenität und Annahme der Existenz<br />

sprachinhärenter Gesetze (GARDT 1999: 93), wobei pragmatische<br />

Bezüge (Arbitrarität, Konventionalität) ausgeblendet bleiben.<br />

Es erscheint da nur zu logisch, dass viele Vertreter der tschechischen Wiedergeburt<br />

sich um Übersetzungen ins Tschechische bzw. um literarisches<br />

Schaffen in Tschechisch bemühten, um so den Nachweis einer Literaturfä-


122<br />

Steffen Höhne<br />

higkeit zu erbringen. Letztlich ging es um die Aufwertung der Sprache insgesamt,<br />

d. h. die Etablierung des Tschechischen, allerdings in einer Situation,<br />

in der das Tschechische im gesellschaftlichen Kontext mit dem Stigma<br />

des Minderwertigen behaftet und die Hierarchien der Sprachen im Habsburger<br />

Herrschaftsgebiet durch Asymmetrien im Bereich der Mehrsprachigkeit<br />

geprägt waren (hierzu BERGER 2000). Für diese mittlere Phase ist<br />

der von Vladimír Macura beschriebene Linguozentrismus kennzeichnend,<br />

die philologische Dimension der tschechischen Wiedergeburtsbewegung<br />

und ihre konstitutive Wirkung, 10 womit nicht nur die ideologische Instrumentalisierung<br />

der Philologie gemeint ist, sondern auch die der Sprachreflexion<br />

als nationalkonstitutives Phänomen. Man stellt sich scheinbar rein<br />

linguistische Fragen, die aber nicht ausschließlich linguistisch beantwortet<br />

werden:<br />

Ve všech těchto případech jazyková skutečnost, svět uměle vytvářený jazykem, vlastně vyvolává<br />

obraz uzavřeného a soběstačného českého území, jehož veškeré vnitřní komunikační vazby<br />

jsou zprostředkovány češtinou. Vůči neútěšné historické realitě, vůči reálným historickým<br />

ztrátám a porážkám je za času vrcholného českého obrození hledána symbolická protiváha ve<br />

vítězstvích dosažených ve sféře jazykové výpovědi. (MACURA 1995: 56)<br />

In all diesen Fällen ruft die sprachliche Wirklichkeit, eine durch die Sprache künstlich geschaffene<br />

Welt, eigentlich das Bild eines geschlossenen und autarken tschechischen Gebietes hervor,<br />

dessen innere kommunikative Verbindungen durch das Tschechische gesteuert werden.<br />

Als Ersatz für die trostlose historische Realität, die realen geschichtlichen Verluste und Niederlagen,<br />

wird in der Hochphase der tschechischen Wiedergeburt ein symbolisches Gegengewicht<br />

in im Bereich des sprachlichen Ausdrucks erreichten Siege gesucht. [Übersetzung von S.H.]<br />

In dieser Phase kommt es zu einer allmählichen Delegitimierung bilingualer<br />

Konzepte von Sprachpolitik, wie sie im Vormärz von Bernard Bolzano<br />

(1810, 1817) oder Joseph Matthias von Thun (1845) formuliert worden wa-<br />

10 „Především z kulturotvorného působení jazyka, z jeho schopnosti vytvářet kolem sebe<br />

zdánlivě plnokrevný svět české kultury pramení filologický ráz českého obrození. Celá<br />

česká kultura má tak v zásadě přímo metajazykový charakter, existuje skrze jazyk, jazyk<br />

slouží jako její model a současně o jazyce přímo vypovídá. Zvlášt nápadná je přímá metajazykovost<br />

značné části obrozenských textů, která souvisí s potřebou chválit ‚v poeziích<br />

jazyk svůj‘ (Nebeský), jazyk se stává bezprostředním tématem básnické výpovědi.“<br />

(MACURA 1995: 57)<br />

Der philologische Charakter der tschechischen Erneuerungsbewegung beruht vor allem<br />

auf der kulturbildenden Wirkung der Sprache, ihrer Fähigkeit, um sich eine scheinbar<br />

vollblütige Welt tschechischer Kultur zu bilden. Die gesamte tschechische Kultur besitzt<br />

somit grundsätzlich einen geradezu metasprachlichen Charakter, sie existiert mittels<br />

Sprache, die Sprache wird zu ihrem Modell und liefert gleichzeitig Aussagen über<br />

die Sprache. Besonders auffällig ist die direkte Metasprachlichkeit der meisten Texte<br />

der Wiedergeburtsperiode, die mit dem Bedürfnis zusammenhängt, ‚in den Gedichten<br />

die eigene Sprache‘ (Nebeský) zu loben; die Sprache wird in der dichterischen Aussage<br />

unmittelbar thematisiert. [Übersetzung von S.H.]<br />

Erfindung von Traditionen? Überlegungen zur Rolle von Sprache …<br />

ren. František Palacký, der zunächst von der Zweitrangigkeit der Sprache<br />

im Prozess der nationalen Identifikation ausging (und seine Böhmische Geschichte<br />

ja zunächst auf Deutsch verfasste), verweist später in einer Erwiderung<br />

an den Landesausschuss, der eine Fortsetzung der Böhmischen Geschichte<br />

in deutscher Sprache laut einem Erlass vom 30.12.1850 anmahnte,<br />

auf die Notwendigkeit der Gleichberechtigung der Sprachen. Darüber hinaus<br />

wird der Gebrauch des Tschechischen mit sprachimmanenten Gesetzen<br />

begründet, da die „Quellen der böhm. Geschichte seit der Hussitenepoche<br />

vorzugsweise in böhm. Sprache fliessen,“ weshalb ihre „gelegentliche Reproducirung<br />

in derselben Sprache“ dem Werke „mehr Frische, Eigenthümlichkeit<br />

und Kraft verleiht“ (PALACKÝ 1871c: 128). 11<br />

Der nächste Schritt in der Instrumentalisierung von Sprache ist von Assoziationen<br />

der Überlegenheit bzw. Gefährdung durch fremde Sprachen, Völker,<br />

Rassen, Nationen und Kulturen geprägt. Über das Lob der Sprechergemeinschaft<br />

und die Aufwertung der Volkssprache erfolgt die Herausbildung<br />

von Sprachnationalismus per Postulierung der Überlegenheit des Eigenen<br />

und Abwertung des Fremden. Konzepte wechselseitiger kultureller und<br />

sprachlicher Befruchtung werden zugunsten konfrontativer Sichtweisen<br />

zurückgedrängt, aus Palackýs häufig zitiertem ‚stýkání a potýkání‘ der vormärzlichen<br />

Periode wird 1871 in einer Neubestimmung der böhmischen<br />

Geschichtsschreibung ein „fast ununterbrochener Kampf politischer, religiöser<br />

und nationaler Gegensätze“, geleitet von einem „Vordringen und<br />

Zurückstauen übermächtiger deutscher Einflüsse auf slawischem Boden.“<br />

(PALACKÝ 1871a: 1)<br />

Neben diese Aufwertung der Sprache zur Nationalsprache tritt der kommunikationshistorische<br />

Prozess, in dem es – um mit Humboldt zu sprechen –<br />

zu ‚Entfremdung‘ und ‚Einverleibung‘ (siehe Fußnote 6) bzw. eine damit<br />

verknüpfte Aus- und Eingrenzung per Konstitution von Wir-Gruppen<br />

kommt. Damit ist innerhalb der Prozesse sozialer Differenzierung eine Verschiebung<br />

zu einem neuen Modell gesellschaftlicher Loyalität und Legitimität<br />

impliziert, bei dem identitätskonstitutive Texte eine zentrale Rolle einnehmen<br />

sollen.<br />

11 Zuvor hatte PALACKÝ (1871c: 123) den Wechsel der Sprache mit Angriffen nach<br />

seinem Frankfurter Brief an die Paulskirche begründet: „[…] noch heutzutage bin ich<br />

ein Gegenstand des Hasses für Diejenigen, die sich mit deutscher Gesinnung vorzugsweise<br />

brüsten. Dieser kränkende Umstand einerseits, und anderseits der zur Geltung gekommene<br />

Grundsatz nationaler Gleichberechtigung, mussten mich zu dem Entschlusse<br />

drängen, dass ich für immer aus der Reihe der deutschen Historiker schied, und seitdem<br />

mein Werk nur in böhmischer Sprache mehr schreiben kann.“ Für die Übersetzung sah<br />

Palacký Josef Wenzig vor.<br />

123


124<br />

Steffen Höhne<br />

Ein besonderes nationalhistorisches Legitimationspotential besitzen offenkundig,<br />

das belegt ihre Rezeptionsgeschichte, die Königinhofer und Grünberger<br />

Handschriften. Bei dem sogenannten ‚Handschriftenfund‘, mit dessen<br />

Hilfe das Desiderat einer, nicht-existenten, Tradition durch einen<br />

einheits- und identitätsstiftenden Kontext gefüllt werden sollte, um emotionale<br />

Bindungen zu erzeugen und solidarisches Handeln zu fördern, handelt<br />

es sich um ein für Phasen revolutionären Wechsels typisches Phänomen,<br />

welches Eric Hobsbawm als ‚Erfindung von Traditionen‘ beschrieben hat. 12<br />

Die Handschriften sollten in der Folge eine zentrale Bedeutung für das nationale<br />

tschechische Selbstverständnis erhalten und das kollektive Gedächtnis<br />

der Wiedererweckergeneration entscheidend prägen.<br />

Dabei geht es in den folgenden Ausführungen nicht um eine Referierung<br />

des Echtheitsdiskurses um die Handschriften, sondern um eine exemplarische<br />

Analyse ihrer gesellschaftlichen Etablierung und der dabei verwendeten<br />

argumentativen Strukturen. Betrachtet man Sprache als einen permanenten<br />

Transfer von langue (oder Kompetenz) und parole (oder Performanz),<br />

dann lässt sich Bedeutungsgeschichte mit Wittgenstein als Geschichte von<br />

Verwendungsweisen und ihren Konstellationen verstehen. In diesem Kontext<br />

können die Handschriften und ihre Etablierung als Möglichkeit verstanden<br />

werden, eine neue, noch bedrohte kollektive Identität in der Vorstellungswelt<br />

zu verankern, ihr einen tieferen Sinn zu verleihen. Nach Hroch (1999)<br />

waren um 1820 maximal 150 Personen in der Lage auf Tschechisch literarisch<br />

tätig zu sein. Die Ziele der Wiedererwecker mussten sich also auch auf<br />

die Umgestaltung der Varietät in einen polyfunktionalen Standard richten,<br />

mit dessen Hilfe die Eigenständigkeit der tschechischen Literatur, zudem<br />

älteren Datums als die deutsche, bewiesen und der Nachweis hochliterarischer<br />

Kompetenz erbracht werden konnte. 13 Vor diesem Hintergrund lassen<br />

12 Siehe zu dieser Thematik zuletzt KABEN (2003).<br />

13 Václav Hanka, später Kustos und Bibliothekar des Böhmischen Nationalmuseums, war<br />

Slawist und Schriftsteller, spezialisiert auf mittelalterliche tschechische Texte. Handschriftenfälschungen,<br />

die Hanka als alttschechische Pergamente der nationalen Öffentlichkeit<br />

präsentierte (sie wurden angeblich 1817 in einem Kirchturm in Dvůr Kralové,<br />

Königinhof gefunden, daher Königinhofer Handschrift), wurden enthusiastisch aufgenommen,<br />

schienen diese Lieder und Fragmente doch einen Beleg für eine alttschechische<br />

Hochkultur aus vorchristlicher Zeit und zudem eine Kompensation für nicht vorhandene<br />

Heldenepen zu bieten. Weitere Fälschungen wurden der Gesellschaft des<br />

Vaterländischen Museums per Post zugeleitet (sog. Grünberger Handschrift). Diese falschen<br />

Geschichtsquellen verlängerten die tschechische Geschichte insbesondere im<br />

Vergleich zur deutschen. Ihre geistesgeschichtliche Wirkung im Blick auf die Herausbildung<br />

der tschechischen Nationalidee ist von nicht zu unterschätzender Wirkung. Palacký<br />

beispielsweise nutzte sie in seiner Geschichte Böhmens als zentrale Quellen. Wer<br />

ihre Echtheit anzweifelte, wie als erster Josef Dobrovský, geriet in den Verdacht mangelnden<br />

Patriotismus (HEMMERLE 1962). Insbesondere nach dem Tod Dobrovskýs<br />

Erfindung von Traditionen? Überlegungen zur Rolle von Sprache …<br />

sich die Handschriften und die Kontroversen um ihre Echtheit als Teil einer<br />

Narration der mit Inhalt und damit Sinn zu ‚füllenden‘ Nation bzw. Nationalkultur<br />

verstehen. Mit Hilfe dieser Narration entsteht ein Gefühl von Gemeinsamkeit,<br />

ein gemeinsames Schicksal, welches in Form von Nationalgeschichten<br />

in Literatur, Medien und Alltagskultur vorgetragen wird. Auf<br />

diese Weise konstituiert sich ein Kontext, in dem die Handschriften als Texte<br />

zum Ausdruck nationalen Schicksals avancieren können. Nicht umsonst<br />

hebt Swoboda ihre spezifisch identifikatorisch-emotionale Wirkung hervor:<br />

Hankas glücklicher Fund befriedigte die Sehnsucht, zeigte uns, was auch hierin die Kraft der<br />

Čechen gegolten. Daher die Begeisterung, mit der die seltsam herrliche Erscheinung, das glänzende<br />

Licht aus unserer Vorzeit begrüßt wurde. [...] So braucht der Böhme nicht mehr die<br />

Augen zu senken, er kann sie mit freudigem Stolze erheben; denn er darf dem Besten aller<br />

Zeiten seine Königinhofer Handschrift an die Seite stellen. (SWOBODA 1829: XII)<br />

Darüber hinaus bieten die Handschriften als ‚historische Quelle‘ die Gewähr<br />

für Ursprung, Kontinuität, Tradition und Zeitlosigkeit, konstruiert<br />

wird die Existenz eines frühgeschichtlichen Heldenzeitalters und einer<br />

hochstehenden slawischen Volkskultur. In ihr sind die auf Herders Slawenkapitel<br />

basierenden Topoi einer urslawischen, demokratischen Verfassung<br />

und Rechtsordnung und eines slawisch-germanischen Antagonismus genauso<br />

manifest wie die Idee einer spezifisch slawischen Sendung. Mit Hilfe<br />

dieser Attribute wird eine kollektive Identifikation herbeigeführt, die sich in<br />

einer sinnstiftenden, mythischen Erzählungsform veranschaulichen lässt<br />

und die ihre konsensuelle Etablierung – als historisch verbürgbare Quellen<br />

einer tschechischen Nationalkultur – erlangen wird und somit zu einem zentralen<br />

Teil des historischen Gedächtnisses avanciert. Die ‚Erfindung‘ ermöglicht<br />

zudem, Phasen kultureller Nichtexistenz (mangels Quellen 14 ), zu<br />

kompensieren und symbolisch Ordnung – über ihre bloße Existenz – zu erzeugen.<br />

Als Gründungs- und Ursprungsmythos unterstützen sie zudem in<br />

besonderer Weise die fiktive Idee eines reinen, ursprünglichen Volkes. Reale<br />

Verschiedenheit von Menschen nach sozialen Zuordnungen wie Klasse,<br />

Gender, Religion oder Ethnie (‚Rasse‘) werden durch die Narration überlagert,<br />

eine möglichst homogene nationale Einheit über einen langen Zeit-<br />

1829 zeigte sich eine zunehmende Radikalisierung der Auseinandersetzung für die,<br />

nach Palacký, ‚nationale Missgunst und Feindseligkeit‘ verantwortlich waren, da hierdurch<br />

gängige anti-slawische Stereotype, wonach das barbarische Slawentum von Natur<br />

aus unfähig zur Entwicklung einer von der deutschen unabhängigen, originären Bildung<br />

sei, widerlegt würden.<br />

14 In diesem Kontext sei auf die Schwierigkeiten der Geschichtsschreibung mangels Quellen<br />

verwiesen, auf die Palacký (1871b) in seinen Berichten an den ständischen Landesausschuss<br />

über die Vorarbeiten zur Erstellung einer Böhmischen Geschichte hinweist.<br />

125


126<br />

Steffen Höhne<br />

raum ließe sich somit postulieren. Die realitätskonstitutive Dimension der<br />

Handschriften haben die Apologeten dabei durchaus erkannt, so Palacký in<br />

einem Artikel in dem von Heinrich Sybel herausgegebenen 1. Jahrgang der<br />

HISTORISCHEN ZEITSCHRIFT (1859/III: 87–111):<br />

Wir älteren Zeitgenossen, die wir noch Zeugen und Theilnehmer der vor 1817 gemachten Versuche<br />

waren, die poetische Diction der Böhmen zu gestalten und zu heben, […] wir wissen<br />

davon zu erzählen, wie mit dem Erscheinen der Königinhofer Handschrift plötzlich eine neue<br />

ungeahnte Welt uns sich öffnete, mit welcher Zauberkraft die so ungewohnten und doch congenialen<br />

Laute an unser Herz schlugen, wie schnell in Folge dessen ein höherer und doch natürlicher<br />

Schwung in Phantasie, Bild und Wort den bisherigen künstlichen Fluss der böhmischen<br />

Rede ersetzte und verdrängte. Und nicht nur die unerwartete Fülle neuer kräftiger<br />

Wortformen und Bildungen war es, was uns überraschte: Auch der, im Verhältnis zum neueren,<br />

viel reichere, üppigere und edlere grammatische Bau der Sprache entzückte uns; denn<br />

gleichwie die deutsche Grammatik vor tausend Jahren eine weit reichhaltigere und complicirtere<br />

war, als gegenwärtig, so konnte auch das Böhmische seit etwa vier Jahrhunderten dem<br />

Strome neueuropäischer Simplificierung sich nicht ganz entziehen, obgleich es davon weniger<br />

affectiert wurde, als andere abendländische Sprachen. (PALACKÝ 1974b: 243f.)<br />

Palacký greift hier gängige Assertionen des sprachnationalen Diskurses der<br />

Zeit auf: Der Einfluss der Sprache auf den nationalen Charakter wird genau<br />

so postuliert wie die Notwendigkeit, sich an den höher entwickelten Sprachen<br />

zu orientieren, mit denen Verfall und Verarmung der eigenen beendet<br />

werden könne. Literarisch hochwertige Texte dienten der Aufwertung der<br />

Sprache insgesamt, weshalb die Handschriften-Apologeten von Anfang an<br />

erhobene Zweifel an deren Echtheit beseitigen mussten. Aus diesem Grund<br />

entschlossen sich František Palacký und Pavel Josef Šafařík als führende<br />

Repräsentanten der tschechischen Nationalbewegung zu einer wissenschaftlichen<br />

Expertise, 15 die sich gegen den ernstzunehmendsten Kritiker, Josef<br />

Dobrovský, richtete, der zu seinen Lebzeiten kraft wissenschaftlicher Autorität<br />

eine weitergehende Wirkung der Handschriften unterbinden konnte.<br />

Dobrovský äußerte Zweifel insbesondere an der Grünberger Handschrift,<br />

eine eigens zu dem Zweck vorgenommene Fälschung, um die Echtheit der<br />

Königinhofer Handschrift zu stützen. Die Apologeten der Handschriften<br />

unterstellen in ihrer Gegenstrategie zur Etablierung der Handschriften Dobrovský<br />

einen Missbrauch der fachlichen Autorität aufgrund nationaler<br />

15 So Palacký in einem Artikel in der BOHEMIA, 5., 6. und 10.11.1858 (PALACKÝ 1874a:<br />

217). S.a. die Rezension der Aeltesten Denkmäler der böhmischen Sprache in der Leipziger<br />

ALLGEMEINEN ZEITUNG (9.8.1840: 2413, Rubrik: Oestreich. Prag): „Der bereits<br />

zwanzigjährige gelehrte Streit über die Echtheit des böhmischen Gedichtes von Libussa’s<br />

Gericht dürfte endlich durch diese ausgezeichnete Arbeit zweier Koryphäen der<br />

böhmischen Geschichte und Philologie gelöst [...] sein.“<br />

Erfindung von Traditionen? Überlegungen zur Rolle von Sprache …<br />

Voreingenommenheit 16 und unzureichende Selbstkritik 17 und konstatierten<br />

ein unwissenschaftliches, durch Krankheit erklärbares Misstrauen, da sich<br />

Dobrovský „in diesem Punkte ungewöhnlich reizbar und leidenschaftlich<br />

zeigte.“ (ŠAFAŘÍK/PALACKÝ 1840: 171) 18 Per Zuschreibung persönlichen<br />

Fehlverhaltens, eine Diskreditierung ad personam, sollte Dobrovskýs<br />

kritische Kompetenz 19 sowie seine wissenschaftliche Redlichkeit erschüttert<br />

werden:<br />

Dass er den damals noch sehr jungen, durch einige poetische Arbeiten von mittelmässigem<br />

Werth bekannten, übrigens durch keine gründliche philologische Bildung ausgezeichneten, im<br />

J. 1834 verstorbenen J. Linda, dass er ferner den, damals kaum noch 26 Jahre alten, der Dichtkunst<br />

und slawischen Sprachkunde zugewandten Hrn. W. Hanka, seinen eigenen dankbaren<br />

Schüler, für fähig hielt, die Rolle ‚eines dichtenden Spassvogels‘ zu spielen, ist leichter zu<br />

begreifen und vielleicht auch zu entschuldigen; dass er aber in diesen unseligen Streit auch J.<br />

Jungmann hineinmischte und diesem, einem bereits damals bejahrten Mann, lediglich deshalb,<br />

weil er das verkannte Fragment in Schutz nahm, einen so ungleichen und unnatürlichen Bund<br />

zu einem Schelmenstreich zumuthete – das mag Gott D. verzeihen! (ŠAFAŘÍK/PALACKÝ<br />

1840:192f.)<br />

In der Argumentation wird versucht, die Leser auf das Deutungsmuster<br />

‚Gemütskrankheit‘ festzulegen. Per (laien)-medizinischer Indikation werden<br />

die Assertionen ‚Befangenheit‘ bzw. ‚Depression und Altersstarrsinn‘ gestützt.<br />

20 Kontrastiert wird die Abwertung Dobrovskýs mit einer positiven<br />

16 Als ein Beispiel sei hier die Reaktion Šafaříks im Brief an Jan Kollár vom 4.12.1828<br />

angeführt: „Dieser Mensch [Dobrovský, S.H.] schämt sich nicht, Diener und Fronarbeiter<br />

der rasenden Deutschen zu sein! Er ist mir Engel und Teufel in einer Person.“ (zit. n.<br />

PLASCHKA 1955: 48)<br />

17 „[...] dass unseres Bedünkens die Kritik [...] gerade die schwächste Seite seiner Leistungen<br />

bildet.“ (ŠAFAŘÍK/PALACKÝ 1840: 194)<br />

18 „Im Sommer 1828 verfiel er aber bekanntlich in seine periodische Gemüthskrankeit,<br />

von welcher er bis zu seinem am 6 Januar 1829 erfolgten Tode nicht mehr ganz erwachte.“<br />

(ŠAFAŘÍK/PALACKÝ 1840: 173)<br />

19 „Jener erschrack über eine Erscheinung, die er nicht begriff, und die viele seiner philologischen<br />

wie historischen Lieblingsansichten umzuwerfen drohte. Doch war er ein Ehrenmann,<br />

der keine Nebenzwecke verfolgte, und daher bei längerem Leben und weiter<br />

fortgeschrittener Wissenschaft ohne allen Zweifel sich mit der Zeit eines Besseren besonnen<br />

und der Erkenntnis der Wahrheit geöffnet hätte.“ (PALACKÝ 1874a: 217) Ähnlich<br />

auch das Urteil in der Biographie (siehe PALACKÝ 1833).<br />

20 „Wer übrigens mit des originellen Mannes Individualität, mit seinen Ansichten über das<br />

slawische Alterthum, mit seiner Unkenntniss der alten und neueren slawischen Volkspoesie,<br />

so wie mit den Verhältnissen, in denen er lebte, und besonders mit seiner periodischen<br />

Gemüthskrankheit näher bekannt ist, der wird es leicht begreiflich finden, wie<br />

es kam, dass ein Gelehrter und Kritiker von seinem Range, nachdem er einmal den falschen<br />

Tritt gethan (bekanntlich hatte er das Fragment, noch bevor er es gesehen, für unecht<br />

erklärt, als er hörte, dass darin der Schaaren ‚Čechs‘ erwähnt wird) und auf der<br />

Streitbahn so weit vorgeschritten war, lieber zu den verzweifeltsten Mitteln der Skepsis<br />

127


128<br />

Steffen Höhne<br />

Selbstdarstellung der Apologeten, wenn z. B. Šafařík und Palacký das loyale<br />

Verhalten Hankas gegenüber Dobrovský und seinen Verdiensten hervorheben:<br />

Herr Hanka, der sich stets als Dobrowský’s dankbarer Schüler schrieb und bewies, verschloss<br />

dem zu Folge das unglückselige Fragment, und wollte es seitdem auch uns nicht mehr sehen<br />

lassen. Er suchte jede Kränkung das alten hochverdienten Mannes zu vermeiden, [...].<br />

(ŠAFAŘÍK/PALACKÝ 1840: 172)<br />

Man konstatiert also auf der einen Seite voreilige Kritik nebst Unfähigkeit<br />

zur Selbstkorrektur, auf der anderen ein präzises und seriöses philologisches<br />

Bemühen, schließlich gelang es Hanka (neben Jungmann) laut Šafařík und<br />

Palacký erst nach langen Studien, die richtige Anordnung in die Spalten des<br />

Manuskriptes zu bringen! Allerdings offenbaren Palacký und Šafařík unwillkürlich<br />

ihre eigene Befangenheit, zum einen wird die Stilisierung jenes<br />

anonymen Briefes hervorgehoben, der der eingesandten Grünberger Handschrift<br />

beigefügt wurde, zum anderen wird gerade dieser Brief als Quelle<br />

einer Charakterstudie genutzt, um nachzuweisen, dass der Einsender aufgrund<br />

fehlender sprachlich-stilistischer Kompetenz kein Fälscher sein könne:<br />

Ein eifriger Patriot, dazu Bücherfreund und selbst Schriftsteller, war er doch weder der böhmischen,<br />

noch der deutschen Sprache vollkommen mächtig, und jedes ächtwissenschaftlichen<br />

Geistes bar und ledig. Das Scheltwort ‚deutscher Michel‘ haben wir in ganz Böhmen nicht zu<br />

hören bekommen, ausser aus seinem Munde. (ŠAFAŘÍK/PALACKÝ 1840: 176) 21<br />

Konsequenterweise wird eine ‚unrichtige‘ Entzifferung Hankas im Manuskript<br />

als ein weiterer Beweis für dessen Unschuld herangezogen:<br />

Ist es nun glaublich, dass die wahren und wirklichen Verfasser ihre eigene Arbeit an den angeführten<br />

Stellen so unrichtig und abweichend vom Original gelesen haben würden?<br />

(ŠAFAŘÍK/PALACKÝ 1840: 193)<br />

Dabei geht es Palacký und auch Šafařík weniger um eine Diskreditierung<br />

Dobrovskýs als vielmehr um ein Verfahren der Dichotomisierung des na-<br />

und Sophistik greifen, als seinen Fehler eingestehen wollte.“ (ŠAFAŘÍK/PALACKÝ<br />

1840: 194)<br />

21 Dabei ist das Ethnonym ‚Michel‘ im deutschen Sprachraum eine durchaus gängige<br />

Bezeichnung in dieser Zeit. Nach HAUFFEN (1918: 53–60) geriet der Topos vom deutschen<br />

Michel zwischen 1815 und 1848 zum Pars-pro-toto des deutschen Kleinbürgers.<br />

„Erst nach der dumpfen Zeit der Enttäuschung und Entsagung [...], erst um 1840, wo die<br />

Verfolgung des Zieles, einer noch unklaren Sehnsucht nach einem freien und mächtigen<br />

deutschen Reich immer mächtiger wurde, erhoben sich zahlreiche Stimmen, besonders<br />

in Gedichten, welche die unendliche Geduld, die Ängstlichkeit und Unentschlossenheit<br />

der überwiegenden Mehrheit beklagten und geißelten. Die Schwäche der Deutschen, ihre<br />

träumerische und weltunläufige Art, die mit Unklugheit gepaarte übergroße Gutmütigkeit,<br />

die den Ausländern besonders auffiel, alle diese Übel wurden nun dem deutschen<br />

Michel aufgepackt, [...].“ (HAUFFEN 1918: 92f.) Siehe ferner RIHA (1991).<br />

Erfindung von Traditionen? Überlegungen zur Rolle von Sprache …<br />

tionalen Codes: Neben die mit wissenschaftlichem Anspruch vorgebrachte<br />

Apologie der Handschriften tritt eine politisch-nationalistische Instrumentalisierung<br />

durch die Kritik. Die Handschriften gelten in der Lesart der Apologeten<br />

als besonders wertvoll und für die Mitglieder der entstehenden<br />

tschechischen Nationalkultur als wirklichkeitskonstitutiv, schon deshalb<br />

können sie nicht als ‚gefälscht‘ angesehen werden. Darüber hinaus setzen<br />

sie Maßstäbe auch für künftige Generationen, zu Ihrer Legitimierung werden<br />

Mythen über ihre Entstehung verwendet.<br />

Nicht zuletzt die emotionale Härte des Handschriftenstreites zeigt die Bedeutung,<br />

die die Falsifikate für die Herausbildung einer tschechischen Identität<br />

besessen haben und wie konstruktiv und wichtig die spätere Kritik<br />

durch Masaryk, Gebauer, Goll und andere war, ohne dass es ihnen zunächst<br />

gelungen wäre, die Öffentlichkeit von ihrer Position zu überzeugen oder gar<br />

das Fortleben des Handschriften-Mythos beenden zu können. Die Tatsache,<br />

dass der Mythos der Handschriften in die tschechische Kultur und Literatur<br />

inkorporiert wurde, garantierte ihre weitere Rezeption. Einmal mehr zeigt<br />

sich an ihrem Beispiel, dass Traditionen, auch wenn sie auf nichts anderem<br />

als Erfindungen beruhen sollten, dennoch zu realen Größen und damit zu<br />

geschichtswirksamen Faktoren avancieren können. Die Aggressivität, mit<br />

der die Echtheit verteidigt wurde, kann wohl nur mit der Bedeutung erklärt<br />

werden, die Mythen im Hinblick auf die Integration insbesondere bedrohter<br />

Kollektive einnehmen.<br />

Die mythische Erzählung erlaubt es, auch dann noch die Vorstellung einer<br />

übergreifenden und umfassenden Einheit zu erzeugen, wenn sich überkommene<br />

strukturelle Grenzen innerhalb der Gesellschaft faktisch abschwächen,<br />

auflösen oder verschieben. Insofern liegt derartigen identifikatorischen<br />

Entwürfen eine Tendenz zugrunde, soziale, historische, sprachliche und<br />

ethnische Divergenzen innerhalb der eigenkategorisierten Gruppe zu vereinheitlichen.<br />

Die nationale Gruppe wird mit einem Geltungsanspruch auf<br />

Wahrheit als Einheit und Identität attribuiert. Literatur und Geschichtsschreibung<br />

können daher sowohl als kulturelle Selbstvergewisserung einer<br />

schon vorgängig existierenden sozialen Gruppe (= Nation) verstanden werden<br />

wie auch als ein Vorgang, in dem erst diese Identität behauptet, beschrieben<br />

und erschaffen wird.<br />

Literatur:<br />

BÄR, Jochen A. (2000): Nation und Sprache in der Sicht romantischer<br />

Schriftsteller und Sprachtheoretiker. – In: A. Gardt (Hg.): Nation und Sprache.<br />

Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin,<br />

New York: de Gruyter, 199–228.<br />

129


130<br />

Steffen Höhne<br />

BERGER, Tilman (2000): Nation und Sprache: Das Tschechische und das<br />

Slowakische. – In: A. Gardt (Hg.), Nation und Sprache. Die Diskussion ihres<br />

Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin, New York: de<br />

Gruyter, 825–864.<br />

BERGER, Tilman (2001): Konzeptionen der Hochsprache bei Tschechen<br />

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131


132<br />

Steffen Höhne<br />

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133


Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler In den Kaiserl.<br />

Königl. Erblanden“ von 1772<br />

Michael Wögerbauer<br />

1. Einleitung 1<br />

Die Entwicklung des Buchhandelsstandes begann in Böhmen erst gegen Ende der Regierung<br />

Maria Theresias, als 1772 eine Buchhandels-Ordnung erlassen wurde, mit welcher die Grundlagen<br />

für die Entwicklung des Buchhandels und des Verlagswesens überhaupt geschaffen wurden.<br />

Vor diesem Jahre können wir nicht von einem Buchhandelsstand in Böhmen sprechen,<br />

denn die Buchhändler waren bis zu dieser Zeit ein Teil der allgemeinen Händlerschaft. (VOLF<br />

1930: 3) 2<br />

Josef Volfs Feststellung ist bezeichnend: Sie konstatiert für ein Kronland<br />

der K. K. Monarchie, was für den gesamten Vielvölkerstaat gilt. Noch deutlicher<br />

ist diese Verengung der Perspektive in György Kókays Geschichte<br />

des Buchhandels in Ungarn; in seiner Charakteristik der Ordo pro bibliopolis<br />

in Hungaria stabiliter manentibus erkennt man unschwer die Grundzüge<br />

der Maria Theresianischen Buchhändler-Ordnung wieder; 3 doch dieser Zusammenhang<br />

und mögliche Unterschiede zwischen der erbländischen 4 und<br />

1 Ich danke Prof. Dr. Peter R. Frank (Heidelberg) für wertvolle Anmerkungen und Hinweise.<br />

Frau Margarita Pertlwieser (Linz) danke ich für das Überlassen des in Anm. 65<br />

zitierten Dokuments aus dem Oberösterreichischen Landesarchiv (OÖLA) recht herzlich.<br />

2 Die Zitate aus der tschechischprachigen Sekundärliteratur wurden vom Autor übersetzt.<br />

Sämtliche Archivalien wurden diplomatisch, d. h. möglichst buchstabengetreu, wiedergegeben.<br />

Allfällige Anpassungen an die moderne Grammatik und Auflösungen von Abkürzungen<br />

erfolgten allenfalls in eckigen Klammern „[ ]“, um das Textverständnis zu<br />

erleichtern.<br />

3 „Infolge des Aufschwungs, den der Buchhandel in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts<br />

erlebte, wurden mehrere Verfügungen erlassen, die sich mit einzelnen Fragen<br />

des Buchhandels in Ungarn befaßten. Die wichtigste erschien 1772 und enthielt die Bedingungen,<br />

an welche die Tätigkeit der Buchhändler in Ungarn geknüpft war (Ordo pro<br />

bibliopolis in Hungaria stabiliter manentibus). Nach dieser Verordnung wird die Ausübung<br />

des Berufes an sechs Jahre Lehrzeit, vier Jahre Praxis und entsprechende Sprachkenntnisse<br />

sowie an ein gewisses Kapital gebunden.“ (KÓKAY 1990: 89)<br />

4 Um 1770 unterstanden die „K. K. deutschen Erblande“ der 1762 geschaffenen „vereinigten<br />

böhmisch-österreichischen Hofkanzlei“. Unter diesem Titel waren die Länder des<br />

heutigen Österreich, Böhmen, Mähren und Schlesien und Vorderösterreich (neben Tirol<br />

und Vorarlberg auch Freiburg im Breisgau u. a.) sowie Galizien zusammengefasst. Davon<br />

sind die von der ungarischen Hofkammer verwalteten Länder (Ungarn samt Oberungarn/Slowakei<br />

und die Besitzungen auf dem Balkan) und die siebenbürgische Hofkammer<br />

zu unterscheiden.


136<br />

Michael Wögerbauer<br />

der ungarischen Fassung werden mit keinem Wort erwähnt. 5 Umgekehrt gilt<br />

Ähnliches für die meisten Darstellungen, die der deutschen Kultur der<br />

Monarchie gewidmet sind – die (Sprach-)Nation kommt meist vor dem<br />

Staat. 6<br />

Die Erforschung der Maria-Theresianischen Ordnung für die Buchhändler<br />

in den Kaiserl. Königl. Erblanden 7 ist ein gutes Beispiel für dieses Problem<br />

der modernen nationalen Philologien: Der Vielvölkerstaat – wie die Regierung<br />

ihn wahrnahm – übersteigt sie sprachlich, ideologisch und methodisch.<br />

8 Durch ihren Isolationismus sind sie weitgehend unfähig, Parallelentwicklungen<br />

zu erkennen und wissenschaftliche Synergien zu nutzen.<br />

Würden die nationalen Philologien um „komparatistische“ Methoden erweitert,<br />

9 so würden sie viel von ihrer ideologischen Funktionalität (Stiftung von<br />

nationaler Identität, kulturellem Kanon, etc.) verlieren. Für die Zeit des „europäischen<br />

Wiedererwachens“ (VLČEK 1940: 138) ist die Unfähigkeit der<br />

5 Zur Adaptierung der Ordnung für die Buchhändler In den Kaiserl. Königl. Erblanden<br />

für Ungarn, Siebenbürgen und den Banat vgl. unten S. 156.<br />

6 Natürlich gibt es – gerade in neuerer Zeit – auch wichtige Ausnahmen. Stellvertretend<br />

für diese sei Zdeněk Šimečeks Feststellung zitiert, dass „die Forschung in der Sphäre<br />

der Kommunikation und des Buchhandels in der Hauptstadt des böhmischen Königreichs<br />

eine Frage ist, die kompliziert wird durch die Stellung des Landes in der österreichischen<br />

Monarchie, der Beziehung zum Buchhandelszentrum Leipzig, durch die kulturelle<br />

und literarische Situation, die einerseits von einer lateinischen Literatur mit<br />

universell europäischem Anspruch geprägt war, andererseits aber auch durch die sich<br />

nebeneinander entwickelnde deutsche und tschechische Nationalliteratur mit ihren<br />

wechselhaften Beziehungen [...]“ (ŠIMEČEK 1990: 315).<br />

7 So der exakte Titel der Druckfassung, die im OÖLA erhalten ist (Landschaftsakten,<br />

G.I.11., Sch. 685. im Extract deren von der K. K. Landeshauptmannschaft [...] von 1.<br />

Jenner 1770 bis letzten Junii 1772 [...] hinaus gegebenen [...] Patenten und Circular-<br />

Befehlen). Ediert wurde die Buchhändlerordnung u. a. 1899 von Carl Junker, wieder abgedruckt<br />

in JUNKER (2001: 89–91); GIESE (1961: 1183–1186); WIDMANN (1965/II:<br />

74–76). Der Originaltext erschien gedruckt und findet sich noch in zahlreichen Archiven,<br />

so dass nach GIESE (1961: 1118), das „Original“ im ILA, Akten der Studien- und<br />

Zensurkommission, 1761–1776, Fasc. 1; die Endfassung im Manuskript im HKA zu<br />

finden ist, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), fol. 155–164.<br />

8 Die Ideologie des Nationalstaats beruht ebenso auf sprachlicher Einheit wie die Methode<br />

der Nationalphilologie. Beide haben ein vitales Interesse daran, diese Identität zu erhalten<br />

und sich somit aus der Vergangenheit zu begründen. Ignoriert wird dabei weitgehend<br />

a) ob sprachlicher Nationalismus in der gegebenen Zeit eine gesellschaftlich<br />

relevante Rolle gespielt hat und b) ob nicht – etwa staatliche – Rahmenbedingungen gegeben<br />

waren, die notwendigerweise zu parallelen Entwicklungen führen.<br />

9 „Komparatistisch“, ohne tatsächlich etwas vergleichen zu müssen. Es wäre lediglich der<br />

historische Zusammenhang ernst zu nehmen. Einen ersten Ansatz zur Überwindung des<br />

„romantischen Nationalismus“ (Eduard Winter) bzw. der Staatsgrenzen nach 1918 bildet<br />

ein Projekt von Peter R. Frank, in dessen Rahmen eine Topographie aller Buchdrukker,<br />

Buchhändler, Verleger und sonst am Buchwesen Beteiligten erstellt werden soll<br />

(FRANK <strong>2004</strong>).<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler …<br />

nationalen Philologien zu konstatieren, den Grundzug einer aufgeklärtabsolutistisch<br />

„gelenkten Literatur“ (BODI 1994: 17) als Gemeinsamkeit<br />

aller volkssprachlichen Literaturen der Monarchie 10 zu untersuchen, die die<br />

feudale und klerikale Schriftkultur gegen Ende des 18. Jahrhunderts ablösen.<br />

11<br />

Analysiert man die Genese der Buchhändlerordnung und die Diskussionen<br />

um ihre Endfassung, so wird schnell deutlich, dass die K. K. Verwaltung<br />

weit davon entfernt war, „Literatur“ als jenes ästhetische oder sprachlichnationale<br />

Gebilde zu betrachten, als das sie seit dem 19. Jahrhundert verstanden<br />

wird. Die staatliche Regulierung und Förderung galt vielmehr dem<br />

gesamten Sozialsystem Literatur (S. J. Schmidt) 12 als Subsystem eines angestrebten,<br />

zentral gesteuerten „Universalkommerzes“. Das übergeordnete<br />

Ziel war die „Bildung eines einheitlichen Wirtschaftskörpers aus all den<br />

verschiedenen Teilen der habsburgischen Monarchie, die systematische<br />

Vereinigung der Erbländer durch gemeinsame wirtschaftliche Interessen“<br />

(PŘIBRAM 1907: 3). Wie konsequent Maria Theresia die Einheit der Erblande<br />

verfolgte, ist beeindruckend: Erst 1761 wurde die gemeinsame böhmisch-österreichische<br />

Hofkammer geschaffen, 1775 schon fielen die Zollschranken.<br />

Für das Schulsystem und die 1775 in Wien und Prag<br />

gegründeten „Normalschul-Buchdruckereien“ gilt Ähnliches. Die ungarische<br />

Reichshälfte freilich blieb bei diesen Integrationsversuchen weitgehend<br />

extra muros.<br />

10 Also z. B. die auf Ungarisch, Deutsch, Jiddisch sowie die in slawischen Sprachen verfassten<br />

Literaturen.<br />

11 Abgesehen von positivistischen, liberal geprägten Literarhistorikern wie Arnošt Kraus<br />

oder Jaroslav Vlček (die aus methodischen Gründen andere Interessen haben), scheint<br />

mir, dass manche der mitteleuropäischen Komparatisten diesen Weg am konsequentesten<br />

gegangen sind, die um 1970 an den „Colloques de Matrafűred“ zum Thema „Les<br />

Lumières en Hongrie, en Europe Centrale et en Europe Orientale“ beteiligten (so z. B.<br />

Karol Rosenbaum, László Sziklay, István Fried etc.). Hierbei lag freilich ein Schwerpunkt<br />

auf den slawisch-ungarischen Beziehungen und auch hier wurden staatlicher Dirigismus<br />

und Aufklärung von oben kaum thematisiert, die die Entwicklung unter Maria<br />

Theresia und Joseph II. wesentlich mitgeprägt haben.<br />

12 S. J. Schmidt unterscheidet „Handlungsrollen“, d. h. das Produzieren, Vermitteln (auch<br />

die Hemmung des Vermittelns, das Zensieren gehört hierher), Rezipieren und Verarbeiten<br />

(Rezensieren) von Literatur. (SCHMIDT 1989: 320ff.) Während die Rolle des Rezensenten<br />

neu entsteht, wandeln sich die Tätigkeitsprofile von Autor, Leser, Herausgeber,<br />

Verleger, Buchhändler, Buchdrucker, etc. in der zweiten Hälfte des 18.<br />

Jahrhunderts radikal; dabei kommt es vor allem zu einer Spezialisierung der einzelnen<br />

Handlungsrollen, die von Schmidt systemtheoretisch als (Aus-) Differenzierung beschrieben<br />

wird – was mit Josef Volfs eingangs zitierter Feststellung übereinstimmt, der<br />

Buchhandel habe sich um 1772 aus dem allgemeinen Handel heraus entwickelt. Die<br />

gewerbespezifischen Ordnungen sind daher wesentliche Schritte in diesem Prozess der<br />

Ausdifferenzierung.<br />

137


138<br />

Michael Wögerbauer<br />

Die Herausbildung des Sozialsystems Literatur ist – für alle volkssprachlichen<br />

Literaturen der Monarchie – in den breiteren Kontext der absolutistischen<br />

Reformen zwischen 1740 und 1792 zu stellen, 13 die vor allem nach<br />

dem siebenjährigen Krieg auch literarisch relevante Bereiche berühren: So<br />

wurden ab den 1760er Jahren auf den Universitäten Lehrstühle für Ästhetik<br />

und Poetik eingerichtet 14 und über längere Zeit das gesamte Bildungssystem<br />

auf die neuen Bedürfnisse des Staates hin optimiert und ausgebaut, um<br />

vor allem fähige Beamte heranzubilden und praktisches Wissen zu verbreiten.<br />

15 1764 wurde erstmals die Honorierung gelehrter Autoren vorgeschrieben<br />

(LAVANDIER 1993: 88), der „Reorganisation der Gewerbebehörden<br />

von 1762 folgte 1763/64 eine umfangreiche Neuordnung der Grundlagen<br />

der Handelspolitik“ (CHALOUPEK 1991: 53); was das Buchwesen betrifft,<br />

so wurde im Juni 1771 eine allgemein gültige Ordnung für Buchdruckergesellen<br />

und -jungen verfasst, 16 und schließlich 1772 der Buchhandel – wie<br />

andere Gewerbe auch – inventarisiert 17 und neu geregelt. Der legislative<br />

Rahmen steht dabei in Wechselwirkung mit der raschen Entwicklung der<br />

Praxis: Im Bereich der Literaturvermittlung steigen gleichzeitig Drucker-<br />

Verleger-Buchhändler wie Johann Thomas Edler von Trattner und Joseph<br />

Ritter von Kurzböck in Wien, Trassner in Brünn und Troppau sowie etwas<br />

später Ferdinand Edler von Schönfeld in Prag zu K. K. privilegierten Großunternehmern<br />

auf. Ihnen wird aufgrund ihrer Erfahrung und Stellung eine<br />

13 Explizit stellte diese Forderung für die tschechische Literaturgeschichte Jan JAKUBEC<br />

(1934: 3f.), wobei bei seiner geistesgeschichtlichen Auffassung allerdings die wirtschaftlichen<br />

Reformen – im Gegensatz zu den Reformen des Schulwesens – nirgendwo<br />

direkt in Bezug zur Literatur gebracht werden. Der Buchhandel spielt deswegen für Jakubec<br />

– wie auch die meisten anderen Literarhistoriker Böhmens – kaum eine Rolle.<br />

14 An der für die militärische Ausbildung zuständigen Wiener Neustädter Akademie wirkten<br />

schon in den 1750er Jahren der Gottsched-Schüler Johann Heinrich Justi als Lehrer<br />

der Kameralwissenschaften und des „reinen deutschen Stils“ und der Sprachpurist Johann<br />

Wenzel Pohl als Lehrer des Tschechischen; an den Universitäten fand diese Entwicklung<br />

später statt; so wirkte in Prag ab dem Wintersemester 1763/64 Karl Heinrich<br />

Seibt als außerordentlicher Professor für „schöne Wissenschaften“.<br />

15 „Die Zahl der Grundschulen stieg in Böhmen von 750 im Jahre 1700 auf 1.200 im Jahre<br />

1775 und 2.400 im Jahre 1792, was zur Stabilisierung der Druckereiunternehmen und<br />

der Ausweitung des Handels mit Büchern beitrug.“ (ŠIMEČEK 2002: 36)<br />

16 Ursula Giese nimmt an, „daß Trattner selbst maßgeblich an dem Entwurf zu dieser<br />

Ordnung beteiligt war.“ (GIESE 1961: 1118) Ob das in diesem Fall stimmt, soll hier<br />

nicht diskutiert werden; zu Gieses gleichlautenden Annahmen bezüglich der Buchhändlerordnung<br />

siehe unten.<br />

17 Zur Geschichte dieser sog. Conscription aller befugt- und unbefugten Buchführer von<br />

1772 und das Ergebnis für das Königreich Böhmen vgl. WÖGERBAUER (<strong>2004</strong>). Die<br />

Aufstellung aller Buchhändler in Niederösterreich (Österreich unter der Enns) wurde<br />

von FRIMMEL (2001) veröffentlicht.<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler …<br />

gewisse Einflussnahme auf die gesetzlichen Maßnahmen gewährt; gleichzeitig<br />

sind sie bemüht, in möglichst vielen habsburgischen Provinzen Niederlassungen<br />

zu errichten und so möglichst gesamtstaatliche Bedeutung zu<br />

erlangen – Trattner ließe sich mit über 34 Pressen in der gesamten Monarchie<br />

durchaus als Großunternehmer bezeichnen. In Wechselwirkung von<br />

staatlicher Regulierung und privater Initiative wurde „in Österreich in einem<br />

Zeitraum von knapp dreißig Jahren auch auf dem Gebiet der Literatur<br />

vieles von dem geleistet [...], was im protestantischen Deutschland eine<br />

Zeitdauer von etwa anderthalb Jahrhunderten benötigte. [...] Dies bezieht<br />

sich auch auf die Entwicklung der sprachlichen und stilistischen Ausdrucksmittel“<br />

(BODI 1995: 26) – ebenso wie auf das Buchwesen. Immerhin<br />

stieg Wien, das 1739 in der Buchproduktion noch einen mittleren Platz einnahm,<br />

zwischen 1765 und 1805 hinter Leipzig und Berlin auf Platz drei im<br />

Reich auf (KIESEL/MÜNCH 1977: 184f.). Prag war immerhin die für den<br />

Buchhandel zweitwichtigste Stadt der Monarchie und hatte außerdem durch<br />

seine Nähe zu Leipzig gewisse Vorteile.<br />

Um die Entstehung der Maria-Theresianischen Ordnung für die Buchhändler<br />

In den Kaiserl. Königl. Erblanden richtig einordnen zu können, ist es<br />

notwendig, den Buchhandel im gesamten Heiligen Römischen Reich zu<br />

betrachten: Einerseits befanden sich die großen Zentren des internationalen<br />

Buchhandels außerhalb der österreichischen Monarchie. 18 Gleich nach dem<br />

Ende des Siebenjährigen Krieges, durch den das protestantische Preußen seine<br />

Machtstellung im Reich gefestigt hatte, verließ der einflussreiche Großverleger<br />

und Buchhändler Philipp Emmanuel Reich 1764 die Buchmesse<br />

der Freien Reichsstadt Frankfurt und wechselte ins vom Krieg schwer getroffene<br />

Sachsen, genauer nach Leipzig (vgl. LEHMSTEDT 1989); andere<br />

folgten ihm. Das Zentrum des Buchhandels verlagerte sich in der Folge von<br />

Süddeutschland ins protestantische Mittel- und Norddeutschland; gleichzeitig<br />

gerieten die habsburgischen Verleger durch die von Reich geforderte<br />

Ablösung des Tauschhandels durch den Nettohandel in zunehmende Bedrängnis.<br />

19 Das führte dazu, dass die teuren norddeutschen Werke im Süden<br />

18 Für die deutschsprachigen Länder waren dies vor allem Leipzig, Berlin und Frankfurt,<br />

das allerdings an Bedeutung verlor. Überdies waren auch Amsterdam und Paris bedeutende<br />

europäischen Buchhandelszentren.<br />

19 Während es unter Buchhändlern noch zur Hälfte des 18. Jahrhunderts üblich war, ungebundene<br />

Bücher bogen- oder zentnerweise gegeneinander zu tauschen, ersetzten die<br />

norddeutschen, vor allem die sächsischen Buchhändler den Changehandel nun durch<br />

den Nettohandel, um nicht auf der eingetauschten Ware sitzen zu bleiben. Gleichzeitig<br />

wurde aber der Rabatt für ausländische Händler von 33 % bzw. 25 % auf 16 % abgesenkt,<br />

sodass sich die beschwerliche Anreise zur Leipziger Messe für viele nicht mehr<br />

lohnte (vgl. BACHLEITNER/EYBL/FISCHER 2000: 138f.). Bis 1784 war Wolfgang<br />

139


140<br />

Michael Wögerbauer<br />

immer öfter billiger nachgedruckt wurden. Das war zwar im Sinne Maria<br />

Theresias, war doch die heimische Literaturproduktion in beinahe allen<br />

Teilbereichen, quantitativ und qualitativ äußerst schwach. Deshalb sollte der<br />

Binnenhandel intensiviert und die Einfuhren beschränkt werden. Das Directorium<br />

in Publicis et Cameralibus 20 hatte schon in seinem Bericht vom 25.<br />

Oktober 1751 die schlechte Papierqualität und andere Hindernisse für das<br />

Buchwesen beklagt, doch auch den Mangel an „Scribenten“, worauf die niederösterreichische<br />

Landesregierung in ihrem Gegengutachten bei den Drukkern<br />

die „Unerfahrenheit dieser Leuthen“ angeführt hatte, „dass sie sich nicht<br />

auf den Nachdruck [...] verlegten.“ (BACHLEITNER/ EYBL/FISCHER<br />

2000: 106) Das war eine durchaus logische Konsequenz, da man mit Büchern<br />

handeln wollte, aber im Inland wichtige Voraussetzungen – wie z. B.<br />

Autoren – fehlten.<br />

Einige habsburgische Buchdrucker verlegten sich in der Folge auf den<br />

Nachdruck. Im Inland – mit seinem strukturschwachen Buchhandel und<br />

geringem Käuferpotential – blieben sie auf ihren Erzeugnissen sitzen; sie<br />

suchten also um das allerhöchste Privileg an, die von ihnen verlegten, billigen<br />

Nachdrucke auch mit dem Ausland tauschen zu dürfen – was wiederum<br />

den attraktiven Handel mit ausländischen Büchern innerhalb der Monarchie<br />

ermöglichte. So entstand ein großer Unternehmer wie Trattner – und sein<br />

schlechter Ruf als eines „Nachdruckerfürsten“ (WITTMANN 1991: 131).<br />

Auch die traditionsreiche Dynastie Gehlen erfuhr zu dieser Zeit eine Blüte,<br />

und Schönfeld betrieb noch Anfang des 19. Jahrhunderts am Prager Heuwaagplatz<br />

(Senovážné náměstí) eine Buchhandlung, in der angeblich nur<br />

Nachdrucke zum Verkauf angeboten wurden (VOLF 1921/22: 271). Wie<br />

wir weiter unten sehen werden, klagten jedoch auch habsburgische Drucker-<br />

Verleger über das Risiko, im Rest des Reichs nachgedruckt zu werden – ein<br />

Aspekt, der bisher von der Forschung ignoriert wurde. Die Regierung hatte<br />

jedenfalls gegen den Buchhandel mit dem Ausland so lange nichts einzuwenden,<br />

als der merkantilistische Grundsatz eingehalten wurde, gleich viele<br />

Gerle der einzige Prager Verleger, der die Leipziger Messe besuchte (WITTMANN<br />

1987: 15, VOLF 1930: 3f.).<br />

20 Das Directorium war 1749 als Teil der Haugwitzschen Verwaltungsreform gegründet<br />

worden, um die Stände zu entmachten und die Finanzverwaltung zu zentralisieren. Es<br />

sollte „in Wien die politische und finanzielle Verwaltung in einer Behörde“ zusammenfassen<br />

und „vereinte in sich die Österreichische und Böhmische Hofkanzlei, die für<br />

Österreich Finanzen zuständige Hofkammer, das Universal-Kommerziendirektorium,<br />

das General-Kriegskommissariat und die Deputation.“ (BUCHMANN 2002: 67). Das<br />

für Österreich und Ungarn zuständige Universal-Kommerziendirektorium, nach Buchmann<br />

„ein Vorgänger des Handelsministeriums“, wurde später in den „Kommerzienrat“<br />

umgewandelt, der in unserer Studie eine gewichtige Rolle spielt.<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler …<br />

Bücher außer Landes zu verkaufen bzw. zu tauschen wie einzuführen. 21<br />

Unter dieser Bedingung wurde dem Wiener Buchdrucker Kaliwoda noch<br />

am 23. Juni 1769 22 das Privileg zum Büchertausch mit dem Ausland verliehen.<br />

Als das Drängen in den Verlagsbuchhandel gegen Ende der 1760er<br />

Jahre immer größer wurde, musste eine gesetzliche Regulierung geschaffen<br />

werden.<br />

2. Die Genese der Buchhändler-Ordnung<br />

In einem für die Entstehung der Buchhändlerordnung zentralen Schreiben<br />

des Hofkommerzienrates 23 unter der Leitung Leopold Graf v. Kolowrats 24<br />

an Maria Theresia werden einleitend zwei Fälle erwähnt, die den unmittelbaren<br />

Anlass zu einer Neuregelung des Buchhandels gaben:<br />

Eure Majestät haben bey einer doppelten Gelegenheit den Beyfall gegeben, eine Ordnung für<br />

die Buchhändler in Allerhöchst Dero Erblanden zu entwerfen und allerunterthänigst vorzule-<br />

21 Der Merkantilismus gilt als das erste Wirtschaftssystem der Neuzeit und wurde in<br />

Deutschland in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts vor allem von Johann Joachim Becher,<br />

Philipp Wilhelm von Hörnigh und Wilhelm von Schröder verbreitet. In Österreich<br />

fand er allerdings erst unter Maria Theresia in Form der Kameralistik Anwendung. Ein<br />

wichtiger Eckpfeiler des Merkantilismus/Kameralwesens ist eine ausgeglichene oder<br />

positive Handelsbilanz. Gegenstand der Theorie sind laut J. H. G. von Justi Lehren,<br />

„wie das Vermögen des Staates entweder erhalten oder vermehret werden kann.“ Die<br />

Ansicht, die Glückseligkeit des Fürsten und der Untertanen seien voneinander abhängig,<br />

führte zur staatlichen Förderung von Gewerbe und Handel. Dabei wird die Entwicklung<br />

der inländischen Wirtschaft u. a. mit Einfuhrzöllen und -verboten vor der ausländischen<br />

Konkurrenz abgeschirmt. Vgl. MOERCHEL (1979: 4–9).<br />

22 Und zwar war es „dergestalt ertheilet worden, daß er eben so viele fremde Bücher an<br />

Gewicht herein führen darf, als er von eigenem Verlag hinaus führet.“ (HKA, NÖ<br />

Kommerz, 96 ex Aug 771, Protokollauszug des N.Ö. Commercien Consesses vom<br />

18.7.1771, fol. 96–98, hier fol. 97). Dieses unten editierte Dokument wird in der Folge<br />

als „Dokument A“ zitiert. Im Protokollauszug des Hofkommerzienrats an die Kaiserin<br />

vom 5.8.1771 (96 ex Aug 771, fol. 102) ist von „1768“ die Rede; es dürfte sich um das<br />

Jahr des Antrags handeln, wie auch BACHLEITNER/ EYBL/FISCHER (2000: 115),<br />

unter Berufung auf MAYER (1887/2: 27) schreiben. Dort heißt es nicht ganz präzise,<br />

Kaliwoda habe darum angesucht, „im Inland so viele Bücher verkaufen zu dürfen, als er<br />

aus eigener Produktion ins Ausland bringe.“ – Es kann wohl nur Einfuhr und Verkauf<br />

ausländischer Bücher im Inland gemeint sein.<br />

23 Der Consilius Commercialis Aulicus (gegründet als Nachfolger des „Universal-<br />

Kommerziendirektoriums“) war eine Art Wirtschaftsministerium und somit dem Niederösterreichischen<br />

oder allen anderen Kommerzienkonsessen übergeordnet. Der auch<br />

für Wien zuständige nö. Kommerzienkonsess erledigte aber, wie aus den unten zitierten<br />

Dokumenten hervorgeht, die eigentliche Arbeit bei Gesetzesentwürfen.<br />

24 Leopold Graf Kolowrat-Krakowsky (1727–1809), Staatsmann, stand 1772 gemeinsam<br />

mit Karl Friedrich Graf von Hatzfeld an der Spitze der Böhmisch-Österreichischen<br />

Hofkanzlei und des Kais. Königl. Hofkommerzienrats. Vgl. AMTSSCHEMATISMUS<br />

BÖHMEN (1772: 14 bzw. 18). Eigennamen werden in der Folge so geschrieben wie in<br />

zeitgenössischen amtlichen Dokumenten.<br />

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142<br />

Michael Wögerbauer<br />

gen: die eine, da die dem Bianchi verliehene Freyheit, einige in die Oeconomie einschlagende<br />

Bücher zu verkaufen, wiederruffen wurde; und die andere, da der Buchdrucker Kurzböck um<br />

das Buchhandlungs-Recht anhielte. 25<br />

Zugespitzt könnte man formulieren: Die Buchhändlerordnung wurde in Reflexion<br />

und zur Lösung dieser beiden Ansuchen geschaffen. Zweiterer Fall,<br />

der Antrag des Buchdruckers Kurzböck, ist für unsere Darstellung wesentlich.<br />

Joseph Ritter von Kurzböck hatte studiert und 1755 die Universitätsbuchdruckerei<br />

seines Vaters übernommen (ZEMAN 1977: 107). Am 14.<br />

Februar 1770 stieg er zum privilegierten K. K. Illyrischen und Orientalischen<br />

Hofbuchdrucker auf (GAVRILOVIĆ 1974: 229), das heißt, dass beinahe<br />

alle kyrillischen Bücher, die ab diesem Zeitpunkt in den K. K. Erblanden<br />

gedruckt wurden, aus seiner Wiener Druckerei stammten. Aufgrund der<br />

schlechten sprachlichen Qualität der Bücher, zweier anderer, konfessionell<br />

gebundener Druckereien in Siebenbürgen 26 und der fehlenden buchhändlerischen<br />

Infrastruktur fanden allerdings viele seiner Bücher keinen Absatz<br />

und die Lager füllten sich. 27 Kurzböcks Bitte, Bücher auch mit dem Ausland<br />

tauschen zu dürfen, muss demnach im Zusammenhang mit allen seinen<br />

Tätigkeiten – seiner deutschsprachigen Buchproduktion – gesehen werden.<br />

Für sein Ansuchen fand er Fürsprecher in den Reihen der Verwaltung, vor<br />

allem beim Niederösterreichischen Kommerzienkonsess; das von dessen<br />

Vorsitzenden Locella 28 unterzeichnete Gutachten für Kurzböck 29 soll hier<br />

vollständig abgedruckt werden, weil es einen guten Überblick über die Pro-<br />

25 Fortan als „Dokument B“ zitierter, an die Kaiserin adressierter „Allerunterthänigste[r]<br />

Vortrag Des treu gehorsamsten Hof-Commercien-Rathes Womit die Buchhandlungs-<br />

Ordnung für sämtliche Kais. Königl. Erblande allerunterthänigst vorgeleget wird“ vom<br />

3. Februar 1772. HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 105 ex Aprili 772, fol.<br />

126–128, unterzeichnet von L[eopold] G[raf] Kolowrat und T[haddäus] Fr[reiherr] Reischach,<br />

d.i. Judas Thaddäus Antonius Josephus Freiherr von Reischach (1728–1803),<br />

der nicht nur Kommerzienhofrat, sondern auch Merkantil des niederösterreichischen<br />

Kommerzienkonsesses und Wechselappellations-Präses war, also im Handelswesen der<br />

Monarchie eine bedeutende Stellung inne hatte (vgl. K. u. K. STAATSKALENDER<br />

1772). Das Konzept dieses Dokuments („Unterthänigster Vortrag des Kommerzienrathes“,<br />

ebd., fol. 121–124) ist ebenfalls mit 3.2.1772 datiert.<br />

26 Außer Kurzböck druckten noch eine orthodoxe Druckerei in Hermannstadt und eine<br />

unierte Druckerei in Blaj vor allem kyrillische Gebet- und Schulbücher (vgl.<br />

GAVRILOVIĆ 1974: 230).<br />

27 GAVRILOVIĆ (1974: 230), gibt an, dass Kurzböck insgesamt 151 Bücher in kyrillischen<br />

Lettern gedruckt habe.<br />

28 „Aloysius Freyherr von Locella, Ihro K. K. Ap. Maj. würklicher Commercien-Rath, log.<br />

in der Schulerstraß, in der weissen Rosen.“ Vgl. Abschnitt zum K. K. Nieder-Österr.<br />

Kommerzienkonsessus in: K. u. K. STAATSKALENDER (1772: 137)<br />

29 Dokument A.<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler …<br />

blembereiche und historischen Entwicklungen des habsburgischen Buchhandels<br />

in den 1760er Jahren gibt.<br />

Allerdurchlauchtigste,<br />

In der Nebenlage stellet Joseph Kurzböck K. K. Illyrisch und Orientalischer Hof-Buchdrucker<br />

vor, er sey nunmehr in Stande, den ausländischen Bücher Verlag mit dem inländischen statt<br />

baaren Geld zu bilanciren wie dann die Beylage B. 30 seinen ansehnlich eigenen Bücher-<br />

Vorrath bestättige. Er wäre gegen die Einwendungen der hiesigen Buchhändler gleichsam als<br />

ein Fabricant anzusehen, der sowohl um baare Bezahlung arbeite, als auch [um] seine Leute<br />

nicht müßig gehen zu lassen, aus Mangel der Bestellungen, auf eigene Rechnung druken lassen<br />

müsse. Der hiesige Absaz hier verlegter Bücher sey sehr gering, und die manigfaltigen<br />

Unkosten nicht herauszubringen, wenn nicht der andere Weeg des Tausches erlaubt würde.<br />

Jeder hiesiger Verleger laufe daher Gefahr, daß seine kostbaren Werke im Römischen Reich,<br />

zum empfindlichsten Nachtheil nachgedruket werden, wie er es selbst mit angezeigten Schriften<br />

erfahren müssen, wornach die fremden Nachdruke selbst wieder hereingeführet werden,<br />

und also seine eigenen unverkauft liegen geblieben wären. Da er nun bishero mit unermüdeten<br />

Fleiß und mit eigenen Kosten ohne allen Vorschuß seine Buchdrukerey so sehr empor gebracht<br />

hätte, daß ihm auch aus der K. K. Bibliotheck Manuscripta zum Abdruke anvertrauet würden,<br />

sodann die ausländische Buchhändler sich gar gerne in einen Stichhandel mit ihme einlassen<br />

wollten, auch der Buchdruker Kaliwoda, der doch nicht so viele Verdienste für den Staat als er<br />

hätte, die Freyheit zum Bücher-Tausch erhalten; so bittet er auch, zu noch größerer Beförderung<br />

der Drukerey ihm ebenfalls zu erlauben, seine Bücher gegen andere in die Fremde zu<br />

vertauschen. So gewiß die hiesige[n] Buchhändler, worunter die Hälfte doch Fremde sind,<br />

gegen dergleichen Gesuche der hiesigen Buchdruker wiedersprechend [sic] sind; so richtig ist<br />

es auch daß in ihren Büchergewölben wenigstens 4/5 ausländischer gegen 1/5 inländ. Bücher<br />

zum Verkauf da liegen, und daß bloß aus solche[n] Gattungen die hiesigen Drukereyen beschäftiget<br />

werden, wovon diese Buchhändler schon vorher eines Absazes vergewißet sind,<br />

wozu sie sich dann leicht entschliessen könnten um auch zugleich nicht ganz und gar unthätig<br />

gegen die National Pressen zu scheinen. Inzwischen wird doch durch Eigennuz solcher Bücher-Handlungen<br />

die Beförderung der hiesigen Buchdrukereyen und die Aufmunterung zur<br />

Litteratur schwerlich erreichet werden. Der Buchdruker hat nicht Verschleiß genug, und der<br />

Author keinen Verleger. An den vornehmsten ausländischen Orten sind die jenigen Buchdrukkereyen<br />

die berühmteste[n] und vermöglichste[n], welche zugleich den Baratto Handel 31 ihrer<br />

Verlags Schriften mit anderen treiben. In dieser Rücksicht ist auch schon Ao [1]768 unterm 26<br />

Merzen von Allerhöchsten Orthen den hiesigen Buchdruckern eben so wie den Buchhändlern<br />

ein solcher Handel sehr weißlich zum Vortheil dieses Handlungs Zweiges vergönnt, und kurz<br />

darauf den 23ten Juny [1]769 dem Buchdruker Kaliwoda diese Freyheit dergestalt ertheilet<br />

worden, daß er eben so viele fremde Bücher an Gewicht herein führen darf, als er von eigenem<br />

Verlag hinaus führet, und schon Ao [1]766 ist durch Bericht mit Einverständnis des Abbé Marcij<br />

der allerunterthänigste Antrag gemacht worden, diesen Tausch-Handel zu erleichtern, damit<br />

alle schädliche[n] Privativa zu Verhinderung der schönen Wissenschaften, und der hiesigen<br />

Pressen behoben würden, indem die hiesige[n] einfache[n] Buchhandlungen unsere[n] Buchdrukereyen<br />

fast gar keine Nahrung, viel weniger ein lebhaftes Gewerb verschaffen: Und wann<br />

30 Liegt dem hier wiedergegeben Dokument nicht bei.<br />

31 D. i. wahrscheinlich dasselbe wie „Barathandel, wo Waare gegen Waare gefordert, und<br />

angenommen wird [...]“ Vgl. Josef von Sonnenfels’ Vortrag wider den Nachdruck, gerichtet<br />

an Joseph II. Abgedruckt bei GIESE (1963: 1143.)<br />

143


144<br />

Michael Wögerbauer<br />

auch ein Buchdruker auf eigene Unkösten Bücher verlegt, so weiß er innerlandes mit der ganzen<br />

Auflage keinen Ausweeg, die Buchhändler erkaufen nichts um baares Geld von ihm, auf<br />

dem Verschleiß gegen das Publicum ist keine sichere Rechnung zu machen, in der Fremde<br />

werden sie nachgedruckt, und wegen eines wohlfeileren Preises wird in Angesicht des wahren<br />

und ersten Verlegers in alle Hände verkauft, wodurch die[sem] kein Aequivalenz für die inländische<br />

Waare hereinkommt, die so einmahl hinausgeht, und also die Schriftsteller als Verleger<br />

vom Druke abgeschrökt werden.<br />

Da nun der Supplicant auch seine Verdienste auf verschiedenen Seiten gegen den Staat hat,<br />

sein Gesuch nicht nur für ihn, sondern für alle hiesige Buchdruker von Allerhöchsten Orten<br />

schon seit 3 Jahren als ein Normale zu erfüllen bewilliget, vorgeschrieben, und exemplificiret<br />

worden<br />

VOTUM So trägt man von Seite dieser treugehorsamsten Stelle kein Bedenken für den Supplicanten<br />

gutächtlich dahin einzurathen, daß Ew. Kais. Königl. Apostol. Maitt. ihm Kurzböck<br />

auch Allergnädigst vergönnen möchten, unter Mautämtlicher Ausweisung eben soviel fremde<br />

Bücher an Gewicht herein zu führen, als er an Gewicht von seinen eigenen gedrukten Büchern,<br />

jedoch vermög allerhöchster Resolution vom 26ten Merz 1768 nicht unter 50 fl hinaus führen<br />

wird.<br />

Den 18ten July 1771 Al. Freyh. v. Locella<br />

Franz Martin<br />

Fassen wir zusammen: Schon seit drei Jahren wird das Gesuch des K. K.<br />

Hofbuchdruckers Joseph Kurzböck, ein Privilegium für den Buchhandel zu<br />

erhalten, als normale bearbeitet. Um seine Pressen auslasten zu können,<br />

druckt er nicht nur im Auftrag anderer, sondern verlegt – wie damals durchaus<br />

üblich – auch aus eigener Initiative. Dadurch hat er Bücher auf Lager,<br />

die er über den inländischen Buchhandel nicht abzusetzen vermag. Darüber<br />

hinaus drohte den inländischen Drucker-Verlegern die Gefahr des Nachdrucks<br />

im übrigen Reich – es wäre von der Forschung zu klären, ob es sich<br />

hierbei um eine begründete Befürchtung der österreichischen Unternehmer<br />

handelte. Bisher galten die österreichischen Verleger als die Nachdrucker<br />

par excellence; über den Nachdruck von Werken aus der K. K. Monarchie<br />

in Norddeutschland wurde bislang nicht geforscht. 32 Kurzböck fordert also,<br />

zum Tauschhandel mit nichthabsburgischen Ländern zugelassen zu werden.<br />

Grundsätzlich, d. h. nach den Vorstellungen der herrschenden ökonomischen<br />

Lehre, steht dem laut N.Ö. Kommerzienkonsess nichts entgegen. Die<br />

geforderte „aktive Handelsbilanz“ – laut Otruba das „Zauberwort des Merkantilismus“<br />

(OTRUBA 1963: 123) – wird dabei am Gewicht der Bücher<br />

gemessen und keineswegs an deren Marktwert. Natürlich begibt Kurzböck<br />

sich dadurch in Konkurrenz zu den bereits in Wien tätigen Buchhändlern,<br />

32 Ein mögliches paradigmatisches Untersuchungsobjekt wäre Michael Denis sehr erfolgreiche<br />

Ossian-Übersetzung (Wien 1768/69) und seine Lieder Sineds des Barden (Wien<br />

1772).<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler …<br />

vor allem den Niederlägern; 33 denen wird aber wiederum vorgeworfen, sie<br />

seien Ausländer und kümmerten sich als solche mehr um den Absatz ausländischer<br />

Druckwerke im Inland als inländischer im In- und Ausland. Eine<br />

Dynamisierung des inländischen Buchhandels sei jedoch der Schlüssel zur<br />

Aufmunterung des gesamten literarischen Lebens: Die Auftragslage von<br />

Druckern, Verlegern und Autoren würde so verbessert, und letztendlich<br />

würden auch die Staatsfinanzen von einem schwungvollen Tauschhandel<br />

mit Druckschriften profitieren. 34<br />

Hofrat Doblhof, der zuständige Referent des Hof-Kommerzienrates, übernimmt<br />

in seinem Referat vom 5. August 1771 die Positionen des untergeordneten<br />

N.Ö. Kommerzienkonsesses; betont wird nochmals, dass eine Intensivierung<br />

der Buchausfuhr wünschenswert wäre, da die vorhandenen<br />

Buchhändler<br />

vielleicht auch wirklich nicht die Mittel besitzen dürften um auch denen letzteren [den Drukkern]<br />

beyzustehen.<br />

Aus dieser Ursache ist man vorhin schon auf den Gedanken verfallen, ob es nicht besser seyn<br />

würde, einem solchen Buchdruker vielmehr den förmlichen Buchhandel einzustehen, und man<br />

hat sogar dem Kalliwoda durch den Cons. anweisen lassen, ein oder die andere der hiesigen auf<br />

dem Verkauf stehenden Buchhandlungen an sich zu lösen, allein es hat sich dieser nicht nur<br />

entschuldiget, daß er die Mittel nicht habe einen grossen Bücher-Vorrath, worunter noch viele<br />

unverkäufliche Werke befindlich seyn dürften, an sich zu lösen; sondern es hat sich auch der<br />

weitere Anstand in dem ergeben, daß der Kalliwoda wirklich nicht die erforderlichen Känntnisse<br />

zu besitzen scheine, die zu Fortführung einer wohl sortirten Buch-Handlung erforderlich<br />

sind; Und bey dem Kurzbök dürften wohl auch diesfals ganz ähnliche Anstände vorwalten.<br />

Gleichwie es aber dennoch sehr hart ist einem der hiesigen Buchdruker die Gelegenheit zu<br />

benehmen seine selbst gedrukten Bücher, welche er hier verkauffen darf, auch ausser Landes<br />

verschleissen zu können; endlich auch zu mehrerer Erhöbung der hiesigen Drukereyen dem<br />

Kalliwoda schon verwilliget worden ist, eben so viel fremde Bücher hieher einführen, als er am<br />

Gewicht von den selbst gedrukten Büchern hinausgeführet zu haben erweisen wird:<br />

33 Solche, auch ‚Niederlagsverwandte‘ genannte Händler waren Ausländer, die in der<br />

Monarchie nur zu Marktzeiten mit Büchern handeln durften und sonst ihre Bestände in<br />

Lagern wegsperren mussten. In Wien waren etwa Bader, Lehmann, Johann Paul Krauss<br />

u.a. tätig, in Prag z. B. die Nürnberger Buchhändlerfamilie Paul und Johann Heinrich<br />

Lochner, der Dresdner Georg Walter (später mit seinem Bruder), die Leipziger Johann<br />

Samuel Heinsius und Johann Heinrich Wolf (VOLF 1921/22: 270f.); Walther durfte<br />

1771 sogar eine ständige Buchhandlung in Prag eröffnen (vgl. ŠIMEČEK 2002: 37).<br />

Vielfach galten sie als „Brückenköpfe“ reichsdeutscher Verleger in der Monarchie; aus<br />

wirtschaftlichen Gründen wurde ihnen verboten, für die österreichischen Länder bestimmte<br />

Werke im Ausland drucken zu lassen (ŠIMEČEK 2002: 34). Diese Regelung<br />

trug tatsächlich stark zur Förderung des erbländischen Buchwesens bei (vgl.<br />

BACHLEITNER/EYBL/FISCHER 2000: 117f.).<br />

34 Der Nettohandel – der Verkauf der Auflage gegen Geld – schien zu diesem Zeitpunkt<br />

nur in dem Fall von wirtschaftlicher Bedeutung zu sein, wenn der habsburgische Buchhandel<br />

nicht genug gleichwertige Ware zum Tausch anbieten konnte.<br />

145


146<br />

Michael Wögerbauer<br />

So hat man mit Prot[okoll] Ausz[ug] Ihrer May. diese Umstände in Unterthänigkeit anzuzeigen,<br />

und sich den A. Befehl zu erbitten, ob nicht nach dem Anrathen des Cons. auch dem<br />

Kurzbök eine gleiche Befugniß, wie solche der Kalliwoda im Jahre [1]768 erhalten hat nämlich<br />

fremde Bücher gegen seine eigene von gleichem Gewicht hereinführen und verkaufen zu können,<br />

ertheillet werden solte. 35<br />

Der Kanzler des Kommerzienrats, Graf Kolowrat, übernahm diese Stellungnahme<br />

ohne Änderungen und leitete sie an die Kaiserin weiter, die dasselbe<br />

Dokument mit folgendem Kommentar zurückgehen ließ:<br />

Dergleichen unvollständige Buchhandlungen gereichen dem Staat zu keiner Ehre, und anderen<br />

privilegirten Buchhändlern zum Schaden. Dahingegen bin Ich geneigt, vorzüglich innländischen<br />

wohl verdienten Buchdruckern, wie der Kurzböck ist, wenn sie sich zu der Handlung mit<br />

einem genugsamen fonds legitimiren, die förmliche Buchhandels-Gerechtigkeit zu verleihen,<br />

und die bisher gedulteten fremden Buchhandlungen so wie die dermaligen Besitzer absterben,<br />

nach und nach einzuziehen.<br />

Es hat Mir demnach der Commercien-Rath über den dermaligen Stand der hiesigen Buchhandlung,<br />

und die bey solcher pro futuro zu treffende bessere Einrichtung ein ausführliches Gutachten<br />

zu erstatten, auch anzuzeigen, was es mit der dem Buchdrucker Kaliwoda eingestandenen<br />

Freyheit fremde Verlags-Bücher zu verschreiben, und feil zu bieten, eigentlich für eine Beschafenheit<br />

habe.<br />

Maria Theresia 36<br />

Die Kaiserin zog demnach ihre – deutlich vom Merkantilismus geprägten –<br />

Schlüsse: Offiziell respektierte sie die vorhandenen Buchhandelsprivilegien,<br />

in Wirklichkeit aber wurden sie zweifach angegriffen: Einerseits konnten<br />

wirtschaftlich starke Druckverleger – wie Kaliwoda oder Kurzböck – mit<br />

einem neuen Privilegium für den Buchhandel mit dem Ausland rechnen,<br />

andererseits sollten ausländische Händler vom erbländischen Markt verdrängt<br />

werden. Um eine solche Neuregelung gezielt durchführen zu können,<br />

war es zu allererst nötig, eine Bestandsaufnahme des status quo vorzunehmen;<br />

dieser Befehl wurde schließlich in Form einer Conscription des berechtigten<br />

und unberechtigten Buchhandels in den K. K. Erblanden vollzogen.<br />

Die Ergebnisse für Böhmen, Mähren, Schlesien, die Steiermark und<br />

Niederösterreich konnten schon aufgefunden werden. 37<br />

35 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 96. ex Augusti 1771, Nro. 280, fol. 100–<br />

101. Protokollauszug des Hofkommerzienrats, gezeichnet Doblhoff (Referent), vom 5.<br />

August 1771.<br />

36 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 96. ex Augusti 1771, fol. 104–105. Nicht<br />

eigenhändige Entschließung Maria Theresias zum Protokollauszug des Hofkommerzienrats<br />

vom 5.8.1771. Gezeichnet Maria Theresia.<br />

37 Zu dieser Conscription und ihren Ergebnissen für Niederösterreich (Österreich unter der<br />

Enns) und Wien vgl. FRIMMEL (2001) und für Böhmen vgl. WÖGERBAUER (<strong>2004</strong>);<br />

die Ergebnisse für Schlesien und die Steiermark sind von geringem Umfang und sollen<br />

im Rahmen der gesamten K. K. Erblande veröffentlicht werden. Die Ergebnisse für<br />

Mähren wurden bereits von Zdeněk Šimeček gefunden, sind aber noch nicht publiziert.<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler …<br />

Die Causa Bianchi wurde in einem Protokollauszug gleichen Datums 38 behandelt<br />

und ebenfalls an die Kaiserin weitergeleitet. Die damit verbundenen<br />

Verwicklungen innerhalb der Administration hat schon Ursula Giese im<br />

Kontext mit dem für das Maria Theresianische Buchwesen zentralen Unternehmer<br />

Trattner dargestellt (GIESE 1961: 1116–1118). Fassen wir kurz<br />

zusammen: Franz Jakob Bianchi war Besitzer des seit 1770 bestehenden<br />

„Comptoirs der Wissenschaften, Künste und Kommerzien“ 39 und Herausgeber<br />

der „K. K. allergnädigst privilegierten Realzeitung der Wissenschaften,<br />

Künste und Kommerzien“; 40 1771 erweiterte er sein Unternehmen um<br />

ein Lektürekabinett und wollte noch Ende desselben Jahres eine „Oeconomisch-,<br />

Mechanisch- und Physicalische, dann Handlungs-Bibliothec errichten“<br />

41 . Dieser Versuch, das Comptoir um eine solche Fachbuchhandlung zu<br />

erweitern, wurde zum Stein des Anstoßes. In der Folge entstand daraus sogar<br />

ein Konflikt zwischen dem Kommerzienrat und der Kaiserin. 42 Ersterer<br />

hatte Bianchi – wie im Falle des Comptoirs – schon vor der Ausstellung des<br />

allerhöchsten Privilegs die Erlaubnis erteilt, auch eine Buchhandlung zu<br />

betreiben (GIESE 1961: 1117). Die Kaiserin gab schließlich den Befehl,<br />

diese Konzession wieder rückgängig zu machen, „da selber weder ein Niederläger,<br />

noch bürgerl. Handelsmann sey“. (JESINGER 1928: 43, FRANC<br />

1952: 38) Der Kommerzienrat legte seine Argumente trotzdem noch einmal<br />

dar, berief sich bezüglich der Leihbibliothek auf die Vorbilder anderer<br />

Großstädte wie Paris oder London und den Vorteil, dass so alle Bürger Zugang<br />

zu teuren Büchern und somit zu Bildung vor allem in technischen und<br />

wirtschaftlichen Belangen hätten. Die Buchhandlung wäre nichts Besonderes<br />

gewesen, da „die Universitaet immer dergleichen kleine Buchhandlun-<br />

38 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 96. ex Augusti 1771, Nro. 280, fol. 101.<br />

Protokollauszug des Hofkommerzienrats, gezeichnet Doblhoff (Referent), vom 5. August<br />

1771.<br />

39 Vgl. die Wiener Dissertation von Lucia FRANC (1952). Für die Erlaubnis, ein Comptoir<br />

zu errichten, bedankte sich Bianchi schon am 30. August 1770 beim Hofkommerzienrat<br />

(HKA, Fasz. 36, 16 ex Sept. 770, zit. FRANC 1952: 44), obwohl er das offizielle<br />

Privileg erst am 2. März 1771 erhielt (FRANC 1952: 42 und 46). Für die Erteilung aller<br />

Genehmigungen für das Comptoir und die Realzeitung waren – wie im hier geschilderten<br />

Fall – der NÖ. Kommerzienkonsess und der Hofkommerzienrat zuständig.<br />

40 Die Realzeitung erschien nach FRANC (1952: 44) erstmals am 5. November 1770.<br />

41 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 96. ex Augusti 1771, gezeichnet Graf<br />

Kolowrat, vom 18.8.1771.<br />

42 FRANC (1952: 38) formuliert sehr ungenau, wenn sie schreibt, das Comptoir „war in<br />

einem Buch-, Kunst- und Musikalienhandlung, hatte den Verlag neuer inländischer und<br />

die Kommission ausländischer Werke [...]“. Nach der Regelung von 1768 durfte Bianchi<br />

höchstens von ihm selbst verlegte bzw. in Druck gegebene Werke verkaufen, nicht<br />

aber die anderer oder gar ausländischer Verleger.<br />

147


148<br />

Michael Wögerbauer<br />

gen oder Bücherkrämer vermehret, und man fast alle Durchgänge der Häuser,<br />

damit angefüllet sieht“. Schließlich werden noch die Verdienste Bianchis<br />

bei der Herausgabe von heimischen Werken erwähnt und darüber hinaus<br />

die Tatsache, dass er<br />

sich erkläret hatte, die Sammlungen der Agriculturs-Gesellschaften der Erblanden, in Verlag zu<br />

nehmen, und solche, oder andere zum allgemeinen besten bekannt zu machende Wercke, in<br />

weit geringeren, als den gewöhnlichen Preisen an das Publicum zu bringen; diesem wird die<br />

allerunterthänigste Erinnerung beyzufügen seyn, daß der Buchhandel kein bürgerliches Gewerbe,<br />

sondern Theils von der Universitaet, Theils durch besondere Concessionen der Niederlage,<br />

oder eines Schutzes verliehen werde: wie dann auf die leztere Art solchen verschiedene Buchdruckereyen,<br />

als die Trattnerische, Gehlnische, und Kaliwodaische, seit kurzem erhalten hätten,<br />

deswegen aber zu keiner besonderen Abgabe verbunden wären; daß also eine viel eingeschräncktere<br />

Befugniß einem Manne, wie Bianchi wohl anzugönnen sey, der sich ohne<br />

Eigennutz für das gemeine beste verwende, welcher aber in seinen Absichten und sonderlich in<br />

dem Tausch-Handel ohne derselben, nicht fortkommen könnte, und daß überhaupt von der<br />

ruhmvollen Neigung der glorrwürdigsten Monarchin zu den Wissenschaften zu hoffen wäre,<br />

daß die in Absicht habende Erleichterung solchen zu Theil werden würde, die sich mit ihnen<br />

bekannter machen wollten. Dazu aber das Vermögen, oder die Gelegenheit nicht hätten.<br />

In dieser Argumentation wird deutlich, dass nicht nur wirtschaftliche Überlegungen<br />

eine Rolle spielten; ganz deutlich wurde eine auf breitere Schichten<br />

(„Publicum“) zielende Aufklärung als Voraussetzung für den Aufschwung<br />

der Wirtschaft und des Staates gesehen. Dazu war es freilich nötig,<br />

Versuche wie jenen Franz Jakob Bianchis zu fördern, ein Informationszentrum<br />

und eine Art Tauschbörse vor allem für technisches und wirtschaftliches<br />

Wissen zu gründen. Der Kommerzienrat unterstützte derlei Unternehmen<br />

immer wieder als vorbildlich – teilweise gegen den Willen Maria<br />

Theresias und ihrer Berater. An ihnen scheiterte Bianchi auch mit seiner<br />

zweiten, am 6. April 1772 eingebrachten Bitte um ein Buchhandelsprivileg<br />

(FRANC 1952: 56). Das Comptoir und die Realzeitung des bankrotten Bianchi<br />

übernahm übrigens im Laufe des Jahres 1774 dessen Drucker und<br />

ehemaliger Vermieter Joseph Ritter von Kurzböck (FRANC 1952: 39, 58).<br />

1777 übersiedelte es ins Trattnerische Gebäude am Graben, wo es unter<br />

Trattner als neuem Besitzer wieder in Schwung kam (GIESE 1961: 1120).<br />

Der Fall ist auf mehrfache Weise ungewöhnlich: Einerseits darin, dass einem<br />

Bittsteller schon ein positiver Bescheid gegeben war, bevor noch die<br />

Zustimmung der Kaiserin vorlag, die diese daraufhin verweigerte. Den<br />

Grund für die Widerrufung könnte man mit Carl Junker 43 und Ursula Giese<br />

im Einfluss Trattners bei der Kaiserin vermuten, während Bianchi „nur“ im<br />

43 Carl Junker schreibt gar, Maria Theresia hätte die Buchhändlerordnung „für Trattner<br />

und Kurzböck“ in Auftrag gegeben. Vgl. JUNKER (1926: 10), bzw. den Neudruck in<br />

JUNKER (2001).<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler …<br />

Hofkommerzienrat Gönner hatte (GIESE 1961: 1117). Maria Theresias<br />

Antwort war deutlich:<br />

Es hat bey Meiner Resolution ein für allemal sein Verbleiben, und ist dem Bianchi einiger<br />

Buchhandel keiner Dings zu gestatten, da auch hervorkommt, daß dieser so wichtige Handlungs-Zweig<br />

der Zeit ohne aller Ordnung und Vorschrift sich gleichsam selbst überlassen sey;<br />

so ist von dem Commercien-Rath, unter welchem sämmentliche Buchhandlungen, und Buchdruckereyen,<br />

als obersten Behörde stehen, allenfalls nach Vernehmung der Vornehmsten<br />

Buchhändler, und von anderwärts, wo der Buchhandel am meisten blühet, eingeholte Nachrichten,<br />

eine förmliche Buchhandlungs-Ordnung zu entwerfen, und zu Meiner Bestättigung vorzulegen.<br />

Maria Theresia 44<br />

Somit war die Schaffung der Buchhändlerordnung und die Umwandlung<br />

des Buchhandels in ein bürgerliches Gewerbe seit Ende August 1771 beschlossene<br />

Sache. Falls Gieses Vermutung von Trattners Einflussnahme auf<br />

die Ablehnung Bianchis stimmt, so wirft das ein besonders Licht auf die in<br />

der Entgegnung gewählte Formulierung, vor der Abfassung einer Buchhändler-Ordnung<br />

sei eine „Vernehmung der Vornehmsten Buchhändler“<br />

durchzuführen; demnach hätten diese tatsächlich großen Einfluss auf die<br />

Gesetzgebung gehabt. Die Verfasser der Ordnung konnten nicht ausschließen,<br />

dass Trattner von der Kaiserin um seine Meinung gefragt werden würde,<br />

bevor sie selbst zustimmte.<br />

Diese endgültige Ablehnung im Fall Bianchi wurde am 2. September 1771<br />

an die untergeordneten Ämter weitergeleitet, mit der Anmerkung, „im übrigen<br />

aber eine förmliche Buchhandlungs-Ordnung zu entwerfen, und zur<br />

Begenehmigung einzureichen.“ 45 Am Ende des Monats wurde dann per<br />

Rundschreiben in alle Provinzen ein Zirkular versandt, 46 durch das alleine<br />

den Landeskommerzienkonsessen die Verleihung von Buchhandelsfreiheiten<br />

übertragen wurde; das böhmische Landesgubernium leitete das Schreiben<br />

wie folgt weiter:<br />

Dem Hl. Comm. Insp: seye das anhero gediehene allerhöchste HofDecret dto. 30 9bris 771<br />

Kraft dessen Ihre K. K. Mays. zu entschließen geruhet haben, daß künftig die Bücher Handlungs<br />

Freyheiten ganz allein durch die Comm. Conseße, und zwar bey förml. Buchhandlung<br />

auf Begenehmigung dero unmittelbaren Commercien Raths selbst ertheilet, und keiner hierzu<br />

nicht ausdrücklich befugten Parthey einiger Bücherhandel verstattet, sondern sammentl. der-<br />

44 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 25. ex Sept 771, fol. 109–110. Protokollauszug<br />

des Hofkommerzienrats (gezeichnet Kolowrat) vom 19. August 1771 an Maria<br />

Theresia und mit deren Entscheid. Wird auch zitiert von FRANC (1952: 55f).<br />

45 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 25. ex Sept. 771, fol. 108, Hofkommerzienrath<br />

„An die Nieder-Oesterreichischen Commercien-Consess“, vom 2.9.1771.<br />

46 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 130 ex Sept. 771, fol. 113–116, vom<br />

30.9.1771 (Konzept).<br />

149


150<br />

Michael Wögerbauer<br />

mahlige Conceßierung der mit Bücher Handel treibenden Partheyen Von gedachten Conceßibus<br />

eingesehen werden sollen, zu dem Ende dto. 2 9bris 771 intimiret, damit derselbe in dem<br />

ihme angewisenen Districten die Conceßiones der BücherHandlenden Partheyen einsehen, und<br />

den erhobenen Befund anhero bericht[en] solle. 47<br />

Die Überprüfung der Buchhandelskonzessionen verzögerte sich nicht selten<br />

durch die Nachlässigkeit der damit beauftragten Kreisbehörden und war, um<br />

beim böhmischen Beispiel zu bleiben, am 21. März 1772 noch immer nicht<br />

abgeschlossen. 48 Der Niederösterreichische Kommerzienkonsess hatte hingegen<br />

schon am 4. November gemeldet, dass von ihm „die semmentliche[n]<br />

Buchhändler und Antiquarij vorgefodert worden seyn, und dieselben sich<br />

mit den dgl [?] Concessionen sattsam ausgewiesen hatten. Was die aufgetragene<br />

neue Buchhändler Ordnung betreffe, so werde solche demnächsten<br />

entworffen, und ad approbandum übergeben werden.“ 49<br />

Die Buchhändlerordnung von 1772 entstand also zwischen September 1771<br />

und Anfang März 1772.<br />

Die Formulierung der Buchhändlerordnung war in erster Linie Aufgabe des<br />

Niederösterreichischen Kommerzienkonsesses. 50 Mit der Ausarbeitung eines<br />

ersten Entwurfs wurde der Beamte von Lauben betraut, der schon seit<br />

Juli als Referent für die Angelegenheit Kurzböck zuständig war. 51 Er hielt<br />

also – höchstwahrscheinlich im September und Oktober 1771 – Rücksprache<br />

mit Buchhändlern, und man kann deshalb mit Giese annehmen, „daß<br />

Trattner selbst maßgeblich an dem Entwurf zu dieser Ordnung beteiligt<br />

war“ (GIESE 1961: 1078), was aber auch für andere gelten könnte. Diese<br />

erste buchhandelsspezifische Satzung kommt einem modernen Gewerberecht<br />

schon sehr nahe: Buchhandel, Buchbinderei und Buchdruck werden<br />

getrennt konzessionspflichtig und daher auch in der gewerblichen Praxis<br />

und im Ausbildungsweg differenziert. Auf eine stabile Beziehung zwischen<br />

Lehrherr und Lehrling wird Wert gelegt. Neue Buchhandels-Konzessionen<br />

47 SÚA, ČG, Kommerz, 1755–1772, Sig. H 19 – 13/1772, 407, Kart. 179, 21.3.1772. Bis<br />

auf geringe Abweichnungen wortgleich mit dem Dokument des HKA (vgl. Anm. 46).<br />

48 Ebenda. – Deswegen bezog sich das Gubernium am 21.3.1772 noch einmal auf das<br />

Zirkulare vom 30. September des Vorjahres.<br />

49 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 12 ex Novembri 771, „zum Prot. von 4.<br />

November 771“, fol. 118; in diesem Dokument wird der genannte Protokollauszug zitiert.<br />

50 Als Quelle für die Rekonstruktion dieses Vorgangs dient uns der am 3. Februar 1772 an<br />

die Kaiserin adressierte „Allerunterthänigste[r] Vortrag Des treu gehorsamsten Hof-<br />

Commercien-Rathes Womit die Buchhandlungs-Ordnung für sämtliche Kais. Königl.<br />

Erblande allerunterthänigst vorgeleget wird.“ („Dokument B“).<br />

51 „Joh. Georg von Lauben, Ihro K. Königl. Apost. Maj. würcklicher Commercien-Rath,<br />

log. in der Kärntnerstraße, in dem Schwarzischen Haus.“ Vgl. den Abschnitt zum K. K.<br />

Nieder-Österr. Kommerzienkonsessus, in: K. u. K. STAATSKALENDER (1772: 137).<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler …<br />

sollten nämlich nur noch Bewerber erhalten, die auf eine sechsjährige Lehre<br />

und vier Jahre praktische Erfahrung als Gesellen verweisen konnten (§1–5).<br />

Neben dieser zehnjährigen Ausbildung wurde „die genugsame Känntniß<br />

von den besten Schriftstellern in den verschiedenen Wissenschaften“ und<br />

ein angemessenes Grundkapital verlangt, das für Wien 10 000 Gulden betrug.<br />

Anderswo wurde seine Höhe von den Kommerzienkonsessen festgelegt.<br />

(§5) Außerdem wurde die Anzahl der Buchhandlungen (§6), der Handelsgegenstand<br />

(§7) und ein Handlungsverbot für Krämer, Buchdrucker und<br />

Buchbinder festgeschrieben (§8). Ausländische Buchhändler durften wie<br />

zuvor auch schon ihre Bücher nur zu Marktzeiten feilbieten (§9) und privilegia<br />

impressoria sollten vor dem Verkauf von Nachdruck-Exemplaren<br />

schützen (§10).<br />

Das Ergebnis übergab von Lauben an den Kommerzienrat und die Böhmisch-Österreichische<br />

Hofkanzlei. Diese wiederum bat die für den Universitätsbuchhandel<br />

zuständige Studienhofkommission um eine Stellungnahme.<br />

Die Studienhofkommission empfahl, dass<br />

nicht nur jene Buchführer, welche dermalen unter der Universitaets-Gerichtsbarkeit würcklich<br />

stehen, dem foro universitatis nicht zu entziehen, sondern auch die universitaet des ihr ex privilegio<br />

gebührenden Rechts, die bestimmte Anzahl Buchführer praestitis aufzunehmen, nicht zu<br />

entsezen wäre. 52<br />

Weiter unterstützte sie „das Bitten der hiesigen Universitaet, sie bey ihrem<br />

wohlhergebrachten und vielfältig, ja sogar in Contradictorio bestättigtem<br />

Privilegio, Catholische Buchhändler in einer bestimmten Zahl aufzunehmen,<br />

allergnädigst zu laßen“. Die Hofkanzlei schloss sich diesem Ratschlag<br />

an.<br />

Mit dieser Bitte sind wir wieder beim Fall des Universitätsbuchdruckers<br />

Joseph Kurzböck. Beispielhaft kann er für den Konflikt zwischen den Zentralisierungsbestrebungen<br />

der kaiserlichen Verwaltung und den Privilegien<br />

anderer Körperschaften stehen; in diesem Fall bestand die Universität auf<br />

ihren Rechten gegenüber dem kaiserlichen Dekret vom 30. September 1771,<br />

das den Hofkommerzienrat zur obersten Instanz für Buchhandelsprivilegien<br />

machte. Kurzböck gehörte als „würcklicher Universitaets-Buchdrucker“<br />

schon dem foro universitatis an und stand dadurch unter der Jurisdiktion der<br />

Universität. Die Hofkanzlei hatte zwar nichts dagegen einzuwenden, ihm<br />

die Buchhandelsgerechtigkeit zu verleihen; in diesem Falle jedoch<br />

würde derselbe in personalibus einer doppelten Jurisdiction, nemlichen als dermaliger Buchdrucker,<br />

und civis academicus dem foro universitatis, und als künftiger Buchhandler dem foro<br />

52 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 105 ex Aprili 1772, Protokollauszug der<br />

Böhmisch- und Österreichischen Hofkanzlei vom 10./11. Jänner 1772, fol. 144.<br />

151


152<br />

Michael Wögerbauer<br />

civico magistratuali unterworfen, andurch aber zu leicht vorsehenden Strittigkeiten, besonders<br />

in prioritatis, und Abhandlungs-Sachen Anlaß gegeben werde. 53<br />

Es galt also einen Kompromiss zu finden, der das Ziel der zentralistischen<br />

Vereinheitlichung nicht unterlief, Kompetenzstreitigkeiten vermied und<br />

trotzdem keinen offenen Bruch mit dem tradierten Recht bedeutete. Der<br />

Vorschlag der Hofkanzlei lautete demnach,<br />

daß in diesem ganz besonderen Falle der Universitaet, obschon die Anzahl ihrer Buchhandler<br />

besezet ist, erlaubet würde, auch den Kurzböck, als Buchhandler, jedoch nur gegen dem aufzunehmen,<br />

daß bey Erledigung einer Universitaets-Buchhandlung solche nicht mehr ersezet werde,<br />

sondern der Kurzböck in die erledigte Stelle ipso facto eintretten solle. 54<br />

Dieser Lösungsvorschlag der Hofkanzlei für den Fall Kurzböck wurde vom<br />

Hofkommerzienrat akzeptiert und in den Entwurf für die Kaiserin übernommen.<br />

Kurzböck hatte dem niederösterreichischen Kommerzienkonsess<br />

schon nachgewiesen, dass er über ein ausreichendes Vermögen verfügte und<br />

deswegen gab es keine Bedenken, „den Antrage der Böhmischen Hof-<br />

Kanzley gemäß dem Kurzböck zum Universitaets-Buchhändler aufzunehmen.“<br />

55<br />

Im Allgemeinen wurde die Ernennung von Universitätsbuchhändlern wie<br />

folgt geregelt:<br />

Es könnte nämblich sowohl der hiesigen als anderen Kais. Königl. Universitaeten, die das<br />

gleiche Privilegii genießen, noch ferner gestattet werden, die vor ihrer Ernennung bestehende<br />

Zahl der Buchhandlungen zu Erledigungs-Falle wieder zu ersezen, jedoch mit der Bedingung,<br />

1 mo daß ihnen daraus kein Privativum erwachse,<br />

2 do daß das aufzunehmende Subject mit denen in der neuen Ordnung vorzuschreibenden Eigenschaften<br />

versehen sey, und endlich<br />

3 tio daß in jedem Falle einer Aufnahme die vorläufige Anzeige dem Consesse mittelst eines an<br />

[die] Regierung gestellten Berichtes geschehe.<br />

Dieser [Konzess] wird bey nicht obhandenen Bedencken durch den nämblichen Weeg der<br />

Regierung die Begenehmigung zu ertheilen, oder aber die sich äußerende[n] Anstände anher zu<br />

berichten haben, damit nicht etwa zu unnöthigen Weiterungen Anlaß gegeben werde. 56<br />

Die Universitäten durften somit zwar noch immer die ihnen zustehende Anzahl<br />

an Universitätsbuchhändlern immatrikulieren, wurden aber wenigstens<br />

in Ernennungsfragen ihrer Autonomie beraubt und de facto zur Gänze von<br />

53 Ebenda – HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 105 ex Aprili 1772, Protokollauszug<br />

der Böhmisch- und Österreichischen Hofkanzlei vom 10./11. Jänner 1772,<br />

fol. 144.<br />

54 Ebenda – HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 105 ex Aprili 1772, Protokollauszug<br />

der Böhmisch-Österreichischen Hofkanzlei vom 10./11. Jänner 1772, fol.<br />

144.<br />

55 Dokument B, fol. 128.<br />

56 Dokument B, fol. 127.<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler …<br />

der neuen Buchhandlungsordnung und der Zustimmung der kaiserlichen<br />

Behörden, nämlich des jeweiligen Landes-Kommerzienkonsesses abhängig.<br />

Die Buchhandlungsordnung wies den Universitäten aber auch eine Aufgabe<br />

zu, nämlich „die Prüfung der Buchhändler in Ansehung der Wißenschafft“,<br />

d. h. eine Prüfung ihrer literarischen Grundkenntnisse. Dafür wurde die<br />

Überprüfung der finanziellen Ausstattung aller Buchhändler den staatlichen<br />

Wechselgerichten übertragen, die diese Aufgabe für alle Handelstreibenden<br />

inne hatten.<br />

Punkt 11 des Entwurfs (später §6 der Buchhändlerordnung) betraf den nicht<br />

stationären Buchverkauf vor allem im Umkreis von Universitäten.<br />

Ad 11um daß leztere [Studienhofkommission] der Meinung, es könnte der Verkauf der alten<br />

Bücher den Standlern und Tandlern noch ferner gestattet werden, da hierauf hierorts nur wenige<br />

Stimmen angetragen.<br />

Es wäre sich aber über diesen Punkt um somehr mit der Meinung der Studienkommission zu<br />

vereinigen, als die Sache von keiner Wichtigkeit, und das Absehen auf die arme Studenten<br />

hauptsächlich gerichtet ist.<br />

Bey diesem Absatze äußert sich jedoch die Verschiedenheit der Meinungen noch in dem, daß<br />

die Studienkommission den Weg, die Ordenshäuser von dem Buchhandel durch die Bedrohung<br />

abzuhalten, daß ihnen im Betrettungsfalle keine Bücher mehr passiret werden würden, nicht für<br />

schicksam, noch bey selben für verfangend ansiehet. Daher sie auf eine arbitrarische Strafe<br />

antraget: welchem auch unter dem beygetretten werden könnte, daß demjenigen, welcher in<br />

einem solchen Handel betretten, oder dessen überwiesen werden würde, nicht nur der dazu<br />

geeignete Vorrath confisciret, sondern auch, beschaffenen Umständen nach, ein solcher noch<br />

mit einer arbitrarischen Strafe beleget werden solle. 57<br />

Es solle die Entschließung des Hofkommerzienrats eingeholt werden, der<br />

auch das Patent zu verfassen und die Buchhandlungsordnung zu entwerfen<br />

habe. Dieser berücksichtigte diese Vorschläge und schickte den Entwurf<br />

von Laubens an die Kaiserin, wobei noch folgendes Gutachten vom 31. Oktober<br />

1771 angeschlossen wurde:<br />

GUTACHTEN<br />

Welch ein so andres Euer Kais. Königl. Apostl. Majtt. von Seite dieser treugehorsamsten Stelle<br />

hiemit allerunterthänigst vorgeleget wird, mit dem Beysatze, daß man von Seiten des Pleni mit<br />

dem Antrag des Referenten vollkommen einverstanden, und nur folgendes dahin abzuändern<br />

des ganz unmaßgeblichen Ermessens wäre: daß ad 2dum in fine des Referats die Privatpersohnen<br />

für die einführende[n] fremde[n] Bücher eben nicht mehr als die Buchhandler Maut bezahlen<br />

sollen, maßen ansonsten dadurch die intentionirte Beförderung der Wissenschaft geschwächt<br />

würde. Ferner<br />

ad 3tium Daß denen Tandlern und Standelweiber zum Behuf des Publici der Verkauf der alten<br />

Bücher nicht benommen werden solle. Dann<br />

ad 5tum Daß sowohl der Kurzböck als andere neu aufzunehmende Buchhandler als Handels-<br />

Leute bey dem Wechselgericht erster Instanz ordentlich protocolliret, und auch als Bürger<br />

57 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 105. ex Aprili 772, Extractus Protocolli<br />

Consilii Commercialis Aulici, dd 27ma Januarii 772, fol. 149, 153.<br />

153


154<br />

Michael Wögerbauer<br />

aufgenommen werden, mithin dieser dreyerlei abweichender Wohlmeynungen wegen, die §phi<br />

11. 12. und 14. in der entworfenen Buchhandlungs-Ordnung abzuändern wären, wie auch ad<br />

§phum 11mum dieser Ordnung denen privatis, Klöstern etc. anstatt eines Exemplars von jeder<br />

Materie so viele Exemplarien hereingelassen werden sollen, als ihrem eigenen Gebrauche<br />

angemessen wäre. 58<br />

Auch bei diesen Änderungsvorschlägen ist ersichtlich, dass die drei beteiligten<br />

Gremien (Studienkommission, Hofkanzlei und Hofkommerzienrat) bei<br />

der Formulierung des Dekrets mit der „Beförderung der Wissenschaft“ oder<br />

der Aufklärung der Öffentlichkeit argumentierten – in der Diskussion der<br />

Vorschläge wird nicht zufällig ausdrücklich davon gesprochen, dass es nicht<br />

zielführend sei, Privatpersonen oder Studenten den Zugang zu Büchern zu<br />

erschweren.<br />

Am 8. März 1772 legte schließlich der Kommerzienrat der Kaiserin die fertige<br />

Buchhändlerordnung mit dem Vorschlag vor, diese nicht als Patent,<br />

sondern als Druckschrift den Landesstellen bekannt gemacht werden solle,<br />

welche dieses Papier „den Obrigkeitlichen Behörden, wo sich Buchhändler<br />

befinden, so wie leztere[n] selbst zur genauen Beobachtung vorlegen sollen:<br />

Wie dann auch der hungarischen und siebenbürgischen Hof-Kanzley und<br />

der böhmischen in Ansehung des Banats einige Exemplare zu schiksamer<br />

Adaptirung mitzutheilen wären.“ 59<br />

Die Kaiserin befand die Buchhändlerordnung am 28. März 1772 für gut und<br />

verlangte gleichzeitig, ein „Verzeichnis aller dermalen bestehenden berechtigten<br />

Buchhandlungen vorlegen zu lassen, um sowohl die unbefugten abzustellen,<br />

als auch bey weiteren Freyheitsertheilungen auf die jedesortigen<br />

Umstände den Beacht nehmen zu können.“ 60 Am 30. März gab die Böhmisch-Österreichische<br />

Hofkanzlei den Auftrag, die Ordnung drucken und in<br />

die Erbländer verschicken zu lassen. Inwiefern der Text tatsächlich für Ungarn,<br />

Siebenbürgen und den Banat noch einmal im Detail diskutiert und<br />

abgeändert wurde, wäre noch zu untersuchen.<br />

3. Zusammenfassung und Folgen<br />

Am 19. August 1771 bat Maria Theresia den Niederösterreichischen Kommerzienkonsess<br />

im Zusammenhang mit den Ansuchen von Kurzböck und<br />

Bianchi erstmals um „gutächtliche Erinnerungen [...], wie eine bessere Ein-<br />

58 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 105 ex Aprili 772, vom 31.10.1771,<br />

„Allerdurchlauchtigste...“, gezeichnet Freiherr von Reischach und Franz Martin, fol.<br />

165.<br />

59 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 105 ex Aprili 772, Vortrag des Hof-<br />

Commercien-Rathes vom 8. März 1772 (mit Entwurf vom 3.2.1772, unterzeichnet von<br />

Kolowrat und Reischach) an Maria Theresia.<br />

60 Dokument A, handschriftliche Stellungnahme Maria Theresias, ohne Datum.<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler …<br />

richtung unter den hiesige[n] Buchhandlunge[n] für künfftig getroffen werden<br />

könnte.“ 61 Eine ausdrückliche Anweisung, eine Buchhandlungsordnung<br />

zu entwerfen, gab die Kaiserin vor dem 2. September. Gleichzeitig hatte sie<br />

einen der beiden Anlassfälle, das Gesuch des Franz Jakob Bianchi, Herausgeber<br />

der Wiener „Realzeitung“ und Inhaber des Handels-Comptoirs, auch<br />

mit fremden Büchern handeln zu dürfen, gegen den Widerstand des Hofkommerzienrates<br />

endgültig negativ beschieden. Der Hof- und Universitätsbuchdrucker<br />

Joseph Ritter von Kurzböck bat ebenfalls um die Erlaubnis, die<br />

von ihm verlegten und gedruckten Bücher mit ausländischen Buchhändlern<br />

tauschen und fremde Verlagsprodukte verkaufen zu dürfen. Da Maria Theresia<br />

seinem Ansuchen gegenüber positiv eingestellt war, bestand nur noch<br />

die Frage, welchen Status er innerhalb der Buchhändlerordnung erhalten<br />

würde.<br />

Mit der „Vernehmung der vornehmsten Buchhändler“ – mit Sicherheit war<br />

auch Trattner einbezogen – und dem Entwurf einer Buchhändlerordnung<br />

wurde der niederösterreichische Beamte von Lauben als Referent betraut.<br />

Dessen Vorschlag wurde vom Niederösterreichischen Kommerzienkonsess<br />

an den Hofkommerzienrat und von diesem an die Studienkommission weitergeleitet.<br />

Letztere vertrat in ihrer Stellungnahme vom November 1771 die<br />

Interessen der Universitäten und setzte durch, dass diese wenigstens äußerlich<br />

weiterhin das Recht behielten, die ihnen zustehende Anzahl an Universitätsbuchhändlern<br />

zu inskribieren, die dann dem foro universitatis angehörten<br />

und in persönlichen Belangen dessen Jurisprudenz unterstanden –<br />

Kurzböck, der schon als Buchdrucker der Wiener Universität unterstand,<br />

wurde letztlich auch Universitätsbuchhändler. Derlei Inskriptionen mussten<br />

allerdings von nun an im Einklang mit der neuen Buchhändlerordnung stehen<br />

und waren über die Regierung den Kommerzienkonsessen mitzuteilen,<br />

die schon per Dekret vom 30. September 1771 die einzigen Stellen geworden<br />

waren, welche Buchhandelsgerechtigkeiten vergeben durften. In der<br />

Buchhandlungsordnung wurde in §11 formuliert: „Die Buchhändler sollen<br />

in personalibus ihrem gewöhnlichen Foro, in Handlungssachen aber den<br />

Kaiserl. Königl. Commercial-Consessen, und Wechselgerichtern, gleich<br />

anderen Handelsleuten unterworfen sein.“ Die notwendige Vermögensprüfung<br />

wurde ebenfalls vom Wechselgericht durchgeführt. Von einer Autonomie<br />

der Universitäten bezüglich ‚ihrer‘ Buchhändler konnte somit nicht<br />

mehr die Rede sein. Sie konnten schätzen, wenn sie noch Universitätsbuch-<br />

61 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 96. ex Augusti 1771, fol. 101. Handschriftliche<br />

Stellungnahme Maria Theresias zum Protokollauszug vom 19. August 1771.<br />

155


156<br />

Michael Wögerbauer<br />

händler immatrikulieren durften. 62 „Die alten Privilegien blieben in der Regel<br />

der Form nach bestehen, erhielten aber einen dem absolutistischen Zeitgeist<br />

entsprechenden neuen Inhalt“ – so charakterisiert WERNER OGRIS<br />

(1985: 366) einen auch hier deutlichen Grundzug der Reformen Maria Theresias.<br />

Im Gegenzug wurden die Universitäten beauftragt, den für alle zukünftigen<br />

Buchhändler verpflichtenden Wissenstest abzunehmen.<br />

In der Diskussion wurde von Laubens Entwurf noch dahingehend ergänzt,<br />

dass mobile Buchhändler, sog. Standler und Tandler, zum Nutzen der Studentenschaft<br />

weiterhin mit alten Büchern handeln dürfen sollten; auch dürften<br />

Privatleute nicht mehr Maut für Bücher zahlen müssen als professionelle<br />

Buchhändler. Hier zeigt sich – wie auch im Fall Bianchi –, dass die an der<br />

Legislative beteiligten Beamten durchaus im Sinn der Aufklärung versuchten,<br />

breiteren, und auch bürgerlichen Bevölkerungsschichten den Zugang zu<br />

Druckschriften offen zu halten – schließlich konnte das Sozialsystem auch<br />

ohne ihre Nachfrage nicht funktionieren.<br />

Im März 1772 wurde der Entwurf schließlich Maria Theresia vorgelegt, von<br />

dieser am 28. März genehmigt und am 30. März in Druck gegeben. Obwohl<br />

die Regelung nur für die K. K. Erblande geschaffen worden war, erging<br />

zugleich an die zuständigen Stellen der Befehl, die Buchhändlerordnung für<br />

Ungarn, Siebenbürgen und den Banat entsprechend zu adaptieren.<br />

Eine zu strenge Durchführung der Regelung, ab sofort nur ausgelernten<br />

Buchhändlern die Konzessionen zu belassen, hätte allerdings viele kleinere<br />

Buchdrucker und Buchbinder in Existenznöte gebracht. Ein im oberösterreichischen<br />

Steyr tätiger Buchbinder, Johann Ferdinand Holzmayer, bat<br />

zum Beispiel, ihm den Buchhandel weiterhin zu erlauben. Sein Vater und er<br />

hätten schon siebzig Jahre lang neben ihrem Handwerk Bücher verkauft<br />

(HESS 1950: 115). Sonst gäbe es nur in Enns und Linz eine Buchhandlung,<br />

in Steyr aber keine, Abnehmer hingegen genug. Er versorge in Steyr zwei<br />

Klöster, das Jesuitencollegium und das Gymnasium sowie die Klöster in<br />

Kremsmünster, Garsten, Gleink, St. Florian und Seitenstetten (HESS 1950:<br />

109). Diese Bitte wurde mit der allgemeinen Anordnung beantwortet, „daß<br />

auch den Buchbindern aller ihnen bishero rechtmäßig zugestandene Handel<br />

62 JUNKER (1926: 10) schreibt unmittelbar nach der Erwähnung der Buchhandelsordnung:<br />

„Das Recht der Universität, die Buchhändler aufzunehmen und zu immatrikulieren,<br />

wird von der Regierung aufgehoben, zumal die Buchhändler selbst – kurzsichtig<br />

und undankbar – von der Jurisdiktion der Alma mater ‚erlöst’ werden wollten.“ Dieser<br />

Schritt erfolgte unserer Untersuchung nach 1772 noch nicht, obwohl die Grundtendenz<br />

vorhanden ist, die Universität schrittweise ihrer Rechte zu berauben. Joseph II. hob die<br />

Universitätsgerichtsbarkeit erst 1784 endgültig ab.<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler …<br />

ferners beygelaßen werden solle [...]“. 63 Der Linzer Kommerzienkonsess<br />

betonte daraufhin noch einmal, „daß fast alle hierländige Buchdrucker, und<br />

Buchbinder bisanhero den freyen Handl mit Gebett- und anderen derley<br />

Büchern ungestöhrt geführet haben, und hierwegen ab immemoriabile tempore<br />

in Besitz bestehen.“ 64 Die endgültige Auskunft lautete dann,<br />

„daß in Ruecksicht auf die Erhaltung des Nahrungs-Stands und andere erhebliche umstände die<br />

hierländigen Buchdrucker und Buchbinder in soweith, als sie dermalen in dem Betrieb des<br />

Buchhandels seyen, darbey bis zu ihrem Absterben belassen, inskünftige aber ihren Nachfolgern<br />

kein anderer und mehrerer Handel, als der dennen Buchdruckern und Buchbindern mit<br />

Gebett-Büchern, Nahmen-Bücheln, und Kalendern überhaubts eingestanden ist, verstattet,<br />

sondern in Sachen sich nach Vorschrifft der Neuen Buchhandler-Ordnung dd 28 ten Marty anni<br />

currentis gerichtet werden solle.“ 65<br />

Holzmayer und andere, die zum nebenberuflichen Buchhandel berechtigt<br />

waren, durften das also weiterhin tun. Diese Berechtigung an ihre Nachfolger<br />

weiterzugeben, war allerdings nur möglich, wenn diese das Gewerbe<br />

gelernt hatten. Johann Ferdinand Holzmayer konnte die Buchhändlerordnung<br />

dennoch umgehen, da ihm ein langes Leben beschieden war. Am 20.<br />

August 1788 hob Joseph II. nämlich die Buchhändlerordnung wieder auf,<br />

der Zugang zum Buchhandel wurde erneut zu einem „bloßen Negotium“,<br />

nachdem schon am 9. November 1786 Buchdrucker und Buchhändler<br />

gleichgestellt worden waren (BACHLEITNER/EYBL/FISCHER 2000:<br />

124f.). Dies ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass Holzmayrs Schwiegersohn,<br />

der aus Würzburg stammende Buchbinder Christian Reuther, 1794<br />

in amtlichen Schriften doch als Steyrer „Buchhändler“ bezeichnet wird<br />

(HESS 1952: 118). Die alteingesessenen Buchhändler wehrten sich natürlich<br />

gegen einen offenen Zugang zu ihrem Gewerbe, weil sie darin – besonders<br />

in größeren Städten – ihren Ruin sahen. Es folgte eine zwanzigjährige<br />

„Sturm- und Drangperiode für den österreichischen Buchhandel“ (JUNKER<br />

63 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 119 ex Martio 772, fol. 125, „Dekretum<br />

an den Ob der Ennßl: Commercien-Conseß“ vom 23.3.1772.<br />

64 HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot), 45 ex 7bri 772, fol. 193–194, Ob der<br />

Ennsischer Kommerzienkonsess an die Kaiserin, Linz den 14. Augusti 1772, gezeichnet<br />

Aloysius Graf von Spindler u. a.<br />

65 OÖLA, Patentsammlung Krakowizer 1772, Handschrift Nr. 171, Landshauptmannschaftliches<br />

Circulare vom 26. September 1772. Vgl. das gleichlautende Konzept des<br />

NÖ. Kommerzkonsess-Beamten Taube (HKA, NÖ Kommerz, Fasz. 110, Nr. 240 (rot),<br />

45 ex 7bri 772, Vienna, d. 7. Sept. 1772, gezeichnet Titlbach, fol. 192–198). So ist auch<br />

die missverständliche Formulierung bei BACHLEITNER/EYBL/FISCHER (2000:<br />

115f.) zu verstehen, wo es heißt: als Holzmayer „im fortgeschrittenen Alter bei Magistrat,<br />

Landesregierung und schließlich 1773 [recte 1772!] bei der Kaiserin selbst um<br />

Ausnahmegenehmigung ansucht, wird er abschlägig beschieden: die Söhne sollten den<br />

Buchhandel lernen.“ Er selbst hatte keine solche Ausbildung.<br />

157


158<br />

Michael Wögerbauer<br />

1926: 10), wobei allerdings die Josephinischen Freiheiten schon ab 1792<br />

von seinem Bruder Leopold und noch mehr im Zeichen der Angst vor revolutionärem<br />

Gedankengut wieder zurückgenommen wurden. Am 18. März<br />

1806 erließ der neugekrönte Kaiser von Österreich, Franz I., neuerlich eine<br />

Buchhändlerordnung; diese „unterschied sich nicht wesentlich von der ersten,<br />

die seine Großmutter mehr als dreißig Jahre früher erlassen hatte.“<br />

(JUNKER 1926: 10)<br />

Die Genese der Buchhändlerordnung zeigt, dass die Maria-Theresianische<br />

Staatsverwaltung Interesse daran hatte, den Buchhandel als eigenes Gewerbe<br />

zu regeln und qualitativ und quantitativ zu fördern. Das ökonomische<br />

Interesse verlangte, den Handel mit dem Ausland und die Wissensvermittlung<br />

zu regeln; doch verlangte es auch, die Verbreitung nützlichen Wissens<br />

nicht zu erschweren. Durch zentrale Maßnahmen – wie zum Beispiel die<br />

„Beförderung der hiesigen Buchdrukereyen“ – sollte die „Aufmunterung<br />

zur Litteratur [...] erreichet werden.“ Denn hat „der Buchdruker [...] Verschleiß<br />

genug“, findet der Autor auch einen Verleger 66 – und letztlich profitiert<br />

das ganze Sozialsystem Literatur davon. Wenn die für die Habsburger<br />

Monarchie überlieferten Angaben nur annähernd stimmen, dass „zwischen<br />

1773 und 1793 der Wert der Buchproduktion von 135 000 auf 3 260 000<br />

Gulden“ wuchs, 67 so kann man tatsächlich davon ausgehen, dass auch die<br />

Menge jener rapide anstieg, die immer professioneller Druckschriften produzierten,<br />

vermittelten und rezipierten – kurz: Innerhalb dieser zwanzig<br />

Jahre entstand ein modernes Sozialsystem Literatur, das aufgrund der gegebenen<br />

Umstände immer mehrsprachig war. Regelungen für die Erblande<br />

bzw. die gesamte Monarchie wie die Buchhändlerordnung spielten dabei<br />

eine wichtige Rolle. Dieser einzigartige Aufholprozess in der Monarchie<br />

bildet ohne Zweifel eine notwendige Basis für die neueren volkssprachlichen<br />

Literaturen im Habsburger Reich, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts<br />

dann allmählich zu Nationalliteraturen ausdifferenzierten.<br />

66 Paraphrase auf das oben zitierte Gutachten zu Kurzböck (vgl. Anm. 29).<br />

67 Die beiden hier von BACHLEITNER/EYBL/FISCHER (2000: 123) zitierten Untersuchungen,<br />

nämlich PLACHTA (1994: 75f.) und WINTER (1992: 10), geben unterschiedliche<br />

Währungen an. Während Plachta von „Gulden“ spricht, schreibt Winter „Taler“.<br />

Die angeführten Zahlen sind demnach lediglich relativ zu verstehen. Nach BODI (1994:<br />

441) war ein Reichstaler 1½ Gulden wert, ein Konventionstaler entsprach hingegen<br />

zwei Gulden. Das Jahresverdienst eines Universitätsprofessors betrug 600 Gulden.<br />

Die Genese der „Ordnung für die Buchhändler …<br />

Literatur<br />

AMTSSCHEMATISMUS BÖHMEN (1772): Die im Königreich Böheim<br />

befindliche sowohl Geistliche, als Weltliche Dicasterien, Gerichts-<br />

Instantien und Landesämter. Für das Jahr 1772, 14 bzw. 18. [verwendet<br />

wurde das Exemplar aus dem Státní ústřední archiv, Sign. Amtsschematismen<br />

für die Jahre 1772 – 1778]<br />

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um 1770. – In: Mitteilungen der Gesellschaft für Geschichte des Buchwesens<br />

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159


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Michael Wögerbauer<br />

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ZEMAN, Herbert (1977): Der Drucker-Verleger Joseph Ritter von Kurzböck<br />

und seine Bedeutung für die österreichische Literatur des 18. Jahrhun-<br />

161


162<br />

Michael Wögerbauer<br />

derts. – In: H. Göpfert, G. Koziełek, R. Wittmann (Hg.), Buch- und Verlagswesen<br />

im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Kommunikation<br />

im Mittel- und Osteuropa. Berlin: Ulrich Kamen, 104–129.<br />

Prager Brücken und der nationale Diskurs in Böhmen<br />

Marek Nekula<br />

Die Brücken gelten als Metapher des Verbindenden. Sie verbinden zwei<br />

Ufer, Stadtteile oder Städte. Sie werden aber auch zwischen Gegenwart und<br />

Vergangenheit, zwischen Kulturen und Nationen geschlagen. So begegnet<br />

man ihnen etwa auf den Banknoten der Europäischen Union, wo die<br />

,Union‘ gerade durch die Brücke(n) symbolisiert wird, während die auf der<br />

Rückseite dargestellten Fenster den ,Einblick‘ ins Fremde der anderen europäischen<br />

Kulturen vermitteln.<br />

Diese Union-Metapher ist aber nicht so einfach. Denn Verbindung setzt<br />

Trennung voraus, an die v.a. die moderne europäische Geschichte der nationalen<br />

Politik und der nationalen Staaten reich ist. In diesem Sinne werde<br />

ich der Brücke in meinem Beitrag nachgehen: Im national polarisierten Prag<br />

und Böhmen des 19. und 20. Jahrhunderts kann man der Brücke als Ort der<br />

nationalen Polarisierung begegnen, als Symbol des Trennenden statt des<br />

Verbindenden.<br />

Die Brücke kann schließlich gar der Ort des Scheiterns und des Todes sein.<br />

Sie wurde als Ort des ,Außerhalb‘ und des ,Zwischen‘ des Öfteren als Hinrichtungsstätte<br />

genutzt. Dies trifft im Mittelalter auch für die Prager Steinerne<br />

Brücke zu, wo anstelle der mitteralterlichen Hinrichtungsstätte seit<br />

1695 die damit motivisch sehr wohl zusammenhängende Pietà von J. Brokof<br />

installiert wurde. Auch die Selbsthinrichtung, der Selbstmord, ist mit<br />

der Brücke nicht nur konkret, sondern auch motivisch 1 und symbolisch aufs<br />

Engste verbunden, wie dies durch einen kurzen Exkurs zu Franz Kafka<br />

deutlich wird.<br />

Die romanische Judithbrücke<br />

Bei dem ersten und vorerst letzten Staatsbesuch des tschechischen Präsidenten<br />

in Deutschland führte ihn der Weg auch nach <strong>Regensburg</strong>. Der damalige<br />

Präsident Václav Havel hob in seiner Rede vor dem bayerischen Ministerpräsidenten<br />

Edmund Stoiber im <strong>Regensburg</strong>er Schloss nicht nur die Projekte<br />

wie den Tandem, das <strong>Bohemicum</strong> oder das Collegium Carolinum hervor,<br />

die gerade auch in <strong>Regensburg</strong> (<strong>Passau</strong>, München etc.) die beiden Völker<br />

einander näher bringen, sondern blickte auch in die Vergangenheit. In den<br />

alten Steinernen Brücken in <strong>Regensburg</strong> und Prag fand er das Symbol der<br />

kulturellen Nähe, des Verbindenden. Die Prager Brücke wurde in der Presse<br />

1 Im Zusammenhang mit der Karlsbrücke vgl. u.a. Nerudas Gedicht „Na tom pražským<br />

mostě...“ (NERUDA 1924: 78).


164<br />

Marek Nekula<br />

gar als Tochter der <strong>Regensburg</strong>er Steinernen Brücke hingestellt (vgl. Fotomontagen<br />

in der Süddeutschen Zeitung oder in der Mittelbayerischen Zeitung<br />

vom 12. Mai 2000).<br />

Dies ist in gewissem Sinne auch nachvollziehbar. Als der Přemyslidenfürst<br />

Vladislav II. im Jahre 1147 von <strong>Regensburg</strong> aus zum erfolglosen Kreuzzug<br />

seines Schwagers, des Kaisers Konrad III., aufbrach, bekam er wie manche<br />

vor, neben und nach ihm die erste (bis heute erhaltene) Steinerne Brücke<br />

Mitteleuropas zu Gesicht. Der französiche Mönch Otto von Deuil hielt 1148<br />

die Teilnahme Ludwigs II. an dem Kreuzzug fest:<br />

Auch der König brach auf, nachdem er den ehrwürdigen Bischof von Arras mit dem Kanzler<br />

und dem Abt von Bertincourt nach <strong>Regensburg</strong> vorausgeschickt hatte wegen der Boten des<br />

Kaisers von Konstantinopel, die dort den König schon lange erwarteten. Bei dieser Stadt überschritten<br />

alle die Donau auf einer vortrefflichen Brücke und fanden eine große Menge von<br />

Schiffen vor, die unser Gepäck und einen Großteil des Volkes bis nach Bulgarien brachten.<br />

(zitiert nach DÜNNINGER 1996: 10)<br />

Dem Bau der Prager Steinernen Brücke ging eine Naturkatastrophe voraus.<br />

Um das Jahr 1158 wurde die alte wohl bereits im Jahre 1118 beschädigte<br />

Holzbrücke in Prag durch ein Hochwasser zerstört. 2 Als dann Vladislav II.<br />

im Jahre 1158 in Begleitung seiner Frau Judith von Thüringen in <strong>Regensburg</strong><br />

für seine militärische Hilfe im Kampf gegen die norditalienischen<br />

Städte (Mailand) von Friedrich I. Barbarossa zum König erhoben wurde,<br />

ließen er und seine Frau ihre neue königliche Würde durch den Bau der<br />

Steinernen Brücke in Prag bildlich festhalten. Die Beförderung des Přemyslidenfürsten<br />

Vladislav II. zum böhmischen König Vladislav I. ist übrigens<br />

durch ein Relief des Krönenden und Gekrönten festgehalten, die der Judithbrücke<br />

entstammt und an der östlichen Fassadenseite des Kleinseitner Turmes<br />

der Karlsbrücke zu sehen sei (KAŠIČKA 1992: 22; NEUBERT/KO-<br />

ŘÁN/SUCHOMEL 1991: 17). Da besonders die Frau des böhmischen<br />

Königs sich für den Bau der Brücke eingesetzt haben soll, wurde die Steinerne<br />

Brücke nach ihr benannt.<br />

Die romanische Judithbrücke, die Tochter der <strong>Regensburg</strong>er Brücke, 3 die<br />

zwischen 1166 und 1169 fertig gestellt wurde, war nach der <strong>Regensburg</strong>er<br />

die zweite repräsentative Steinerne Brücke in Mitteleuropa, wie dies das<br />

Material (Stein), die Ausgestaltung (Relief) und der Zeitpunkt des Baus<br />

2 Vgl. die Erwähnung bei COSMAS (1923: 219), aus der unterschiedliche Datierungen<br />

abgeleitet werden. Vgl. auch WIRTH (2003: 65), LEDVINKA/PEŠEK (2000: 63).<br />

3 Der unmittelbare Anschluss des Baus in Prag an den in <strong>Regensburg</strong>, der rege Austausch<br />

und die Wanderung von Baumeistern und Gesellen sowie Ähnlichkeiten in der Konstruktion<br />

der Steinernen Brücke in <strong>Regensburg</strong> und der Judithbrücke in Prag lassen darauf<br />

schließen, dass die Bauhütte, die die Judithbrücke errichtete, identisch war mit der,<br />

die die <strong>Regensburg</strong>er Brücke schuf (PAULUS 1989: 143).<br />

Prager Brücken und der nationale Diskurs in Böhmen<br />

(unmittelbar nach der Erreichen der Königswürde) deutlich machen. Sie<br />

wurde zur Ikone der Stärke und des Autonomieanspruchs der Přemyslidenherrscher,<br />

die jetzt zum zweiten Mal durch den Königstitel geehrt wurden.<br />

Durch diese Entstehungsgeschichte bekommt die Steinerne Brücke in Prag<br />

das Attribut „königlich“, das sie gegenüber der „kaiserlichen“ Brücke 4 in<br />

<strong>Regensburg</strong> abgrenzt und auf das sich die tschechische Kultur noch im 20.<br />

Jahrhundert bezieht.<br />

Die gotische Karlsbrücke<br />

Die romanische Judithbrücke wurde im Jahre 1342 durch ein Hochwasser<br />

derart beschädigt, dass die Naturkatastrophe den Anlass für einen Neubau<br />

gab. Im Jahre 1357 beauftragte Karl IV. Peter Parler mit dem Bau der neuen<br />

gotischen Brücke. Bautechnisch wurde sie durch die Brücke in Koblenz<br />

angeregt (vgl. SEIBT 1995: 130) und sollte – ähnlich wie einst die Judithbrücke<br />

– den neuen Stellenwert des Prager Herrschers dokumentieren, der<br />

im Jahre 1355 in Rom zum Kaiser gekrönt worden war. Prag war nicht nur<br />

Sitz des „deutschen“ (1346) und böhmischen Königs (1347), sondern wurde<br />

nun auch zur Residenzstadt des Kaisers und zum Zentrum des Reiches. Die<br />

neue Steinerne Brücke sollte Sinnbild dieser neuen Rolle und Stärke kaiserlichen<br />

Prags sein (vgl. auch die gotische Büste Karls IV. mit der Kaiserkrone,<br />

die auf dem Altstädter Brückenturm installiert wurde). Damals allerdings<br />

noch ohne Statuen. Die einzige Ausnahme bildete ein Kruzifix aus<br />

dem 14. Jahrhundert (ersetzt im Jahre 1657 durch eine im Jahre 1628 von<br />

Brohn gefertigte Kalvariengruppe aus der Gießerei Hans Hillgers).<br />

Die besondere Rolle der Steinernen Brücke in Prag kommt auch dadurch<br />

zum Ausdruck, dass sie dem heiligen Veit geweiht wurde, dem Patron der<br />

Domkirche auf der Prager Burg, der wichtigsten Kirche Böhmens, in der<br />

4 Der Bau der <strong>Regensburg</strong>er Brücke wird seit dem „bürgerlichen“ 19. Jahrhundert als Ausdruck<br />

des aufstrebenden Bürgertums verstanden, das den Bau der Brücke initiierte<br />

(SCHMID 1985: 7) und hauptsächlich finanzierte, durch die Brücke seine wirtschaftlichen<br />

Interessen stützte und deren Ikonographie prägte. Dies wird etwa durch die Abbildung<br />

Philipps von Schwaben oder Friedrichs II. deutlich, die 1230 und 1245 der Stadt Privilegien<br />

und Freiheitsrechte gewährten (vgl. PAULUS 1989: 40, 156f.). Solche Details dürften<br />

für den königlichen Besuch aus Prag (noch) kaum erkennbar sein. Bei einer solchen Feierlichkeit<br />

stand der Kaiser im Mittelpunkt, der um die Mitte des 12. Jahrhunderts auch faktisch<br />

in <strong>Regensburg</strong> gegenüber dem bayerischen Herzog und dem <strong>Regensburg</strong>er Bischof<br />

(die Brücke hat keinen Patron!) seinen Einfluss bewusst ausbaute, wie dies auch das Brükkenprivileg<br />

Friedrichs I. aus dem Jahre 1182 und die rechtliche Hoheit des Kaisers über die<br />

Brücke nachvollziehbar machen. Es ist kaum vorstellbar, dass die Brücke, die „das repräsentative<br />

Tor der Stadt Regenburg“ (PAULUS 1993: 49) bildete und jahrhundertelang<br />

beim Einzug der Kaiser, Könige und Erzbischöfe zur Machtpräsentation genutzt wurde<br />

(PAULUS 1993: 50 u.a.), beim feierlichen Einzug des böhmischen Fürsten Vladislav II.,<br />

der über sie von Norden in die Stadt einzog, keine Rolle gespielt haben sollen.<br />

165


166<br />

Marek Nekula<br />

sich in der Wenzelskapelle die böhmischen Kronjuwelen befanden. Die<br />

Brücke ist also nicht nur die schnellste und direkteste Verbindung zwischen<br />

der Burg und den Prager Städten auf dem anderen Ufer der Moldau, sondern<br />

sie ist – durch den heiligen Veit spirituell mit dem Dom verbunden –<br />

auch ein böhmisches Sacrosanctum, das mit 520 m Länge, 10 m Breite und<br />

16 Brückenbögen zugleich zu einem der herrlichsten Attribute der weltlichen<br />

Macht Prags geworden ist. Die Steinerne Brücke wird nicht nur zu<br />

einem der Kronjuwele des Landes, sondern sie wird – als Verbindung zwischen<br />

dem Sitz des ersten böhmischen Königs Vratislav II. auf Vyšehrad,<br />

dessen Bedeutung noch tiefer angelegt ist, und dem aktuellen Sitz des böhmischen<br />

Königs auf dem Hradschin durch Karl IV. gar in die Krönungszeremonie<br />

eingebunden (Wenzel IV.). 5<br />

Auch wenn die Brücke erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts während der<br />

Regierungszeit Wenzels IV. fertig gestellt wurde und erst im Jahre 1464<br />

durch Jiří z Poděbrad/Georg von Poděbrady den spätgotischen Brückenturm<br />

erhielt, verbindet man sie seit dem 19. Jahrhundert mit ihrem Begründer<br />

Karl auch namentlich.<br />

Nach Hugo Rokyta (1995: 251) wurde die „Karlsbrücke“ bis in die 70er<br />

Jahre des 19. Jahrhunderts „Prager Brücke“ oder „Steinerne Brücke“ genannt,<br />

auch wenn Karel Havlíček Borovský – wohl in Reaktion auf die<br />

„deutsche“ Deutung Karls (vgl. Denkmal Karls IV. am rechten Ufer vor der<br />

Brücke aus dem Jahre 1848) – bereits 1848 die Benennung „Karlsbrücke“<br />

vorschlägt (vgl. u.a. WIRTH 2003: 69). Denn bis in die 70er Jahre des 19.<br />

Jahrhunderts gibt es keinen praktischen Grund die Prager Steinerne Brücke<br />

anders zu bezeichnen, sie ist bis ins 19. Jahrhundert hinein die einzige ihrer<br />

Art in Prag. Erst im 19. Jahrhundert werden weitere Brücken errichtet: 1841<br />

die nach Kaiser Franz I. benannte Kettenbrücke (später Legionenbrücke),<br />

die 1868 fertiggestellte Kettenbrücke in Bubny, 1865–1868 die Stahlbrücke<br />

unterhalb des Letná, 1868–1870 die Kettenbrücke bei Klárov (später Mánesbrücke)<br />

und 1871–1872 die Eisenbahnbrücke unterhalb des Vyšehrad.<br />

Diese Brücken waren aus Stahl. 1871 wird der Bau einer zweiten steinernen<br />

(Palacký-)Brücke in Prag geplant, 1876 beginnt die Bautätigkeit, die bereits<br />

zwei Jahre später abgeschlossen wird (vgl. LEDVINKA/PEŠEK 2000:<br />

5 Vgl. u.a. NEKULA (2003a) oder NEUBERT/KOŘÁN/SUCHOMEL (1991: 30). Die<br />

Steinerne Brücke in <strong>Regensburg</strong>, die in ihrer Ikonographie übrigens – wie in Anm. 4<br />

angedeutet – sehr regional ist und bleibt, nimmt nie eine solche Sonderstellung in der<br />

deutschen Kultur ein, wie die Karlsbrücke in der tschechischen Kultur, was den polyzentrischen<br />

Charakter der deutschen Kultur gegenüber dem monozentrischen der tschechischen<br />

sehr wohl illustriert, auch wenn es allein von Alter, Größe, Material und Ort<br />

her gute Anhaltpunkte gäbe.<br />

Prager Brücken und der nationale Diskurs in Böhmen<br />

494). In der Folge kommt es zur Einbürgerung der Bezeichnung „Karlsbrücke“<br />

für die alte Steinerne Brücke.<br />

Die barocke Brücke als Ikone der Rekatholisierung<br />

Die heutige Gestalt der Karlsbrücke wurde in der Zeit der sog. Rekatholisierung<br />

geprägt. So wurde 1611 durch die <strong>Passau</strong>er zunächst die im dritten<br />

Viertel des 15. Jahrhunderts installierte Reiterstatue Jiří z Poděbrad/Georg<br />

von Poděbrady abgerissen (vgl. u.a. HOJDA/POKORNÝ 1997: 22). Als der<br />

Winterkönig, der die durch den Widerstand der Prager Bürger nicht realisierte<br />

Entfernung des alten Kreuzes veranlasste, 6 Prag über die Karlsbrücke<br />

verließ und nach Schlesien floh, bot sich die Brücke nach der Schlacht am<br />

Weißen Berg zur Demonstration der siegreichen kaiserlichen Macht an. So<br />

wurden hier in Stahlkörben die Köpfe der 1621 hingerichteten böhmischen<br />

protestantischen Stände und Bürger ausgestellt (KAŠIČKA 1992: 52), die<br />

als Anführer der Böhmischen Rebellion verurteilt worden waren. 7 Nach<br />

dem Dreißigjährigen Krieg wurde die Brücke als die wichtigste Kommunikationsader<br />

der Stadt auch zur Demonstration der nun für alle verbindlichen<br />

und zu verinnerlichenden katholischen Religion genutzt.<br />

Diese wird auf der Brücke durch die barocken Heiligenfiguren versinnbildlicht,<br />

denen 1657 das von Ferdinand III. gespendete und neu installierte<br />

Kruzifix vorausgegangen war (LEDVINKA/PEŠEK 2000: 384; nach NEU-<br />

BERT/KOŘÁN/SUCHOMEL 1991: 39–41 von den Prager Bürgern gekauft).<br />

Zu Mäzenen dieser Kunstwerke gehörten Orden, das Prager Patriziat und<br />

der katholische Adel. Die erste Statue der – so Goll – „siegreichen Allee der<br />

katholischen Gegenreformation“ (vgl. HOJDA/POKORNÝ 1997: 26) war<br />

im Jahre 1683 die von Matthias Gottlieb Wunschwitz, Hauptmann des Kreises<br />

Pilsen (LEDVINKA/PEŠEK 2000: 384), gespendete Statue von Johann<br />

von Nepomuk (von Johann Brokof; gegossen bei J. W. Herold, Nürnberg;<br />

Original aus Holz). Der heilige Johann von Nepomuk, 1729 heilig gesprochen,<br />

avancierte daher später zum Symbol der gewaltsamen und mit vielen<br />

Opfern verbundenen Rekatholisierung der böhmischen Länder. Aus diesem<br />

Grund sowie auch wegen seiner Herkunft (er stammte aus einer Familie<br />

deutscher Kolonisten) wurde er im 19. Jahrhundert von den Tschechen als<br />

ein fremder Heiliger attribuiert (vgl. u.a. RAK 1994: 35–48).<br />

Ihm folgten – durch kirchliche Orden, die Universität (hier zum ersten Mal<br />

aufs Engste mit der Brücke verbunden) und Donatoren – weitere Statuen:<br />

1700 der hl. Wenzel (nicht erhalten), 1707 die hll. Barbara, Margarete und<br />

6 Vgl. u.a. VLNAS (1993: 58).<br />

7 NEUBERT/KOŘÁN/SUCHOMEL (1991: 39) sprechen von der Zinne des Altstädter<br />

Brückenturmes.<br />

167


168<br />

Marek Nekula<br />

Elisabeth von J. Brokof (gestiftet durch den kaiserlichen Rat Johann Wenzel<br />

Obytecký), 1707 der hl. Antonius von Padua von J. U. Mayer (gestiftet<br />

durch die Minoriten), 1707 die hl. Anna Selbdritt von M. W. Jäckel (gestiftet<br />

durf Graf Rudolf von Lisov), 1708 der hl. Augustinus von H. Kohl (gestiftet<br />

durch die Augustiner), 1708 die Madonna mit dem hl. Dominikus und<br />

Thomas von Aquin von M. W. Jäckel (gestiftet durch die Dominikaner),<br />

1708 der hl. Nikolaus von Tolentino von H. Kohl (gestiftet durch die Augustiner),<br />

1708 der hl. Judas Thaddäus von J. U. Mayer (gestiftet durch die<br />

Minoriten), 1708 der hl. Franz von Assisi von Franz ?Preiss (gestiftet durch<br />

Graf Wenzel Adalbert von Sternberg), der hl. Norbert (nicht erhalten) von<br />

F. M. Brokof (gestiftet durch Veith Seipel, Abt des Klosters in Sázava),<br />

1709 Christus mit den hll. Cosmas und Damian von J. U. Mayer (gestiftet<br />

von der Medizinischen Fakultät in Prag), 1709 der hl. Adalbert, die böhmischen<br />

Länder segnend, von J. Brokof (gestiftet vom Prager Stadtrat M. B.<br />

Joanelli), 1709 der hl. Kajetan von F. M. Brokof (gestiftet durch Graf Rudolf<br />

von Lisov), 1709 die Madonna mit dem hl. Bernhard von M. W. Jäckel<br />

(gestiftet durch die Zistenzienser), 1710 die hl. Luitgardis von M. B. Braun<br />

(gestiftet durch die Zistenzienser), 1710 der hl. Franziskus Borgia von F. M.<br />

Brokof (gestiftet durch die Jesuiten), 1711 der hl. Ivo, Patron der Rechtsgelehrten,<br />

von M. B. Braun, 1711 der hl. Ignatius von Loyola von F. M. Brokof<br />

(gestiftet durch die Jesuiten), 1711 der hl. Franziskus Xaverius von F.<br />

M. Brokof (gestiftet durch die Jesuiten), 1712 der hl. Vinzenz Ferraerius mit<br />

dem hl. Prokop von F. M. Brokof (gestiftet durch Graf Romedius J. F.<br />

Thun), 1714 der hl. Veit von F. M. Brokof (gestiftet durch den Vyšehrader<br />

Dechant, Matthäus Macht von Löwenmacht), 1714 die hll. Johann von<br />

Fatha, Felix von Valois und Ivan von F. M. Brokof (gestiftet durch Joseph<br />

Franz Thun), 1714 der hl. Philippus Benitius von M. B. Mandl und 1720 die<br />

hl. Ludmila und der kleine Wenzel von M. B. Braun (auf die Brücke übertragen<br />

1725), der zu dieser Zeit bereits für Graf F. A. Sporck arbeitete.<br />

Die Galerie der Heiligen folgte offensichtlich einem zwar offenen, doch<br />

vorgefertigten Rahmenkonzept, das ursprünglich allein von Brokof-<br />

Werkstatt umgesetzt werden sollte und das offensichtlich vom Jesuitenorden<br />

koordiniert wurde (vgl. NEUBERT/KOŘÁN/SUCHOMEL 1991: 52).<br />

Auch wenn es zu etlichen Abweichungen von diesem Konzept kam, ist das<br />

ideelle Konzept der Galerie relativ einheitlich geblieben. Sie reflektiert und<br />

befördert zugleich die sozialen Prozesse und die Ideologie ihrer Zeit. Es ist<br />

in diesem Zusammenhang nicht zu übersehen, dass am Anfang der<br />

Bauaktivitäten dieser Zeit die von Ferdinand III. angeregte Instalation des<br />

Kreuzes stand. Nicht zu übersehen ist außerdem auch die Tatsache, dass<br />

durch die Galerie der Heiligen als Ganzes die Brücke architektonische und<br />

ideologische Brücken zur Engelsbrücke in Rom als Zentrum des damals<br />

Prager Brücken und der nationale Diskurs in Böhmen<br />

sche Brücken zur Engelsbrücke in Rom als Zentrum des damals militanten<br />

Katholizismus schlägt, die die Gestalt der Prager Brücke bestimmte.<br />

Gemeinsam ist den Statuen die Tatsache, dass die Heiligen im Dienste der<br />

Rekatholisierung und Neumissionierung der böhmischen Länder stehen (so<br />

v.a. Ignatius von Loyola oder Franziskus Xaverius), mit den böhmischen<br />

Ländern bis zu diesem Zeitpunkt aber eher weniger zu tun hatten, auch<br />

wenn es hier selbstverständlich Ausnahmen gibt, die der altneuen Ideologie<br />

Legitimität verleihen sollen: hl. Wenzel, hl. Ludmila, hl. Adalbert u.a. (Karel<br />

IV. legte folgende Landesheilige fest: hll. Veith, Wenzel, Adalbertus,<br />

Ludmila, Prokop und Siegmund; im frühen Mittelalter war Verehrung von<br />

Cosmas und Damian lebendig). Zumindest aus der nationalen Perspektive<br />

des 19. Jahrhunderts sind es in der Regel ,fremde‘ Heilige, die in Spanien,<br />

Italien oder Süddeutschland verehrt wurden und im Laufe der Rekatholisierung<br />

– ähnlich wie der Kult von Johann von Nepomuk – mit den neuen katholischen<br />

Eliten nach Böhmen gekommen waren oder erstarkt hatten, 8<br />

während die protestantischen Eliten enteignet und ins Exil getrieben oder<br />

zwangs(re)katholisiert wurden.<br />

Als ,fremd‘ empfindet die Brückenheiligen zumindest der erwachende<br />

tschechische Nationalismus. Hojda/Pokorný (1997: 22f.) zitieren in diesem<br />

Zusammenhang aus der Handschrift von Jan Jeník z Bratřic aus den 1830er<br />

Jahren, der empfiehlt:<br />

[...] na místě těch ničemných cizozemcův, tak nazvaných svatých – (jenž českému národu v<br />

tom nejmenším prospěšni nebyli – ba! i mnohý hňup z nich in sua simplicatate beata, tj. ve své<br />

blahoslavené ničemnosti ani nevěděl, že království České v Evropě se nachází) raději k okrášlení<br />

téhož mostu jakési statue neb sochy našich znamenitých vlastencův, kp. nepřemožitelného<br />

vůdce Táboritů Jana Žižky z Trocnova – našeho nejvýbornějšího krále Jiřího z Poděbrad, –<br />

velmi učeného Adama z Veleslavína, [...] Amos Comeniusa a tak mnoho jiných, – byli [sic!] se<br />

k zasloužilé památce postavili.<br />

[...] anstelle der niederträchtigen Fremdlinge, der so genannten Heiligen – (die der tschechischen<br />

Nation nicht im geringsten vom Nutzen waren – ja! von denen der eine oder der andere<br />

in sua simplicata beata, d. h. in ihrer Niederträchtigkeit gar nicht wussten, das sich das Königreich<br />

Böhmen in Europa befindet) zur Zierung derselben Brücke lieber Statuen oder Skulpturen<br />

unserer ausgezeichneten Patrioten, z.B. des unbesiegbaren Anführer der Taboriten Jan Žižka<br />

von Trocnov – unseres allerbesten Königs Jiří/Georg von Poděbrady, – des sehr gelehrten<br />

Adam z Veleslavína, [...] Amos Comenius’ und vieler anderen, die zur verdienten Erinnerung<br />

aufgestellt werden dürften.<br />

Aus der Perspektive der katholischen Ideologie ist dagegen der hl. Johann<br />

von Nepomuk nahezu genial gewählt. Man glaubt in ihm einen einheimi-<br />

8 Zur Verbreitung des Kults des hl. Johann von Nepomuk vgl. VLNAS (1993: 54), der<br />

ihn für die Zeit mit dem Jesuitenorden (1993: 54), im für uns relevanten Zeitraum mit<br />

Kaiser Karl VI. verbindet (ebd.: 192).<br />

169


170<br />

Marek Nekula<br />

schen, böhmischen und den Dogmen der Kirche gegenüber loyalen Heiligen<br />

zu finden, dem sich die Herzen der Böhmen am ehesten öffnen und durch<br />

den die neue Macht und Ideologie am ehesten Legitimität finden könnte.<br />

Mit dem hl. Johann von Nepomuk knüpft man außerdem bewusst an die<br />

Zeit des frommen, dem Papst und der Kirche ergebenen Karl IV. an, d.h. an<br />

die Zeit und die Werte vor dem „hussitischen Chaos“ und der später einsetzenden<br />

Reformation. Schließlich besetzt Johann von Nepomuk die Rolle,<br />

die einst Jan Hus ausfüllte. Während Jan Hus die Wahrheit Christi (Christus)<br />

und „seine Lehre“ (Evangelium) nicht verleugnete und die Treue<br />

(Loyalität) zu Christus bis zum Tode bewies, blieb Johann von Nepomuk<br />

nach der Legende seinem priesterlichen Gelöbnis (Einhaltung des Beichtgeheimnisses)<br />

und dadurch der Kirche (dem Dogma) bis zum Tode treu. 9<br />

Weil für die beiden das WORT (Evangelium Christi vs. kirchliches Dogma),<br />

an das sie glaubten und dem sie sich verpflichteten, und die ZUNGE,<br />

die das Wort symbolisiert, von zentraler Bedeutung sind, will Ferdinand<br />

Břetislav Mikovec im Jahre 1849 im Kult von Johann von Nepomuk eine<br />

bewusste ideologische Manipulation erkannt haben. 10<br />

Auch der heilige Wenzel wird im Übrigen in Folge seiner ungewollten Instrumentalisierung<br />

während der Rekatholisierung der böhmischen Länder<br />

(Wenzel-Bibel, Verlagsaktivitäten „Wenzels Erbe“...) v.a. in der 2. Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts zum sprachnational fragwürdigen Heiligen (vgl. RAK 1996),<br />

der dieses Image erst allmählich wieder loswerden konnte, wie dies auch die<br />

Parlamentsdebatte über die Einrichtung des staatlichen Feiertages am 28. September<br />

zwischen den Christ- und Sozialdemokraten (Miloš Zeman) deutlich<br />

macht.<br />

Die Palackýbrücke (Polemik gegen die Karlsbrücke)<br />

Doch gerade durch die Symbolik der barocken Statuen von Johann von Nepomuk<br />

und den anderen Heiligen, die allerdings bis ins 19. Jahrhundert hinein<br />

Gegenstand einer aufrichtigen religiösen Verehrung blieben (vgl.<br />

HOJDA/POKORNÝ 1997: 24), ist die Karlsbrücke als ausgeprägtes Zeichen<br />

der Zeit der Finsternis für die tschechische nationale Ideologie des 19.<br />

Jahrhunderts (F. Palacký, T. G. Masaryk, J. Goll) nicht akzeptabel, wie dies<br />

9 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Beichte<br />

in der Zeit der Rekatholisierung eine neue Bedeutung erhielt und neu auf- bzw. umgewertet<br />

wurde. Die jährliche Pflichtbeichte – gewöhnlich zu Ostern – wurde zur Pflicht.<br />

An den bürokratisch geschickt geführten Listen der Beichtenden wurde der Erfolg der<br />

Rekatholisierung und die individuelle Identifikation mit dem altneuen Glauben gemessen.<br />

– Vgl. VLNAS (1993: 74).<br />

10 So auch die tschechische Publizistik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. – Vgl.<br />

dazu VLNAS (1993: 51, 56).<br />

Prager Brücken und der nationale Diskurs in Böhmen<br />

auch bei Jan Neruda zu erkennen ist (vgl. HOJDA/POKORNÝ 1997: 26;<br />

ohne Präzisierung). Die Intensität der Verbindung der Ikonographie der<br />

Karlsbrücke mit der Rekatolisierung, von der das säkulare Zeitalter in bewusster<br />

Polemik nur die äußere und aus der kritischen Perspektive des 19.<br />

Jahrhunderts inhaltlich weitgehend entleerte Hülle – so Jan Neruda in seinem<br />

Gedicht Malostranská povídka (1876) 11 – wahrnimmt, ist auch im<br />

Kontext der Autoren der tschechischen Moderne erkennbar. So inszenierten<br />

etwa Julius Zeyer in seinem Inultus (1895) oder Jiří Karásek ze Lvovic in<br />

seiner Legende Maria Elekta (1922) die Barockzeit und die Rekatholisierung<br />

gerade über die Karlsbrücke (vgl. auch NEKULA <strong>2004</strong>b). Auch Alois<br />

Jirásek evoziert in seinem Roman Temno (Finsternis, 1915) im Zusammenhang<br />

mit dem Kaiser Karl VI. die Zeit der Finsternis kontrastreich über die<br />

großzügig „beleuchtete“ und durch zahlreiche neue Statuen gezierte Karlsbrücke,<br />

der der „mächtige, traurige Schatten“ des Bergs „Žižkov“ (damals<br />

wohl eher noch Vítkov) entgegengesetzt wird, wobei hier Schatten und<br />

Licht ironisch ausgetauscht werden:<br />

Že však byla hustá mlha, mnoho kolem sebe neviděl. V ní ztratila se Vltava na levo a lada při<br />

ní; Žižkov v pravo tyčil se jako ohromný, chmurný stín. (JIRÁSEK 1930: 15)<br />

[...] a na mostě, kdyby věděla, na kamenném mostě jaká krása, co nových statuí, že když byl on<br />

naposledy v Praze před šestnácti lety, že jich bylo jenom asi šest, a teď, že těch statuí plný most<br />

v pravo, v levo, a večer co světel, to že je teď taková novota, také pro ten císařův příjezd, věc<br />

nebývalá, lucerny, na dvě stě luceren, ty že teď každý večer hoří v ulicích od Pražské brány<br />

přes rynk a jezovitskou ulicí a přes kamenný most, Malou Stranou až nahoru na hrad, celou<br />

Ostruhovou ulicí, jistě na dvě stě luceren, lojem a slaninou v nich svítí, ta řada světel na mostě,<br />

to že je tuze pěkné. (JIRÁSEK 1930: 18)<br />

Aber da es dichten Nebel gab, konnte ich nicht viel sehen. In diesem Nebel verschwand die<br />

Moldau auf der linken Seite und die Wiesen um sie herum; Žižkov ragte auf der rechten wie<br />

ein riesiger, trauriger Schatten.<br />

[...] und auf der Brücke, wenn sie wüsste, auf der Steinernen Brücke was für eine Schönheit, so<br />

viele neue Statuen, vor sechzehn Jahren, als er zum letzten Mal in Prag war, gab es nur etwa sechs<br />

davon, und jetzt säumen diese Statuen die Brücke links und rechts, und abends gibt es viele Lichter,<br />

dies ist hier neu, auch durch die Ankunft Kaisers veranlasst, eine ungewöhnliche Sache, die<br />

Laternen, etwa zwei hundert Laternen, die leuchten jetzt jeden Abend in den Straßen vom Prager<br />

Tor über den Ring und die Jesuitenstraße und über die Steinerne Brücke und die Kleinseite bis<br />

hinauf zur Burg, in die Steigbügelstraße, sicher etwa zwei hundert Laternen, in denen Fett verbrannt<br />

und Licht erzeugt wird, diese Reihe von Lichtern auf der Brücke ist sehr schön.<br />

11 Neruda stilisiert darin ein fiktives Gespräch zwischen dem Wanderer und Johann von<br />

Nepomuk über die anschaulich beschriebenen körperlichen Reize von schönen Kleinseitner<br />

(Dienst-)Mädchen, die am Ufer der Moldau (ihre) Wäsche waschen. So vermenschlicht<br />

er Johann von Nepomuk einerseits, markiert aber deutlich seine Distanz zur<br />

überspannten Religiosität und religiösen Symbolik der Barockzeit und der Allee der<br />

Heiligen auf der Karlsbrücke. – Vgl. NERUDA (1924: 233–234).<br />

171


172<br />

Marek Nekula<br />

Die mit der Ikonographie der Karlsbrücke verbundenen Bedenken sind<br />

nicht überraschend. Die tschechische nationale Ideologie des 19. Jahrhunderts<br />

schöpfte nämlich ihr Selbstverständnis aus der antikatholisch, protestantisch<br />

gedeuteten ,nationalen Wiedergeburt‘, die den ,Tod‘ der Nation<br />

nach der Schlacht am Weißen Berg und der anschließenden Rekatholisierung<br />

und Germanisierung – die sog. Zeit der Finsternis – überwunden hätte,<br />

was u.a. auch im Spiel des ,Lichts“ (Burg, Hintergrund) und des ,finsteren<br />

Schattens‘ (Statuen) auf unterschiedlichsten Fotos der Karlsbrücke zum<br />

Ausdruck kommt (vgl. z.B. PLICKA 1969: 12).<br />

Der Namensgeber der Brücke selbst ist ein Doppelgänger, der sowohl als<br />

römischer, ,deutscher‘ Kaiser Karl IV. als auch böhmischer, ,tschechischer‘<br />

König Karel I. als Ikone des Reiches und des Königreiches deutbar ist und<br />

daher zunächst nicht in das tschechoslavische Pantheon integriert wurde. So<br />

taucht er etwa unter den denkwürdigen Gestalten des tschechoslavischen<br />

Slavín in Tupadly gar nicht auf (dazu mehr NEKULA 2003a).<br />

Der tschechische nationale Diskurs wusste Karl IV. als böhmischen König<br />

Karel I. intensiver erst im Zusammenhang mit dem Todesjahr (1278/1878)<br />

und mit der Teilung der Universität (1882) zu entdecken, auch wenn selbstverständlich<br />

auch vorher bei Karl betont wird, dass er ein „römischer Kaiser<br />

und König von Böhmen“ war (vgl. MIKOVEC 1860–6/2: 2 – kursiv von<br />

M.N.). Nach der Teilung der Universität im Jahre 1882 wird aber Karl aus<br />

tschechischer Perspektive zum eindeutig „tschechischen“ Herrscher, der<br />

nicht nur Wenzel getauft wurde, sondern sich auch zur (Přemyslidischen)<br />

Tradition Wenzels bekennt. Der tschechische nationale Diskurs legte allerdings<br />

Betonung auf das Přemyslidische, das Tschechentum, die sprachlich<br />

geprägte Vaterlandsliebe. So heißt es in einer illustrierten Geschichte von<br />

Jan Dolanský aus dem Jahre 1894, die auch in der Tschechoslowakei mehrere<br />

Auflagen erreichte:<br />

Nejkrásnější a nejpožehnanější dobou v dějinách českých jest vladařství Karla I. Od dvou set<br />

let nezasedl na staroslavný stolec Přemyslovců panovník, který by tak vroucně miloval zemi<br />

českou a rodný náš jazyk jako on. Hrd byl povždy na to, že jest potomkem starého rodu Přemyslova,<br />

a vyšší touhy neznal, než prospěti vlasti své a zvelebiti ji.“ (DOLANSKÝ 1894: 182)<br />

Die schönste und gesegnetste Zeit in der tschechischen Geschichte war die Regierungszeit<br />

Karls I. Seit zweihundert Jahren saß auf dem altehrwürdigen Thron der Přemysliden kein Herrscher,<br />

der das tschechische Land und unsere Muttersprache so geliebt hätte wie er. Stolz war er<br />

stets darauf, dass er aus dem alten Geschlecht des Přemysl stammt, und er kannte keine höhere<br />

Sehnsucht, als dem Vaterlande nützlich zu sein und dieses gedeihen zu lassen.<br />

Auch im tschechischen Nationaltheater wird Karl in der königlichen Loge<br />

als König mit der Krone des hl. Wenzel und mit der Gründungsurkunde der<br />

Universität dargestellt.<br />

Prager Brücken und der nationale Diskurs in Böhmen<br />

Für den nationalen Diskurs wurde Karl – von der ,deutschen‘ Seite – bereits<br />

in den 1840er Jahren entdeckt. Im Zusammenhang mit dem 500. Jubiläum<br />

der Universität (1348/1848) gedenken die deutschen Professoren der Karls-<br />

Universität Karl IV. Sie geben ein (neogotisches) Denkmal Karls IV. in<br />

Auftrag, für das sie Geld sammeln, das von deutschen Künstlern ausgeführt<br />

und das vor dem Altstädter Brückenturm im März 1848 installiert wurde<br />

(mehr dazu vgl. KUNŠTÁT 2000). Dass es nie feierlich enthüllt wurde,<br />

lag es einerseits an Unruhen in Prag, andererseits an der Ausgestaltung des<br />

Denkmals, denn Karls Kaiserkrone auf dem Denkmal entsprach kaum den<br />

böhmischen Autonomiebestrebungen dieser Zeit, hinter denen vor allen die<br />

Repräsentanten der Tschechen standen. Es ist daher kein Wunder, dass die<br />

Karlsbrücke in Prag, die so seit den 1870er Jahren genannt wird, in dieser<br />

Zeit von deutscher Seite als Ikone des Reiches gedeutet und auf tschechischer<br />

Seite im Wesentlichen auch so wahrgenommen wird, auch wenn Karel<br />

Havlíček Borovský bereits im Jahre 1848 einen Vorstoß in eine andere<br />

Richtung versucht hatte.<br />

Sichtbar wird dies an der Konzeption der zweiten steinernen Brücke in<br />

Prag, die in den Jahren 1876–78 (J. Reiter, B. Münzberger, J. V. Myslbek)<br />

zwischen Smíchov und Podskalí erbaut wurde. Ihre Ikonographie trat nämlich<br />

in einen polemischen Dialog mit der Ikonographie der Karlsbrücke. So<br />

wurde die Brücke aus Stein in tschechoslavischen nationalen Farben (weißrot-blau)<br />

12 erbaut (vgl. auch LEDVINKA/PEŠEK 2000: 494), nach Palacký<br />

benannt und in den 1880er und 1890er Jahren mit vier auf Motiven der slavischen<br />

Mythologie basierenden Statuengruppen versehen („Libuše und<br />

Přemysl“ und „Lumír und das Lied“ auf dem linken Brückenkopf, „Ctirad<br />

und Šárka“ und „Záboj und Slavoj“ auf dem rechten Brückenkopf), die auf<br />

die damals noch für echt gehaltenen Grünberger und Königinhofer Handschrift<br />

anspielen. Hier werden Verbindungen zwischen der (tschecho)slavischen<br />

als ,authentische‘ Geschichte verstandenen Mythologie und<br />

der Gegenwart hergestellt. So ist der eine Brückenkopf der Palackýbrücke<br />

mit den Statuen der mythischen Libuše/Libussa und Přemysl geschmückt,<br />

der andere mit dem bereits 1876 geplanten und 1912 aufgerichteten Palacký-Denkmal<br />

von Stanislav Sucharda. František Palacký, der an die Echtheit<br />

der so genannten Handschriften glaubte, zeichnete allerdings auf dieser<br />

Grundlage die (tschecho)slavische Frühgeschichte der Zeit Libussas als<br />

goldenes Zeitalter der liberal-demokratischen Werte und der politischen und<br />

12 Man kann die Protestfarben als Anspielung an die französische Trikolore und die demokratische<br />

Tradition der Französischen Revolution oder eben als Anspielung an die russische<br />

Trikolore und das Slaventums verstehen, jedenfalls als bewusste Absetzung von<br />

den böhmischen Landesfarben, die beide Sprachnationen einschließen.<br />

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174<br />

Marek Nekula<br />

kulturellen Autonomie, deren Höhepunkt (nach ihm und Masaryk) im Hussitismus<br />

bzw. der anschließenden Reformation erreicht wurde.<br />

Im Böhmen des 19. Jahrhunderts beinhaltete die Proklamation demokratischer<br />

Werte die Forderung nach Gleichberechtigung beider Landessprachen<br />

und -nationen. Palacký projizierte damit ein politisches Programm in die<br />

Vergangenheit, das er in der Gegenwart verwirklicht sehen wollte. Auch<br />

deswegen wurde Palacký zum Patron dieser Brücke. Seine Nachkommen<br />

führten durch seine Brücke, deren Ikonographie mit Heidentum, Husitismus<br />

(Reformation) und Demokratie verbunden ist, 13 eine Polemik mit der Ikonographie<br />

der Karlsbrücke, die zu diesem Zeitpunkt für Dynastie und Katholizismus<br />

stand. Dadurch steht die Ikonographie der Palackýbrücke im<br />

klaren Widerspruch zur Ikonographie der Karlsbrücke. Zugleich ging es in<br />

diesem Diskurs um die Bestimmung Prags und Böhmens, der auch über die<br />

Besetzung und ideologische Ausgestaltung des öffentlichen Raumes ausgetragen<br />

wurde.<br />

Dieser vom tschechisch dominierten Magistrat konsequent geführte Kampf<br />

um den öffentlichen Raum ist auch an der Ausgestaltung der Palackýbrücke<br />

sichtbar. Der Libuše-Kult, der im tschechischen Nationaltheater zu Anfang<br />

der 1880er Jahre durch die innere und äußere Ausgestaltung des Theaters<br />

sowie etwa durch Smetanas Oper Libuše 14 zelebriert wird, wurde auf der<br />

Palackýbrücke von Josef Václav Myslbek aufgegriffen, der ebenfalls an der<br />

Ausgestaltung des tschechischen Nationaltheaters mitwirkte. Libuše, als<br />

,historisch belegbare‘ Begründerin des Přemyslidischen (böhmischen) Staates,<br />

wird verstanden als Quelle und Symbol der böhmischen/tschechischen<br />

politischen und kulturellen Autonomie und Verkörperung von demokratischen<br />

Traditionen der böhmischen/tschechischen Staatlichkeit. Gerade im<br />

Zusammenhang mit der Palackýbrücke bringt dies Jaroslav Vrchlický<br />

(1902: 149, 148) in seinem Zyklus Sochy na mostě Palackého [Statuen auf<br />

der Palackýbrücke], der Josef [Václav] Myslbek gewidmet ist, auf den<br />

Punkt, indem er „unser“ „königliches, großes, berühmtes“ Prag, das durch<br />

die „Fürstin und Mutter der Tschechen“ Libuše gegründet und geheiligt<br />

wurde, mit der „kaiserlichen Reichsstadt“ Prag Karls IV. kontrastiert, wie<br />

Prag und Karl IV. in der deutschböhmischen Literatur seit den 1840er Jahren<br />

bis in das 20. Jahrhundert wiederholt reflektiert wurde. 15<br />

13 Zur ursprünglichen Ausgestaltung des Denkmals vgl. HOJDA/POKORNÝ (1997: 98).<br />

14 Zu Anfang der 1870er Jahre für die geplante und nicht verwirklichte Krönung Franz Josephs<br />

I. komponiert und 1881 uraufgeführt (vgl. z.B. REGLER-BELLINGER/SCHENCK/<br />

WINKING 1983/1996: 385).<br />

15 So etwa bei Hans Watzlik (für diesen Hinweis danke ich Václav Maidl). Die Öffnung<br />

der Palackýbrücke in Richtung Emaus-Kloster Na Slovanech, das von Karl IV. gegrün-<br />

Prager Brücken und der nationale Diskurs in Böhmen<br />

Kafkas Čech-Brücke<br />

Diese nationale Polarisierung, die dem Prager Stadtbild wie ein Stempel<br />

aufgedrückt wird, lehnte Franz Kafka – gerade im Zusammenhang mit dem<br />

Palacký-Denkmal – entschieden ab:<br />

Wenn es möglich wäre diese Schande und mutwillig-sinnlose Verarmung Prags und Böhmens<br />

zu beseitigen, daß mittelmäßige Arbeiten wie der Hus von Šaloun oder miserable wie der Palacký<br />

von Sucharda ehrenvoll aufgestellt werden [...]. (BROD/KAFKA 1989/2: 395)<br />

Mit der Frage der Assimilation und des Konformismus, der Akkulturation<br />

zum Deutschtum oder zum Tschechentum, die durch den immer stärker<br />

werdenden deutschen und tschechischen Nationalismus in Böhmen erzwungen<br />

und von der Vätergeneration akzeptiert wurde, setzte sich Kafka bezeichnenderweise<br />

in seiner Erzählung Das Urteil auseinander, in der an zentraler<br />

Stelle das Motiv der Brücke erscheint. Dieser Text entstand im<br />

September 1912, also beinahe zeitgleich mit Kafkas skeptischer Reflektion<br />

des Sprachenkampfes in Böhmen (1911), kurz nach Kafkas jüdischer Wiedergeburt<br />

(1911/1912), und nach der Enthüllung des Palacký-Denkmals am<br />

Brückenkopf der Palackýbrücke am 1. Juli 1912 unter großem politischem<br />

Aufgebot im Anschluss an das 6. Sokol-Treffen. 16 Kafkas Erzählung, in der<br />

man etliche Biographeme erkennen kann, dürfte daher nicht nur als Polemik<br />

gegen den Vater und seinen unentschlossenen Assimilationismus gelesen<br />

werden, sondern auch – durch das Motiv der Brücke – als verdeckte Polemik<br />

gegen die sprachnationalen Selbstentwürfe der Deutschen und Tschechen.<br />

Diesen konnte ein Prager Flaneur (und damit auch Franz Kafka) im damaligen<br />

Prag fast überall, selbst auf den Brücken (Karlsbrücke vs. Palackýbrücke)<br />

begegnen, die sonst – als Verbindung von gegensätzlichen Ufern – das Verbindende<br />

bzw. gar die Verbindung von Gegensätzen konnotieren.<br />

Bei Kafka rückt dagegen im Urteil im Zusammenhang mit der Brücke, die<br />

man als die 1905–1908 erbaute und aus dem assanierten jüdischen Ghetto<br />

führende Čech-Brücke identifizieren kann, 17 das mit der Brücke eng verbundene<br />

Motiv des Scheiterns, des Versagens und des Selbstmordes in den<br />

det und mit slavischer Liturgie verbunden war, lässt sich in diesem Zusammenhang als<br />

Versuch einer alternativen, slavischen Lesart Karls verstehen, die – unter Betonung von<br />

dessen Přemyslidischen Wurzeln – im Zusammenhang mit der Teilung der Universität<br />

stärker geworden ist. Einer anderen Strategie, die das Konzept Karls IV. als römischen<br />

Kaisers deutscher Nation in Frage stellt, begegnet man in Nerudas Romance o Karlu IV.<br />

(Romanze über Karl IV.), in der Karl als Erbe der französischen, jedenfalls nicht deutschen<br />

Kultur darstellt wird. – Vgl. NERUDA (1984).<br />

16 Festredner war Karel Kramář, der bei dieser Gelegenheit die Verwaltungs- und Gesetzesautonomie<br />

für das Königreich Böhmen verlangte. – Vgl. HOJDA/POKORNÝ (1997: 102).<br />

17 Diese Brücke sowie ihren Bau konnte Kafka aus den Fenstern der elterlichen Wohnung<br />

beobachten. Zu Topographie vgl. u.a. BINDER (1979).<br />

175


176<br />

Marek Nekula<br />

Vordergrund. Während die Statuen auf der Karls- und Palackýbrücke gegensätzliche<br />

unbeweglich versteinerte ,nationale‘, in den Straßenkämpfen<br />

,laut‘ vertretene Programme verkörpern und plakativ verbildlicht gegeneinander<br />

stehen, huscht der flüchtige Schatten des Selbstmörders über diese<br />

„jüdische“, ohne Abbildungen des Menschlichen erbaute Brücke, der sich –<br />

ohne fremdes Zutun, wie dies einst bei Johannes von Nepomuk der Fall war<br />

– im „geradezu unendlichen Verkehr“ „leise“ von dem Brückengeländer in<br />

den Fluss hinabfallen lässt (vgl. KAFKA 1994/1: 52). Denn Kafka ist sich<br />

im Unterschied zum lavierenden Vater der Unversöhnlichkeit der nationalen,<br />

selbst über die Brücken ausgetragenen Ideologien, der Unmöglichkeit<br />

einer bedingungslosen einseitigen Loyalität und einer in dieser Welt erwarteten<br />

vollen Assimilation sowie der Unannehmbarkeit des assimilatorischen<br />

Lebensentwurfs seines Vaters im Klaren. Ein Gegenentwurf wird aber nicht<br />

als Ausweg empfunden. Im Hinblick auf die Intensität der nationalen Konflikte<br />

stellte sich – für ihn 18 und andere Juden – das Gefühl der Ausweglosigkeit,<br />

des zwanghaften Scheiterns ein.<br />

Falls das von Rokyta (1995: 257) veröffentlichte Gedicht, das sich auf die<br />

Karlsbrücke bezieht, tatsächlich von Kafka stammt, zeichnet sich im Übrigens<br />

dieses Motiv bei Kafka bereits sehr früh ab:<br />

Menschen, die über dunkle Brücken gehen,<br />

vorüber an Heiligen<br />

mit matten Lichtlein.<br />

Wolken, die über grauen Himmel ziehn<br />

Vorüber an Kirchen<br />

Mit verdämmerten Türmen.<br />

Einer, der an der Quaderbrüstung lehnt<br />

Und in das Abendwasser schaut,<br />

die Hände an alten Steinen.<br />

Franz Kafka, 1903<br />

Kafka kannte übrigens die Topographie und Ikonographie der Prager Brükken<br />

sehr gut. Im Brief an Milena vom 25.–29. Mai 1920 schreibt er:<br />

Vor einigen Jahren war ich viel im Seelentränker (maňas) auf der Moldau, ich ruderte hinauf<br />

und fuhr dann ganz ausgestreckt mit der Strömung hinunter, unter den Brücken durch.<br />

(KAFKA 1998: 21)<br />

Im Zusammenhang mit einer Welle von antisemitischen Pogromen, die in<br />

den Jahren 1918 bis 1920 periodisch wiederkehrten, kommt die Perspektivlosigkeit<br />

der jüdischen Existenz zwischen zwei verfeindeten Nationen in<br />

18 Georg Bendemann scheitert in der Erzählung Das Urteil mit seinem Lebensentwurf<br />

ähnlich wie sein einstiger Freund, der in Russland nicht einmal den Zugang zur „Kolonie<br />

seiner Landsleute“ (KAFKA 1994/1: 39), d.h. wohl der Juden, finden konnte.<br />

Prager Brücken und der nationale Diskurs in Böhmen<br />

Kafkas Brief an Milena vom 17.–19. November 1920 sehr markant zum<br />

Ausdruck:<br />

Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß. „Prašivé plemeno“<br />

habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören. (KAFKA 1998: 288)<br />

Das Gespür für nationale Inszenierung des öffentlichen Raums in Prag zeigte<br />

im übrigen Kafka bereits früher (Hradschin vs. Vyšehrad, vgl. NEKULA<br />

2003a, <strong>2004</strong>a). Indem er die Brücken von unten betrachtet, sieht er nicht nur<br />

ihre Kehrseiten, sondern auch die Kehrseiten der Ideologien, die sich hinter<br />

der ideologisch geprägten Ausgestaltung verbergen.<br />

Slavisierung der Karlsbrücke<br />

Die Polarisierung zwischen der Palacký- und der Karlsbrücke entkräftet<br />

sich jedoch im Laufe der Zeit. Infolge des nationalen Diskurses um Karl IV.<br />

bzw. Karl I. und im Hinblick auf die dominante Stellung der Tschechen im<br />

Prager Magistrat erfolgt seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eine allmähliche<br />

Umgestaltung der Karlsbrücke, die zunehmend slavisiert wird.<br />

Anlass für die Neugestaltung der Brücke gab das Jahr 1848. Die Brücke<br />

wurde während des Pfingstaufstandes teilweise zerstört. So wurden u.a. Statuen<br />

und Statuengruppen mit dem hl. Wenzel auf der Brücke installiert, wie<br />

die der hll. Norbert, Wenzel u. Sigismund (1853) oder die des hl. Wenzel<br />

(1858) von J. K. Böhm. Seit den 1880er Jahren, in denen der nationale Diskurs<br />

immer mehr zu einem nationalistischen mutiert, kommt es auf der<br />

Karlsbrücke zu einigen Baumaßnahmen, die den ,antitschechischen‘ Charakter<br />

der durch die Rekatholisierung geprägten Karlsbrücke abschwächen<br />

und den slavischen Charakter stärken.<br />

So wurde im Jahr 1884 die Roland-Statue, der Braunschweiger, der sog.<br />

Bruncvík von L. Šimek neu entworfen und errichtet. Dieser Errichtung folgte<br />

eine Adaptation der spätmittelalterlichen (heraldischen) Legende von<br />

Alois Jirásek in seinen Staré pověsti české (Alttschechische Sagen; mit Illustrationen<br />

von Mikoláš Aleš im Jahre 1894), mit der auch andere tschechische<br />

Sagen evoziert wurden, wie jene über die vom heiligen Wenzel angeführten<br />

Blaník-Ritter, die das von allen Seiten umzingelte Böhmen retten<br />

sollen: 19<br />

A zázračný Bruncvíkův meč?<br />

Ten je pevně a hluboko zazděn v Karlově mostě do pilíře, tam, kde stojí socha Bruncvíkova,<br />

mající u nohou podobu lva. Tam dal Bruncvík před svou smrtí meč tajně zazdíti, tam odpočívá<br />

ta čarovná zbraň již staletí a objeví se, teprve až bude v Českém království nejhůře. Když naše<br />

19 Zur positiven Wahrnehmung der Bruncvík-Statue bei Neruda vgl. HOJDA/POKORNÝ<br />

(1997: 24).<br />

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178<br />

Marek Nekula<br />

vlast bude nejvíce sklíčena, přitrhnou od Blaníka svatováclavští rytíři na pomoc a sám svatý<br />

dědic české země je povede.<br />

A tu pak pojede po Karlově mostě, zakopne jeho brůna (bělouš) a vyrýpne kopytem z kamení<br />

Bruncvíkův meč. Toho se svatý Václav chopí a v tuhé seči pak jím nad hlavou zatočí a zvolá:<br />

„Všem nepřátelům země české hlavy dolů!“<br />

Tak se stane a bude svatý pokoj v naší vlasti. (JIRÁSEK 2001: 148)<br />

Und Bruncvíks Zauberschwert?<br />

Das ist fest und tief in die Karlsbrücke eingemauert, in denselben Pfeiler, auf dem das Standbild<br />

Bruncvíks, mit dem Löwen zu seinen Füßen, steht.<br />

Dort ließ Bruncvík vor seinem Tod das Schwert heimlich einmauern, dort ruht diese Wunderwaffe<br />

schon Jahrhunderte und wird erst dann wieder ans Licht kommen, wenn es um das Königreich<br />

Böhmen am schlimmsten bestellt sein wird. Wenn unser Vaterland in der höchsten<br />

Not ist, werden ihm aus dem Blaník die St. Wenzelsritter zur Hilfe eilen, und der heilige Wenzel<br />

selbst, der Erbe des Böhmerlandes, wird sie anführen.<br />

Und wenn er dann über die Karlsbrücke reitet, wird sein Schimmel stolpern und mit seinem Hufe<br />

Bruncvíks Schwert aus dem Gestein brechen. Und der heilige Wenzel wird es ergreifen und über<br />

seinem Haupte schwingen und rufen: „Allen Feinden des Heimatlandes die Köpfe ab!“ So wird es<br />

geschehen, und heiliger Friede wird herrschen im Böhmerlande. (JIRÁSEK 1963: 158–159)<br />

Nach dem Hochwasser im Jahre 1890, bei dem die Statue des hl. Ignatius<br />

von Loyola (1711; F. M. Brokof), des Begründers des Jesuitenordens, vom<br />

Wasser ,verschluckt‘ wurde, kehrte diese Statue nicht mehr auf die Karlsbrücke<br />

zurück. An ihrer Stelle platzierte man die Slawenapostel Cyril a Metoděj<br />

(Kyrill und Method) von Karel Dvořák von 1928–1938.<br />

Durch die Aufstellung der Wenzelsstatue (1912, enthüllt 1913) von Josef<br />

Václav Myslbek auf dem Wenzelsplatz, die die 1678 aufgestellte und 1879<br />

entfernte Reiterstatue des hl. Wenzel von J. J. Bendl ersetzt, konnten<br />

schließlich auch die Wenzelsstatuen auf der Karlsbrücke, die zunächst mit<br />

der Rekatholisierung in Zusammenhang gebracht wurden, reinterpretiert<br />

werden. Das Reiterstandbild des bewaffneten Fürsten mit Lanze lässt Wenzel<br />

nun mehr als Schutzpatron der tschechischen Nation und weniger als<br />

Vorkämpfer der Rekatholisierung, mehr als kämpfenden Ritter und weniger<br />

als ,servilen‘ Märtyrer erscheinen, wie er – auch auf Grund der Stilisierung<br />

und Inszenierung im Kontext der frühmittelalterlichen Legenden und der<br />

Rekatholisierung der böhmischen Länder – in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

wahrgenommen wurde.<br />

Statuen des heiligen Johann von Nepomuk, der als Sohn deutscher Kolonisten<br />

in Böhmen und als Symbolfigur der im kollektiven Gedächtnis negativ<br />

empfundenen Rekatholisierung von den Tschechen nicht als nationaler Heiliger<br />

wahrgenommen wurde, wurden in den Jahren 1919–1921 – ähnlich<br />

wie andere Sinnbilder der Habsburgischen (,deutschen‘) Herrschaft – entfernt,<br />

beschädigt oder zerstört (vgl. u.a. HOJDA/POKORNÝ 1997: 30, KALLERT<br />

(2003) u.a.m.). Die Nepomuk-Statue auf der Karlsbrücke, der nach der Entstehung<br />

der Tschechoslowakei ebenfalls der Abriss drohte (vgl. HOJ-<br />

Prager Brücken und der nationale Diskurs in Böhmen<br />

DA/POKORNÝ 1997: 26), wurde dadurch – anders als die neu interpretierten<br />

Wenzel-Statuen – isoliert und semiotisch in den Hintergrund gedrängt.<br />

(In diesem Zusammenhang wäre auch die Ersetzung des staatlichen Feiertages<br />

für Johann von Nepomuk durch einen für Jan Hus zu erwähnen.)<br />

Die Karlsbrücke im Protektorat<br />

In Anlehnung an die völkische Ideologie wird Prag in der Protektoratszeit<br />

von Karl Hermann Frank, dem Staatsminister für Böhmen und Mähren,<br />

wiederholt als reichsdeutsche Stadt deklariert. Die nunmehr deutschsprachige<br />

Karlsuniversität (die tschechischen Hochschulen wurden im Jahre 1939<br />

geschlossen) sowie die Karlsbrücke werden propagandistisch als Leistungen<br />

des deutschen bzw. reichsdeutschen Geistes hingestellt. Gerade die Karlsbrücke<br />

wird zur eindrucksvollen und ideologisch ,reinen‘ Kulisse für Inszenierungen<br />

deutscher oder reichsdeutscher Staatsbesuche und -feiern, wie sie<br />

die zeitgenössischen Fotos fixieren (vgl. u.a. KAPLAN/LEDVINKA/ŠLAJ-<br />

CHRT 1999: 15). ,Rein‘ deswegen, weil die Karlsbrücke einer der wenigen<br />

öffentlichen Plätze Prags war, der im 19. und 20. Jahrhundert nur in Details<br />

slavisiert wurde. Die anderen öffentlichen Plätze bekamen in dieser Zeit<br />

eine auf den ersten Blick sichtbare Dominante, die zur tschechischen Nationalkultur<br />

verweist; so etwa der Wenzelsplatz mit der Reiterstatue des slavisch<br />

geprägten hl. Wenzel, der Altstädter Ring mit dem 1915 errichteten<br />

Jan-Hus-Denkmal von Ladislav Šaloun, der Berg Vítkov/Žižkov mit der<br />

riesigen Anlage des Befreiungsdenkmals samt der geplanten und in den<br />

50er Jahren errichteten Reiterstatue von Jan Žižka, das Moldauufer mit dem<br />

im imperialen Neorenaissance-Stil erbauten tschechischen Nationaltheater<br />

in der Nähe der Slaweninsel, die Palackýbrücke mit dem Palacký-Denkmal,<br />

der Platz der Republik mit dem Gemeindehaus und der Allegorie von Prag<br />

als slavischer Libuše usw. Die ,deutschen‘ Denkmäler wurden dagegen in<br />

der Ersten Tschechoslowakischen Republik mehr oder weniger spontan entfernt;<br />

so etwa am 3. November 1918 die 1650 errichtete Mariensäule auf<br />

dem Altstädter Ring, auf dem im Jahre 1621 die Vertreter der aufständischen<br />

Stände hingerichtet wurden, 20 das 1858 enthüllte Radetzky-Denkmal<br />

auf dem Kleinseitner Platz usw. 21<br />

20 HOJDA/POKORNÝ (1997: 28ff.) machen nicht nur auf den Zusammenhang der Aufrichtung<br />

der Mariensäule mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges aufmerksam, sondern<br />

auch auf auf die Schenkung der Marienstatue durch Ferdinand III. als Dank für den<br />

Sieg der Prager über die Schweden in Prag im Jahre 1648. Trotzdem wurde die Mariensäule<br />

im Laufe der Zeit zunehmend als Symbol der Rekatholisierung verstanden.<br />

21 Laut HOJDA/NOVOTNÝ (1997: 52f.) sollte das Denkmal im Jahre 1941 wieder installiert<br />

werden, wozu es schließlich nicht gekommen ist.<br />

179


180<br />

Marek Nekula<br />

Auf der Karlsbrücke als Insel der „reichsdeutschen“ Kultur in Prag, das seit<br />

den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts ethnisch und ikonographisch immer<br />

deutlicher tschechisch-slavisch geprägt wurde, ließen sich daher nicht nur<br />

offizielle Besuche, sondern etwa auch der Trauerzug für Reinhard Heydrich<br />

inszenieren (vgl. u.a. KAPLAN/NOSARZEWSKA 1997: 240n.). In dieser<br />

Inszenierung könnte man eine bewusste Polemik mit dem Begräbnis von T.<br />

G. Masaryk sehen. Masaryk wurde beim Begräbnis u.a. auch dadurch geehrt,<br />

dass der Trauerzug zwar in entgegensetzter Richtung, doch gerade bis<br />

hin zur Karlsbrücke dem von Karl IV. institutionalisierten Königs- und<br />

Krönungsweg folgte (vgl. BOLTON 2005). Durch Heydrichs „reichsdeutsches“<br />

Begräbnis wollte man die „königliche“ Inszenierung und Interpretation<br />

des Begräbnisses von T. G. Masaryk überschreiben. Dies zeigt die Bedeutung,<br />

welche der Tradition des Kaisers Karl IV. – in Opposition zur<br />

tschechischen Tradition des Königs Karel I. – im Protektorat beigemessen<br />

wurde. Dies wird auch bei dem Diskurs über die Karls-Universität deutlich.<br />

Eine repräsentative deutsche Publikation über die Karls-Universität aus dem<br />

Jahre 1943, benannt Prag und das Reich (vgl. WOLMAR 1943), deklariert<br />

die Karls-Universität als eine reichsdeutsche Universität, deren „wahrer“<br />

Charakter im Volkstumkampf gegen die tschechischen Nationalisten verteidigt<br />

werden musste. Das Buch ist übrigens „dem im Kampf um die Sicherung<br />

der historischen Reichslande Böhmen und Mähren gefallenen SS-<br />

Obergruppenführer Reinhard Heydrich“ gewidmet.<br />

Nun wurde hier gesagt, dass die Person Karls und dadurch die Bezeichnung<br />

„Karlsbrücke“ zwei Deutungen zuließ: „kaiserlich“, aus der Perspektive des<br />

19. Jahrhunderts „reichsdeutsch“ (Karl IV.), und „königlich“, „böhmisch“<br />

(Karel I.). Diesem Attribut „königlich“, „böhmisch“ sind wir am Anfang<br />

dieses Beitrags im Zusammenhang mit der Judithbrücke, der „Steinernen<br />

Brücke“ begegnet.<br />

Mit der Bezeichnung „Kamenný most“ (Steinerne Brücke) für die Karlsbrücke,<br />

die so viel bedeutet wie die „königliche“, „böhmische“ – oder eben<br />

auch „tschechische“ – Brücke, tritt die tschechische Kunst in die Auseinandersetzung<br />

mit der völkischen Propaganda und später mit der offiziellen<br />

Propaganda des Staatsministers für Böhmen und Mähren ein. In die Steinerne<br />

Brücke und in das steinerne Prag, die der Zeit widerstehen und sich<br />

als nicht vergänglich erweisen, wird die Hoffnung projiziert, dass die tschechische<br />

Nation und Kultur dem Ansturm der „Reiter der Apokalypse“ – so<br />

František Halas in seinem Gedicht Praze (An Prag) aus Torso naděje (Torso<br />

der Hoffnung, 1938) – widerstehen werden, ähnlich wie die Brücke und die<br />

Stadt, die als Leistungen des tschechischen Geistes wahrgenommen werden,<br />

der Zeit widerstehen.<br />

Von der im Protektorat greifenden Zensur wurde diese ablehnende Haltung<br />

Prager Brücken und der nationale Diskurs in Böhmen<br />

gegenüber der völkischen Propaganda nicht erkannt, von den Lesern schon.<br />

Indem man sich zum steinernen Prag und zur königlichen Steinernen Brükke<br />

bekennt, die als integraler Teil der eigenen Geschichte und Kultur und<br />

als Ausdruck der kulturellen und politischen Autonomie wahrgenommen<br />

wird, beschränken Halas und andere mehr die Wertschätzung Karls auf den<br />

böhmischen, „tschechischen“ König, 22 was als Ablehnung der völkischen<br />

Ideologie zu deuten ist, die Kaiser Karl IV. als Ikone des „Reiches“ deutet.<br />

So erklärt sich, dass von František Halas’ Gedichtband Torso naděje (Torso<br />

der Hoffnung) mit dem Gedicht Praze (An Prag) im Protektorat etwa<br />

10.000 Exemplare verkauft wurden und dass Jaroslav Seiferts Gedichtband<br />

Kamenný most (Steinerne Brücke, 1944) siebenmal illegal nachgedruckt<br />

wurde (vgl. DOLEŽAL 1996: 136).<br />

Ausblick<br />

Die Brücken, in denen wir im Zusammenhang mit der Europäischen Union<br />

die Metapher des Verbindenden erkannt haben, zeigten sich im Böhmen des<br />

ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Orte, an denen<br />

die deutsch-tschechische sprachnationale Polarisierung besonders sichtbar<br />

wurde. Dies war auch der Grund, warum Franz Kafka gerade die Brücke als<br />

Ort des Scheiterns möglicher (jüdischer) Gegenentwürfe wahrnahm.<br />

Im Laufe des 20. Jahrhunderts verändern sich die Prager Brücken. Die nationale<br />

Polarisierung prägt sie immer weniger. Die Karlsbrücke wird allmählich<br />

slavisiert und mit der Vertreibung der Deutschen werden Träger<br />

einer Gegenlektüre bzw. einer komplexeren Lektüre Karls und der Karlsbrücke<br />

sowie der böhmischen Geschichte gewaltsam verdrängt (zu einer<br />

etwas weiter aufgefassten Tradition Karls IV. bekennen sich zumindest<br />

durch den Namen etwa das Collegium Carolinum oder der Europäische<br />

Karlspreis der Sudetendeutschen Landsmannschaft). Die Palackýbrücke<br />

verliert im Jahre 1946 durch die Entfernung der 1945 beschädigten Statuen,<br />

die auf den Vyšehrad überführt wurden, ihre tschechoslavisch-nationale<br />

Emblematik, wodurch sich die Polarisierung zwischen Palackýbrücke und<br />

Karlsbrücke auflöst.<br />

So wird die Karlsbrücke nach der Wende im Jahre 1989 gar zum Symbol<br />

des deutsch-tschechischen Zusammenlebens, wie auf dem Umschlag des<br />

Bandes Deutsche und Tschechen (Abbildung der Menschenmenge auf der<br />

hell beleuchteten Karlsbrücke; vgl. KOSCHMAL/NEKULA/ROGALL<br />

2003) oder auf dem Umschlag des deutschen und tschechischen Jahresbe-<br />

22 In diesen Kontext gehört auch die demostrative Ausgabe der tschechischen Übersetzung<br />

von Vita Caroli, in der sich Karl zur Přemyslidischen Tradition bekennt. – Vgl. PASÁK<br />

(1999: 256)<br />

181


182<br />

Marek Nekula<br />

richtes des Automobilwerks Škoda-Auto aus dem Jahr 1993. So wird ein<br />

Škoda, die traditionelle „tschechische“ Automobilmarke, die im Jahr 1991<br />

vom deutschen Konzern Volkswagen Group übernommen wurde, auf dem<br />

Umschlag des Jahresberichtes vor der Karlsbrücke aufgenommen. Die<br />

Doppelgestalt Karls und der Karlsbrücke als der kaiserlichen („deutschen“)<br />

und der königlichen („tschechischen“) Brücke kommt hier sehr wohl zum<br />

Tragen, im Unterschied zur früheren Zeit tritt jedoch die Semantik der<br />

Brücke als Symbol des Verbindenden in den Vordergrund. In Karl und in<br />

der Karlsbrücke wird die „böhmische“ Synthese der beiden sprachnationalen<br />

Kulturen erkannt und versinnbildlicht. Als solche Synthese versucht sich<br />

auch das Automobilwerk Škoda zu präsentieren, in dem sich der traditionelle<br />

„tschechische“ Automobilhersteller und der „deutsche“ Konzern zusammengefunden<br />

haben, um in einem symmetrisch und harmonisch dargestellten<br />

Unternehmen mit Synergieeffekten ein gemeinsames Produkt<br />

herzustellen. Auch hier steht die Brücke für das Verbindende, auf das auch<br />

die Ikonographie der Europäischen Union zurückgreift. Es bleibt nur die<br />

Hoffnung, dass das Trennende in jeder Hinsicht überwunden wird und<br />

überwunden bleibt.<br />

Literatur<br />

ADLHOCH, Gabriele/JOIST, Christa/KAMP, Michael (1986): Die Einzüge.<br />

– In: K. Möseneder (Hg.), Feste in <strong>Regensburg</strong>. Von der Reformation<br />

bis in die Gegenwart. <strong>Regensburg</strong>: Mittelbayerische Druck- und Verlagsgesellschaft,<br />

31–42.<br />

ASSMANN, Aleida/HARTH, Dietrich (Hgg.) (1991): Kultur als Lebenswelt<br />

und Monument. Frankfurt/Main: Fischer Wissenschaft.<br />

BERNING, Benita (2001): Die böhmischen Königskrönungen in der<br />

Frühen Neuzeit im Spannungsfeld von Dynastie, Ständemacht und Konfession.<br />

München: Historisches Seminar der LMU (Magisterarbeit).<br />

BINDER, Hartmut (1975/1986): Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen.<br />

München: Winkler Verlag.<br />

BOLTON, Jonathan (2005): Mourning Becomes the Nation: The Funeral of<br />

Tomáš Masaryk in 1937. – In: Bohemia 46, 2005, Manuskript.<br />

BROD, Max /KAFKA, Franz (1989): Eine Freundschaft. Briefwechsel. Hg.<br />

v. M. Pasley. Bd. 2. Frankfurt/Main: S. Fischer.<br />

COSMAS (1923): Die Chronik der Böhmen des Cosmas von Prag. Hg. v.<br />

Bertold Bretholz. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung.<br />

Prager Brücken und der nationale Diskurs in Böhmen<br />

COSMAS (1885): Des Dekans Cosmas Chronik von Böhmen. Übers. v. Georg<br />

Grandauer. Leipzig: Verlag von franz Duncker.<br />

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Arnošt Kraus’ Monographie über Bjørnson und Ibsen<br />

Martin Humpál<br />

Arnošt Kraus’ Arbeit auf dem Gebiet der Nordistik ist sehr vielfältig. Seine<br />

skandinavischen Studien und Artikel erstrecken sich thematisch von Linguistik<br />

und Musik- und Literaturgeschichte bis hin zu Ökonomie und Landwirtschaft.<br />

Als begeisterter Propagandist des Nordens wurde Kraus nicht<br />

nur als Wissenschaftler und Pädagoge berühmt, sondern auch durch Veröffentlichungen<br />

von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln, als Übersetzer und<br />

Organisator verschiedener Veranstaltungen, die mit Skandinavien in Zusammenhang<br />

standen, wie zum Beispiel ein Ausflug tschechischer Landwirte<br />

nach Dänemark oder aktive Mitarbeit in der Tschechoslowakischdänischen<br />

Gesellschaft. In den nordischen Ländern war er als unermüdlicher<br />

Propagandist der Tschechoslowakei berühmt, einerseits während seiner<br />

Tätigkeit als tschechoslowakischer Botschafter kurz nach dem Ersten Weltkrieg,<br />

andererseits durch seine Vorträge und publizistische Aktivität. Sein<br />

Bestreben um allseitige Annäherung der Tschechoslowakei und der nordischen<br />

Länder wurde von Dänemark und Norwegen durch die Verleihung<br />

von Verdienstorden – des dänischen „Dannebrogsorden“ und des norwegischen<br />

„St. Olavs Orden“ – anerkannt. Die drei bedeutendsten nordistischen<br />

Arbeiten Kraus’ sind: Dánsko, jeho hmotná a duševní kultura (1908, Dänemark,<br />

seine materielle und geistige Kultur), Bjørnson a Ibsen (1913,<br />

Bjørnson und Ibsen) und Smetana v Göteborgu (1925, Smetana in Göteborg).<br />

Das zweite der genannten Werke ist der wichtigste Beitrag Kraus’<br />

zum tschechischen Studium der nordischen Literatur.<br />

Aus heutiger Sicht ist das Buch Bjørnson und Ibsen ein typisches Produkt<br />

seiner Zeit, als die Auffassung von Literatur immer noch durch die Errungenschaften<br />

positivistischer und biographischer Methoden des 19. Jahrhunderts<br />

bestimmt war. Im Mittelpunkt des Interesses der Literaturwissenschaftler<br />

stand nicht das Werk als autonomer Gegenstand der Forschung,<br />

sondern eher die Persönlichkeit des Autors als Schöpfer einer gewissen Projektion<br />

der gesellschaftlichen Realität. Diese Orientierung bestimmt den<br />

ganzen Charakter der Studie Kraus’ und, wie wir später sehen werden, auch<br />

deren Schlussfolgerungen.<br />

Die Monographie umfasst das ganze Leben beider Schriftsteller und diesem<br />

wird mehr Aufmerksamkeit gewidmet als ihrem Werk. Davon, dass im Mittelpunkt<br />

von Kraus’ Interesse in erster Reihe der Schriftsteller als solcher<br />

steht, zeugen seine ständigen Hinweise auf biographische Details und gegenwärtige<br />

sowie zeitlich entferntere historische Ereignisse. Es scheint, als<br />

solle die Studie vor allem zeigen, wie Geschichte und Gesellschaft die Per-


188<br />

Martin Humpál<br />

sönlichkeit des Autors formen. Diese Auffassung ist schon im ersten der<br />

insgesamt sechs Kapitel der Studie bemerkbar, welches sich umfangreich<br />

mit der Geschichte Norwegens mit dem Ziel befasst, sozusagen einen historischen<br />

Geist des norwegischen Volkes bis zur Zeit der Geburt Bjørnsons<br />

und Ibsens aufzuzeichnen. Der Leser erfährt vieles über Wikinger, mittelalterliche<br />

Herrscher, Natur und die geographische Lage Norwegens, inklusive<br />

der Angaben über geographische Breiten und Längen. Ähnlich detailverliebt<br />

beschreibt Kraus auch die Lebensstationen, wie Geburt, Kindheit und<br />

Schuljahre der beiden Schriftsteller, was bisweilen beinahe komisch wirkt.<br />

Zum Beispiel reicht Bjørnsons Stammbaum bis ins Jahr 1676, also mehr als<br />

anderthalb Jahrhunderte vor seiner Geburt, zurück und von Ibsen erfahren<br />

wir unter anderem, dass er als Kind „s věže kostelní díval se na město z<br />

náručí chůvy a zděsil matku“ [vom Kirchturm in den Armen seiner Amme<br />

auf die Stadt blickte und seine Mutter erschreckte] (16).<br />

Mit diesen Beispielen will ich die detaillierte Zeitbeschreibung nicht gering<br />

schätzen und dies nicht nur deshalb, weil sie im Ganzen gut begründet ist<br />

und von bemerkenswert breiten Kenntnissen zeugt. In einer allgemeinen<br />

Monographie über Bjørnson und Ibsen ist eine detaillierte Beschreibung des<br />

gesellschaftlichen Hintergrunds durchaus wichtig. Beide Autoren lebten und<br />

schrieben schließlich in einer Epoche, die für ihr Land einzigartig war. Im<br />

Jahre 1814 befreite sich Norwegen von der dänischen Vorherrschaft, die<br />

mehr als vier Jahrhunderte angedauert hatte, bekam eine eigene Verfassung,<br />

Autonomie innerhalb der Union mit Schweden und wurde dann endlich im<br />

Jahr 1905 selbstständig. Bjørnson und Ibsen, beide um 1830 geboren<br />

(Bjørnson 1832, Ibsen 1828) und bald nach 1905 verstorben (Bjørnson<br />

1910, Ibsen 1906), lebten und schrieben in der Zeit der norwegischen nationalen<br />

Wiedergeburt, der Suche norwegischer kultureller Identität und der<br />

Schaffung eines modernen politischen Systems, mit anderen Worten, in einer<br />

Zeit stürmischer historischer Entwicklung, während der das vergleichsweise<br />

provinzielle Norwegen bemüht war, in mehrerer Hinsicht Europa einzuholen.<br />

Der Einfluss dieser Ereignisse auf das Schaffen beider<br />

Schriftsteller ist enorm. Kraus behauptet sogar, dass diese Situation sie mit<br />

der besonderen Aufgabe beauftragt hätte „spasiti norský lid“ [das norwegische<br />

Volk zu erlösen] (KRAUS 1913: 142). Das ist selbstverständlich übertrieben,<br />

aber es sagt viel über die Position norwegischer Schriftsteller in<br />

dieser Zeit aus. Die Bedeutung der Werke Bjørnsons und Ibsens können wir<br />

deshalb ohne ausreichende Kenntnisse über ihr Leben und die damaligen<br />

gesellschaftlichen Verhältnisse nicht vollständig begreifen. Zum Beispiel<br />

können Informationen über die soziale Aufgabe des Theaters in dieser Epoche<br />

den Wandel der Themen sowie formale Änderungen in den Werken von<br />

Bjørnson und Ibsen erklären. Bjørnsons frühe Prosa ist von dem ehemaligen<br />

Arnošt Kraus’ Monographie über Bjørnson und Ibsen<br />

Streit um die Gestaltung der norwegischen Schriftsprache nicht wegzudenken.<br />

Wir können Bjørnsons Bedeutung für die norwegische Literatur nicht<br />

entsprechend einschätzen, ohne seine politische und überhaupt seine öffentliche<br />

Tätigkeit in Betracht zu ziehen. Ibsens langes freiwilliges Exil, während<br />

dessen er manche seiner besten Werke geschrieben hat, hängt in großem<br />

Maße mit seiner Enttäuschung über die Ereignisse des Jahres 1864<br />

zusammen, als Norwegen und Schweden im Krieg um Schleswig und Holstein<br />

Dänemark nicht halfen, obwohl Norwegen bis zu diesem Zeitpunkt<br />

von der Idee des Skandinavismus geradezu berauscht war. Von all dem<br />

schreibt Kraus und lässt kein wesentliches historisches Ereignis aus, er stellt<br />

somit ein adäquates Bild dieser Zeit und ihres formenden Einflusses auf<br />

beide Schriftsteller zusammen. 1<br />

Die Studie ist weitgehend chronologisch, aber der Autor bewegt sich frei,<br />

nach eigenem Urteil und Bedarf, zwischen den einzelnen Themen, was nicht<br />

immer ideal ist, da seine Hinweise manchmal für den uneingeweihten Leser<br />

schwer verständlich sind. Diese Methode ist jedoch produktiv, sobald Kraus<br />

die direkten Parallelen und Unterschiede zwischen den Autoren behandelt.<br />

Der Vergleich Bjørnsons mit Ibsen und umgekehrt ist sehr aufschlussreich,<br />

denn beide behandelten oft zur gleichen Zeit dasselbe Thema jedoch in unterschiedlicher<br />

Art und Weise. Der Vergleich ist umso interessanter, da ihre<br />

Persönlichkeiten ausgesprochene Gegenpole sind. Offensichtlich ist diese<br />

Methode gerade deshalb sehr illustrativ und für den Leser attraktiv. Norwegische<br />

Literaturgeschichten unterlassen es nie, die grundsätzlichen Charakterunterschiede<br />

beider Autoren zu erwähnen: Bjørnson ist extrovertiert, optimistisch,<br />

eine öffentliche Person, ein Mann der Tat, dessen Werke oft die<br />

Lösung gesellschaftlicher Probleme andeuten, während Ibsen introvertiert,<br />

pessimistisch, auf das Privatleben orientiert ist, der in seinen Werken Fragen<br />

stellt, ohne Antworten anzudeuten. Kraus bietet diese Parallele ebenfalls an.<br />

Als Kulturhistoriographie ist die Studie also im Allgemeinen gelungen.<br />

Wenn Kraus die Werke Bjørnsons und Ibsens analysiert, weist er richtig auf<br />

die Idealisierung der Bauern in Bjørnsons frühen Texten hin (KRAUS 1913:<br />

34); widmet dem Einfluss der Sagaerzählung auf frühe Arbeiten beider Autoren<br />

viel Aufmerksamkeit (KRAUS 1913: 34, 42); findet eine Parallele<br />

zwischen dem politischen Kampf in Ibsens historischem Drama Kongs-<br />

1 In manchen seiner Behauptungen irrt sich Kraus aber. Als Beispiel kann seine verborgene<br />

Befürchtung dienen, dass „riksmål“, basierend auf norwegisiertem Dänisch, in<br />

welchem Bjørnson schrieb, in Zukunft durch „landsmål“, heutiges „nynorsk“, einer<br />

künstlich auf der Basis norwegischer Dialekte gebildeten Hochsprache, verdrängt wird<br />

(KRAUS 1913: 129). Die Entwicklung gab Kraus nicht recht, der Prozess verlief eher<br />

umgekehrt: das heutige „bokmål“, eine Weiterentwicklung des „riksmål“, verdrängt<br />

„nynorsk“ langsam.<br />

189


190<br />

Martin Humpál<br />

emnerne (Die Kronprätendenten) und Ibsens eigenem künstlerischen<br />

Kampf. Beim Vergleich von Ibsens Nora (aus Ein Puppenheim – Et dukkehjem)<br />

und Bjørnsons Leonarda (aus Leonarda) vertritt er die Meinung, dass<br />

Nora eben nicht in gleichem Maße den Typus einer absolut positiven und<br />

idealisierten Frau repräsentiert wie Leonarda. Die Qualität von Ibsens Drama<br />

sieht er gerade darin, dass es eine realistischere Schilderung der Stellung der<br />

Frau in der damaligen Gesellschaft bietet, indem es aufzeigt, wie diese Gesellschaft<br />

die Frau nach ihren Vorstellungen gestaltet (KRAUS 1913: 80, 82).<br />

Trotz vieler Vorzüge dieser Art befriedigen jedoch die Interpretationen<br />

mancher Werke nicht. Zu oft geht es nur um eine Nacherzählung der Handlung,<br />

eventuell um die Erwähnung der Reaktionen des damaligen Publikums.<br />

2 Die kritischen Urteile von Kraus sind manchmal sehr subjektiv, ohne<br />

fundierte Argumente. Er behauptet z. B., dass Ibsen im Drama De unges<br />

forbund (Der Bund der Jugend) „tolik plýtval motivy“ [so viele Motive verschwendete]<br />

(KRAUS 1913: 81), ohne dies genauer auszuführen. Verblüffend<br />

ist Kraus’ Interpretation von Ibsens Die Komödie der Liebe (Kjærlighedens<br />

komedie): „Terčem této satiry není nikdo menší než láska sama –<br />

nebo: zamilovanost jako živel společenský – nebo bereme-li Komedii lásky<br />

za první článek v řadě dramat: Láska v Norsku“ [Die Zielscheibe dieser<br />

Satire ist niemand geringerer als die Liebe selbst – oder: Das Verliebtsein<br />

als gesellschaftliches Element – oder, wenn wir die Komödie der Liebe als<br />

erstes Glied in der Reihe der Dramen auffassen: Die Liebe in Norwegen]<br />

(KRAUS 1913: 72). Wie Votavová (1973: 23) richtig bemerkt, begeht<br />

Kraus hier „hrubé zjednodušení, zevšeobecnění, které není na místě. Vždyť<br />

přece láska jako taková, či zamilovanost neposkytují důvod k ostré kritice<br />

a reformě“ [eine grobe Vereinfachung, Generalisierung, die fehl am Platze<br />

ist. Die Liebe an sich, oder das Verliebtsein liefern doch keinen Grund zur<br />

scharfen Kritik und Reform]. Es stimmt zwar, dass das Drama unter anderem<br />

den Anspruch auf absolute Liebe ironisiert (siehe z. B. NORTHAM<br />

1973: 10–31), aber die Liebe an sich ist kaum die Zielscheibe von Ibsens<br />

Satire. Ibsens Drama Vildanden (Die Wildente) gibt Kraus (1913: 89) die<br />

dubiose Bezeichnung „Komödie“. Dieses Drama beinhaltet gewiss viele<br />

2 Vom tschechischen Standpunkt aus ist Kraus’ Anmerkung, wie Ibsens Drama En folkefiende<br />

(Ein Volksfeind) auf Grund des Kampfes um die Anerkennung der Unechtheit der<br />

Handschriften Rukopis královédvorský a zelenohorský in Prag angenommen wurde, interessant:<br />

„Boj Stockmannův (…) je tak obecný, že při provozování v Praze s pravým<br />

úžasem jsme poznávali boj rukopisný v boji o očistu lázní, z něhož vzchází boj o očistu<br />

celé společnosti“ [Stockmanns Kampf (...) ist so allgemein, dass wir bei der Aufführung<br />

in Prag mit wahrem Staunen den Handschriftenkampf im Kampf um die Säuberung des<br />

Bades erkannten, woraus der Kampf um die Säuberung der ganzen Gesellschaft hervorgeht]<br />

(KRAUS 1913: 86).<br />

Arnošt Kraus’ Monographie über Bjørnson und Ibsen<br />

komische Elemente und deshalb kann in gewissem Sinne von einer Tragikomödie<br />

die Rede sein. Das Ende des Stücks ist allerdings eindeutig tragisch,<br />

es endet mit dem Tod eines unschuldigen Kindes und deshalb muss<br />

man Young zustimmen, nach dessen Meinung Die Wildente „cannot in any<br />

acceptable sense be described as a comedy“ (YOUNG 1994: 65). Laut einem<br />

weiteren fraglichen Urteil von Kraus (1913: 90) in Ibsens Drama Rosmersholm<br />

„není (…) symbolu“ [gibt es kein (...) Symbol]. Rosmersholm ist<br />

eines der kompliziertesten Dramen Ibsens, das zu seiner Zeit mit großer<br />

Ratlosigkeit aufgenommen wurde, das man heute aber für eines seiner modernsten<br />

Dramen hält, welches komplexe Symbole beinhaltet, die auf die<br />

Psychologie des Unbewussten hinweisen.<br />

Dies sind einige konkrete Probleme zur Interpretation einzelner Dramen.<br />

Was die Arbeit als Ganzes betrifft, kann man sagen, dass ihr eine generelle<br />

Erfassung der Werke beider Schriftsteller im Rahmen des literarhistorischen<br />

Begriffssystems fehlt. Deshalb kann man kaum ein Kriterium finden, wonach<br />

Kraus einzelnen Werken hier mehr, da weniger Aufmerksamkeit widmet.<br />

Am frappantesten fällt dies im Falle von Ibsens Drama Peer Gynt auf,<br />

das im Kanon der norwegischen Literatur einen ähnlichen Status hat wie<br />

Goethes Faust in der deutschen Literatur, dem aber Kraus nur einen Absatz<br />

widmet (KRAUS 1913: 65–66), während er andere, schwächere Werke auf<br />

mehreren Seiten analysiert. Was Ibsens späte Produktion der neunziger Jahre<br />

betrifft, nach Hedda Gabler, da ist sich Kraus des Unterschiedes gegenüber<br />

der vorherigen Produktion Ibsens bewusst, aber er ist sich nicht ganz<br />

sicher, wie er sie klassifizieren soll. Das könnte man allerdings dadurch erklären,<br />

dass er sich mit einer relativ jungen Vergangenheit auseinander<br />

setzt; außerdem muss man gestehen, dass die Literaturwissenschaftler sich<br />

bis heute streiten, wie der späte Ibsen zu klassifizieren ist.<br />

In der Arbeit fehlt allerdings eine Abhandlung über die Ästhetik des dramatischen<br />

Realismus und Ibsens innovativen Beitrag auf diesem Gebiet. Dieser<br />

Mangel verursacht eine kontroverse literarische Einordnung beider Autoren:<br />

Bjørnson ist laut Kraus Realist, während er in Ibsen einen Romantiker sieht<br />

(KRAUS 1913: 94–95). Die Bezeichnung Romantiker für Ibsen ist das problematischste<br />

Element in Kraus’ Studie. Obwohl man manche frühen Werke<br />

Ibsens für romantisch halten kann und obwohl manche seiner späteren Dramen<br />

romantische Elemente enthalten, kann man den Hauptteil seines Werkes,<br />

den Teil, der ihn berühmt machte und bis heute lebendig ist, schwer für romantisch<br />

halten. Sogar die zwei bedeutendsten vorrealistischen Dramen<br />

Brand und Peer Gynt halten manche Kritiker für stark antiromantisch. 3 Was<br />

führt also Kraus zu einer solchen Etikettierung von Ibsen?<br />

3 Siehe z. B. BEYER (1980: 62, 66, 78, 80). Beyer behauptet, dass Ibsen sich schon im<br />

191


192<br />

Martin Humpál<br />

Das einzige konkrete Argument, welches Kraus anbietet, lautet folgendermaßen:<br />

In einer Reihe von Gegenwartsdramen, die eine kritische Stellung<br />

zu gesellschaftlichen Problemen haben, unterscheiden sich Bjørnsons Stükke<br />

von Ibsens<br />

prostotou děje, hlavně nedostatkem minulosti, která se teprv odhaluje. U Ibsena […] skoro<br />

vždy za dějem, který se tak zázračně přirozeně odehrává před námi, je romantika, dobrodružství,<br />

tajná historie, která se odhaluje a je neobyčejná. (KRAUS 1913: 94)<br />

durch die Einfachheit der Handlung, vor allem durch den Mangel an Vergangenem, das erst<br />

enthüllt wird. Bei Ibsen [...] stehen Romantik, Abenteuer, eine geheimnisvolle Geschichte, die<br />

sich enthüllt und ungewöhnlich ist, fast immer hinter der Handlung, die sich so wunderbar<br />

natürlich vor uns abspielt.<br />

Dies ist zwar eine richtige Bemerkung, kann aber nicht als Argument dienen,<br />

Ibsens Werk als romantisch zu bezeichnen. Eine bloße Identifikation<br />

der Romantik mit „Abenteuer“ und „Geheimnis“ genügt nicht zur Definition<br />

der Romantik als literarhistorischen Begriff. Außerdem sind in Ibsens<br />

realistischen Dramen romantische Elemente tatsächlich eher „hinter der<br />

Handlung“, wie Kraus selbst bemerkt, als dass sie ein entscheidender Faktor<br />

der literarischen Klassifizierung dieser Dramen sein könnten.<br />

Kraus’ Kategorisierung stützt sich jedoch meiner Meinung nach nicht auf<br />

dieses schwache Argument, die eigentliche Begründung ist auf den letzten<br />

Seiten der Studie zu finden, in denen Kraus seine Gesamtansicht zu beiden<br />

Autoren zusammenfasst:<br />

Ibsen měl od začátku nedosažitelný cíl, a proto neomezil se ani v požadavku individuální svobody,<br />

[…], každá hodnota společenská musí se mu zpovídat a klást účet ze své existence a<br />

málokterá obstojí, vlastně žádná […]. Tak Ibsen […] stává se velkým osvobozovatelem, velkým<br />

kritikem společnosti evropské, ba lidské, velkým tazatelem, velkým bořitelem […].<br />

Björnson [sic] má dosažitelný cíl […]. [J]eho boje mají ráz dobrovolného omezení, utkvění na<br />

dosažitelném, smíru s neodčinitelným. (KRAUS 1913: 142)<br />

Ibsen hatte von Anfang an ein unerreichbares Ziel, daher beschränkte er sich nicht einmal in<br />

dem Anspruch auf individuelle Freiheit [...], jeder gemeinschaftliche Wert wird von ihm hinterfragt<br />

und muss über seine Existenz Rechenschaft ablegen, und nur wenige bestehen, eigentlich<br />

keiner [...]. So wird Ibsen [...] zum großen Befreier, zum großen Kritiker der europäischen, gar<br />

der menschlichen Gesellschaft, zum großen Fragesteller, zum großen Zerstörer [...]. Björnson<br />

[sic] hat ein erreichbares Ziel [...]. Seine Kämpfe haben den Charakter von freiwilliger Einschränkung,<br />

von Haften am Erreichbaren, von Aussöhnung mit dem Nichtwiedergutzumachenden.<br />

Gerade in dieser Schlussbewertung sollte man die Ursache dessen suchen,<br />

warum Kraus Ibsen als Romantiker und Bjørnson als Realisten bezeichnet.<br />

Jahr 1864, d.h. vor der Entstehung von Brand und Peer Gynt, völlig gegen die skandinavische<br />

Romantik stellt („his now total opposition to Scandinavian romanticism“,<br />

BEYER 1980: 50).<br />

Arnošt Kraus’ Monographie über Bjørnson und Ibsen<br />

Wie ich am Anfang zur Methode bemerkt habe, definiert Kraus im Buch<br />

vor allem die Persönlichkeiten der Schriftsteller, nicht ihre Werke an sich.<br />

Diese Tatsache wird auch aus dem vorherigen Zitat ersichtlich. Es handelt<br />

sich hier nicht um eine Klassifizierung von literarischen Strömungen oder<br />

Methoden, sondern um eine Definition der persönlichen Stellungnahme<br />

beider Autoren: Unter Romantik versteht Kraus hier übermäßigen Idealismus,<br />

während er unter Realismus eine nüchterne, vielleicht pragmatische<br />

Einstellung zur Welt versteht. Es stimmt, dass wir die Wörter „Romantiker“<br />

und „Realist“ üblicherweise in diesem Sinne gebrauchen und dass, als Beschreibung<br />

der persönlichen Eigenschaften beider Autoren, diese Charakteristiken<br />

in gewissem Maße berechtigt sind (obwohl optimistische Lösungen<br />

gesellschaftlicher Probleme, die in Bjørnsons Werk angedeutet werden eher<br />

dafür sprechen, ihn als Idealisten zu bezeichnen) 4 . Dennoch zeigt gerade<br />

diese Kategorisierung von Kraus am besten die Schwächen der überwiegend<br />

biographisch orientierten Studie: Als literarhistorische Fachausdrücke<br />

sind die so definierten Begriffe Romantik und Realismus gänzlich irreführend.<br />

Ohne Zweifel gilt der bedeutendste Teil von Ibsens Werk als Eckpfeiler<br />

des realistischen Dramas. Bjørnson ist ebenfalls überwiegend Realist,<br />

jedoch nicht deshalb, weil er „erreichbare Ziele“ beschreibt, sondern aufgrund<br />

seiner realistischen Methode. Deshalb sind die Abwesenheit einer<br />

operativen Definition des Realismus, als literarische Strömung oder Methode,<br />

und die folglich unpassende Bezeichnung Ibsens als Romantiker zweifellos<br />

der bedeutendste Mangel der ansonsten gelungenen Monographie von<br />

Arnošt Kraus.<br />

Literatur<br />

BEYER, Edvard (1980): Ibsen: The Man and His Work. Übers. Marie<br />

Wells. New York: Taplinger.<br />

KRAUS, Arnošt (1913): Björnson [sic!] a Ibsen. Prag: Otto.<br />

NORTHAM, John (1973): Ibsen: A Critical Study. Cambridge: Cambridge<br />

University Press.<br />

ROSSEL, Sven H. (1982): A History of Scandinavian Literature 1870–<br />

1980. Übers. Anne C. Ulmer. Minneapolis: University of Minnesota Press.<br />

4 Bjørnsons Idealismus stellen viele fest. Rossel (1982: 31) behauptet sogar: „Because of<br />

the idealism in his work, he was the first Scandinavian to receive the Nobel Prize for literature<br />

in 1903“.<br />

193


194<br />

Martin Humpál<br />

VOTAVOVÁ, Anna (1973): Arnošt Kraus a počátky české skandinavistiky.<br />

[Arnošt Kraus und die Anfänge der tschechischen Skandinavistik]. Magisterarbeit<br />

an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität.<br />

YOUNG, Robin (1994): Ibsen and Comedy. – In: James McFarlane (Hg.),<br />

The Cambridge Companion to Ibsen. Cambridge: Cambridge University<br />

Press, 58–67.<br />

Aus dem Tschechischen von Barbara Bresslau<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei<br />

(1918–1938) im Spannungsfeld zwischen Staat und Volksgruppe<br />

Mirek Němec<br />

1. Einleitung<br />

In der neueren Nationalismusforschung wird der Institution Schule ein entscheidender<br />

Stellenwert für die Entstehung und Ausformung einer „imagined<br />

community“ eingeräumt (ANDERSON 1993, vor allem S. 76 und 115–141;<br />

HOBSBAWM 1992, hier vor allem S.110f. und 115.). Eine Untersuchung der<br />

Affinitäten zwischen Schule und nationaler Idee kann beitragen, das Verhältnis<br />

zwischen Vielvölkerstaat und ethnischen Minderheiten zu beleuchten.<br />

Es ist überraschend, dass dieser Forschungsansatz zwar in mehreren<br />

Arbeiten über die österreichisch-ungarische Monarchie zur Geltung kam 1 ,<br />

aber bei der Erforschung der nach dem Zerfall des Habsburgerstaates entstandenen,<br />

ebenfalls multinationalen und multikulturellen Staaten Ost- und<br />

Mitteleuropas nur wenig berücksichtigt wurde. Dieser Befund gilt auch für<br />

die wissenschaftlichen Arbeiten zur ersten Tschechoslowakischen Republik<br />

(ČSR). 2 Nur wenige wissenschaftliche Abhandlungen behandeln das Schulwesen<br />

der Elementar- und Sekundärstufe in Böhmen, Mähren und Schlesien<br />

der Zwischenkriegszeit, 3 wobei sie sich entweder mit der Organisation und<br />

Form des deutschen Schulwesens befassen oder statistische Daten aufführen<br />

mit dem Ziel, die staatliche Schulpolitik und ihre Auswirkungen auf die<br />

ethnischen Minderheiten qualitativ zu bewerten. Dagegen gibt es so gut wie<br />

keine sozialgeschichtlich orientierte Arbeit, die sich mit dem Thema Schulwesen<br />

auseinander setzte, obwohl gerade die Schule als identitätsbildender<br />

staatlich gelenkter Integrationsfaktor in den Auseinandersetzungen multi-<br />

1 Zur Schulfrage in Österreich–Ungarn siehe vor allem BURGER (1995) und<br />

PUTTKAMER (2003).<br />

2 Hier standen bisher vor allem die beiden Prager Universitäten im Mittelpunkt der aktuellen<br />

historischen Forschung. Vgl. LEMBERG (2003), MAREK (2001),<br />

GLETTLER/MÍŠKOVÁ (2001).<br />

3 Das deutsche Schulwesen wird aus sudetendeutscher Sicht beschrieben im Sammelband<br />

von KEIL (1967). Neue Aufsätze deutscher Historiker siehe (REICH 1995: 19–38). In<br />

diesem Artikel wird vom Autor der Akzent auf die tschechoslowakische Gesetzgebung<br />

und ihre Auswirkung auf die deutschen Schulen in der ersten Tschechoslowakischen<br />

Republik gelegt (MITTER 1988: 82–94; 1991: 211–232). Mit den deutschen Lehrerverbänden<br />

in der ČSR beschäftigte sich IRGANG (1977: 273–287). Von tschechischer Seite<br />

wurde das Thema des deutschen Schulwesens in der ČSR erst in den letzten Jahren<br />

aufgegriffen – vgl. PODLAHOVÁ (1996, 1999 und 2002).


196<br />

Mirek Němec<br />

ethnischer Gemeinschaften seit dem 19. Jahrhundert eine zentrale Instanz<br />

darstellt.<br />

2. Zur Methode, Quellenauswahl und Fragestellung<br />

Wolfgang Mitter plädiert in seinem sehr aufschlussreichen Aufsatz für „eine<br />

Einbeziehung der Alltagswirklichkeit der einzelnen Schulen“ in den Diskurs<br />

um das Bildungswesen in der ČSR, was seiner Meinung nach zur Konkretisierung<br />

der Analysen beitragen würde (MITTER 1988: 94).<br />

In meiner Abhandlung möchte ich versuchen, diese nicht leichte Aufgabe<br />

zu erfüllen, wobei ich mich stark auf die deutschen Mittelschulen 4 konzentriere.<br />

Vor allem ist es die Frage nach geeigneten Quellen, die eine solche<br />

Untersuchung kompliziert. Es besteht die Gefahr der Geschichtsklitterung,<br />

denn die wenigen erhaltenen Quellen geben nur bedingt Aufschluss über die<br />

alltäglichen Probleme an den Schulen. Ich stütze mich vor allem auf 49<br />

Zeitzeugenberichte, die ich durch eine im Jahre 2003 durchgeführte Umfrage<br />

unter Sudetendeutschen gewonnen hatte. 5 Dieses Korpus von Aussagen<br />

der nun mehr als 70 Jahre alten ehemaligen Schüler 6 , die individuelle Erinnerungen<br />

an vor mehr als 60 Jahre zurückliegende Ereignisse vermitteln,<br />

wird durch gedruckte und veröffentlichte Memoiren damaliger Schüler ergänzt.<br />

7 Im Hinblick auf den Schulalltag stellen solche Erzählungen die ausführlichste<br />

und aufschlussreichste Quellenart dar, wobei ich mir der Gefahr<br />

bewusst bin, welche in der „Oral-History“ steckt. Die autobiographischen<br />

Erinnerungen erzählen nur eine „Wahrheit“ und befinden sich, ähnlich wie<br />

das Gruppengedächtnis, in ständiger Entwicklung, sind der Dialektik des<br />

Erinnerns und Vergessens unterworfen. Sie stellen eine Art aktueller Konstruktion<br />

dar, können deformiert und manipuliert werden, wobei der Erzähler<br />

um diesen Prozess nicht wissen muss (vgl. NORA 1998, 13f.).<br />

Die Einsicht in die archivarischen Quellen – vor allem waren es die kurzgefassten<br />

Jahresberichte einzelner Mittelschulen und einige in den tschechischen<br />

Archiven vorhandene Schulakten – erlaubte, manche Aussagen der<br />

Zeitzeugen zu ergänzen oder gar in einem anderen Lichte erscheinen zu<br />

4 Zu den Mittelschulen gehörten nach der alt-österreichischen Tradition neben allen Typen<br />

von Gymnasien (humanistische Gymnasien, Realgymnasien, Reformrealgymnasien)<br />

noch die Realschulen und Lehrerbildungsanstalten (LBA).<br />

5 Zur Jahreswende 2002/03 bat ich die Sudetendeutsche Zeitung sowie 17 Redaktionen<br />

verschiedener in Deutschland herausgegebener Heimatblätter der Sudetendeutschen um<br />

Veröffentlichung meiner Umfrage, die sich an ehemalige Schüler der deutschen Mittelschulen<br />

in der Ersten Tschechoslowakischen Republik wandte. Vgl. z.B.<br />

6<br />

SUDETENDEUTSCHE ZEITUNG vom 31.1.2003, Leserbriefe Seite 6.<br />

Der älteste Teilnehmer an meiner Umfrage war Jahrgang 1909, der jüngste 1929.<br />

7 Liste der eingegangenen Briefberichte als Anhang.<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 197<br />

lassen. 8 Auf eine vollständige kritische Gegenüberstellung von Erinnerungen<br />

und archivarischen Quellen musste in diesem Beitrag allerdings verzichtet<br />

werden. Lediglich dann, wenn die durchgesehenen archivarischen<br />

Quellen eine Aussage völlig revidierten, wurde eine solche Aussage nicht<br />

erwähnt.<br />

Von den 83 staatlichen und acht privaten deutschen höheren Schulen (Mittelschulen)<br />

in der ČSR 9 stehen Zeitzeugenberichte von 24 staatlichen und<br />

von einer privaten Mittelschule zur Verfügung, außerdem werden zwölf<br />

Bürgerschulen und vier Volksschulen einbezogen. Das ganze Gebiet der<br />

böhmischen Länder – von Eger/Cheb über Prag/Praha bis nach Znaim/Znojmo<br />

und von Troppau/Opava bis nach Krumau/Krumlov – wird damit abgedeckt.<br />

Ebenfalls kann die gesamte Dauer der Ersten Tschechoslowakischen<br />

Republik von 1918 bis 1938 durch die ausgewerteten Berichte und die veröffentlichen<br />

Erinnerungen dokumentiert werden, wobei die meisten Darstellungen<br />

über die Situation in den 1930er Jahren berichten.<br />

Durch die Art der verwendeten Quellen rückt die Schülerperspektive in den<br />

Mittelpunkt meiner Betrachtung. Dabei stehen drei Fragen im Zentrum: Wie<br />

wurde die deutsche Schule in der ČSR mit den Augen deutscher Schüler im<br />

Hinblick auf das deutsch-tschechische Zusammenleben gesehen? Ob und<br />

wie wurde versucht, in der deutschen Mittelschule eine tschechoslowakische<br />

staatsbürgerliche Erziehung und eine – auf die deutsche Kultur bezogene –<br />

„volksbürgerliche“ umzusetzen? Welche Rolle spielte die deutsche Mittelschule<br />

im damals sich vollziehenden Prozess der Herausbildung der sudetendeutschen<br />

Identität bei den Deutschen der böhmischen Länder nach 1918?<br />

3. Zum sozialen Umfeld der Schüler<br />

Die Ergebnisse zum sozialen Umfeld der deutschen Schüler können nur<br />

beschränkt als repräsentativ interpretiert werden, denn die Zahl der Berichterstatter<br />

war zu gering. Ein Vergleich der statistischen Daten einiger Mittelschulen<br />

verifiziert allerdings folgende Ergebnisse.<br />

Die Anzahl der Mittelschüler aus den ländlichen Gebieten entspricht der<br />

Zahl der Mittelschüler aus der (Klein-)Stadt. Nicht selten konnten die Schüler<br />

aus den ländlichen Gebieten in der Stadt im Schulinternat oder unter der<br />

8 Hier handelt es sich vor allem um die pflichtgemäß gedruckten und meist vom Direktor<br />

niedergeschriebenen Jahresberichte. In manchen wurde Archivmaterial aus tschechischen<br />

Archiven hinzugezogen. SÚA Archiv Praha [Staatliches Zentralarchiv Prag],<br />

Státní okresní archiv Litoměřice se sídlem v Lovosicích [Staatliches Bezirksarchiv<br />

Leitmeritz mit Sitz in Lobositz], Zemský archiv v Opavě, [Landesarchiv Troppau].<br />

9 Angabe für das Jahr 1932/33 nach Jahrbuch des Reichsverbandes Deutscher Mittelschullehrer<br />

in der Tschechoslowakischen Republik 6, Leitmeritz 1933.


198<br />

Mirek Němec<br />

Woche in Gastfamilien Kost und Logis beziehen. Die Lehrbücher konnten<br />

den Ärmeren aus den Schulbibliotheken ausgeliehen werden. Ein System<br />

von Stipendien und finanziellen Unterstützungen stand den Schülern ebenfalls<br />

zur Verfügung. Dennoch ist zu bemerken, dass nur wenige der damaligen<br />

Mittelschüler einer Bauern- oder Arbeiterfamilie entstammten.<br />

In den Knabenschulen wurden nach der Gründung der Tschechoslowakischen<br />

Republik auch Mädchen als ordentliche Schüler zugelassen. Trotz der<br />

eingeführten Koedukation stellten in den nun gemischten Mittelschulen die<br />

Mädchen bis zur Zerschlagung der Republik im Jahre 1938 eine Minderheit<br />

dar. 10 Dies spiegelt sich auch in meiner Befragung wider. Während im<br />

Elementarschulwesen die Bilanz – acht Mädchen gegenüber acht Jungen –<br />

ausgeglichen ausfällt, zeichnet sich bei den weiterführenden Mittelschulen<br />

eine deutliche Ungleichheit ab. Nur elf Mädchen (davon zwei von Mädchen-Reform-Real-Gymnasien)<br />

nahmen an meiner Umfrage teil, gegenüber<br />

27 Jungen.<br />

4. Schulalltag<br />

Es stellte sich heraus, dass der Schulalltag, in fast allen Berichten einhellig<br />

als „die Fortsetzung der guten alten österreichischen Tradition im neuen<br />

Gewand“ 11 erinnert wird. Die österreichische Tradition sei erst, als „die<br />

deutschen Gebiete 1938 an Deutschland kamen, gebrochen worden, indem<br />

sofort ein anderes Schulsystem eingeführt“ wurde (Bericht Josef Lares).<br />

Freilich führte das neue (tschechoslowakische) Gewand zunächst zu Protestaktionen.<br />

Eugen Lemberg, 1919 Quintaner am Gymnasium in Leitmeritz/Litoměřice,<br />

erinnert sich:<br />

Aus diesem Promenadenweg kamen wir Schüler nach den Osterferien 1919 hervorgeströmt,<br />

um den täglichen Schultrott seufzend wieder aufzunehmen. Aber da prallten wir entsetzt zurück:<br />

vom Fahnenmast wehte eine tschechoslowakische Flagge: rot – weiß – mit einem allen<br />

Vorschriften der Heraldik widersprechenden blauen Keil. Das durfte doch nicht sein! Waren<br />

wir schon, ohne befragt zu werden, in einem uns fremden Staat eingegliedert worden: unsere<br />

Schule war deutsch und sollte es bleiben! Eine tschechische Fahne konnten wir nicht hinnehmen.<br />

Solange sie da oben hing, würden wir das Haus nicht betreten. Der Schülerstrom staute<br />

sich, von den Oberklassen ging niemand hinein, die ‚Kleinen‛ aus den unteren Jahrgängen<br />

wurden, soweit schon im Haus ... herausgeholt, an den protestierenden Lehrern vorbei, die um<br />

ihre Staatsbeamtenstellen bangten. Aber dies eben erhöhte den Reiz der Sache. (LEMBERG<br />

1986: 154)<br />

10 Das Troppauer Gymnasium besuchten im Schuljahr 1937/38 519 Schüler, davon waren<br />

147 Mädchen, also 28,5 % (Jahresbericht des Deutschen Staatsgymnasiums in Troppau.<br />

Schuljahr 1937/38).<br />

11 Unveröffentlichtes Manuskript verfasst von dem 2002 verstorbenen Dr. Franz Wischin<br />

[Višín]; zur Verfügung gestellt von Frau Charlotte Birnbaum (Ulm), beide hatten das<br />

Gymnasium in Krumau besucht.<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 199<br />

Die Erinnerung Lembergs ist in Manchem ungenau 12 , zeigt jedoch sehr gut<br />

das Unbehagen der Schüler über die politische Situation des Jahres 1919<br />

und die Probleme der deutschen Mittelschule in der ČSR. Freilich konnte<br />

dieser Schülerstreik nichts bewegen, wie Lemberg weiter bemerkt: „Die<br />

deutsche Freiheit war nicht gerettet, die Tschechoslowakei war nicht zugrundegegangen...“<br />

Einige Tage später ging man „normal in die Schule“, die<br />

Fahne hatte man inzwischen wohlweislich vom Mast entfernt. Trotzdem<br />

wurde täglich jedem Schüler die neue politische Realität vor Augen geführt.<br />

In den Klassenräumen hing neben dem Kreuz und anstelle des bis 1918 obligatorischen<br />

Kaiserportraits nun ein Bild von T.G. Masaryk – dem ersten<br />

tschechoslowakischen Präsidenten (Bericht Richard Laube).<br />

Mit der Gründung tschechischer Gymnasien in mehrheitlich deutschen Gebieten<br />

verließen viele tschechischsprachige Schüler die deutschen Mittelschulen,<br />

welche in dieser Hinsicht in ihrem deutschen Charakter gestärkt<br />

wurden. 13 In den meisten Schulanstalten nahmen mehrere deutschsprachige<br />

Schüler mosaischer Religion (jüdischen Glaubens) am Unterricht teil. Vor<br />

allem in den großen Landeshauptstädten war der Anteil der jüdischen Schüler<br />

besonders hoch. 14 Im Prager Stephans-Gymnasium dürften sogar in der<br />

Klasse von Marianne Winder, der Tochter des Schriftstellers Ludwig Winder,<br />

von 42 Schülern 36 jüdischer Herkunft gewesen sein. Judenfeindliche<br />

Anspielungen gab es hier, wie sie berichtet, selten (vgl. BINDER 2000: 65).<br />

Auch im nordböhmischen Aussig/Ústí nad Labem sollen sich aus dem Zusammenleben<br />

bis zum Schuljahr 1938/39 keine Probleme ergeben haben,<br />

wie zwei veröffentlichte Erinnerungen an das deutsche Gymnasium in den<br />

späten 30er Jahren vermerken (HERZOGENBERG 2000: 273 und ROHAN<br />

2001: 53–64.)<br />

12 Der Schülerstreik begann nicht zu Ostern, sondern am Freitag den 2. Mai, nach dem die<br />

Schulanstalt am 1. Mai beflaggt sein sollte. Aus dem Protokoll geht auch hervor, dass<br />

über dem Gebäude nicht die von Lemberg eindrucksvoll beschriebene tschechoslowakische<br />

Fahne wehte, sondern, da eine solche noch nicht zur Verfügung stand, eine in den<br />

„böhmischen Landesfarben“, also eine weiß-rote (SOA Litoměřice, Nĕmecké státní<br />

gymnázium, Karton 3./ 1919, Konferenzprotokoll Nr. XXII. vom 12. Mai 1919).<br />

13 In Litomĕřice/Leitmeritz und Duchcov/Dux wurden 1919 die ersten zwei tschechischen<br />

Gymnasien in überwiegend deutschen Städten gegründet. Die deutsche Staatsrealschule<br />

in Leitmeritz besuchten im Jahre 1919 noch 18 Schüler mit tschechischer Muttersprache,<br />

im Jahre 1924 lediglich 2, das deutsche Leitmeritzer Gymnasium in diesem Jahr<br />

sogar keiner mehr (Jahresberichte der Deutschen Realschule und des Deutschen Gymnasiums<br />

in Leitmeritz).<br />

14 Am Brünner Masaryk-Gymnasium (Brno) bekannten sich im Schuljahr 1937/38 von<br />

441 Schülern 65 (14,9 %) zur mosaischen Religion (Jahresbericht des Deutschen Masaryk-Gymnasiums<br />

in Brünn für das Schuljahr 1937/38, Brünn 1938). Auch in Preßburg/Bratislava<br />

und Prag war der Anteil der jüdischen Mittelschüler an deutschen<br />

Schulanstalten relativ hoch.


200<br />

Mirek Němec<br />

Eine andere Erfahrung machte während der politisch angespannten Atmosphäre<br />

am Ende des Schuljahres 1937/38 jedoch Peter Demetz, der ein<br />

Schüler des Deutschen Masaryk-Gymnasiums in Brünn war. Er und „eine<br />

ganze Gruppe von ehemals deutschen Schülern“ jüdischer Herkunft wechselten<br />

zum 1.9.1938, um den Schikanen der von nationalsozialistischer Propaganda<br />

angestachelten Mitschüler und Lehrer zu entkommen, in das tschechische<br />

Gymnasium (DEMETZ 1996: 133).<br />

So wie die Schüler bekannten sich auch die Lehrer, abgesehen von wenigen<br />

Ausnahmen, zur deutschen Nationalität. 15 Es ist nicht überraschend, dass<br />

die Lehrer in großer Mehrheit „deutsch fühlten“ (Bericht Gustav Scharm),<br />

was auch für die, welche jüdischer Herkunft waren, galt. Dabei ist auf die<br />

Tatsache hinzuweisen, dass gerade unter den Tschechischlehrern mehrere<br />

jüdischer Herkunft waren. 16<br />

Die Lehrer trugen wesentlich dazu bei, dass die österreichische Tradition im<br />

tschechoslowakischen Schulwesen beibehalten wurde, schließlich waren sie<br />

alle „geborene Österreicher“ (Bericht Roland Hoffmann). Zur Zeit der<br />

Monarchie hatten sie ihr Studium absolviert, in der Regel an der deutschen<br />

Prager Universität oder der Wiener Universität. „Die Monarchie steckte<br />

ihnen noch in den Knochen.“ (Bericht Günther Schallich ) urteilt ein Schüler<br />

des Realgymnasiums in Neutitschein/Nový Jičín der späteren 1930er Jahre.<br />

In der angesprochenen deutschen Gesinnung einiger Lehrer kann man unter<br />

den Bedingungen der Tschechoslowakischen Republik eine Spannung zwischen<br />

den Loyalitätsbindungen erkennen, die aber nur äußerst selten zu einem<br />

offenen Konflikt eskalierte. „Die Lehrer hielten sich peinlichst genau<br />

an die behördlichen Weisungen“ (Bericht Hans Brunner), verbargen oft vor<br />

den Schülern ihre politische Einstellung und verhielten sich meist nach dem<br />

Motto: „Wessen Brot ich esse, des Lied ich singe!“ (Bericht Maria Oliwa)<br />

Die Umfrage brachte die Bemühung der Lehrer aller Schultypen ans Licht,<br />

einen politischen Kommentar oder eine Äußerung zu aktuellen Fragen des<br />

deutsch-tschechischen Zusammenlebens auf dem Boden der Schule mög-<br />

15 Gerda Keil (Mädchenreformrealgymnasium Troppau) erinnerte sich, dass erst in den<br />

späten 20er Jahren ein deutsch-tschechisches Ehepaar kam, das Sport und Tschechisch<br />

unterrichtete (wahrscheinlich handelt es sich um Ehepaar Nitsch-Nawratil). Herr Gustav<br />

Scharm sollte seinen Religionsunterricht im Arnauer Gymnasium von einem tschechischen<br />

Priester Prof. Langner erhalten, und der Zeichenlehrer am Brünner Gymnasium<br />

hieß Bedö und soll Ungar gewesen sein. Meines Erachtens handelt es sich aber mit<br />

größter Wahrscheinlichkeit um Beispiele dafür, wie schwierig es in manchen Fällen<br />

war, die Nationalität tatsächlich zu bestimmen. Vgl. Exkurs Josef Brtek im Text.<br />

16 Vgl. Berichte: Buzek, Anton, Heller Viktor, Hertl, Hanns, Dr. Wischin, Krumau; u.a.<br />

Jiří Kosta erinnerte sich in seinen Memoiren, dass auch sein Vater – Mathematik- und<br />

Physiklehrer an einem Prager Gymnasium – Tschechisch unterrichtete, da er als Prager<br />

jüdischer Herkunft beide Landessprachen beherrschte (KOSTA 2001: 34).<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 201<br />

lichst zu vermeiden. „Die Lehrer versuchten, dem Staate gegenüber neutral<br />

zu sein. Eine Liebe oder Achtung zur ČSR haben sie uns nicht beigebracht“<br />

(Bericht Gustav Scharm), so charakterisiert ein ehemaliger Schüler des Realgymnasiums<br />

in Arnau/Hostinné die Haltung seiner Mittelschullehrer. Und<br />

ein damaliger Schüler des Troppauer Gymnasiums (Opava) in den 20er Jahren<br />

erinnert sich zwar daran, dass sein Tschechischlehrer „für die (italienischen)<br />

Fas-cisten, [wie er es aussprach], [...] schwärmte“, aber „keine Turbulenzen<br />

auf Grund des alltäglichen Nationalitätsproblems“ aufkommen<br />

lassen wollte. Und er fährt fort: „sie [die Lehrer] standen loyal zum ungeliebten<br />

Staat. ... Im Schulalltag merkte man [von den ständigen Reibungen<br />

zwischen den Deutschen und Tschechen] kaum etwas.“ (Bericht Ernst<br />

Kraus) Soll man die politischen Äußerungen der Lehrer charakterisieren, so<br />

ist eine allgemeine Zurückhaltung zu konstatieren, was sogar für<br />

angespannte Situationen wie den 4. März 1919 in Mies/Stříbro gilt (hierzu<br />

BRAUN 1996). Nach der Erinnerung von Josef Hanika wurden die unteren<br />

sechs Klassen des Gymnasiums um zehn Uhr nach Hause geschickt, der<br />

Lehrkörper bestand aber darauf, „dass die beiden obersten Klassen während<br />

der [schon früher angekündigten; M.N.] Kundgebung in einem Klassenzimmer<br />

unter Aufsicht eines Lehrers zurückbleiben“ (HANIKA 1962:<br />

133f.). Die Angst der staatlichen Beamten, die einen Eid geleistet hatten,<br />

vor Komplikationen ist offensichtlich. Andererseits bestraften die Pädagogen<br />

die Schüler nicht, die eigenmächtig die Klasse verließen, als sie Schüsse<br />

und Schreie auf dem Marktplatz hörten (HANIKA 1962: 135).<br />

Dass sowohl die Lehrer als auch die Schüler ihre politischen Einsichten entsprechend<br />

der tschechoslowakischen Schulordnung 17 zurückhielten, hatte<br />

sich auf den Ausgleich zwischen Volks- und Staatserziehung in der Schule<br />

positiv ausgewirkt. Lediglich in zwei Berichten wird von angeblicher<br />

Illoyalität gegenüber dem tschechoslowakischen Staat berichtet.<br />

Der erste und wohl schwerwiegendste Vorfall betraf einen Deutschlehrer<br />

des Troppauer Gymnasiums. Ende des Jahres 1933 „wurde er verhaftet und<br />

musste wegen „Irridenta“ [sic!] ein Strafverfahren über sich ergehen lassen.“<br />

18 Vom Dienst wurde er suspendiert und 1936 zu vier Jahren Haft ver-<br />

17 Im § 22 der Schulordnung wird „Jedwede politische Agitation in der Schule“ als „unzulässig“<br />

erklärt, „ebenso ist jede politische Parteilichkeit von der Schule auszuscheiden“.<br />

Siehe die Schulordnung für die Mittelschulen der Čechoslovakischen Republik (1919<br />

und 1935), S. 8.<br />

18 Es handelt sich wohl um den größten Prozess gegen einen Mittelschulprofessor in der<br />

Tschechoslowakei. Die Einzelheiten sind bis heute unklar. „Patscheider sollte Führer<br />

der radikal-nationalen ‚Bereitschaft‘, ein Gegenspieler des Kameradschaftsbundes sein.<br />

Im Zusammenhang mit den Richtungskämpfen, Feindseligkeiten und Denunziationen<br />

im sogenannten völkischen Lager wurde er wegen staatsfeindlicher Betätigung verur-


202<br />

Mirek Němec<br />

urteilt. Die Schüler erfuhren in der Schule über den Prozess, welcher<br />

Schlagzeilen auf den Titelseiten der damaligen deutschen Presse machte, 19<br />

keine Einzelheiten. 20 Der Berichterstatter, welcher damals sein Schüler war,<br />

erinnerte sich im Nachhinein nicht, dass der Lehrer „nazistische oder judenfeindliche<br />

Äußerungen gemacht hatte.“ (Bericht Wilhelm E. Leubner).<br />

Ebenfalls die Aussagen der ehemaligen Schüler von Dr. Patscheider, die als<br />

Zeugen vor das Gericht vorgeladen wurden, sollten Patscheider ein durchaus<br />

günstiges Zeugnis ausstellen (DEUTSCHE ZEITUNG BOHEMIA, Nr. 294,<br />

vom 18.12.1935, 2). Der Staatsanwalt kam jedoch zu einem anderen<br />

Schluss, berief sich dabei auf einige beschlagnahmte Hausarbeiten von Patscheiders<br />

Schülern der 7. Klasse aus dem Schuljahre 1931–32, in denen<br />

großdeutsches und antitschechoslowakisches Gedankengut entdeckt und ein<br />

„das dritte Reich“ verherrlicht wurde. 21<br />

Über einen weniger spektakulären Fall berichtete ein Znaimer Schüler. Der<br />

tschechische (!) Schuldiener des deutschen Realgymnasiums hätte die Republik<br />

retten wollen, indem er einen 17–jährigen Schüler, welcher am Klavier<br />

das Deutschlandlied zu spielen begann, anzeigte. Der Schüler wurde<br />

auf Anordnung der Schulbehörde vom Gymnasium verwiesen (Bericht<br />

Hans Brunner).<br />

Beide Ereignisse scheinen eher Ausnahmeerscheinungen zu sein. Sie zeigen<br />

jedoch, wie ein unerwünschtes Verhalten in der Schule nach 1933 mit harten<br />

Strafen unterbunden wurde.<br />

5. Geschichtsunterricht<br />

Dass die Lehrer politisch brisante Themen zu umgehen suchten, spürt man<br />

auch in den Äußerungen der ehemaligen Schüler über den Geschichtsunter-<br />

teilt, nach drei Jahren vorzeitig entlassen und zog nach München um“ (Nittner 1984:<br />

340). Nach meinen Recherchen wurde dem Angeklagten vorgeworfen, unter der Schülerschaft<br />

„den großdeutschen Gedanken nicht nur kulturell, sondern auch auf der Grundlage<br />

des Bodenraumes zu propagieren“, gegen den Staat Feindschaft zu schüren und<br />

Schriften von Schönerer zu verbreiten. Im Laufe des Prozesses wurden über 20 Personen<br />

angeklagt, unter ihnen einige ehemalige Schüler des Gymnasiums und der bekannte<br />

„Volksbildner“ Dr. Emil Lehmann, welcher früher Mittelschulprofessor in<br />

Landskron/Lanškroun war. Lehmann wurde, wie Patscheider, verurteilt, da er aber aus<br />

der Republik flüchtete, nicht inhaftiert. (Slezský zemský archiv Opava, Fond SZ Ostrava,<br />

Karton 27, St.3479 / 34/3).<br />

19 Über den Prozess berichtete ausführlich die DEUTSCHE ZEITUNG BOHEMIA, Dezember<br />

1935–Februar 1936.<br />

20 Nicht einmal der Jahresbericht informiert über sein Schicksal, obwohl es üblich war,<br />

über das Ausscheiden von Professoren aus dem Lehrkörper, sowie ihre weitere Tätigkeit<br />

zu berichten. Interessant, dass auch die damalige Troppauer Presse diesem Vorfall nur<br />

eine kleine Notiz widmete.<br />

21 Zemský archiv Opava: Fond: SZ Ostrava, Karton Nr. 27, sign. 3722/33/6.<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 203<br />

richt. Dieses Unterrichtsfach ist für eine Ideologisierung, sei es seitens der<br />

Staatsmacht oder einer Minorität, besonders anfällig. Dies reflektiert in seinen<br />

Erinnerungen der aus dem Riesengebirge stammende Schriftsteller<br />

Franz Fühmann, welcher von 1932–1936 zuerst ein Wiener Klostergymnasium<br />

und von 1936–1939 das Reichenberger Realgymnasium besuchte:<br />

Mein Problem ist das Kontinuum. Etwa der Geschichtsunterricht: ... auf der Volksschule lernten<br />

wir noch keine Geschichte; in Kalksburg [Jesuitengymnasium in Wien] lernte ich habsburgische<br />

Geschichte; auf dem Realgymnasium [Reichenberg/Liberec] dann eine Art frankophiler<br />

europäischer Geschichte tschechischer Prägung, vorgetragen von den deutschen Nationalisten,<br />

dann preußische Geschichte und Rassenlehre; fünf Jahre später dann historischen Materialismus,<br />

wie man ihn zur Ära Stalins lehrte. (FÜHMANN 1983: 172f)<br />

Wie andere Staaten versuchte auch die Tschechoslowakei den Geschichtsunterricht<br />

nach der Vorgabe der nationalen Geschichtsschreibung zu reformieren.<br />

Die österreichischen Geschichtslehrbücher wurden als erste aussortiert,<br />

die österreichischen Geschichtslehrpläne wurden früher als die von<br />

anderen Fächern bereits im Frühjahr 1919 geändert. Die tschechoslowakischen<br />

Lehrpläne sahen vor, dass „erhöhte Sorgfalt insbesondere der Geschichte<br />

der Hussitenzeit und der böhmischen Reformation zu widmen“ sei.<br />

Dabei sei „neben der Geschichte Böhmens auch die Geschichte der anderen<br />

Slawen gründlicher zu behandeln, dafür die deutsche und österreichische<br />

Geschichte einzuschränken“ (REBHANN/HEVLER 1929: 28).<br />

Der von den deutschen Pädagogen selbst gestaltete Unterrichtsverlauf, bei<br />

dem zwar nur vom Schulministerium approbierte, jedoch von deutschen<br />

Pädagogen verfasste Lehrbücher eingesetzt wurden, konnte einer ständigen<br />

Kontrolle nicht unterzogen werden. Nur die Erinnerungen können klären,<br />

wie sich die deutschen Pädagogen mit den Anforderungen des tschechoslowakischen<br />

Ministeriums auseinandersetzten.<br />

Vergleichsweise ohne Schwierigkeiten gingen die Pädagogen im Primarschulwesen<br />

mit den Vorgaben des tschechoslowakischen Schulministeriums<br />

um. An den Volks- und Bürgerschulen wurde nach dem mehrmals ausgesprochenen<br />

Grundsatz der sudetendeutschen Schulmänner verfahren: „Alle<br />

staatsbürgerliche Erziehung hat an die volksbürgerliche Erziehung anzuknüpfen<br />

und muß durch diese hindurchgehen.“ 22 In der Praxis wurde dies<br />

so umgesetzt, dass die Schüler nach dem Grundsatz unterrichtet wurden:<br />

‚Lerne erst deine Heimat kennen und dann die Welt!‘ Auf diese Weise<br />

schufen die Lehrer einen Spielraum, in dem sie im Unterricht lediglich die<br />

engere, meist deutsche Heimat behandelten und die „weite“ Welt – also<br />

auch die benachbarte tschechische – auf die höheren Klassen verschoben.<br />

22 Diese Parole wurde von den deutschen Pädagogen mehrmals wiederholt, siehe z.B.<br />

PREISSLER (1930: 17f.).


204<br />

Mirek Němec<br />

Natürlich konnte eine solche Ausweichtaktik in den Mittelschulen nur beschränkt<br />

aufrechterhalten werden, ein Interessenkonflikt zwischen Lehrplan<br />

und nationaler Loyalität bei den Lehrern war vorprogrammiert. Ein ehemaliger<br />

Prager Mittelschüler erinnert sich daran, „dass wir fast ausschließlich<br />

böhmische Geschichte gelernt haben, und diese mit einer Lücke von 1618–<br />

1918.“ (Bericht Hans Wiener )<br />

Nun stellt sich die Frage, aus welchem Grunde der Geschichtslehrer die<br />

‚Zeit der Finsternis‘, das Temno ausgelassen hatte? Hatte er kein Interesse<br />

daran, die Märtyrerrolle der Tschechen unter dem Joch der Habsburger zu<br />

verherrlichen oder aber erklärte er sich den vorgegebenen Lehrplan so, indem<br />

er eine ungebrochene Linie der Entwicklung der tschechischen Nation<br />

von den Slawenaposteln über die Hussiten bis zur Gründung des modernen<br />

tschechoslowakischen Staates noch zu zeichnen versuchte, ohne die vermeintliche<br />

Niedergangsphase der tschechischen Nation ansprechen zu müssen?<br />

Diese Frage bleibt leider unbeantwortet.<br />

Außer dem oben beschriebenen radikalen Schnitt gab es noch andere Möglichkeiten,<br />

den Geschichtsunterricht trotz der im Lehrplan veröffentlichen<br />

Anforderungen der tschechoslowakischen Regierung nach eigenen Vorstellungen<br />

zu gestalten.<br />

Die folgende Aussage dokumentiert nicht nur das Bestreben des tschechoslowakischen<br />

Schulministeriums um die Instrumentalisierung des Geschichtsunterrichtes,<br />

sondern auch die Ausweichstrategie eines in Böhmisch<br />

Leipa/Česká Lípa tätigen Geschichtslehrers, welcher Mitglied der DNSAP<br />

gewesen sein soll:<br />

Im Geschichtsunterricht war der Ablauf der Geschichte Österreichs und der böhmischen Länder<br />

ganz im Sinne der tschechischen Geschichtsauffassung dargestellt, Österreich-Ungarn als<br />

Völkerkerker beschrieben, die Gründung der ČSR als „Befreiung“. ... Den Stoff [über die<br />

Gründung ČSR] vorzutragen und zu prüfen, war für den Prof. unangenehm ... deshalb zog er<br />

den Unterricht des 19. Jahrhunderts so in die Länge, ... dass man am Ende des Schuljahres<br />

keine oder wenig Zeit fand. Der Vortrag erfolgte dann im Schnelltempo, ohne den Stoff zu<br />

prüfen, weil die Notenkonferenz schon vorbei war. (Bericht Viktor Heller)<br />

Dies war nur eine von mehreren Methoden, welche man im Schulalltag anwenden<br />

konnte, um konfliktgeladene Themen zu vermeiden. Es gab noch<br />

andere Möglichkeiten, den Zwiespalt zwischen staatsbürgerlicher Loyalität<br />

und nationalen Interessen zu überbrücken. An der Lehrerbildungsanstalt<br />

(LBA) in Komotau/Chomutov musste der als „gewissenhafter Pädagoge“<br />

charakterisierte Geschichtslehrer selbstverständlich „großen Wert auf die<br />

böhmische [heißt: tschechische] Geschichte legen, ganz besonders auf die<br />

Gründung der ČSR. Alle Ortsnamen mussten uns auch tschechisch geläufig<br />

sein (Bericht Irmtraut Endisch). Dieser Unterricht wurde jedoch noch ergänzt,<br />

denn die „deutsche Geschichte [wurde] parallel mit der tschechischen<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 205<br />

[behandelt] und in der Geographie lagen die Schwerpunkte in Mitteleuropa<br />

– also in Böhmen [also Tschechoslowakei] und Deutschland.“ (Bericht Roland<br />

Hoffmann) Wenn man bedenkt, welchen Einfluss die Geschichte auf<br />

die Herausbildung der nationalen Identität der heranwachsenden Jugend<br />

haben kann und in der (optimistischen) Annahme, dass der Unterricht ohne<br />

jegliche Ressentiments abgehalten wurde, kann man schlussfolgern, dass<br />

ein solcher Unterricht in einer multinationalen Republik gerade der richtige<br />

war. Dabei handelte es sich wohl in Komotau um keinen Einzelfall, was<br />

eine weitere Aussage belegt:<br />

Unsere Geographie- und Geschichtslehrerin [...] bemühte sich in ihrem Unterrichte auf geschichtliche<br />

Verbindungen von Tschechen und Deutschen hinzuweisen. Sie vermochte uns<br />

klarzumachen, dass uns seit Jahrhunderten eine gemeinsame Geschichte verband. Im Erdkundeunterricht<br />

legte sie höchsten Wert darauf, dass wir alle Ortsnamen in Tschechisch und<br />

Deutsch kannten. (Bericht Gerda Keil)<br />

Betrachtet man die Aussagen der ehemaligen Schüler, kommt man zum<br />

Schluss, dass mancherorts eine Nische gefunden wurde, in der Lehrinhalte<br />

vermittelt wurden, die eine deutsche nationale Identität stärken sollten, ohne<br />

die Staatsloyalität in Frage stellen zu müssen.<br />

6. Feier- und Gedenktage<br />

Eine identitätsstiftende Funktion hatten die in jedem Schuljahr gefeierten<br />

Gedenktage, die als Ausdruck nationaler oder staatlicher Gemeinsamkeit zu<br />

verstehen sind. Zwar konnte ich durch die Auswertung der Jahresberichte<br />

ganz genau feststellen, welche Jubiläen und Jahrestage in den Schulen gefeiert<br />

wurden, doch fehlt mir das Bild über den Verlauf und den Eindruck,<br />

welche solche staatlich oktroyierten Feierlichkeiten hinterließen, sowie die<br />

Resonanz auf sie. Ferner wurde erfragt, ob außer den vorgeschriebenen<br />

auch andere, möglicherweise geheim oder symbolisch abgehaltene Feierlichkeiten<br />

im Schulalltag vorkamen?<br />

Aus der Reihe der Gedenktage, mit denen an für den tschechoslowakischen<br />

Staat bedeutende Ereignisse sowie an Persönlichkeiten, die sich um die<br />

tschechoslowakische Nation verdient gemacht hatten, gedacht wurde, erinnerten<br />

sich die Befragten in der Regel nur an zwei: an die alljährlichen Feierlichkeiten<br />

anlässlich der Gründung der Republik am 28.10. und an den am<br />

7. März jedes Jahres würdig begangenen Geburtstag Masaryks. An die Feier<br />

anlässlich der Geburtstage des zweiten Präsidenten Edvard Beneš (28.5.)<br />

sowie an den Tag der tschechoslowakisch-rumänischen und tschechoslowakisch-jugoslawischen<br />

Freundschaft, an weitere kleinere Schulfeiern und in<br />

der Schule gefeierte Jubiläen, wie etwa an den Comenius-Tag, erinnerten<br />

sich die Befragten erst nach Rückversicherung in einem Jahresbericht oder<br />

einer Schulzeitung.


206<br />

Mirek Němec<br />

An den Feiertagen wurde „im Rahmen von Feierstunden, an die Herkunft,<br />

die Durchsetzung und die Leistung der Gefeierten gedacht (Bericht Roland<br />

Hoffmann) bzw. die Bedeutung des Ereignisses für den Tschechoslowakischen<br />

Staat in Vorträgen hervorgehoben. In einigen Fällen wurden Anordnungen<br />

des Ministeriums betreffs des Verlaufs der Gedenkstunde bzw. des<br />

Gedenktages an die Schuldirektionen gesandt. Wie solche Vorträge durchgeführt<br />

wurden, dokumentiert der folgende ausführliche Bericht aus dem<br />

Leipaer Realgymnasium:<br />

In der Schule gab es ein Buch, das die Schüler scherzhaft ‚Tante‘ nannten. Es war in erster<br />

Linie dazu bestimmt, Anordnungen des Direktors den Schülern bekanntzumachen. [...] Dieses<br />

wurde dann während der Unterrichtsstunden von Schulzimmer zu Schulzimmer weitergegeben.<br />

Der jeweils unterrichtende Lehrer verlas die Anordnung, machte über diese Verlesung einen<br />

Vermerk [...] und ließ das Buch in die nächste Klasse tragen. Stand nun ein Gedenktag bevor,<br />

der nicht in einer Gesamtveranstaltung begangen wurde, schrieb der Direktor etwas über den<br />

Gedenktag in die Tante und ließ diese [...] umlaufen. Diese Verlesung erscheint dann im Jahresbericht<br />

als ‚Vortrag‘.(Bericht Viktor Heller)<br />

Die Resonanz auf ein solches Fest hielt sich selbstverständlich in Grenzen.<br />

„Die Lehrer blieben bei den Feiertagen sachlich neutral“ (Bericht Karl Ertel).<br />

Heikel war es mit den Gedenktagen, die die ganze Schule an einem<br />

sonst schulfreien Tag zu begehen hatte, bei denen aber nicht immer alle<br />

Schüler und Lehrer erschienen (Bericht Gerda Keil). Im nordböhmischen<br />

Böhmisch Leipa sahen Gedenkfeiern in den 30er Jahren etwa so aus:<br />

Die Gesamtveranstaltungen [alle Schüler und Lehrer] der Anstalt fanden in der Jahn-Turnhalle<br />

[!] statt. Die Redner sahen diese Tätigkeit als etwas besonders Unangenehmes an, weil etwas<br />

gefeiert werden mußte, was man im Innersten mißbilligte. Deswegen versuchte jeder Lehrer,<br />

sich davor zu drücken, solange er nur konnte. (Bericht Viktor Heller)<br />

Und nicht nur die Lehrer des Leipaer Realgymnasiums hatten mit solchen<br />

Feierstunden, die gar „in den letzten Jahren vor 1938 von der Kriminalpolizei<br />

überwacht“ wurden, ihre Schwierigkeiten.<br />

Besondere Sorgen machte dem Direktor das Absingen der Staatshymne, die niemand mitsingen<br />

wollte. Bei den Klassen von der dritten aufwärts versuchte er es gar nicht, weil alle Schüler<br />

ihren Stimmbruch als Begründung angaben. [...] Der jämmerliche Gesang der Staatshymne<br />

wurde dann durch die Lautstärke des Schülerorchesters ausgeglichen. (Bericht Viktor Heller)<br />

Aus den Aussagen ist ersichtlich, dass die Staatshymne „mit Ingrimm gesungen,<br />

da als Zwang empfunden“ (Bericht Herta Anders) wurde. Andererseits<br />

wurden solche Feiern wohl nicht immer in ihrer politischen Konnotation<br />

verstanden:<br />

Wir freuten uns über das Absingen der slowakischen Hymne: Ob der Tatra blitzt es und dröhnt<br />

des Donners Krachen. Dabei stießen wir mit den Füssen gegen unsere Sitzbänke, um das Grollen<br />

des Donners auch glaubhaft zu machen. (Bericht Wilhelm E. Leubner)<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 207<br />

Die Staatshymne wurde mehreren Aussagen nach an den Volksschulen bis<br />

1937 auf deutsch gesungen, danach „mußte der Text tschechisch gekonnt<br />

werden, obwohl wir kein Wort Tschechisch in der Volksschule lernten.“<br />

(Bericht Maria Oliwa ) An einigen Bürgerschulen wurden außer der tschechoslowakischen<br />

seit 1937 „auch die rumänische und jugoslawische Hymne“<br />

gelernt. 23<br />

An den Mittelschulen mussten die Schüler die tschechoslowakische Hymne<br />

auf deutsch und auf tschechisch singen können, woran sich einige der Befragten<br />

aber nicht erinnerten: „Ich kann mich nicht erinnern, daß am Gymnasium<br />

jemals die Nationalhymne auf deutsch gesungen wurde, die ich bereits<br />

an der Volksschule gelernt hatte.“ (Bericht Hans Witzku)<br />

Eine besondere Bedeutung unter den jährlich zelebrierten Jahrestagen stellte<br />

Masaryks Geburtstag dar. Dora Müller (sie besuchte das Masaryk-<br />

Gymnasium in Brünn von 1930–1938) beschreibt in ihrem Essay die Schulfeier<br />

anlässlich Masaryks 80. Geburtstag:<br />

Schüler und Lehrer hatten sich um 9 Uhr vormittags in der Aula versammelt. Mitten im Blumen-<br />

und Pflanzenschmuck stand Masaryks Bild, das Werk des akademischen Malers Oskar<br />

Spielmann, eines ehemaligen Schülers der Anstalt. Das Schülerorchester eröffnete unter Leitung<br />

von Prof. Dr. Josef Peschek die Feier mit dem Priestermarsch aus Mozarts Zauberflöte.<br />

Ein Schüler der VI. Klasse, Wolfgang Weithofer, Sohn des beliebten Brünner Kinderarztes,<br />

trug ein von Prof. Dr. Karl Kreisler verfasstes Festgedicht An T. G. Masaryk vor. [...] Es folgten<br />

weitere Vorträge. U.a. sprach Prof. Dr. Karl Teller zu dem aktuellen Thema T. G. Masaryk<br />

und die Jugend.<br />

Ihren Höhepunkt erreichte die Feier, als der Landesschulinspektor, Min. Rat Dr. Karl Zirngast,<br />

die Mitteilung machte, dass der Minister für Schulwesen und Volkskultur mit Erlass vom 3.<br />

März 1930 dem deutschen Gymnasium in Brünn, beginnend mit dem 7. März 1930, dem 80.<br />

Geburtstag des Herrn Präsidenten, den Ehrennamen MASARYKOVO NĚMECKÉ STÁTNÍ<br />

GYMNÁSIUM V BRNĚ, in Übersetzung DEUTSCHES MASARYKSTAATSGYMNASIUM<br />

IN BRÜNN verliehen habe. (MÜLLER 2003)<br />

Das hier ausgedrückte wohl freiwillige Engagement einiger Lehrer des<br />

Brünner Masaryk-Gymnasiums und die spürbar positive Aufnahme der Feier<br />

bei zumindest einigen Schülern lassen sich auch an anderen Schulen beobachten.<br />

Der erste Präsident der Tschechoslowakei wurde von vielen deutschen<br />

Pädagogen und Schülern geschätzt. Diese Sympathien für den<br />

„wahrhaftig[en] Vater des Staates“ (Bericht Hans Wiener ) erläutert ein<br />

ehemaliger Schüler:<br />

Durch seinen Ursprung geprägt – die Mutter Deutsche und der Vater Slowake<br />

– „strebte Masaryk ein gedeihliches Zusammenleben der Völker an“<br />

23 Berichte Beywl, Elisabeth Katharina und Schneider, Herbert. Schneider fügt sogar hinzu,<br />

dass die beiden Hymnen der verbündeten Staaten der Tschechoslowakei im Original<br />

gesungen werden mussten!


208<br />

Mirek Němec<br />

(Bericht Friedrich Christian Otto Schlögl). Zu Masaryks Popularität trugen<br />

seine Herkunft, sein deutscher Ausbildungsweg 24 und vor allem seine Absagen<br />

an die Adresse tschechischer Chauvinisten sowie seine zwar ambivalente,<br />

jedoch nicht ablehnende Haltung gegenüber den Deutschen bei<br />

(HAHN 1999: 214–242, bes. 239ff.).<br />

Die Sympathiebekundungen für den ersten Präsidenten fanden ihren Höhepunkt<br />

in den Trauerreden anlässlich seines Todes 1937. Noch einmal ein<br />

Auszug aus dem Essay von Dora Müller:<br />

Am 17. September 1937 versammelten sich Schüler und Lehrer abermals im Festsaal, um Masaryks<br />

zu gedenken. Hinter der verhüllten Bühne trug das Schülerorchester wieder Mozarts<br />

Priestermarsch vor. Ein Chor sang Flemings Integer vitae, der Direktor hielt die Trauerrede,<br />

erhaben tönten Griegs Trauerklänge Ases Tod und mit der Staatshymne schloss die Totenfeier.<br />

(MÜLLER, 2003)<br />

Und ein anderer Schüler des Brünner Gymnasiums fasst zusammen:<br />

Der Tod von Masaryk wurde an unserer Schule ehrlich betrauert. Aber Beneš war vielen von<br />

uns sehr unsympathisch. (Bericht Hanns Hertl)<br />

Wahrlich zollte das Schulvolk seinem Nachfolger im Amte Edvard Beneš<br />

keine großen Sympathien. Überhaupt erfreute sich der ehemalige Außenminister,<br />

welcher die Tschechoslowakei bei den Friedensverhandlungen in Pariser<br />

Vororten 1919–20 vertrat, bei den durch eine erstarkte völkische Propaganda<br />

beeinflussten Sudetendeutschen keiner Beliebtheit. Zwar wurde dem neuen<br />

Präsidenten immer noch zugejubelt, doch dieser Jubel war kein aufrichtiger,<br />

sondern aus Zwang und Pflicht:<br />

Am 7.Mai 1937 hatte der Staatspräsident Dr. Edvard Beneš auf seiner Südböhmenreise auch<br />

Krumau besucht. Es wurde ein für die Stadt angeordneter Festtag veranstaltet. [...] Die Schülerschaft<br />

hatte unter Führung aller Professoren in der Vorstadt Latron mit turnerisch strammen<br />

Anmarsche [sic] Aufstellung genommen und konnte hier den Herrn Präsidenten bei seinen<br />

Vorüberfahrten dreimal begrüßen.<br />

Nach einem Jahr, im Oktober 1938, hielt Hitler in der Stadt seinen Einzug und laut des Jahresberichts<br />

wurde ihm von denselben Schülern und Lehrern, die vorher pflichtgemäß Dr. Benes<br />

gehuldigt hatten, grenzenlos zugejubelt.<br />

Es hat sich gezeigt, dass die durchgeführten Schulfeiern keine nachhaltigen<br />

Veränderungen im kulturellen Gedächtnis der Sudetendeutschen bewirkten.<br />

Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass in keinem Fall ein (sudeten-)deutscher<br />

Feiertag in der Schule zelebriert wurde. An „Böhmerlands bluti-<br />

24 Alle Schulen von der Volksschule bis zur Wiener Universität, die Masaryk besuchte,<br />

waren deutschsprachige Bildungsanstalten.<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 209<br />

ger Gedenktag“ 25 wurde nicht erinnert, mehrere Befragte gaben zu, von den<br />

Ereignissen des 4. März 1919 erst nach 1938 bzw. 1945 erfahren zu haben.<br />

7. Tschechischunterricht<br />

Im Falle des im Schuljahre 1923/24 an den deutschen Mittelschulen eingeführten<br />

obligatorischen Tschechischunterrichts gilt es zu überprüfen, welche<br />

Rolle „der Tribut an die Republik“ (BECHER 1990: 31) im Schulalltag einnahm.<br />

Wurde er von den Schülern als Zwangs- und Tschechisierungsmaßnahme<br />

oder als Chance betrachtet? Wie hoch war die Bereitschaft zum Erlernen<br />

der tschechischen Sprache? Wichtig waren zugleich Hinweise, die<br />

einen Aufschluss über den potentiellen Lernerfolg geben konnten.<br />

Insgesamt ist festzuhalten, dass der obligatorische Tschechischunterricht<br />

neutral oder gar positiv – also „wie andere Fremdsprachen (Latein und<br />

Französisch)“ akzeptiert wurde (Bericht Gustav Scharm). Diese vielleicht<br />

doch überraschende Feststellung gilt es nun nicht nur zu dokumentieren,<br />

sondern auch zu hinterfragen. Warum konnten die aus der Monarchie Zeit<br />

geerbten Ressentiments gegenüber der durch mehrere Vorurteile belasteten<br />

Sprache, welche unter den Deutschen in Böhmen vor 1918, wie Eugen<br />

Lemberg zutreffend bemerkte, oft als feindliche Haus- und Landschaftsmundart<br />

empfunden wurde (LEMBERG 1937: 6), überwunden werden?<br />

Die wenigen Zeugnisse über Antipathien gegenüber dem Tschechischunterricht<br />

stammen meist von ehemaligen Schülern einer Bürgerschule. Eine<br />

Informantin aus dem Egerland räumte ein, sie hätte „den Tschechischunterricht<br />

mit Widerwillen besucht.“ Ihre Meinung begründete sie mit dem nicht<br />

untypischen Topos der ‚kleinen Sprache‛: „Ich hätte viel lieber englisch<br />

oder französisch gelernt, denn die Kenntnis der tschechischen Sprache<br />

endete an unserer [tschechoslowakischen] Grenze [...] Außerdem war es die<br />

Sprache unserer Peiniger, die unsere Eltern gegen ihren Willen in ihren<br />

Staat gezwungen haben“ (Bericht Gertrud Träger). Ein Schüler der Tetschener/Děčíner<br />

Bürgerschule vermerkt, dass Tschechisch zwar ungern gelernt<br />

wurde, zumindest besuchte er trotzdem einen Abendkurs (Bericht Richard<br />

Laube). Und ein Nordmährer fügt über die möglichen Motivationen hinzu:„Der<br />

Tschechischunterricht wurde [...] als notwendiges Übel hingenommen.“<br />

Allerdings bemerkt er auch: „Aus Angst vor einer schlechten Note“<br />

oder durch „die Hoffnung an [auf] einen beruflichen Vorteil“ beflügelt,<br />

mussten wir Tschechischunterricht sogar noch „im Dritten Reich absolvieren“<br />

(Bericht Karl Ertel)<br />

25 So bezeichnete den 4. März 1919 die in Stuttgart herausgegebene Zeitschrift DER<br />

AUSLANDDEUTSCHE (1927), Nr. 20, Jg. X., .hier 681f.


210<br />

Mirek Němec<br />

Die Bereitschaft zum Tschechischlernen beruhte auf eher pragmatischen<br />

Gründen. Um eigene Rechte durchsetzen zu können, wäre die Kenntnis der<br />

nun neuen Staatssprache von erheblichem Vorteil. Die Eltern sorgten meist<br />

dafür, dass Tschechisch gelernt wurde. „Kinder lernt tschechisch, damit sie<br />

euch nicht verkaufen können, wir müssen nun in dem Staat leben! (Bericht<br />

Waltraud Meyer) motivierte ein Vater seine Tochter – Bürgerschülerin –<br />

zum Besuch der nichtobligatorischen Nachmittagsstunden, die von einer<br />

Tschechin erteilt wurden. Um die andere Landessprache wirklich zu erlernen,<br />

verbrachte sie sechsmal ein paar Wochen während der Ferien „im<br />

Tschechischen“ (Bericht Waltraud Meyer).<br />

Dieser Brauch des Schüleraustausches – „na handl“ oder „na vexl“ genannt<br />

– war ein Erbe der Habsburger Monarchie, welches, wie Erich Illmann feststellte,<br />

nach 1918 eine Fortsetzung fand (ILLMANN: 2002). Diesen Befund<br />

bestätigte auch meine Umfrage.<br />

Durch den Schüleraustausch konnten vor allem die in der Schule nicht geübten<br />

kommunikativen Kompetenzen verbessert werden. So erläuterte eine<br />

damalige Schülerin aus Troppau:<br />

Der Unterricht im Tschechischen befähigte kaum zur Kommunikation mit Tschechen. Wenn<br />

jemand nicht privat Tschechen kannte, hatte er kaum eine Chance, Tschechisch zu sprechen.<br />

Die Schule regte es an, in den Ferien in tschechischsprachige Gebiete zu fahren, unterstützte<br />

dies Vorhaben aber auf keinerlei Weise. (Bericht Gerda Keil)<br />

Ein anderer Troppauer veranschaulicht den Unterricht im Gymnasium: „Der<br />

Leitspruch war ‚Hojně číst [viel lesen]‘, es gab aber keinen Kontakt zu den<br />

tschechischen Schülern“ (Bericht Wilhelm E. Leubner). Ein Schüler des<br />

Braunauer (Broumov) Gymnasiums, welcher durch Umzüge nach Gablonz<br />

an der Neiße (Jablonec nad Nisou) und schließlich nach Karlsbad (Karlovy<br />

Vary) drei Gymnasien besuchte, berichtet: „In Braunau, wenn die erste<br />

Stunde Tschechisch war, wurde der morgige Vaterunser von allen katholischen<br />

Schülern auf tschechisch gesprochen.“ Doch auch er beanstandet<br />

„den nicht besonders großen Lerneffekt, trotz des redlichen Bemühens des<br />

Tschechischlehrers.“ Zugleich sucht er nach den möglichen Gründen:<br />

Ich empfand es immer in allen meinen Schulen als einen großen Nachteil, dass der Lehrer für<br />

Tschechisch kein Tscheche war. […] [In Gablonz] machten wir uns lustig über den Tschechischlehrer,<br />

weil er mit einem so deutlich egerländisch-deutschem Akzent sprach. [...] Er<br />

bekam [deshalb] einen Spitznamen. 26<br />

Mit dem Tschechischen hatten also einige Tschechischlehrer ihre Probleme,<br />

wobei ihre Herkunft eine wesentliche Rolle spielte. Die Schüler, welche<br />

26 Anstatt „Kdybych byl ...“ sprach der aus dem Egerlande stammende Lehrer „Kdipich<br />

...“ deshalb bekam er den Spitznamen „Pich“: Bericht Schlögl, Friedrich Christian Otto.<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 211<br />

keine Kontakte zu den Tschechen hatten, wurden benachteiligt. In Brünn<br />

waren es meist die aus Südmähren, in Komotau die aus dem Egerlande und<br />

in Budweis die aus dem Böhmerwald. Es war daher für benachteilige Schüler<br />

ein Glück, wenn der Lehrer darauf Rücksicht nahm: „Unser Tschechischprofessor<br />

Dr. Leo Herz war äußerst beliebt. [...] Er hatte so viel<br />

Nachsicht mit uns Böhmerwäldlern, dass er unsere Schularbeiten großzügiger<br />

benotete als die der Budweiser Klassenkameraden, die ja zweisprachig<br />

aufwuchsen.“ (Bericht Anton Buzek)<br />

Als ein Verdienst des fakultativen Tschechischunterrichts im Elementarschulwesen<br />

galt, „da in allen anderen Fächern der deutschen Volksschulen<br />

ausschließlich „Kurrentschrift“ gebraucht wurde, dass wir als erstes lateinische<br />

Schreibschrift lernen mußten.“ (Bericht Herbert Schneider)<br />

Der oft beklagte „Verlust der Mehrsprachigkeit“ (BURGER 1997: 35–49)<br />

vor allem bei den Deutschen in Böhmen, welcher die Endphase der Österreichisch-<br />

Ungarischen Monarchie charakterisierte, konnte in der Tschechoslowakei<br />

in Ansätzen überwunden werden. Die meisten Sudetendeutschen<br />

erkannten, welche Chance ihnen die Kenntnis der Staatssprache eröffnete.<br />

Die Zusammenarbeit beim Spracherwerb zwischen Tschechen und Deutschen<br />

ging aber über die private Initiative nicht hinaus.<br />

Der Tschechischunterricht bot, liest man die Erinnerung Max Brods an seine<br />

relativ obligaten Tschechischstunden am Prager Stephans-Gymnasium,<br />

durchaus die Chance, die tschechische Kultur, vor allem die Literatur, unter<br />

den Deutschen zu popularisieren (BINDER 2000: 128). Doch keiner von<br />

den mir bekannten Berichten über das obligate ‚Tschechoslowakisch‘ bestätigt<br />

diese Vermutung.<br />

Exkurs Prof. Brtek:<br />

Unter den Tschechischlehrern ist noch über einen besonderen Ausnahmefall<br />

zu berichten. Es handelt sich um den Leipaer Josef Brtek, der gemeinsam<br />

mit seinem tschechischen Kollegen Vojtěch Hulík Lehrbücher für den<br />

Tschechischunterricht an den deutschen Mittelschulen verfasste. In einem<br />

seiner Lehrbücher findet sich das von Josef Václav Frič während der ersten<br />

Wenzelsbadversammlung in der Revolution von 1848 ausgesprochene Urteil:<br />

Náš stát je republika. Čech i Němec jsou tu stejně doma. Jejich rod je často půl český a půl<br />

německý. Proto jsou i jejich tělo i jejich duch velmi podobné. Mnohý Čech mluví německy<br />

jako česky, mnohý Němec mluví česky jako německy. 27<br />

27 Unser Staat ist eine Republik. Der Tscheche und der Deutsche sind hier genauso zu<br />

Hause. Ihre Abstammung ist oft halb tschechisch und halb deutsch. Deswegen sind auch<br />

ihre Körper und Seelen sehr ähnlich. Viele Tschechen sprechen deutsch genauso gut


212<br />

Mirek Němec<br />

Die hier angesprochene Ähnlichkeit beider Nationalitäten führte einerseits<br />

zu einem Abbau der gegenseitigen Ressentiments, andererseits ermöglichte<br />

er einen Wechsel der Nationalität. Josef Brtek sollte davon nach 1938 Gebrauch<br />

machen. Nach dem Münchner Abkommen bekannte sich Brtek zur<br />

tschechischen Nationalität, damit sein Sohn nicht zur Wehrmacht einbezogen<br />

wurde. Dieses Bekenntnis sollte ihn vor der Vertreibung nach dem<br />

Krieg retten (Bericht Viktor Heller und Maria Fritzsche).<br />

8. Schluss<br />

Aus der Schülerperspektive erschien die deutsche Schule in der Tschechoslowakei<br />

trotz spürbarer Veränderungen wie etwa der Beeinflussung der<br />

Lehrpläne für Geschichte, die Einführung des Tschechischunterrichtes oder<br />

die erzwungene Gestaltung von Gedenkstunden und Gedenktagen nicht als<br />

bloßes Instrument der tschechoslowakischen Politik. Obwohl die vermittelten<br />

Lehrinhalte und Leitbilder dem tschechischen Staatsverständnis entsprechen<br />

mussten, wurde die deutsche Schule in keinem der Berichte als Instrument<br />

einer Entnationalisierung betrachtet.<br />

Als Tschechisierungsmaßnahme und unfaire Konkurrenz wurden die neuen<br />

tschechischen Volksschulen in den deutschsprachigen Randgebieten der<br />

Tschechoslowakei betrachtet. Sie wurden als Minderheitenvolksschulen<br />

bezeichnet, da sie der hier lebenden tschechischen Minderheit zur Verfügung<br />

stehen sollten. In rein deutschen Orten genossen aber in einem meist<br />

neu gebauten, modernen Schulgebäude öfters lediglich ein paar tschechische<br />

Kinder der zugezogenen Staatsbeamten den Unterricht. Die Deutschen<br />

versuchte man, entweder durch materielle Vorteile oder unter Androhung,<br />

den Arbeitsplatz zu verlieren, dazu zu bewegen, die eigenen Kinder in diese<br />

tschechischen Schulen zu schicken. „Der Verein Pošumavská jednota<br />

[Böhmerwaldbund – M.N.] war in der Anwerbung deutscher Kinder für die<br />

tschechische Schule sehr aktiv,“ urteilt eine Böhmerwäldlerin (Bericht Rosa<br />

Tahedl).<br />

Der Kampf um die Schulkinder besaß in den böhmischen Ländern Tradition<br />

(vgl. BURGER 1995, 211–221; ZAORAL 1995 ) und gerade die regional<br />

wirkenden nationalistischen Schutzvereine – z.B. in Südböhmen der Pošumavská<br />

jednota – betätigten sich auf diesem Gebiet. (RABL 1959: 43;<br />

REICH 1995: 29f.). Nur in wenigen Fällen soll ein solches Anwerben durch<br />

Androhung oder Vergünstigung tatsächlich erfolgreich gewesen sein<br />

(MÄHNER 1999: 88–92). Einen nicht geringen Einfluss auf die Entscheidung<br />

übte letztendlich die deutsche Umgebung aus. Ein Neutitscheiner<br />

wie tschechisch, viele Deutsche sprechen tschechisch genauso gut wie deutsch (zit. nach<br />

BRTEK/HULÍK 1921).<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 213<br />

Schüler, den der Vater in die tschechische Bürgerschule geschickt hatte,<br />

erinnert sich: „Vielleicht wäre ich noch länger in die tschechische Schule<br />

gegangen, aber die deutschen ,Geschäftsfreunde‘ meines Vaters drohten<br />

ihm mit Boykott“ (Bericht Günther Schalich). Deshalb wechselte er nach<br />

einem Jahr an das deutsche Gymnasium. Ähnliches erfuhr ebenfalls Wilma<br />

Iggers. Als sie von der deutschen Volksschule in die tschechische Bürgerschule<br />

in Bischofsteinitz/Horšovský Týn wechselte und sich die langen<br />

Zöpfe abschneiden ließ, um einem tschechischen Jungen zu gefallen, urteilte<br />

gar ihr ehemaliger deutscher Lehrer: „Jetzt bist du kein deutsches Mädel<br />

mehr.“ (IGGERS 2002: 23)<br />

Die tschechoslowakische Schulpolitik betonte, wie die Mehrheit der europäischen<br />

Staaten in der Zwischenkriegszeit, 28 den nationalen Aspekt. Im<br />

Lehrplan war die Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern nie<br />

berücksichtigt worden, es wurde nie erwirkt, dass ein Gedenktag an eine<br />

deutsche Persönlichkeit aus dem böhmisch-mährischen Raum gefeiert wurde.<br />

Der Versuch des tschechoslowakischen Schulministeriums ist offensichtlich,<br />

das gewünschte Wertesystem unter die deutschen Mittelschüler zu<br />

bringen, doch das Ministerium bediente sich dabei keinerlei auffälliger repressiver<br />

Zwangsmaßnahmen, welche von den Mittelschülern registriert<br />

werden konnten. Den sudetendeutschen Pädagogen konnte es ohne größere<br />

Schwierigkeiten gelingen, die breiten Freiräume in der Gestaltung des Unterrichtsprozess<br />

zu nutzen. Es wurden daher nicht nur die vom tschechoslowakischen<br />

Ministerium geforderten Lehrinhalte, sondern auch Kenntnisse,<br />

die auf die deutsche Kultur bezogen waren, vermittelt.<br />

In gewisser Weise war damit eine Synthese zwischen der volks- und staatsbürgerlichen<br />

Erziehung gefunden. Somit trug die deutsche Mittelschule in<br />

der Tschechoslowakei zur Herausbildung einer sudetendeutschen Sonderkultur<br />

bei, ohne aber das politisch geladene Wort ‚sudetendeutsch‘ im Unterricht<br />

zu gebrauchen (Bericht Waltraud Meyer). Übereinstimmend behaupten<br />

deshalb die Respondenten: „Eine Herausbildung einer sudetendeutschen<br />

Identität hat es nicht gegeben.“ In mehreren Berichten wurde<br />

akzentuiert, der Unterricht wäre unpolitisch und neutral, sogar „die Sudetenkrise<br />

im September 1938 war im Unterricht kein Thema“ (Bericht Hans<br />

Witzku). Daher ist eine Aussage eines Gymnasiasten, Mitglied im Deutschen<br />

Turnverband und Sudetendeutschen Wandervogel, nicht gerade überraschend:<br />

„Wesentlich für die Herausbildung einer sudetendeutschen Identität<br />

war nicht die Mittelschule [...] entscheidend in diesen Jahren [1933–38]<br />

war die Jugendbewegung.“ Bestimmt boten beide Organisationen für die<br />

28 Vgl. zu Österreich ENGELBRECHT (1976: 203–229), zu Deutschland ROESSLER<br />

(1976: 17–38).


214<br />

Mirek Němec<br />

Mehrheit der deutschen Jugendlichen in diesen Jahren ein attraktiveres und<br />

zugleich verführerischeres Geschichtsbild als das, was ihnen in der Schule<br />

vermittelt wurde. Es stärkte ihre nationale Identität und half, hoffnungsvolle<br />

Zukunftsperspektiven auf nationaler Basis zu entwickeln (LUH 1986: 281–<br />

305).<br />

Als ein Manko tschechoslowakischer Schulpolitik ist das Fehlen jeglichen<br />

Versuchs anzusehen, die wechselseitige nationale Abschottung zu überwinden.<br />

Kooperation zwischen tschechischen und deutschen Schulen blieb<br />

weitgehend ungenutzt. In einigen Städten kam es zu überhaupt keinen Kontakten<br />

zwischen den deutschen und tschechischen Gymnasiasten. Als Beispiel<br />

zitiere ich die Aussage eines Troppauer Gymnasiasten:<br />

Wir, die deutschen Schüler, sie die tschechischen Schüler waren zwei monolithische Blöcke,<br />

die nicht die geringsten Gemeinsamkeiten hatten. [...] Wir gingen grußlos an ihnen vorbei, wir<br />

belästigen sie nicht, sie verhielten sich uns gegenüber ebenfalls tadellos. (Bericht Wilhelm E.<br />

Leubner)<br />

In anderen Schulstädten stifteten einzelne Lehrer dagegen Freundschaften<br />

zwischen den deutschen und tschechischen Schülern. Die erste Brücke wurde<br />

meistens mit Hilfe sportlicher Aktivitäten gebaut. In Böhmisch Leipa<br />

wurde auf Initiative der jungen Turnlehrer noch in den späten 30er Jahren<br />

gegeneinander Fußball gespielt (Bericht Viktor Heller) und im südmährischen<br />

Znaim kam es zu Wettkämpfen in Leichtathletik und Eishockeyspielen<br />

(Bericht Hans Brunner). Allerdings ist es fraglich, ob ein sportlicher<br />

Wettkampf tatsächlich zu einer Freundschaft beitragen kann. 29 Von staatlicher<br />

Seite jedenfalls wurden keinerlei Initiativen entwickelt, die Kontakte<br />

zwischen den tschechischen und deutschen Schülern hätten fördern können.<br />

Die Weichen wurden gestellt, die deutsche Schule verlor seitdem allmählich<br />

ihre Chance, die Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien zu loyalen<br />

deutschsprachigen Staatsbürgern der Tschechoslowakei zu erziehen.<br />

Literatur<br />

ANDERSON, Benedict ( 2 1993): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere<br />

eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt/Main, New York: Campus.<br />

DER AUSLANDDEUTSCHE. (1927), Nr. 20, Jg. X., Stuttgart.<br />

29 Günther Schallich berichtet: „Das deutsche und tschechische Gymnasium veranstalteten<br />

einmal im Jahr einen leichtathletischen Wettkampf, aber das war ja eher ein Gegeneinader<br />

als ein Miteinander.“ Doch auch er macht darauf aufmerksam, dass außerhalb der<br />

Schule, beim Fußball auf den Wiesen sich Kontakte zwischen deutschen und tschechischen<br />

Kindern... entwickelten.“<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 215<br />

BECHER, Walter (1990): Zeitzeuge. Ein Lebensbericht. München: Langen<br />

Müller.<br />

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Übersetzen aus dem Deutschen ins Tschechische. Prag: Staatliche Verlagsanstalt.<br />

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Akademie der Wissenschaften.<br />

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Beispiel Österreichs 1867–1918. – In: G. Hentschel (Hg.), Über Muttersprachen<br />

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Sonne Mährischer Mond. Essays und Erinnerungen. Wien: Deuticke,<br />

129–142.<br />

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FÜHMANN, Franz (1983): Den Katzenartigen wollten wir verbrennen. Ein<br />

Lesebuch. Hrsg. mit einem Nachwort von H.–J. Schmitt. Hamburg: Hoffmann<br />

und Campe.<br />

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in der Zwischenkriegszeit. – In: M. Heinemann (Hg.), Sozialisation<br />

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1938–1948. Zwischen Wissenschaft und Politik. Essen: Klartext.<br />

HAHN, Eva ( 2 1999): Jak vnímají Češi Němce? Příklad T. G. Masaryka<br />

[Wie nehmen Tschechen Deutsche wahr? Beispiel T.G.Masaryk]. – In:<br />

Dies., Sudetoněmecký problém: obtížné loučení s minulostí [Sudetendeutsches<br />

Problem: Schwieriger Abschied von der Vergangenheit] Ústí nad Labem:<br />

Albis international, 214–242.<br />

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zur Zeitgeschichte. – In: Stifter-Jahrbuch 7. München, 131–<br />

135.


216<br />

Mirek Němec<br />

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HOBSBAWM, Eric (1992): Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität<br />

seit 1780. 2. Auflage. Frankfurt/Main: Campus.<br />

IGGERS, Wilma/IGGERS, Georg (2002): Zwei Seiten der Geschichte. Lebensbericht<br />

aus unruhigen Zeiten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.<br />

ILLMANN, Erich (2002): Der Schüleraustausch in der 1. Tschechoslowakischen<br />

Republik 1918–1938. Ein Beispiel für deutsch-tschechisches Miteinander.<br />

Mainz: Caritas-Druckerei (Selbstverlag).<br />

IRGANG, Norbert (1977): Die deutschen Lehrerverbände in der Tschechoslowakei<br />

1918–1938. – In: M. Heinemann (Hg.), Der Lehrer und seine Organisation.<br />

Stuttgart: Klett, 273–287.<br />

Jahrbuch des Reichsverbandes Deutscher Mittelschullehrer in der Tschechoslowakischen<br />

Republik 6 (1933). Leitmeritz: Druck- und Verlagsanstalt<br />

Leitmeritz.<br />

Jahresbericht des Deutschen Masaryk-Gymnasiums in Brünn für das Schuljahr<br />

1937/38. Brünn: Selbstverlag 1938.<br />

Jahresberichte der Deutschen Realschule in Leitmeritz 1919–1928. Leitmeritz:<br />

Selbstverlag 1919–1928.<br />

Jahresberichte des Deutschen Gymnasiums in Leitmeritz 1921–1928. Leitmeritz:<br />

Selbstverlag 1921–1928.<br />

KEIL, Theo (Hg.) (1967): Die deutsche Schule in den Sudetenländern.<br />

München: Verlag Robert Lerche.<br />

KOSTA, Jiří (2001): Nie aufgeben! Ein Leben zwischen Bangen und Hoffen.<br />

Berlin. Wien: Philo.<br />

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Erinnerungen, niedergeschrieben 1972 mit einem Nachtrag von 1975 (Erstveröffentlichung).<br />

– In: F. Seibt (Hg.), Lebensbilder zur Geschichte der<br />

böhmischen Länder 5. Eugen Lemberg 1903–1976. München: Oldenbourg,<br />

132–278.<br />

LEMBERG, Hans (Hg.) (2003): Universitäten in nationaler Konkurrenz.<br />

Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert. München:<br />

Oldenbourg.<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 217<br />

LUH, Andreas (1986): Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein im Deutschen<br />

Turnverband in seiner Entwicklung vom Turnvereinsbetrieb zur<br />

volkspolitischen Bewegung. – In: F. Seibt (Hg.), Vereinswesen und Geschichtspflege<br />

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306.<br />

MÄHNER, Peter (1999): Grenze als Lebenswelt. Gnadlersdorf (Hnanice),<br />

ein südmährisches Dorf an der Grenze. – In: P. Haslinger (Hg.), Grenze im<br />

Kopf. Frankfurt/Main: Lang, 67–102. (= Wiener Osteuropa Studien 11)<br />

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Konflikt zwischen ‚konservativer‘ und ‚moderner‘ Architektur. München:<br />

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Gesellschaftsgeschichte in den böhmischen Ländern und in Europa.<br />

Festschrift für Jan Havránek. München: Verlag für Geschichte und Politik,<br />

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Letzter Zugriff am 30.6.<strong>2004</strong>.<br />

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německého školství pro multikulturní rozvoj našich zemí. Olomouc:<br />

Univerzita Palackého.<br />

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Vereine zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse in Prag.


218<br />

Mirek Němec<br />

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Ungarn. Slowaken, Rumänen und Siebenbürger Sachsen in der Auseinandersetzung<br />

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SCHULORDNUNG für die Mittelschulen der Čechoslovakischen Republik<br />

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in Böhmen am Ende des 19. Jahrhunderts. – In: Germanoslavica. Zeitschrift<br />

für germano-slawische Studien II (VII.), Nr.1, 107–115.<br />

Liste der Informanten<br />

1) Nitsche, Ewald, Volksschule Böhmischdorf/Česká Ves, Zeitraum fehlt;<br />

Brief vom 10.02.2003.<br />

2) Karpstein, Rita, Volksschule Senftleben/Ženklava, Zeitraum fehlt; Brief<br />

vom 18.6.2003.<br />

3) Eiter, Kamilla, Volksschule Zeislitz/Cejslice 1932–?; Brief vom<br />

13.2.2003.<br />

4) Pruy, Eleonore, Volksschule und Bürgerschule im Erzgebirge (geboren<br />

Böhm. Wiesenthal/Loučná) 1922–1933; Brief vom 25.11.2003.<br />

5) Oliwa, Maria, Bürgerschule in Freiwaldau/Jeseník 1937–1941; Briefe<br />

vom 11.4.2003 und 25.5.2003.<br />

6) Beywl, Elisabeth Katharina, Bürgerschule Hartmanitz/Hartmanice<br />

1936–1940; Brief vom 18.3.2003.<br />

7) Beywl, Zephyrin Gustav, Bürgerschule Hartmanitz/Hartmanice 1934–<br />

1937; Brief vom 20.3.2003.<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 219<br />

8) Keller, Irmgard, Bürgerschule Hartmanitz/Hartmanice 1936–1940;<br />

Brief vom 3.2.2003.<br />

9) Bschoch, Erwin, tschechische Bürgerschule Komotau/Chomutov 1935–<br />

1938; e-mail vom 18. und 22.3.2003.<br />

10) Träger, Gertrud, Bürgerschule Luditz/Žlutice 1934–1937; Brief vom<br />

3.3.2003.<br />

11) Meyer, Waltraud, Bürgerschule Reichenberg/Liberec (1931–1935);<br />

Brief vom 24. 2.2003.<br />

12) Lares, Josef, Bürgerschule in Neutitschein/Nový Jičín 1934–1937;<br />

Brief vom 15.3.2003.<br />

13) Schneider, Herbert, Bürgerschule Oberleutensdorf/Litvínov 193?-1941;<br />

Brief vom 4.2.2003.<br />

14) Bauer, Karl, Bürgerschule in Staab bei Pilsen/Stod u Plzně beendet<br />

1936; Brief vom Brief undatiert.<br />

15) Laube, Richard, Bürgerschule in Tetschen a.d.E./Děčín 1920–1924;<br />

Brief vom 13.12.2003<br />

16) Behrbalk, Erhard, Bürgerschule Weipert/Vejprty um 1938; Brief vom<br />

5.5.2003.<br />

17) Scharm, Gustav, Realgymnasium Arnau/Hostinné 1933–1941; Brief<br />

vom 25.2.2003.<br />

18) Heller, Viktor, Realschule Böhmisch Leipa/Č. Lípa 1932–1934, Realgymnasium<br />

B. Leipa 1934–38; Brief vom 5.3.2003.<br />

19) Fritzsche, Maria, Realgymnasium Böhmisch Leipa/Č. Lípa 1939–?;<br />

Brief vom 19.2.2003 und Interview im Mai 2003.<br />

20) Schlögl, Friedrich, Gymnasium Braunau/Broumov, Gablonz/Jablonec<br />

n.Nisou und RG Karlsbad/Karlovy Vary 1929–1936; Briefe vom 14.4.,<br />

4.5., 3.6., 10.7.2003.<br />

21) Hertl, Hanns, Realschule Brünn/Brno 1934–35 u. Masaryk-Gymnasium<br />

Brünn 1935–1941; Brief vom 4.4.2003.<br />

22) Dittrich, Heinz, Realgymnasium Brünn/Brno 1930–1939; Brief vom<br />

5.6.2003.<br />

23) Bouzek, Anton, Realgymnasium Budweis/Č. Budějovice 1934–1942;<br />

Brief vom 13.2.2003.<br />

24) Witzku, Hans, Realgymnasium Budweis/Č. Budějovice 1936–1940;<br />

Brief vom 15.2.2003.<br />

25) Tahedl, Rosa, LBA Budweis/Č. Budějovice 1932–1936; Brief vom<br />

12.3.2003.<br />

26) Putz, Karl, Staatsgymnasium Eger/Cheb, von 1937–?; Brief vom<br />

29.7.2003.<br />

27) Hart, Illuminata Margareta – Privat LBA der Schwestern vom hl. Kreuz<br />

in Eger/Cheb 1926–1930; Brief vom 5.1.<strong>2004</strong>.


220<br />

Mirek Němec<br />

28) Leischner, Anton, Gymnasium Freiwaldau/Jeseník – sicher 1925/26;<br />

Brief vom 20.11.2003<br />

29) Arndt, Anna, Reformrealgymnasium Iglau/Jihlava 1937–1942; Brief<br />

vom 26.6.2003.<br />

30) Wied, Ernst R., Realgymnasium Karlsbad/Karlovy Vary 1923–1927;<br />

Brief vom 3.5.2003.<br />

31) Anders, Herta, Realgymnasium Karlsbad/Karlovy Vary 1933–1938;<br />

Brief vom 2.2.2003.<br />

32) Hoffmann, Roland, LBA Komotau/Chomutov 1924–1928; Brief vom<br />

21.1.2003 und Anruf am 12.3.2003.<br />

33) Endisch, Irmtraut, LBA Komotau/Chomutov 1934–1938; Brief vom<br />

20.5.2003.<br />

34) Kreißl, Ottmar, Realgymnasium in Komotau/Chomutov 1934–1942;<br />

Brief vom 9.11.2003.<br />

35) Wischin (Višín), Franz (1922 – 1930); verstorben 2002. Seine Erinnerungen<br />

an das Gymnasium Krumau/Krumlov vermittelt durch Frau<br />

Charlotte Birnbaum; Brief vom 2.4.2003 und 3.3.2003.<br />

36) Hederer, Josef, Gymnasium Mies/Štříbro, 1938–1940, Brief vom<br />

20.11.2003.<br />

37) Ertel, Karl, Reformrealgymnasium Neutitschein/Nový Jičín 1933–<br />

1941; Brief vom 5.3.2003 und 26.3.2003.<br />

38) Schalich, Günther, Reformrealgymnasium Neutitschein/Nový Jičín<br />

1936–1942; Brief vom 3.12.2003 und 16.2.<strong>2004</strong>.<br />

39) Gerstenbrand, Franz, Realgymnasium Nikolsburg / Mikulov 1934–<br />

1942; Brief vom 22.02.<strong>2004</strong>.<br />

40) Wiener, Hans, Realgymnasium in Prag-Smíchov ?-1938 (Jg.1925); email<br />

vom 25.2.2003.<br />

41) Haferkorn, Wolfgang, Staatsrealgymnasium Reichenberg/Liberec<br />

1934–?; Brief vom 28.11.2003.<br />

42) Großmann, Anton, Gymnasium Teplitz/Teplice 1935–1943; Brief vom<br />

17.2.2003.<br />

43) Kuhn, Luise Gertrud, Mädchenreformrealgymnasium Troppau/Opava<br />

1923–1931; Brief vom 25.3.2003.<br />

44) Keil, Gerda, Mädchenreformrealgymnasium Troppau/Opava 1923–<br />

1931; e-mail vom 23.3.2003.<br />

45) Kraus, Ernst, Gymnasium Troppau/Opava 1920–1929; Brief vom<br />

3.3.2003.<br />

46) Leubner, Wilhelm E., Gymnasium Troppau/Opava 1926–1935; Brief<br />

vom 9.4.2003.<br />

47) Groth, Helga, Gymnasium Troppau/Opava (1930–1938); Brief vom<br />

30.6.2003 und Interview am 27.9.2003.<br />

Der Schulalltag in den deutschen Schulen der Tschechoslowakei … 221<br />

48) Brunner, Hans, Reformrealgymnasium in Znaim/Znojmo 1930–1938;<br />

Brief vom 4.2.2003 und 18.3.2003.<br />

49) Bornemann, Hellmut, Reformrealgymnasium Znaim/Znojmo 1933–<br />

1941; Brief vom 18.1.2003.


Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik<br />

der Kabbala<br />

Walter Koschmal<br />

Es gibt Forschungsthemen, die als Lücken in der Forschungslandschaft erkannt<br />

und bald darauf auch geschlossen, weiße Flecken, die auf der Landkarte<br />

der Forschung getilgt werden. Darin sehen Forscherinnen und Forscher<br />

ihre hauptsächliche Aufgabe.<br />

Es gibt aber auch Forschungslücken, die noch gar nicht als Lücken erkannt<br />

worden sind. Je intensiver die Wissenschaft grenzüberschreitend, das heißt<br />

interdisziplinär forscht, desto mehr dieser Lücken dürfte sie als solche identifizieren.<br />

Es handelt sich dabei um ein unentdeckt schlummerndes Forschungspotenzial.<br />

In der Slavistik haben sich so zahlreiche neue Forschungsfelder aufgetan,<br />

vor allem durch den interdisziplinären Vergleich. Damit vollzieht sich aktuell<br />

wohl ein Paradigmenwechsel. Gedeih oder Verderb so mancher slavistischer<br />

Forschung, wird wohl auch davon abhängen, ob Slavistinnen und Slavisten<br />

diesen Weg einschlagen. In jedem Fall verlangt er eine Ausweitung<br />

des disziplinären Blicks.<br />

Eine Forschungslücke, die – vor allem in ihrer Breite und Tiefe – wohl noch<br />

nicht als solche identifiziert sein dürfte, stellt ein tschechischer Dichter des<br />

20. Jahrhunderts dar, Jiří Mordechaj Langer. Sein Name kommt in einschlägigen<br />

Überblicksdarstellungen zur tschechischen Literatur bzw. in Literaturgeschichten<br />

kaum vor oder Langer wird in ganz wenigen Sätzen<br />

(LEHÁR/STICH/JANÁČKOVÁ/HOLÝ 1998: 535) abgehandelt. Die wenigen<br />

neueren und neuesten Beiträge zu ihm (DAGAN 1991; VÍZDALOVÁ<br />

2002) machen zwar auf ihn aufmerksam, bleiben aber im Allgemeinen, zum<br />

Teil Bekannten stecken und lassen sich nicht auf seine Texte ein. Langer ist<br />

der letzte Prager Dichter, der in Hebräisch gedichtet hat. Mit dem Vordringen<br />

der Nationalsozialisten im Jahre 1939 sah er sich gezwungen, seiner<br />

Heimat endgültig den Rücken zu kehren und nach Palästina auszuwandern,<br />

wo er im März 1943 wohl recht einsam starb. Bis zuletzt glaubte der Chasside<br />

Langer, ein Händedruck seines Zaddik, dem Rebbe von Belz (Bels),<br />

würde ihn umgehend gesund werden lassen.<br />

Die Gründe dafür, dass Langer kaum wahrgenommen wurde und wird, sind<br />

zahlreich. Zunächst einmal war er als Mensch und Dichter ein Außenseiter,<br />

ein chassidischer Jude, der mal in Prag, mal unter Ostjuden in der heutigen<br />

Ukraine, mal in Ungarn lebte. Schließlich ging er ins Exil und starb wegen<br />

der beschwerlichen Reise bald darauf. Mit derart ,unsteten‘, nomadisierenden<br />

Literaten wie Langer hat die klassische Literaturgeschichte ihre liebe Not.


224<br />

Walter Koschmal<br />

Langer lässt sich kaum einer Literatur oder Kultur, ja nicht einmal einer Sprache<br />

eindeutig zuordnen. Diese Schwierigkeiten sollten allerdings vor allem<br />

das Konzept nationaler Literaturgeschichtsschreibung in Frage stellen.<br />

Langers Wahrnehmung mag es aber auch geschadet haben, dass er einen so<br />

bekannten, ihm in Art und – eher bürgerlichem – Judentum diametral entgegen<br />

gesetzten (DAGAN 1991) Schriftsteller-Bruder hatte: František Langer<br />

ist einer der wichtigen tschechischen Dramenautoren des 20. Jahrhunderts.<br />

Noch in der neuesten „Geschichte der tschechischen Literatur“ (Band<br />

3, 2003) von Walter Schamschula wird diese höchst unterschiedliche Rezeption<br />

deutlich: Den vielen Seiten, die František Langer gewidmet sind,<br />

stehen die wenigen Zeilen gegenüber, die Jiří Mordechaj Langer gelten.<br />

In der langen Reihe der Gründe für die Nicht-Wahrnehmung Langers soll<br />

nur noch ein letzter genannt werden, nämlich die verzögerte Rezeption. J.<br />

M. Langer hat zahlreiche Sprachen beherrscht, aktiv wie passiv, so u. a.<br />

Aramäisch. Er hat aber auch in drei Sprachen Bücher geschrieben, nämlich<br />

in Tschechisch, Deutsch und Hebräisch. Den tschechischen Rezipienten<br />

wurde sein religionsphilosophisches Werk Die Erotik der Kabbala erst<br />

knapp 70 Jahre nach seinem Erscheinen in ihrer Sprache zugänglich (1923<br />

bzw. 1991). Zuvor war es jedoch nach der ersten deutschsprachigen Ausgabe<br />

im Jahre 1923 schon in einer zweiten deutschsprachigen Ausgabe mit<br />

dem Titel Liebesmystik der Kabbala und einem Vorwort von Alfons Rosenberg<br />

erschienen. Rosenberg hatte den Text allerdings völlig unzulässig gekürzt<br />

und auch darüber hinaus verändert, aus philologischem Blickwinkel<br />

eine Katastrophe. Unangemessen ist natürlich auch der völlig in die Irre<br />

führende Titel Liebesmystik der Kabbala. Der Originaltitel Langers war<br />

Rosenberg zu „drastisch“ (1956: 11). Also änderte er ihn kurzerhand.<br />

Langers tschechisch geschriebenes erzählerisches Hauptwerk Devět bran<br />

(Die neun Tore) haben die Nationalsozialisten vernichtet, so dass hier die<br />

tschechische Rezeption mit einer Verzögerung von fast dreißig Jahren erfolgt.<br />

In Wahrheit hat sie aber wegen der totalitären politischen Verhältnisse<br />

nach 1968 erst in den späteren 80er Jahren stattgefunden. Also konnte sie<br />

auch in diesem Fall erst mit etwa einem halben Jahrhundert Verzögerung<br />

beginnen. Die deutsche Rezeption dagegen setzte frühzeitig ein, weil das<br />

Werk in der freilich ungebührlich kürzenden und bearbeitenden Übersetzung<br />

Friedrich Thiebergers unter dem Titel Neun Tore und einer Einleitung<br />

von Gershom Scholem 1959 im gleichen Verlag (Otto Wilhelm Barth Verlag)<br />

in München-Planegg erschienen ist. 1<br />

1 Avigdor Dagan (1991: 192) erwähnt nur die deutsche Edition von 1959 und eine englische<br />

von 1961 („Also published in German in 1959 and in English in 1961“), ohne auf<br />

die erheblichen Streichungen und die gänzlich inadäquate Übersetzung zu verweisen. Er<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala<br />

Langers hebräisch geschriebene Gedichte aber waren schon wegen der<br />

Sprache nur einem sehr eingeschränkten Kreis von Rezipienten zugänglich.<br />

Zu Übersetzungen ins Tschechische kam es nur zum Teil und erst spät. War<br />

dies zunächst politisch nicht opportun, so ist bis heute die Erforschung jüdischer<br />

Dichter, zudem eines chassidischen, nicht gerade in Mode. Durch die<br />

politischen Veränderungen ändert sich diese Einstellung in der Wissenschaft<br />

im heutigen Tschechien nach und nach. Damit ist Langer, der noch<br />

im 19. Jahrhundert geboren wurde, fast überraschend zu einem gleichsam<br />

zeitgenössischen Dichter geworden.<br />

Man kann nicht behaupten, dass ihn die Forschung, insbesondere die philologische,<br />

vergessen hat: Sie hat ihn vielmehr nie wirklich entdeckt. Das mag<br />

auch noch einen weiteren Grund haben. Langers einziges tschechisch geschriebenes<br />

literarisches Werk, Devět bran, umfasst chassidische Erzählungen,<br />

Legenden und Anekdoten. Dieses Genre ist im 20. Jahrhundert so sehr<br />

von einer Person, von Martin Buber und seiner Sammlung chassidischer<br />

Legenden, geprägt worden, man möchte fast von einem Alleinvertretungsanspruch<br />

sprechen, dass Langer in Bubers Schatten fast zwangsläufig<br />

gleichsam unsichtbar bleiben musste.<br />

Das Beispiel J. M. Langers macht somit eines deutlich. Dort wo sich Judaisten<br />

oder Religionsphilosophen nur mit hebräischen Texten beschäftigen,<br />

Theologen nur mit religiösen Schriften, Slavisten nur mit slavischsprachiger<br />

Literatur, dort bleibt ein Dichter wie Langer unbemerkt. 2 Der Dichter und<br />

erwähnt auch nicht die weiteren Editionen, ebenso wenig die frühere der Erotik der<br />

Kabbala (1923). Bereits 1983 wurden die Neun Tore erneut herausgegeben, wieder mit<br />

dem Vorwort von Gershom Scholem, jedoch wurde die „Vorbemerkung des Übersetzers“<br />

jetzt unter dem Titel „Zur deutschen Übersetzung“ an das Ende gestellt. Der Verfasser<br />

des Textes fehlt. Der Text selbst ist um mehr als die Hälfte gekürzt. Der Leser erfährt<br />

1983 nicht mehr, dass der Übersetzer das Original ebenfalls gekürzt hat. Die 1983<br />

benutzte Übersetzung ist aber erneut jene Thiebergers, wobei sein Name – ebenso wie<br />

1959 – weiterhin falsch als „Thierberger“ geführt wird. In der Ausgabe von 1983 werden<br />

auch noch weitere Umstellungen vorgenommen, das erste Kapitel etwa wandert an<br />

das Ende, wird in zwei Teile geteilt und erhält zwei völlig neue Titel (vgl. 207 und 231).<br />

Geradezu fatal und entstellend sind die nun überwiegend an Personen orientierten neuen<br />

Kapitelüberschriften, da Langers Unterteilung in Neun Tore damit hinfällig wird. Insofern<br />

ist es eine logische Konsequenz, dass der neue Buchtitel die „Neun Tore“ ebenfalls<br />

tilgt. Unter dem Titel Der Rabbi, über den der Himmel lachte. Die schönsten Geschichten<br />

der Chassidim, Autor Georg Langer, lässt sich das Werk nur mehr schwer mit dem<br />

tschechischen Original in Verbindung bringen.<br />

2 Die wechselnde Namengebung bzw. Schreibung des Dichternamens hat ebenfalls zur<br />

Verwirrung beigetragen. Die Erotik der Kabbala führt M. D. Georg Langer als Autor,<br />

ebenso die Ausgabe von 1956. Neun Tore von 1959 nennen „Georg M. Langer“ als Autor,<br />

die Ausgabe von 1983 Georg Langer. Avigdor Dagan nennt zudem die wechselnden<br />

Namen des Autors in den hebräischen Publikationen nämlich Mordechai Georg, Mordechai<br />

Gerog oder Mordechai Dov Georgo Langer. Das zunächst überraschende „D“ beim<br />

Autor der Erotik der Kabbala löst sich auf als „Dov“, so dass der Autor als Mordechai<br />

225


226<br />

Walter Koschmal<br />

Mensch Langer verschwindet dann aus dem kulturellen Gedächtnis. Dort<br />

aber wo interdisziplinäre Forschungsansätze versucht werden, wo eine vergleichende,<br />

auf Dialog ausgerichtete Forschungsperspektive eingenommen<br />

wird, hat auch ein so vielschichtiger Autor wie Langer die Chance, in das<br />

kulturelle Gedächtnis zurückgeholt zu werden. J. M. Langer ist eine zweifellos<br />

selten rätselhafte, schillernde Figur in der tschechischen Kultur und<br />

Literatur. Man wird dieses Rätsel nur mit Geduld lösen können, sicher nicht<br />

in einem knappen, gleichsam ersten Forschungsbeitrag. Doch Wege zur<br />

Lösung sollten nach und nach aufgezeigt werden.<br />

Deshalb handelt der Beitrag im Weiteren auch nur von einem Aspekt seines<br />

Schaffens, von J. M. Langers in deutscher Sprache geschriebenem Werk<br />

Die Erotik der Kabbala. Dieses soll erstmals in jenes kulturelle und intertextuelle<br />

Koordinatensystem gestellt werden, das zu einem besseren Verständnis<br />

beitragen sollte. Dabei geht es nur darum, erste grobe Fäden zu<br />

knüpfen. Vielleicht lassen sich dadurch andere dazu anregen, an diesem<br />

Netz, das letztlich nur in interdisziplinärer Kooperation zwischen Bohemisten,<br />

Psychologen, Philosophen, Theologen und Judaisten zu knüpfen sein<br />

wird, mitzuarbeiten.<br />

Langer und die Tradition der Kabbala<br />

Kabbala heißt nichts anderes als Tradition oder Überlieferung. Gershom<br />

Scholem (1897–1982) gesteht in seinem Werk Zur Kabbala und ihrer Symbolik<br />

(1960), dass seine Generation der Kabbala „verständnislos“ gegenüberstand.<br />

Denn die Kabbala sei letztlich der europäischen Kultur der Aufklärung<br />

„geopfert“ worden (SCHOLEM 1960: 9). J. M. Langer hat diesen<br />

Gedanken schon erheblich früher formuliert, doch sich dazu des Freudschen<br />

Begriffs der „Verdrängung“ bedient. 3 Die Mystik der Kabbala sei immer<br />

zwischen einem konservativ-bewahrenden und einem revolutionärvorwärtsstrebenden<br />

Ansatz geschwankt.<br />

Diese Spannung habe sich u.a. in den einander diametral entgegengesetzten<br />

Interpreten der heiligen Schrift, der Thora, niedergeschlagen. Das so genannte<br />

„Gesetzesjudentum“, das später „rabbinisches Judentum“ heißt<br />

(SCHOLEM 1960: 127), tendierte zu einer normativen Auslegung der Kabbala.<br />

Die rabbinischen Juden beriefen sich dabei auf die Schriftlichkeit, auf<br />

Dov Georg Langer figuriert, also eine Mischung aus hebräischer und deutscher Namengebung.<br />

3 Alfons Rosenberg, der die Liebesmystik der Kabbala bezeichnenderweise in seiner<br />

Schriftenreihe „Dokumente religiöser Erfahrung“ herausgibt, rechtfertigt seine Kürzungen<br />

und seine Überarbeitung, die angeblich „niemals das Wesentliche“ berühren<br />

(ROSENBERG 1956: 13), unter anderem mit der Notwendigkeit, eine Reihe „allzu einseitiger<br />

Freudianismen zu berichtigen und auszumerzen“ (ROSENBERG 1956: 14).<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala<br />

die schriftliche Thora (SCHOLEM 1960: 68). Die Tradition spürte man vor<br />

allem in schriftlichen Dokumenten, nicht im Leben auf. Die sich in den<br />

Schriften niederschlagenden Gesetze erschienen hingegen zutiefst „unmythisch“.<br />

Scholems Geständnis, dass er der Kabbala „verständnislos“ gegenüberstand,<br />

ergibt sich wohl daraus, dass er wesentlich von diesen Schriften<br />

geprägt war.<br />

Eine andere Tradition zeigte sich hingegen von der „mündlichen Thora“<br />

geprägt. Die mündliche Thora war immer eng mit dem Volk, seinem Glauben<br />

und Aberglauben verbunden. Die Tradition wurde in diesem Fall nicht<br />

als schriftliche fixiert, sondern als gelebte, vom Einzelnen erfahrene Tradition<br />

aufgefasst. Schon deshalb wird in diesem Traditionsverständnis die<br />

Emotionalität der Religion und der Kabbala betont. Schriftliche und mündliche<br />

Thora sind aber in der Kabbala als komplementär zu sehen<br />

(SCHOLEM 1960: 68). Insofern bedeutet die mündliche Thora, wie sie J.<br />

M. Langer ziemlich unvermittelt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in<br />

einem tschechischen Kontext in deutscher Sprache propagiert, eine Remythisierung<br />

der Thora. Die von ihren emotionalen Wurzeln gelöste Thora,<br />

die von der ursprünglichen Emotionalität getrennten Gesetze und Rituale<br />

(SCHOLEM 1960: 127) werden wieder auf diese zurückgeführt.<br />

Das was Scholem als „Opferung“ dieser mündlich-mythischen Dimension<br />

der Kabbala bezeichnet, klassifiziert Langer ganz entschieden mit der Sprache<br />

der Psychoanalyse als „Verdrängung“. Diese Parallele drängt sich ihm<br />

nicht zufällig auf, sie ist ein wesentliches Moment seines Denkansatzes.<br />

Die Kabbala lässt sich laut Scholem als die „historische Psychologie“ des<br />

Judentums (SCHOLEM 1960: 8) verstehen. Psychologischer und historischer<br />

Ansatz schaffen demnach die „Einheit“ der kabbalistischen Theosophie.<br />

Langer geht es letztlich um die Wiederherstellung dieser verloren gegangenen<br />

Einheit (SCHOLEM 1960: 137). Dabei können alle Symbole der<br />

Kabbala nach Scholem historisch wie psychologisch verstanden und ausgedeutet<br />

werden. Für dieses doppelte Verständnis der Kabbala könnte Scholem<br />

durchaus schon bei Langer einen Impuls erhalten haben. Scholem<br />

schätzte Langer offensichtlich sehr, war es doch auch er, der Thieberger<br />

dazu anregte, Langers Erzählsammlung Neun Tore aus dem Tschechischen<br />

ins Deutsche zu übersetzen. Eine Beeinflussung Scholems durch Langer<br />

nachzuweisen dürfte aber schwierig sein. Tatsache ist zumindest, dass<br />

Scholem Langer intensiv rezipiert hat (s. Vorwort Thiebergers).<br />

Außerdem hat Langer im 20. Jahrhundert als einer der ersten die Kabbala<br />

mit seinem Werk Die Erotik der Kabbala in den Mittelpunkt des Interesses<br />

gerückt. Vor allem aber hat Langer die Kabbala in ganz aktuelle, sich in<br />

jener Zeit erst entwickelnde Diskurse eingebunden, nämlich in jene der<br />

Psychoanalyse. Die Kabbala wird bei Langer wohl erstmals mit der Termi-<br />

227


228<br />

Walter Koschmal<br />

nologie und dem Begriffsapparat Freuds und seiner Schüler dargestellt.<br />

Gershom Scholems Betonung der psychologischen Dimension der Kabbala<br />

könnte von Langer herrühren. Diese Frage müssen aber wohl Vertreter anderer<br />

wissenschaftlicher Disziplinen definitiv zu beantworten suchen.<br />

Die Semantik der Kabbala ist hochgradig hierarchisch geordnet<br />

(SCHOLEM 1960: 72). Es herrscht ein „Dualismus“ der Bedeutungen, vorrangig<br />

jener von „äußerem“ und innerem allegorischem Sinn. Der äußere<br />

Wortsinn steht dabei dem allegorisch-mystischen Sinn gegenüber. Doch ist<br />

die Zahl der tatsächlichen „Sinnschichten“ höher. Auch deren Struktur ist<br />

hierarchisch angelegt. Das heißt, die tiefste Sinnschicht ist die eigentlich<br />

geheime, jene, die am tiefsten verborgen bleibt (SCHOLEM 1960: 23). Im<br />

Grunde verfügt die Thora über unendlich viele „Sinnschichten“. Meist wird<br />

aber von vier Schichten ausgegangen. Neben dem Wortsinn sind dies die<br />

allegorische, die religiös-talmudische und schließlich die eigentlich mystische<br />

Sinnschicht. Eine bisweilen angenommene fünfte Sinnschicht basiert<br />

auf geheimen Buchstabenkombinationen (SCHOLEM 1960: 57, 80), die so<br />

genannte „Gematria“. Diese fünfte Sinnschicht kann es nur im Hebräischen<br />

geben, da hier die Buchstaben, ähnlich wie in der Glagolica und Kyrillica<br />

(MAREŠ 1986: 16f.), auch über einen Zahlenwert verfügen.<br />

Die Hierarchie der „Sinnschichten“ geht – nicht nur bei Langer – mit einer<br />

Hierarchie der Sprachen einher. Das Hebräische ist aufgrund seiner besonderen<br />

Sakralität – etwa im Unterschied zum Jiddischen – traditionell die<br />

hierarchisch übergeordnete Sprache. Langer bedient sich in seinen Werken<br />

dreier verschiedener Sprachen. Deutsch schreibt er Die Erotik der Kabbala,<br />

tschechisch chassidische Erzählungen unter dem Titel Devět bran (Neun<br />

Tore) und schließlich hebräisch Gedichte. Die frühen Gedichte gehen auf<br />

sein Interesse als Fünfzehnjähriger für mystische jüdische Poesie zurück.<br />

Damals lernte Langer bereits Hebräisch. Im Jahre 1929 erscheinen in Prag<br />

bereits seine im religiösen Stil gehaltenen Gedichte und Lieder der Freundschaft.<br />

Im Jahre 1937 und bereits in der zweiten Auflage 1939 erschien ein<br />

schmales Bändchen seiner Übersetzungen hebräischer Lyrik (Zpěvy zavřených,<br />

2000). Schließlich erscheinen schon in Tel Aviv (1943; 2. Auflage<br />

1984) seine eher an moderner europäischer Lyrik orientierten Gedichte<br />

Meat Zori Davar (VÍZDALOVÁ 2002).<br />

Das Tschechische, die tschechische Literatur sieht sich damit unvermittelt<br />

in einem ungewohnten Kontext, der zutiefst hierarchisch strukturiert ist und<br />

in dem das Tschechische selbst zumindest nicht den höchsten Wert markiert,<br />

da hier nicht nationale, sondern religiöse Kriterien angelegt werden.<br />

Der Gebrauch des Tschechischen ist hier kein gleichsam natürlicher, unmarkierter.<br />

Die Wahl der Sprache ist bei Langer markiert, da sie immer in<br />

der Relation zu den beiden nicht gewählten Sprachen zu sehen ist. Damit<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala<br />

nimmt Langer zweifellos eine Sonderstellung in der gesamten tschechischen<br />

Literatur ein. 4<br />

Die Remythisierung der Kabbala, die Scholem als notwendig ansieht, die<br />

aber Langer bereits praktiziert, erwächst wesentlich aus einer komplexen<br />

Reoralisierung der Kabbala bei Langer. Er bindet die Kabbala vor allem<br />

über die Mündlichkeit, die gesprochene Sprache wieder an seine „emotionalen<br />

Wurzeln“ zurück (SCHOLEM 1960: 127). Langer setzt der Schriftlichkeit<br />

der Rabbiner die Mündlichkeit der Kabbala, vor allem aber die Mündlichkeit<br />

der Chassidim entgegen, unter denen er lange Jahre lebt, ehe er Die<br />

Erotik der Kabbala schreibt. Mit dem „rabbinischen Judentum“ der schriftlichen<br />

Thora sah sich Langer auch durch die Juden von Prag konfrontiert.<br />

Dort war er auch lange als Lehrer tätig.<br />

Als einer der ganz wenigen Tschechen wählt er den anderen jüdischen Weg,<br />

jenen der Chassidim und damit auch jenen eines mythischen (Ost-)Judentums.<br />

Martin Buber (2001: 55), der Langer so sehr schätzte und der auf Einladung<br />

der jüdischen Hochschulgemeinde Bar Kochba am 20.1.1909 einen<br />

Vortrag zum Sinn des Judentums in Prag hielt, erinnert sich später, dass „die<br />

Feindschaft zwischen Ostjuden und Westjuden in Deutschland und Österreich<br />

von 1900 bis 1914“ besonders ausgeprägt gewesen sei. Dies gilt auch<br />

für Prag. In J. M. Langer stoßen diese beiden Strömungen – im Übrigen<br />

ähnlich wie bei Buber – direkt, auch biographisch – durch den Bruder František<br />

– aufeinander.<br />

Den in der Tradition der Kabbala fortwährend bestehenden „Kampf zwischen<br />

dem begrifflich-diskursiven und dem bildhaft-symbolischen Denken“<br />

(SCHOLEM 1960: 128–129) entscheidet Langer zugunsten des letzteren<br />

Pols. Er trifft diese Entscheidung auch deshalb so, weil er sich in Prag als<br />

chassidischer Ostjude mit der Vorherrschaft des rabbinischen Judentums<br />

konfrontiert sieht. In Bezug auf das Prager Judentum rückt er damit eine –<br />

in seiner Terminologie – „verdrängte“ Linie des Judentums wieder ins Be-<br />

4 In dieser abweichenden Einstellung zu den Sprachen unterscheidet sich Langer grundlegend<br />

von einem Dichter in seinem Umfeld, dem er Hebräisch beigebracht hat, mit dem<br />

er sich auch Hebräisch verständigt hat und der ihn wiederholt erwähnt, nämlich Franz<br />

Kafka (vgl. dazu BINDER 1967). Kafka schreibt keine hebräischsprachige Literatur.<br />

Seine einzige Literatursprache ist das Deutsche. Dennoch bediente sich Kafka auch des<br />

Tschechischen und benutzte es bisweilen im Alltag. Diese tschechischsprachige Dimension<br />

Kafkas wird durch die jüngsten Forschungen der letzten fünf Jahre von Marek Nekula<br />

erstmals angemessen in die Forschung eingebracht (vgl. dazu die Bibliographie in<br />

NEKULA 2002). Dies hindert Reiner Stach in seiner voluminösen Monographie Kafka.<br />

Die Jahre der Entscheidungen (2002) nicht daran, diese tschechische Dimension Kafkas<br />

in einer durchaus hartnäckigen germanistischen Tradition auch weiterhin zu ignorieren.<br />

Milan Tvrdík (2000) befasst sich in jüngster Zeit mit dem Verhältnis von Kafka und<br />

Langer.<br />

229


230<br />

Walter Koschmal<br />

wusstsein. Es ist jene der mündlichen Thora, der Emotionalität von Religion.<br />

Langer trägt damit wesentlich zur Ganzheitlichkeit der jüdischkabbalistischen<br />

Tradition in Prag bei. Die Parallele zwischen der Aufhebung<br />

der Verdrängung, indem das Verdrängte ins Bewusstein ,gehoben‘<br />

wird und der Betonung des für Buber „unterirdischen Judentums“ [sic!] als<br />

Gegengewicht gegen das „bewusste“ und offensichtliche Gesetzesjudentum<br />

ist dabei für das Denken Langers besonders wichtig. 5<br />

Während im Sohar, jener frühen kabbalistischen Schrift, deren Titel im<br />

Deutschen etwa als „Glanz“ zu übertragen ist, das Licht als symbolische<br />

Repräsentation des amorphen Mystischen in den Mittelpunkt gerückt wird,<br />

tritt bei Langer an die Stelle des Lichts vor allem der Laut. Licht und Laut<br />

erscheinen schon in der Kabbala gleichermaßen als symbolische Repräsentanten<br />

eines amorph Mystischen. Die Emanation der „göttlichen Energie“<br />

lässt sich in der Kabbala deshalb auch als Entfaltung göttlicher Sprache verstehen.<br />

Die verborgene, geheime Welt des Göttlichen komme in der Welt<br />

der Sprache (SCHOLEM 1960: 54) zum Ausdruck. Es ist vor allem der in<br />

der Thora verschlüsselt gegebene göttliche Name, der auf diesem Wege<br />

entschlüsselt wird. Deshalb ist jeder Laut in der Thora voller Energie, voll<br />

unbegrenzter „Sinnfülle“. Gerade in der Mündlichkeit des Lauts komme es<br />

zu einer extremen „Konzentration von Energie“. Diese in der Kabbala bereits<br />

angelegte hohe Wertschätzung von schriftlicher und vor allem mündlicher<br />

Sprache rückt in den Mittelpunkt von Langers Konzeption der Erotik<br />

der Kabbala. Diese Hochschätzung hat letztlich mystische Gründe.<br />

Die Betonung der mündlichen Thora und der Mündlichkeit der Offenbarung<br />

unterstreicht die Wichtigkeit der Kommunikation. Dieser lange Zeit vor<br />

allem durch die Europäisierung der Aufklärung verdrängte Aspekt der Thora<br />

rückt im Chassidismus ins Zentrum. Die Kabbala unterstreicht in erster<br />

Linie die rezeptive Seite dieser Kommunikation. Das Auditive legitimiere<br />

den Mystiker stärker (SCHOLEM 1960: 33) als Schriftlichkeit. Der Mystiker<br />

leitet also seine Legitimation aus der emotional-mündlichen Dimension<br />

der Kabbala ab. Deshalb sei im Hebräischen der Konsonant „Aleph“ so zentral.<br />

Das Aleph war der erste Laut, den das Volk Israel bzw. Moses als<br />

„Deuter der göttlichen Stimme für das Volk“ (SCHOLEM 1960: 47) hörte.<br />

„Aleph“ ist der „laryngale Stimmeinsatz“ (vgl. „spiritus lenis“), der den<br />

5 Martin Treml (2001) schreibt über Bubers Die Geschichten des Rabbi Nachman: „Den<br />

Chassidismus selbst bestimmte Buber als eine Form der Mystik und volkstümlichen<br />

Weisheit, die gegen die ,Gesetzesherrschaft‘ der rabbinischen Tradition ,Führer‘ und<br />

,Gemeinde‘ schuf. In ihm ,siegte für eine Weile das unterirdische Judentum, dessen Geschichte<br />

man erzählt und dessen Wesen man in gemeinverständlichen Formeln fasst‘“.<br />

Buber verwendet also den Begriff des ‚unterirdischen Judentums‘.<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala<br />

„Übergang“ zur auditiv wahrnehmbaren Sprache bilde. Das „Aleph“ markiert<br />

also den Beginn auditiv wahrnehmbarer Sprache.<br />

Dieses mündliche Prinzip der Thora sei – so Scholem – vor allem vom<br />

Chassidismus aufgegriffen worden. Das rabbinische Judentum habe es hingegen<br />

„geopfert“, als es sich von den emotionalen und mythischen Wurzeln<br />

entfernt habe. Die Vertreter dieser Richtung waren meist weniger schriftkundige<br />

Gelehrte. Scholem (1960: 42) bezeichnet sie als „Laienmystiker“.<br />

Als „Muster“ dieses Typus nennt er den Begründer des Chassidismus in<br />

Polen, Baal Schem. Im Unterschied zu den Rabbinern habe er über „wenig<br />

rabbinisches Wissen verfügt“. Man habe ihn und seine Richtung gar als „antirabbinisch“<br />

kritisiert, was sich allerdings aus der damals aktuellen Verdrängung<br />

der mündlich-emotionalen Dimension der Thora ergibt.<br />

Diese eher zurückhaltende Bewertung des so sehr im Volk verankerten Baal<br />

Schem steht seiner euphorischen Hochschätzung durch Langer gegenüber.<br />

Langer begrüßt Baal Schem (ca. 1700–1760) als den schlichtweg „genialen“<br />

Begründer des Chassidismus. Für Martin Buber war Baal Schem vor allem<br />

ein gottbegeisterter Ekstatiker, für den Historiker des Judentums Heinrich<br />

Graetz der „Vertreter einer finsteren Unvernunft“ (GRÖZINGER 1997:<br />

IXf.), ein Mann zwischen Sozialrevolutionär und homo religiosus. Erst seit<br />

jüngster Zeit wissen wir (GRÖZINGER 1997: XII), dass der Bescht in Polen<br />

als Wunderheiler in einem Kabbalistenzirkel lebte und von der Gemeinde<br />

finanziert wurde. Langers Werk Die Erotik der Kabbala belegt aber vor<br />

allem seine Wertung der Genialität. Darin ist es zuallererst ein antirabbinisches<br />

Buch. Damit rückt es aber auch die chassidische Bevorzugung der<br />

mündlich-emotionalen Dimension der Kabbala und ihrer Volksnähe in den<br />

Mittelpunkt.<br />

Sakralisierung des Eros<br />

J. M. Langers Werk Die Erotik der Kabbala ist im Jahre 1923 in deutscher<br />

Sprache erschienen. Eine tschechischsprachige Fassung gibt es nicht. Erst<br />

1991 ist das Werk auch tschechisch erschienen. Langer verfasste außer diesem<br />

Buch auch mehrere Aufsätze zum Judentum in deutscher Sprache, unter<br />

anderem für Sigmund Freuds Zeitschrift Imago.<br />

Langer erläutert in Die Erotik der Kabbala den „Grundgedanken der Kabbala“<br />

aus seinem Blickwinkel. Zwischen dem begrenzten menschlichen Dasein<br />

und dem unendlichen existieren danach zahllose „Zwischenstufen“,<br />

„geistige Wände“. Durch diese Wände falle ein „Strahl“ in die diesseitige<br />

Welt. Die dabei entstehenden Funken bildeten jeweils „eine Welt für sich“.<br />

Mit diesen „Oberen Welten“ beschäftige sich die Kabbala. Dadurch gelange<br />

der Mensch zur Vollkommenheit. Dank dieser Verbindung von metaphysischer<br />

und physischer Welt sieht Langer die Wesenheit der Kabbala in einer<br />

231


232<br />

Walter Koschmal<br />

„Lebens-Metaphysik“ (LANGER 1923: 13). Diese könne nicht gelehrt,<br />

sondern nur gelebt, nachempfunden werden. Langer unterscheidet zwei Methoden<br />

der Erforschung der Kabbala, eine „quasi-logische Reflexion“ und<br />

eine „psychologische Methode“.<br />

Mag er sich in diesem spannungsvollen Dualismus von begrifflichem und<br />

bildhaft-psychologischem Denken noch mit Scholems Dualismus von äußerem<br />

und innerem Wortsinn verbinden lassen, so wird der Unterschied zu<br />

dessen Darstellung der Kabbala im Weiteren recht deutlich. Langer geht es<br />

vor allem darum zu zeigen, wie der Mensch „eins“ werden kann. Er unterstreicht,<br />

dass der Kern, die Wurzel der Kabbala im Eros liege. Die Aussage<br />

des „Sohar“, wonach der Mensch eins werde, „wenn sich Mann und Frau in<br />

geschlechtlicher Verbindung befinden“, legt Langer (1923: 24) so aus: „Der<br />

Gedanke des sexuellen Aktes in seiner höchsten Reinheit ist der geheime<br />

Urgrund der Thora und der Offenbarung Gottes“. Damit bilde das Erotische<br />

den „ganz zentralen Grund“ des Judentums. Dieses sei durch eine „geheiligte<br />

Sinnlichkeit“ (LANGER 1923: 28) gekennzeichnet. Die göttliche Schöpfung<br />

sei zu Beginn in zwei Teile geteilt gewesen, in einen männlichen und<br />

einen weiblichen. Daraus erwachse die „Wunderkraft des Eros“.<br />

Warum betont Langer diesen Aspekt so sehr? Ganz im Sinne von Scholems<br />

Konzeption von der Opferung des Mythischen im Judentum ist Die Erotik<br />

der Kabbala ein Antibuch, ein Buch gegen Verdrängung. Es gebe genügend<br />

„kabbalistische Moralistenliteratur“, meist bürgerlicher Juden, die die Erotik<br />

„zu verdrängen“ wisse (LANGER 1923: 32). Langer aber will das Verdrängte,<br />

in der Terminologie Scholems das der europäischen Aufklärung<br />

,Geopferte‘, zurück in das Bewusstsein holen. Dass sich Langer dabei der<br />

Terminologie der zeitgenössischen Psychoanalyse bedient, ist kein Zufall.<br />

Er eröffnet der Kabbala und ihrer Erforschung damit eine neue disziplinäre<br />

und diskursive Dimension. Die Psychoanalyse erscheint ihm als die sich<br />

gerade herausbildende, angemessene Methode, um die „geopferte“, „verdrängte“<br />

Kabbala des „unterirdischen Judentums“ (M. Buber) wieder zu<br />

Bewusstsein zu bringen.<br />

Doch prägen nicht nur Terminologie, Methoden und Schriften der Psychoanalyse<br />

die „Erotik der Kabbala“. Die Erotik erscheint plötzlich in zweierlei<br />

Hinsicht verdrängt. Zum einen ist sie – im Freudschen Kontext – eine verdrängte<br />

Sexualität, zum andern, im religionshistorischen Kontext, die verdrängte<br />

mündliche Thora, die ins Bewusstsein zurückgeholt wird. Die Verankerung<br />

Langers in der Psychoanalyse darzustellen, ist nicht Ziel dieses<br />

Beitrags. Zu vielfältig dürften die Verbindungslinien sein, spielt doch auch<br />

Freuds Werk zur Traumdeutung eine bedeutende Rolle für ihn. Wesentlich<br />

ist aber vor allem die Parallelisierung von Kabbala, von kabbalistischer<br />

Theosophie und psychoanalytisch konzipierter Erotik. Indem Langer die<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala<br />

Erotik in den Mittelpunkt der Kabbala rückt und deren Stellenwert mit den<br />

von der Wissenschaft, der Psychoanalyse entwickelten Methoden und Verfahren<br />

untersucht, schafft er zweifellos etwas Neues. Aus der synthetischen,<br />

gleichsam interdisziplinären, psychoanalytisch-theosophischen Behandlung<br />

erwächst eine spezifische Sakralisierung des Eros, deren Wurzeln bei einer<br />

Beschränkung auf die Lektüre Langers, ohne seine eigenen Leseerfahrungen<br />

einzubeziehen, dennoch weitgehend im Dunklen bleiben. 6<br />

Die Terminologie, der Freudsche Denkansatz in Langers Die Erotik der<br />

Kabbala ist offensichtlich. Der Autor verweist auch explizit auf Freud.<br />

Dennoch überrascht die intertextuelle Situierung des Werks. Viele Begriffe<br />

und Überlegungen erscheinen zunächst fremd. Sie lassen sich schwerlich in<br />

einen genuin tschechischen Kontext stellen. Darin liegt auch ein Grund dafür,<br />

dass dieses Werk deutsch geschrieben wurde.<br />

Aber auch der Chassidismus, dem Langer anhängt, die Schriften Martin<br />

Bubers, die er zum Teil kannte und den er auch ausdrücklich mit Die Legende<br />

des Baal-Schem erwähnt (LANGER 1923: 69), schaffen keinen auch<br />

nur annähernd befriedigenden intertextuellen Rahmen für diese recht eigene<br />

Schrift. Buber hat die Einführung zu diesem Text im Jahre 1907 verfasst<br />

(TREML 2001: 15). 7<br />

Aber auch die Gnostik, insbesondere wieder jene, die auch Buber intensiv<br />

beschäftigte, vor allem die Mystiker, Meister Eckhart (um 1260–1328), auf<br />

6 Alfons Rosenberg spricht der Erotik der Kabbala die Wissenschaftlichkeit ab (1956:<br />

12f.): „Ist aber Langer ein Wissenschaftler? Trägt er seinen so lebendigen Kommentar<br />

mit wissenschaftlicher und historischer Akribie vor? Keinesfalls.“ Im Weiteren lobt er<br />

zwar, dass Langer „die talmudischen und kabbalistischen Überlieferungen auf eine stupende<br />

Weise“ kenne, doch gebe er sie nicht als Wissenschaftler, „sondern als ein Ergriffener<br />

und als ein Mensch der Erfahrungen weiter.“ Er sei ein „Brotspender“, er spende<br />

lebendigen Glauben und „klare Einsicht“: Dabei gelange er selbst zu Einsichten, die<br />

dem „bloßen Historiker und Systematiker der Religion verborgen bleiben müssen“<br />

(1956: 13). Eine solche Charakterisierung des Werks fügte dies bestens in die Schriftenreihe<br />

„Dokumente religiöser Erfahrung“ ein, in der es erschien. Die religiösen Erfahrungen<br />

Langers fließen aber in weit höherem Maße in die „Neun Tore“ ein. Zudem ist<br />

ihm Chassidismus und Kabbala ohnehin nur eine zu erfahrende Religion. Seine Wissenschaftskritik<br />

ist nicht nur deshalb skeptisch zu beurteilen, haben wir doch von einem<br />

Wissenschaftsbegriff vom Anfang des 20. Jahrhunderts auszugehen.<br />

7 Langer könnte an Buber auch sein biographischer Werdegang bzw. der Wandel in seiner<br />

Einschätzung des Judentums angezogen haben. Das Prager Umfeld mag dies befördert<br />

haben, denn in der Prager Vereinigung jüdischer Hochschüler „Bar Kochba“ hatte<br />

Buber zahlreiche glühende Verehrer (TREML 2001: 18). Deshalb lud man ihn auch<br />

zum Vortrag ein. Bubers Selbstcharakterisierung als „polnischer Jude“ aus einer „Familie<br />

von Aufklärern“ (TREML 2001: 22) hätte Langer auf seine eigene tschechische Situation<br />

übertragen können. Durch den aufklärerischen Ausgangspunkt kam Buber von<br />

einer anfänglichen Ablehnung des Ostjudentums und des Chassidismus erst später zu<br />

dessen Hochschätzung. Wieder ist sein Weg jenem Langers vergleichbar.<br />

233


234<br />

Walter Koschmal<br />

den er explizit hinweist (LANGER 1923: 74) und Jakob Böhme (1575–<br />

1624), gehören zu Langers Anknüpfungspunkten. Selbst die besondere<br />

Wertschätzung für Dichter wie Stefan George teilt er mit Buber.<br />

Die Gnosis befindet sich laut Scholem (1960: 131) in „historischer Berührung“<br />

mit der Kabbala und stellt zugleich eine „psychologische und strukturale<br />

Parallelentwicklung“ zur Kabbala dar. Scholem bezeichnet deshalb Jakob<br />

Böhme als Bindeglied. Gnosis und Chassidismus, zwei im Volk tief<br />

verankerte Denkrichtungen, wenden sich auf der gemeinsamen Grundlage<br />

des Neuplatonismus gegen ein „antimythisches Judentum“.<br />

Doch auch weitere Knoten im intertextuellen Netz Bubers tun sich auf. Bubers<br />

,Lehrer‘ Achad Haam, der Kulturzionist aus Odessa, führt in jene Region<br />

des Ostjudentums, in der Langer die ihn prägenden Lebensjahre verbrachte.<br />

T. G. Masaryk hatte Achad Haam durch die positive Besprechung<br />

seiner deutsch erschienen Schriften bereits zu Beginn des Jahrhunderts in<br />

einen tschechischen jüdischen Zusammenhang gestellt. 8 Da Langer selbst<br />

viele Jahre beim Rabbi von Bels gelebt hat, kann es beim derzeitigen Stand<br />

der Forschung zumindest nicht ausgeschlossen werden, dass Langer auch<br />

eine direkte Verbindung zu Achad Haam hatte, ob persönlich oder über die<br />

Lektüre von Schriften. In jedem Fall stellt sie sich indirekt über den zunächst<br />

in Lemberg lebenden Buber her, der Friedrich Nietzsches Also<br />

sprach Zarathustra in Teilen ins Polnische übersetzt.<br />

Die Erotik der Kabbala steht in der Tradition der reichen kabbalistischen<br />

Kommentarliteratur. Traditionelle Verfahren solcher Werke, die meist aus<br />

autoritativen Quellen, d.h. aus den ersten Büchern der Kabbala wie dem<br />

Bahir und dem späteren Sohar, stammen, übernimmt auch Langer. Seine<br />

Erotik der Kabbala basiert in wesentlichen Teilen auf Zitaten aus dem Sohar,<br />

die – je nach gattungsspezifischer Erwartungshaltung – zunächst irritieren<br />

mögen. Bei einem Originaltext eines Dichters des 20. Jahrhunderts würde<br />

man kaum eine solche Fülle von Zitaten erwarten. Es bleibt jedoch<br />

unklar, ob Langer eine Übersetzung benutzt oder selbst übersetzt hat. Die<br />

von ihm später rezensierte Übersetzung des Urtextes Der Sohar, die Ernst<br />

Müller herausgegeben hat (Wien 1932), ist – wie ein Vergleich ausgewähl-<br />

8 Masaryk bespricht in der von ihm redigierten Zeitschrift Naše doba (Unsere Zeit, 1905)<br />

die ins Deutsche übersetzten Werke des „russisch-hebräischen Philosophen“ Achad<br />

Haam. Als Gegner des westeuropäischen Judentums predige Haam – so Masaryk – dennoch<br />

keine Abkehr, sondern die Aneignung der europäischen Kultur unter Bewahrung<br />

des jüdischen „nationalen Charakters“. Achad Haam habe sich gegen jene Juden gestellt,<br />

die unter Nietzsches Einfluss alles Jüdische für wertlos erklärten. Masaryk<br />

schreibt: „er kämpft gegen Nietzsche und den Individualismus.“ Haam verlange die<br />

„geistig religiöse Wiedergeburt“ des Judentums. Auf diesem Weg dürfte Langer Haam<br />

näher stehen als vermutet.<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala<br />

ter, von Langer in Die Erotik der Kabbala zitierter Passagen zeigt – gänzlich<br />

abweichend übersetzt. Langer zitiert wohl nach dem Original, waren<br />

doch wesentliche Teile des Sohar aramäisch geschrieben, eine Sprache, derer<br />

er mächtig war.<br />

Der intertextuelle Rahmen, vor allem der tschechische für die Erotik der<br />

Kabbala bleibt lückenhaft. Das Werk steht wohl sprachlich und inhaltlich<br />

außerhalb bzw. am Rande des tschechischen Schrifttums. Langer wird ohnehin<br />

nur selten erwähnt. In dem voluminösen Sammelwerk Masaryk und<br />

das Judentum, das Ernst Rychnovsky in deutscher Sprache im Jahre 1931 in<br />

Prag herausgibt, kommt Langer nicht vor. Das erstaunt um so mehr, als das<br />

Werk unter Mitwirkung von „Prof. Dr. Friedrich Thieberger“ herausgegeben<br />

wird, der – ebenso wie Langer – Kafkas Hebräischkenntnisse verbessern<br />

half. Thieberger hat zudem Langers chassidische Legenden unter dem<br />

Titel Neun Tore. Das Geheimnis der Chassidim (1959) in Übersetzung herausgebracht.<br />

Die Einleitung stammt von Gershom Scholem. Sie ist fast<br />

gleichzeitig mit seinem Buch Zur Kabbala und ihrer Symbolik entstanden.<br />

Scholem stellt darin Langers Werk auf eine Stufe mit den chassidischen<br />

Erzählungen Martin Bubers. Er lobt es als „eine der wertvollsten Darstellungen<br />

des chassidischen Lebens und der chassidischen Denkweise“. Thieberger,<br />

der in dieser Übersetzung aber in der Folge leider allzu häufig falsch<br />

als „Thierberger“ zitiert wird, stirbt unmittelbar nach Beendigung dieser<br />

Übersetzung in Jerusalem. Er hat nicht nur an dem Band Masaryk und das<br />

Judentum mitgewirkt, sondern im Jahre 1952 auch sein Hauptwerk Die<br />

Glaubensstufen des Judentums veröffentlicht. Auch dort findet Langer keine<br />

Erwähnung. Martin Buber hingegen, dem sich Thieberger in der Vorbemerkung<br />

des Buchs besonders verpflichtet weiß, spielt eine zentrale Rolle. 9<br />

Langer hat auch hebräische Lyrik verfasst. Auch mit seinen Gedichten stellt<br />

sich Langer außerhalb der tschechischen Dichtung, schreibt er doch als letzter<br />

– bewusst – in dieser Sprache. Er steht damit in der biblisch-jüdischen<br />

Tradition des religiösen Lieds, das „zugleich dem persönlichen Gefühl des<br />

einzelnen und der Stimmung einer Gemeinschaft und der kosmischen Gewalt<br />

der Gott geschaffenen Welt Ausdruck gab“ (THIEBERGER 1952: 73).<br />

Das lyrische Schaffen wird als das ursprüngliche gesehen, das jeder anderen<br />

Sprachkunst vorausgeht.<br />

9 Im Aufsatz Masaryks Credo und die jüdische Religion (1931: 34–66) macht Thieberger<br />

eigentlich nur deutlich, dass sich Masaryk nie über das Thema Religion äußern wollte,<br />

weil dies zum Intimsten des Menschen gehöre. Das Judentum habe ihn vor allem als soziales<br />

Phänomen interessiert. Thieberger betont aber Masaryks Vorstellung von einem<br />

europäischen Judentum, das seinen nationalen Charakter bewahrt. Zu diesem Zweck zitiert<br />

er Masaryks Besprechung von Achad Haam aus der Zeitschrift Naše doba (1905).<br />

Masaryk gehört damit auch in das weitere Umfeld Langers.<br />

235


236<br />

Walter Koschmal<br />

Langer – obgleich ein Einzelgänger – verändert, verschiebt das Koordinatensystem<br />

der tschechischen Literatur und Kultur, vor allem aber jenes des<br />

Prager Judentums, auch wenn er mit Max Brod befreundet war. Wo also<br />

liegen die Wurzeln dieses ungewöhnlichen Werkes, der Erotik der Kabbala<br />

in deutscher Sprache?<br />

Kultur aus dem gleichgeschlechtlichen männlichen Eros: Hans Blüher<br />

und J. M. Langer<br />

Langer erwähnt im Grunde die zentrale Quelle seines Werks selbst. Doch er<br />

tut dies eher beiläufig, so dass man deren wahre, nämlich herausragende<br />

Bedeutung für die Erotik der Kabbala erst nach eingehender Lektüre erkennt.<br />

Schon deshalb überrascht es nicht, dass man diese Quelle bislang in<br />

ihrer umfassenden Bedeutung nicht erkannt hat. Um welches Werk handelt<br />

es sich? Gemeint ist Hans Blühers in den Jahren 1917–1919 bei Eugen Diederichs<br />

in Jena erschienene Schrift Die Rolle der Erotik in der männlichen<br />

Gesellschaft.<br />

Hans Blüher (1888–1955) aus Schlesien, der wesentlich von Friedrich<br />

Nietzsche beeinflusst war, wirkte entscheidend auf die so genannte „Wandervogelbewegung“.<br />

Vor allem in dem genannten zweibändigen Werk analysiert<br />

Blüher homoerotisch gebundene Männergesellschaften von der griechischen<br />

Antike bis zur Gegenwart. Das heftig umstrittene Buch brachte<br />

ziemlich umgehend Gegenschriften wie den Anti-B. Affen- oder Männerbund<br />

von J. Plenge hervor. Langer hinderte dies nicht daran, nur wenige<br />

Jahre später eine Schrift in enger Nachfolge Blühers zu verfassen, nämlich<br />

Die Erotik der Kabbala. Blüher dürfte diese aber kaum zur Kenntnis genommen<br />

haben. In seinem ausführlichen Vorwort (1949) zur Neuauflage<br />

seines Werks im Jahre 1962 klingt zumindest nichts dergleichen an. Langer<br />

folgt Blüher – ungeachtet allen Widerstands gegen diesen – in einem Maße,<br />

wie dies die nur wenigen Verweise auf Blüher kaum vermuten lassen. Diese<br />

Nachfolge erstreckt sich ebenso auf die Terminologie wie auf grundlegende<br />

Ideen Blühers. 10<br />

Blühers Werk verbindet – wesentlich an Freud und seinen Schülern orientierte<br />

– sexualwissenschaftliche Erkenntnisse mit philosophischen Fragestellungen.<br />

Bei Langer steht hingegen die Verknüpfung von psychoanalytischem<br />

und theologischem Ansatz im Mittelpunkt. Daraus erwächst die<br />

10 Langer ist damit auch im Kontext der Homosexualität innerhalb der tschechischen Literatur<br />

zu sehen. Er dürfte hier ganz entscheidende Impulse gesetzt haben. Das Thema der<br />

Homosexualität in der tschechischen Literatur war – trotz seiner Relevanz – bis vor kurzem<br />

kaum aufgegriffen worden. Dank der in der Zeitschrift Neon veröffentlichten Arbeiten<br />

von Martin C. Putna (2000) hat es aber damit ein Ende. Putna (2000/5: 47) weist<br />

zumindest in einem Satz auch auf Blüher hin.<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala<br />

spezifische, bizarr anmutende Diskursmischung der Erotik der Kabbala.<br />

Blüher geht von folgender „theoretischer Grundthesis“ aus:<br />

Außer dem Gesellungsprinzip der Familie, das aus der Quelle des mannweiblichen<br />

Eros gespeist wird, wirkt im Menschengeschlecht noch ein zweites,<br />

die „männliche Gesellschaft“, die ihr Dasein dem mann-männlichen Eros<br />

verdankt, und sich in den Männerbünden auswirkt. (BLÜHER 1917: 7)<br />

Während aber der Eros bei der Familie „offen“ zutage trete, sei er bei der<br />

männlichen Gesellschaft „unter die Bewußtseinsschwelle gedrückt“, also im<br />

Sinne Blühers und Langers verdrängt und sei ein „vollkommen verschwiegenes<br />

Gebilde“. Daraus aber ergibt sich für Langer eine Parallele zur Kabbala.<br />

Ihre emotional-mündliche Dimension wurde ähnlich „verdrängt“ („geopfert“),<br />

vergessen bzw. verschwiegen.<br />

Um aber Blühers Intention angemessen zu verstehen, muss eine zweite<br />

Hauptthese ergänzt werden. Die sexuelle „Energie“ könne sich „nach oben“<br />

in „Leistung“ oder „nach unten“ in Krankheit (BLÜHER 1917: 32) transformieren.<br />

Leistung aber stehe im Dienste der Kultur. Für Blüher sind es<br />

allein die Männergesellschaften, ist es allein der „mann-männliche Eros“,<br />

nicht aber der „mann-weibliche“, der letztlich Kultur schafft. Langer übernimmt<br />

diese Terminologie zur Gänze von Blüher, ohne auf seine Quelle<br />

bzw. den Zitatcharakter seiner Termini zu verweisen. Hans-Joachim<br />

Schoeps (1962: 5) formuliert Blühers Hauptthese so, dass für ihn „der auf<br />

die menschliche Staatenbildung hin angelegte Männerbund eine klar aufweisbare<br />

Funktion im Haushalt der Natur habe“. Blühers „eigentliche Bedeutung“<br />

(SCHOEPS 1962: 6) liege „wohl darin, daß er das Erosproblem<br />

aus dem medizinischen Niveau unter Anknüpfung an die alte platonische<br />

Erosidee in die der philosophischen Betrachtung erhoben“ habe. Das heißt,<br />

für Blüher (1917: 32) bringt nur der von ihm – und in der Folge auch von<br />

Langer – so genannte „Typus inversus“, den Blüher vom Homosexuellen<br />

unterscheidet, Kultur und damit auch den Staat hervor.<br />

Sexualität vs. Erotik<br />

Blüher selbst rechnet es sich als Verdienst an, dass er Sexualität und Erotik<br />

erstmals deutlich voneinander geschieden hat. Der Begriff Erotik ist für ihn der<br />

grundlegende. Zwischen Sexualität und Erotik verlaufe auch die Grenze von<br />

philosophischer Ausrichtung und „psychiatrischer“ (BLÜHER 1917: 226). Der<br />

„Typus inversus“, der schon bei Weininger angelegt sei, ist für Blüher noch ein<br />

„sexueller Charakter“. Doch anders als die Sexualität sei die Erotik „schon<br />

keine einfache Größe mehr. Es ist also überhaupt kein strenger sexuologischer<br />

Begriff, sondern es steckt in ihm schon Kultur.“ (BLÜHER 1917: 37). Zwar<br />

komme reine Sexualität beim Menschen nicht vor, doch sei Erotik „aufs innigste“<br />

„mit den geistigen Angelegenheiten“ verbunden. Der Typus inversus ver-<br />

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238<br />

Walter Koschmal<br />

dränge bloß sexuelle Gedanken und sei als Mann immer auf „die ganze Gestalt<br />

des Mannes“ gerichtet (BLÜHER 1917: 66). Durch die „Hemmung“ der Sexualität<br />

entstehe „die psychische Grundlage der Kultur“. „Sublimierung ist<br />

transformierte Sexualität“ (BLÜHER 1917: 76).<br />

Eros ist jedoch für Blüher etwas anderes als Sexualität. Eros sei vielmehr das,<br />

„was der Sexualität ihren Sinn gibt. Sinn, nicht Zweck.“ „Eros ist die Bejahung<br />

des Menschen abgesehen von seinem Wert.“ (BLÜHER 1917: 226). Ein<br />

vom Eros „befallener“ Mensch, also der Liebende, stehe „in einem geweihten<br />

Zusammenhang“. Daran kann Langer anknüpfen, geht es ihm doch – anders<br />

als Blüher – wesentlich um die religiöse Dimension des Eros. Bewusst setzt<br />

Blüher seinen um den Sinn des Eros erweiterten Eros-Begriff einem von ihm<br />

verengten Logos-Begriff gegenüber. Denn der Eros sei nicht nur „irrational<br />

sondern geradezu antirational“ (BLÜHER 1917: 230). Der „schöpferische<br />

Geist“ schaffe „in ganz enger Verschwisterung mit dem Eros“ (BLÜHER<br />

1917: 235) und sei vom „Formwillen des Eros“ durchtränkt. Werner Achelis<br />

(BLÜHER 1962: 328) beschreibt Blühers Erosbegriff so, dass dieser Eros den<br />

Menschen über sich hinaushebe. Der Mensch zeigt sich dem Eros verfallen,<br />

kann durch ihn erkranken. In diesem Verfallensein sei der Eros eine „tragische<br />

Angelegenheit“. Diese platonische Erosidee werde aber von Blüher<br />

„zum Mittelpunkt eines philosophischen Systems“, zu einer Theorie erhoben.<br />

Damit schaffe er „etwas Neues“ (ACHELIS 1962: 329).<br />

Langer stellt den Erosbegriff Blühers ebenfalls in den Mittelpunkt seines<br />

Werks. Doch verlagert er ihn in die Religionsphilosophie. Damit schafft<br />

auch er für die Kabbala und ihre Auslegung wohl etwas gänzlich Neues.<br />

Dass er Blühers Erosbegriff nicht nur im Titel verankert, sondern darauf<br />

auch seine Grundthese aufbaut, macht deutlich, wie sehr sich Langer Blüher<br />

verpflichtet weiß. Auch darin mag ein Grund dafür liegen, dass er ihn so<br />

zurückhaltend zitiert.<br />

Langer stellt den Eros vor allem in den Kontext der Kabbala. Dort schaffe der<br />

Eros – ganz wie in Blühers Vorstellung, wonach der Eros den Menschen über<br />

sich hinaushebe – den „Übergang vom Irdischen zum Göttlichen“ (LANGER<br />

1923: 86f.). Der Eros verbinde zwar „mann-männliche“ und „mannweibliche“<br />

erotische Beziehungen – hier bedient sich Langer Blühers Terminologie,<br />

auch wenn er von „Inversion“ spricht, ohne auf das Zitat hinzuweisen.<br />

Doch bleibe beim Eros ein Widerspruch bestehen. Es komme immer<br />

wieder zum „unbewußten Kampfe beider erotischer Richtungen“ (LANGER<br />

1923: 91): Der Eros bilde insofern eine „contradictio in adiecto“. Er konnte<br />

deshalb von den Juden nie als Gott betrachtet werden.<br />

Eros als Sinn des Eros, in diesem Verständnis ist der Eros für Blüher und<br />

Langer gleichermaßen kulturstiftend. Verwehrt sich Blüher gegen jede<br />

Zweckbestimmtheit des Eros, so weist auch Langer (1923: 90) die Relevanz<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala<br />

biologischer „Nützlichkeitskategorien“ des Eros zurück. Beide unterstreichen<br />

die Nähe, ja Identität von Eros und Schöpfertum, wobei sich Langers Konzeptionen<br />

ebenso von Blüher wie von der Kabbala ableiten. Langer schreibt Blüher<br />

religionsphilosophisch um und fort. Sieht Blüher den „schöpferischen<br />

Geist“ mit dem „Formwillen des Eros“ verschwistert, so zitiert Langer die<br />

Kabbala, wenn er den Eros (I’sod) als den Grund der Schöpfung bezeichnet.<br />

Jede geschlechtliche Verbindung geschehe durch I’sod.<br />

Der „mann-männliche Eros“, die männliche „Inversion“ gehöre zu einer<br />

tieferen Schicht als die weibliche. In der Geschichte habe zwar die Heterosexualität<br />

quantitativ immer überwogen, doch sei die mann-männliche<br />

Richtung „intensiver“ (LANGER 1923: 97). Der Eros sei der Bote Gottes.<br />

So wie die „Gesetze“ der Kabbala „aus den Tiefen des Unbewußten“<br />

(LANGER 1923: 94) aufsteigen, komme auch der Eros aus dieser Tiefe, aus<br />

der Zeit vor der Offenbarung der Thora-Gesetze (LANGER 1923: 94; 97).<br />

In jüdischen Schriften schlage sich wiederholt der „Sieg männlicher Erotik“<br />

nieder (LANGER 1923: 97). Damit aber wird deutlich – und Langer vermerkt<br />

dies explizit –, dass die Rolle der Erotik in Kabbala und Psychoanalyse<br />

vergleichbar, parallel sei. Diese entspreche der „jüdischen Überlieferung“<br />

ebenso wie „der modernen psychoanalytischen Forschung“, die<br />

Langer auch über Blüher rezipiert. Damit schafft Langer – ganz in der Tradition<br />

der Kabbalisten – neue strukturelle Parallelen, hier jene für das 20.<br />

Jahrhundert und ihn spezifische zwischen Kabbala und Psychoanalyse. Die<br />

Verdrängung der Sexualität, der sich die Psychoanalyse annimmt, die Verdrängung<br />

des „mann-männlichen Eros“ und die „Verdrängung“ („Opferung“)<br />

der Emotionalität und der mythischen Grundlage der Kabbala fließen<br />

hier in Eins. Langer nennt seine sakral transformierte „Erotik“ auch die<br />

„Wunderkraft der Erotik“ (LANGER 1923: 32). Es gebe aus seiner Sicht<br />

genügend „kabbalistische Moralistenliteratur“, die die Erotik „zu verdrängen“<br />

weiß. Der Verdrängung der Erotik bei Blüher (1917: 7f.), wo die Erotik,<br />

insbesondere jene des „typus inversus“, „unter die Bewußtseinsschwelle<br />

gedrückt“ werde, entspricht als Parallele die Verdrängung der Erotik in der<br />

Kabbala. Blüher wie Langer wollen das jeweils Verdrängte wieder ins Bewusstsein<br />

rücken. Diese Synthese von philosophischem und religiösem<br />

Denken, aber auch diese Synthese von wissenschaftlichen Disziplinen ermöglichte<br />

gerade zu diesem historischen Zeitpunkt die Entstehung der Psychoanalyse.<br />

Damit aber tun sich auch weitere, von Langer keineswegs explizit<br />

ausgeführte Parallelen auf.<br />

Analog zur inneren und äußeren Bedeutung des Wortes unterscheidet Langer<br />

(nach ihm, vielleicht sogar von ihm beeinflusst auch G. Scholem) die<br />

„innere“ und äußere Geschichte des Judentums. Wilhelm von Humboldts<br />

„innere Sprachform“, die Harmonie von lautlichem Ausdruck und Sinn, und<br />

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240<br />

Walter Koschmal<br />

damit die von Hermann Bekh so bezeichnete „Lautetymologie“, dürfte hier<br />

Pate gestanden haben. Scholem nennt die von Langer so bezeichnete „innere<br />

Geschichte“ die „psychologische Geschichte“ des Judentums. Langer<br />

unterscheidet auch bei den Juden, insbesondere den Chassiden zwischen<br />

dem äußeren, biologischen Alter und dem inneren Alter. Mit letzterem<br />

meint er den Grad der menschlichen Reife. Langer führt weiter aus: „Die<br />

ganze innere Geschichte des ewigen Volkes“ sei von den Kämpfen der beiden<br />

Richtungen bestimmt, nämlich jenen, die Scholem als Gesetzesjudentum<br />

(rabbinisches Judentum) und mythisches, bei Langer vor allem chassidisches<br />

Judentum, im Auge hat:<br />

Dabei greift der von Freud sogenannte „Ödipus-Komplex“ und der Todesgedanke mächtig ein<br />

und so ist die gesamte jüdische Gesetzgebung eigentlich vom Eros präformiert, ehe sie durch<br />

die Offenbarung die göttliche Sanktion erhielt. (LANGER 1923: 92)<br />

Der Kampf zwischen innerer und äußerer Bedeutung, mythisch verankerter<br />

Kabbala und Gesetzesjudentum verbindet sich bei Langer mit dem Kampf<br />

zwischen Eros und Logos. Diesen Kampf bezeichnet Blüher (1917: 236) gar<br />

als „Todfehde“. Die Auseinandersetzung um die Kabbala wird ins Allgemeine<br />

gehoben und überschreitet damit die Grenzen des Religiösen.<br />

Langers Standort in diesem Kampf, dieser „Todfehde“, ist eindeutig. Es ist<br />

vor allem und zunächst jener des Chassidismus, der die mann-männliche<br />

Richtung repräsentiert. Der Chassidismus steht bei Langer für jene verdrängte<br />

„mann-männliche“ Linie der Erotik, für jenes sinnliche Judentum,<br />

das – dank der Lehren Freuds und Blühers – nun im richtigen Licht dargestellt<br />

werden kann. Es ist auch die Sinnlichkeit der Mündlichkeit und der<br />

Sprache. Langer spricht auch von der Sinnlichkeit des Judentums.<br />

Aus der Gemeinschaft der Chassiden bleiben die Frauen „völlig ausgeschlossen“<br />

(LANGER 1923: 82). Man spricht nicht mit Frauen, schaut ihnen<br />

nicht ins Gesicht und speist nicht mit ihnen. Hingegen betont Langer<br />

die unter Chassiden immer wieder aufkeimende Liebe zwischen Männern<br />

(LANGER 1923: 83), zwischen „süßen Brüdern“. Er beschreibt u.a., wie<br />

nachts im „Haus des Forschens“ (Bejshamidresch) zwei Freunde, die immer<br />

aus derselben Schüssel essen (LANGER 1923: 76) „eng umschlungen“ lernen.<br />

Verlässt der Sohn, der selbständig zu denken gelernt hat und zum Rabbi<br />

geführt wird, für immer das elterliche Haus, so schmiege er sich an den<br />

Rabbi an („dowek“ sein). Es sei ihm eine besondere Ehre, eine Speise zu<br />

erhalten, die der Rabbi durch seinen Mund geheiligt habe. Selbst die Beziehung<br />

zum Rabbi ist voll Eros.<br />

Damit stellt der Chassidismus aus der Sicht Langers mit seiner ausschließlichen<br />

Propagierung der mann-männlichen Erotik jene Strömung der Kabbala<br />

dar, die diese wieder zu ihren verdrängten mythischen Wurzeln, zu ihrer<br />

gefühlsbetonten Dimension, die in der Geschichte geopfert und verdrängt<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala<br />

wurde, zurückführt. Die Erotik der Kabbala ist vor allem die Erotik des<br />

Chassidismus, die Wiedergeburt der „inneren Geschichte“ der Kabbala. Die<br />

fehlende Rationalität des Eros und des Chassidismus finden sich in einer<br />

überraschenden Ähnlichkeitsbeziehung wieder. Für Blüher (1917: 230) ist<br />

der Eros gar „antirational“.<br />

Damit dominiert die mann-männliche Linie auch in der Pädagogik. Denn<br />

die eng umschlungen lernenden Chassidim bilden das typische Lerntandem<br />

der Chassidim. Man lernt immer mit einem Freund (1923: 78), insbesondere<br />

im „Haus des Forschens“. Dies rückt der Chassidismus an die Stelle der<br />

Heschibah, der Universität. Diese „freie Lehrmethode“, die gemeinsames,<br />

sich im Dialog mit dem Freund austauschendes Lernen ist, erziele „kolossale<br />

Erfolge“. Dabei dürften die beiden Freunde aber in ihrem „inneren Alter“,<br />

d.h. in ihrer Reife nicht zu weit auseinander sein. Grundsätzlich vereint<br />

aber schon die Volksschule, die „Cheder“, verschiedene Altersklassen, also<br />

unterschiedliche Stufen des äußeren Alters, das sich vom inneren unterscheiden<br />

kann. Darin liege der Vorteil der chassidischen Pädagogik.<br />

Es mag überraschen, dass Langer auch in dieser angeblich so jüdischen<br />

Konzeption der Pädagogik auf Blüher zurückgegriffen haben dürfte. Denn<br />

Blüher (1917: 218) propagiert seinerseits das diesem ganz ähnliche Erziehungssystem<br />

der Antike, in dem ebenfalls der Typus inversus die Erziehung<br />

übernommen habe. Er lehnt wie Langer das heutige Erziehungssystem ab,<br />

weil die Jugend „durch das System der Altersklassen zersprengt“ sei. Die<br />

antike Art der Erziehung sei die naturgegebene gewesen. Langer sieht in der<br />

chassidischen „Lehr- und Erziehungsmethode“ ebenso „manche Vorzüge“,<br />

weil es „keine so genaue Differenzierung der Altersklassen“ gebe (LAN-<br />

GER 1923: 77). Während aber für Blüher (1917: 223) die von ihm initiierte<br />

Wandervogelbewegung, die Langer unerwähnt lässt, „ein gewaltsamer und<br />

gelungener Durchbrechungsversuch des Systems der Altersklassen“ darstellt,<br />

durchbricht für Langer das chassidische Judentum dieses System.<br />

Chassidismus und Wandervogelbewegung geraten in eine überraschende<br />

Nachbarschaft. Auch für Langer gilt aber Blühers Behauptung: „Und diese<br />

Durchbrechung wurde von Männern unternommen, die dem Typus inversus<br />

und seinen Abwandlungen angehörten.“ Dabei lehnte Langer allerdings die<br />

Antike als Lehrmeister des Judentums ab und sah die Beeinflussung eher in<br />

der umgekehrten Richtung, vom Judentum auf die Antike. An dieser Stelle<br />

wird deutlich, wie zwei parallele Positionen bewusst und absichtlich nebeneinander<br />

etabliert wurden.<br />

241


242<br />

Walter Koschmal<br />

Die Erotik der Sprache 11<br />

Blüher setzt den Geist dem Eros entgegen, Langer das rabbinische Gesetzesjudentum,<br />

das die Gesetze aus der schriftlichen Thora ableitet, dem<br />

Chassidismus, der an die mündliche Thora anknüpft. Eros und mündliches<br />

Wort machen aber bereits bei Blüher (1917: 235) den „Formwillen des<br />

Eros“ aus. Der Geist zwinge „Laute vom Impulse des Eros hervorgedrängt<br />

zu Worten“ (BLÜHER 1917: 230f.). Schöpfertum ist damit für Blüher vor<br />

allem auch Sprachschöpfung.<br />

Während aber der Geist das Allgemeine gegenüber dem Einzelnen betont,<br />

also das „Primat der Allgemeinheit der Begriffe“, mache es der Eros „gerade<br />

umgekehrt“ (BLÜHER 1917: 236). Der einzelne Mensch, das Einzelne<br />

könne nur bejaht werden, weil es einzeln sei. Damit sei der Eros „die Philosophie<br />

der Besonderung“. Die mündliche, die gesprochene Sprache sei Teil<br />

dieser Philosophie. Die gesprochene Sprache liegt somit bei Blüher und<br />

Langer gleichermaßen als primäre zugrunde. Das Wort bestehe aus „zwei<br />

Teilen“, aus „Laut“ und „Sinn“ (BLÜHER 1917: 239). Die Bedeutung dieser<br />

beiden Elemente für die Sprache ist jener der mann-männlichen und<br />

mann-weiblichen Richtung für die Erotik vergleichbar.<br />

Diese Analogie ergibt sich aber nicht zufällig, geht doch schon Blüher vom<br />

sexuellen Ursprung der Sprache aus. Dabei beruft er sich allerdings auf eine<br />

Theorie des Freudschülers Hans Sperber, die dieser im ersten Band von<br />

Imago (1912) veröffentlicht hat. Sperber (1912: 406) will vor allem beweisen,<br />

dass „schon bei der Entstehung der Sprache sexuelle Momente eine<br />

wichtige Rolle gespielt haben müssen“. Auf Sperber beruft sich Langer<br />

zwar nicht explizit, doch hat er ihn wohl direkt rezipiert und nicht nur über<br />

Blüher (1917: 239) kennen gelernt. Schließlich hat Langer auch selbst in<br />

Imago publiziert. Sperber (1912: 407) stellt wie Langer die „Lautsprache“<br />

in den Mittelpunkt, die gesprochene Sprache, mit ihr die von Langer so verstandene<br />

sinnliche Mündlichkeit. Die von Langer jedoch darüber hinaus<br />

aufgestellten Hypothesen über psychoanalytische Hintergründe der Entstehung<br />

der Schrift fehlen bei Sperber. 12<br />

11 Dieser Aspekt wird ausführlich in einem mit den folgenden Ausführungen zum Teil<br />

identischen Beitrag behandelt, vgl. Koschmal (<strong>2004</strong>).<br />

12 Für Langer bedeutet das „einfache senkrechte Keilzeichen“ der Keilschrift den Mann.<br />

Es symbolisiere das „senkrecht gestellte Glied“. Die Frau werde ihrerseits – etwa in der<br />

hebräischen Meruba-Schrift – durch ein „beinahe rechtwinkliges Dreieck mit einem<br />

kurzen Strich in der Mitte“ symbolisiert. Deshalb ordneten auch die Kabbalisten die<br />

schlanken Buchstaben eher den Männern, die breiten den Frauen zu (LANGER 1923:<br />

107f.). Diese auf „Ähnlichkeit“ von Sprachzeichen und Abgebildetem basierenden Hieroglyphen<br />

seien heute durch „sinnlose“ Zeichnungen „verdrängt“, die „nur mit Hilfe der<br />

Psychoanalyse durch eine Art von Zwangshandlungen der Schreiber zu erklären“ seien<br />

(LANGER 1923: 105f.).<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala<br />

Sperber (1912: 410) führt aus, dass sich bei der Begattung „die sexuelle<br />

Erregung des Männchens“ in Tönen Luft mache, im Brunstruf. Der „Lockruf“<br />

ist ihm die „älteste Sprachäußerung“: „Wie mir scheint, weisen also<br />

alle Anzeichen darauf hin, daß wir in der Sexualität eine, oder wohl eher die<br />

Hauptwurzel der Sprache zu erkennen haben“ (SPERBER 1912: 453).<br />

Für Sperber (1912: 411) ist die „sexuelle Erregung“ nicht nur eine, sondern<br />

„die Hauptquelle“ „der ersten Sprachäußerungen“. Allerdings bezieht Sperber<br />

dies im Weiteren – abweichend von Langer, der die Lautlichkeit der<br />

Sprache akzentuiert – auf das „Wortschatzproblem“. Für Sperber hat die<br />

„Tätigkeit der Werkzeuge“ des Menschen (z.B. der Pflug im Acker) eine<br />

„Ähnlichkeit“ mit der Tätigkeit der Geschlechtsorgane. Das Denken in<br />

strukturellen Parallelen und Ähnlichkeitsrelationen entspricht Langer und<br />

dem Denken der Kabbalisten. So betont Langer (1923: 105) im Kontext der<br />

Schrift gerade die „Ähnlichkeit“ „zwischen Sprachzeichen und Abgebildetem“,<br />

auch die „zufällige phonetische Ähnlichkeit“. Sperber (1912: 412)<br />

spricht in diesem Zusammenhang wiederholt von „sexueller Betontheit“.<br />

Danach drücken sich für ihn „sexuelle Vorstellungen“ (1912: 415) auch in<br />

Lauten aus. Die Sinnlichkeit der Sprache und die Sinnlichkeit eines mündlich<br />

verankerten Judentums bei Langer gehen Hand in Hand.<br />

Sperber (1912: 408) sieht bei der Entstehung von Sprache das Moment der<br />

„Spannung“ im Mittelpunkt: Die „Entstehung der Sprache“ gründe auf der<br />

„Fähigkeit, die Stimme zur Entladung seelischer Spannung zu benutzen“.<br />

Der Sprachpsychologe verstehe dies so, dass der hervorgebrachte Laut dazu<br />

dient, einen „psychischen Inhalt von einem Individuum auf das andere zu<br />

übertragen“. Dieser kommunikativ-dialogische Aspekt des für Sperber<br />

(1912: 408) so zentralen „Affekts“ spielt bei Langer keine Rolle. Es geht<br />

ihm nicht um „Mitteilung“, um Dialog. Den Begriff der „Spannung“ dürfte<br />

Langer bei Sperber direkt adaptiert haben. Blüher benutzt ihn nicht. Langer<br />

hat also wohl die umfangreiche Studie Sperbers als unmittelbare Quelle<br />

herangezogen, nicht aber deren Darstellung durch Blüher, von dem er sich<br />

in diesem Zusammenhang sogar absetzt.<br />

Für Langer (1923: 111) bringt der Mensch sein „innerstes Leben“ nicht so<br />

sehr in der Schrift als in dem „kraftvolleren Verständigungsmittel“ des „gesprochenen<br />

Wortes“ zum Ausdruck. „Durch sukzessives Trennen und Differenzieren<br />

der Laute durch Verschiebungen und Verdrängungen ihrer ursprünglichen<br />

sexuellen Bedeutungen“ sei die gesprochene Sprache<br />

entstanden. Mündliche Sprache und Schrift sind demnach beide ein Resultat<br />

von Verdrängung. Das Alphabet ersetze die Sprache als notwendige graphische<br />

Darstellung eines „tiefen psychischen Differenzierungsvorganges“<br />

(LANGER 1923: 112). Langer bezieht sich aber – anders als Blüher und<br />

anders als Sperber – sogleich auf die besondere Sprache, das Hebräische.<br />

243


244<br />

Walter Koschmal<br />

Blüher und Langer verstehen den Eros als die „Philosophie der Besonderung“.<br />

Bei Langer äußert sich dies in der Bejahung der einen, der heiligen<br />

Sprache des Judentums, des Hebräischen. In dieser Schrift Blühers spielt<br />

das Jüdische hingegen ebenso wenig eine Rolle wie bei Sperber. 13<br />

Langer ist es aber erneut, der konsequent in kabbalistischer Manier die Ähnlichkeiten<br />

und Parallelen zwischen Judentum und Psychoanalyse betont:<br />

Denn die Talmudisten – so Langer – hätten schon immer einen engen Zusammenhang<br />

von Sprache und Eros gesehen. Im siebten Kapitel der Erotik<br />

der Kabbala mit dem Titel Die Erotik der Schrift und der Sprache betont<br />

Langer (1923: 102f.) die „unbegreiflich hohe Verehrung, die Sprache und<br />

Buchstabe in der Kabbala genießen“.<br />

Das sexuelle Chaos des Urschreis, von dem bei Blüher und Sperber die Rede<br />

ist, bezieht Langer nur mehr auf die Konsonanten, fehlen im Hebräischen<br />

doch die Vokale. Die Konsonanten seien die „Kristalle des ursprünglich<br />

chaotisch einheitlichen Geschreies des Eros“ (LANGER 1923: 112). Jeder<br />

Konsonant habe „eine bestimmte Valenz der sexuellen Ausdrucksenergie“,<br />

der einer bestimmten „inneren Lustspannung“ entspreche. Die „Verschiedenheit<br />

in den einzelnen Energiegraden“, die zur Erzeugung der Konsonanten<br />

erforderlich seien, setzten „verschieden hohe erotische Lustspannungen“<br />

voraus. Ließen sich die Spannungen messen (A+B+C), so fände man Worte<br />

mit vergleichbaren Spannungsinhalten. Deshalb müsse es zu einer „Graduierung<br />

der Konsonanten nach der Schwierigkeit ihrer Aussprache“<br />

(LANGER 1923: 113) kommen: die Buchstaben am Anfang des hebräischen<br />

Alphabets seien leichter auszusprechen als die davon am weitesten<br />

entfernten.<br />

Wesentlich ist also der „Energieaufwand“ bei der Aussprache der Konsonanten,<br />

aber auch die „phonetische Nachahmung erotischer Handlungen“<br />

(LANGER 1923: 112). Die Begriffe „Energieaufwand“ und „sexuelle Ausdrucksenergie“<br />

dürften auf Blüher (1917: 32) zurückgehen, für den sich<br />

„sexuelle Energie“ „nach oben“ in Leistung sublimiert. Wir können somit<br />

13 Blüher spricht in Deutsches Reich, Judentum und Sozialismus (1919) davon, dass dem<br />

deutschen Volk kein Volk „verwandter ist als die Juden“ (1919: 7). In unseren Tagen<br />

erleben wir das „dritte Geschichtswunder“ (9). Die Juden selbst beginnen die Diaspora<br />

zu beenden und die „Rasse der Juden“ beginne wieder „Volk zu werden“. Blüher nähert<br />

sich fast einem Kulturzionismus an, wenn er diesen hier u.a. deshalb so positiv bewertet,<br />

weil die Juden – ähnlich den Germanen, dem „Stamm Levi unter den Deutschen“,<br />

Kultur geschaffen haben (1919: 11). Einige „ganz große Leistungen der Wissenschaft<br />

dieser Tage“ stammten von Juden wie S. Freud. Diese Juden haben „statt der bloßen<br />

Assimilation an den Geist der Gastvölker“ eine wirkliche Synthese in sich zustande gebracht“<br />

(1919: 17). Auch Martin Buber und Gustav Landauer mit seinem „Aufruf zum<br />

Sozialismus“ (1919: 22) seien jene „Zionisten“, die den Deutschen „die tiefsten Beziehungen<br />

zum Probleme des Sozialismus“ bringen.<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala<br />

nicht nur allgemein von der Erotik der Sprache sprechen, sondern im Lichte<br />

der „Philosophie der Besonderung“ können wir bei Langer auch von einer<br />

Erotik der Phonetik ausgehen. Die gesprochene und gehörte Sprache entwickelt<br />

für Langer ein hohes Maß an erotischer Sinnlichkeit, das sich für<br />

ihn mit der Sinnlichkeit des Judentums, vor allem mit jenem der Chassiden,<br />

verbindet.<br />

Das Hebräische verfügt aber dank des Zahlenwertes der Laute und Schriftzeichen<br />

über eine fünfte Sinnschicht. Worte von gleichem Zahlenwert werden<br />

dabei häufig gegeneinander ausgetauscht. Diese „Gematria“ hebt das so<br />

lange verdrängte Unbewusste der Kabbalisten nach oben, auf die sprachliche<br />

Ebene. Die Gematria ersetzt „Lautausdrücke“ von „gleichem erotischen<br />

Spannungsgrad, ausgedrückt in der Valenz-Skala des Alphabets“ wechselseitig.<br />

Der hierarchischen Ordnung der „Sinnschichten“ in der Kabbala<br />

(SCHOLEM 1960: 72) entspricht bei Langer damit eine hierarchische Ordnung<br />

der erotischen Spannung bei der Aussprache von Lauten. Denn die<br />

Laute, die näher am Anfang des Alphabets stehen, weisen eine höhere Lustspannung,<br />

eine höhere Erotik auf als jene, die vom Anfang weiter entfernt<br />

sind. Diese Graduierung mag durchaus in ihrer strukturellen Ähnlichkeit zu<br />

den „geistigen Wänden“ gesehen werden, durch die das amorphe Metaphysische,<br />

d.h. Gott, sich in Die Erotik der Kabbala gleichfalls in unterschiedlichem<br />

Maße Geltung verschafft. Dem Sprachlaut kommt dabei als Repräsentanten<br />

des amorphen Metaphysischen aber schon in der Kabbala eine<br />

Schlüsselposition zu. Die Emanation göttlicher „Energie“, auch dieser Begriff<br />

findet parallel und unabhängig voneinander in der Kabbala und bei<br />

Blüher Verwendung, realisiert sich in der Kabbala als Entfaltung der Sprache.<br />

Diese Emanation bzw. Entfaltung schlägt sich ihrerseits in der „Graduierung<br />

der Konsonanten nach der Schwierigkeit der Aussprache“ und nach<br />

dem Grad der Lustspannung nieder.<br />

Die in der Kabbala parallelen geheimen Welten von Gottheit und Sprache<br />

(SCHOLEM 1960: 54) verdichten sich im göttlichen Namen. Der Name<br />

Gottes falte sich in der Thora analog zur Entfaltung der Sprache auseinander.<br />

Hans Sperber misst dem Namen, vor allem dank seiner magischen<br />

Funktion, durch die er per se Realität schafft, eine hohe Bedeutung bei.<br />

Sperber (1912: 417; 419) spricht von der numinos anmutenden „seltsamen<br />

Macht des Namens“. „Das Wort“ – nur die Nennung des Namens hat „Zauberkraft“.<br />

Sperber beruft sich dabei auf Sigmund Freud, für den die höchsten<br />

Errungenschaften des menschlichen Geistes (etwa die Kunst) mit unausgelebten<br />

sexuellen Impulsen zu tun haben.<br />

Diesen hohen Stellenwert des Namens in seiner Theorie der Entstehung der<br />

Sprache verbindet erst Langer (1923: 102) mit dem hohen Stellenwert des<br />

Namens für die Kabbala. Er begreift die 22 Buchstaben des hebräischen<br />

245


246<br />

Walter Koschmal<br />

Alphabets als „lebendige überirdische Wesen, die mit Gott sprechen können“.<br />

Jeder Buchstabe deute in der Kabbala erneut auf seine besondere<br />

[sic!] Weise „auf den vierbuchstäbigen Gottesnamen hin“. Jeder Konsonant<br />

habe „einen eigenen, abstrakten Sinn“, sei „Urelement der Sprache“. 14 Diese<br />

komplexen Zusammenhänge konnte Langer kommentierendwissenschaftlich<br />

nur in der Sprache jener Diskurse darstellen, in der sie in<br />

seiner Zeit (bei Blüher, Freud, Sperber u.a.) vorwiegend geführt wurden, in<br />

Deutsch. Die literarische Umsetzung hingegen erfolgte erneut in wohl überlegter<br />

hierarchischer Distribuierung der Sprachen in dem von ihm geschaffenen<br />

Schrifttum. Die fünfte Sinnschicht und damit die höchste Nähe zum<br />

Mythos konnte Langer aber nur im Hebräischen finden. Deshalb schrieb er<br />

seine Gedichte allein in dieser heiligen Sprache.<br />

Wird die Rolle des Eros in der Kabbala vor allem darin gesehen, dass er<br />

einen Übergang zum Göttlichen schaffe, so gelangt Blüher in seinen Überlegungen<br />

zum verdrängten mann-männlichen Eros zu einer parallelen Sicht<br />

und Wertung. J. M. Langer ist es aber, der diese Parallelen zwischen Geschichte<br />

und theologischem System des Judentums, vor allem aber mit einem<br />

im Mythos verankerten Judentum, wie es für ihn der Chassidismus ist,<br />

herstellt. Der Eros schaffe den Übergang zum Göttlichen. Das Wesentliche<br />

des göttlichen Namens aber liegt – laut Kabbala – in seinem ersten Laut, im<br />

„Aleph“. Dem ersten Laut misst Langer den höchsten erotischen Grad zu.<br />

Parallel und analog zum Eros, der den „Übergang“ zum Göttlichen schafft,<br />

stellt somit das „Aleph“ den Übergang zur vernehmbaren Sprache, zur<br />

Mündlichkeit her. Im Chassidismus werden Mündlichkeit und mannmännliche<br />

Erotik in gleicher Weise besonders hoch geschätzt und – anders<br />

als im schriftlich ausgerichteten Gesetzesjudentum – nicht länger verdrängt.<br />

Sprachlautlichkeit und Eros bilden für Langer eine untrennbare, eine religiöse<br />

Einheit, in der sich der Kern seines eigenen Lebens und Wirkens in<br />

nuce – in jenem in der Kabbala so zentralen Bild der Nuss – wiederfinden<br />

dürfte. Hätte es den Chassidimus nicht gegeben, Langer hätte ihn wohl erfinden<br />

müssen.<br />

14 Langer (1923: 102) spricht an dieser Stelle davon, dass die „Methode der Buchstabenkombinationen“<br />

„eine Art chemischer Analyse“ sei. Der Chemiker Justus Liebig<br />

schreibt schon im 19. Jahrhundert vom Alphabet der chemischen Prozesse und von deren<br />

„Universalgrammatik“.<br />

Zur intertextuellen Dimension von J. M. Langers Erotik der Kabbala<br />

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THIEBERGER, Friedrich (1995): Kafka und die Thiebergers. – In: H.–G.<br />

Koch (Hg.), „Als Kafka mir entgegenkam...“ Erinnerungen an Franz Kafka.<br />

Berlin: Wagenbach, 121–127.<br />

TREML, Martin (2001): Einleitung. – In: M. Buber, Werkausgabe 1: Frühe<br />

kulturkritische und philosophische Schriften 1891–1924. Bearbeitet, eingeleitet<br />

und kommentiert von Martin Treml. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus,<br />

13–19.<br />

TVRDÍK, Milan (2000): Franz Kafka und Jiří (Georg) Langer. Zur Problematik<br />

des Verhältnisses Kafkas zur tschechischen Kultur. – In: K. Schenk<br />

(Hg.), Moderne in der deutschen und der tschechischen Literatur. Tübingen,<br />

Basel: Francke Verlag, 189–199.<br />

VÍZDALOVÁ, Ivana (2002): Jiří Mordechaj Langer und seine Tore zur<br />

Identität. – In: A. A. Wallas (Hg.), Jüdische Identitäten in Mitteleuropa.<br />

Literarische Modelle der Identitätskonstruktion. Tübingen: Niemeyer, 111–<br />

117.<br />

249


Stimmen aus dem „Stummland“. Zum Sprachwechsel von Jiří<br />

Gruša und Ota Filip<br />

Renata Cornejo<br />

Es gibt Autoren, die ihr Tschechisch im Grunde genommen konservieren, indem sie [...] die<br />

vermeintliche Einzigartigkeit des Tschechischen gleichsam sinnlich auskosten und ein sprachliches<br />

Hochamt zelebrieren. Es gibt auch solche, die an ihrem Ringen mit der Sprache letztendlich<br />

zerbrechen [...]. Andere wiederum hören gänzlich auf, auf Tschechisch zu schreiben [...].<br />

Fälle, wo es gelingt, auf eine Fremdsprache umzusatteln, [...] bleiben lediglich recht seltene<br />

Ausnahmen. Viel häufiger ist eine Kompromisslösung: Man beteiligt sich aktiv am Zustandekommen<br />

von fremdsprachlichen Fassungen der eigenen Werke [...]. (GRUŠA 2000: 69f.)<br />

Fragen der Übersetzung stellten sich Exilschriftsteller, die ihre Literatursprache<br />

gewechselt haben genauso wie diejenigen, die weiterhin in ihrer<br />

Muttersprache schrieben. Für die deutsch schreibenden Autoren Jiří Gruša,<br />

Ota Filip und Libuše Moníková, die nach den Ereignissen des Prager Frühlings<br />

1968 und der darauffolgenden Normalisierungszeit der 70er Jahre ihren<br />

Wohnsitz in die Bundesrepublik Deutschland verlegten, bedeutete der<br />

Sprachwechsel eine Herausforderung, die ihnen sowohl eine Auseinandersetzung<br />

mit der Gastkultur aus deren Sprachsystem heraus als auch den distanzierten<br />

Blick von außen auf die eigene Sprache und Kultur ermöglichte.<br />

Der Prozess des Übersetzens muttersprachlicher Werke war für sie daher<br />

ein langsames und vorsichtiges Sich-Herantasten an den Sprachwechsel, der<br />

die häufig unbefriedigende Fremdübersetzung vermeiden half (vgl. Jiří<br />

Gruša). Für andere entwickelte sich die Autor-Übersetzung, in der die Relation<br />

von Übersetzerpersönlichkeit und Autor aufgehoben ist, zu einer tragbaren<br />

Alternative, die es erlaubte, in beiden Sprachen unterschiedliche Intentionen<br />

zu verfolgen und die ausgangssprachliche Version des Textes im<br />

Hinblick auf den Adressatenkreis bewusst umzugestalten (vgl. Ota Filip).<br />

Jiří Gruša – der im „Stummland“ Verstummte meldet sich zu Wort<br />

Für den 1938 geborenen Dichter, Schriftsteller und Politiker Jiří Gruša<br />

schien 1980, als er in die Bundesrepublik Deutschland kam, der Weg des<br />

Kompromisses durch seine Kompetenz als Übersetzer vorgegeben. 1962<br />

debütierte er als Lyriker, „im Tauwetter, nach Stalins Tod“ (GRUŠA 2000:<br />

8), mit dem Gedichtband Torna, zwei Jahre später folgte der Gedichtband<br />

Světlá lhůta (Helle Frist). Seinen literarischen Standpunkt, von dem er nie<br />

abwich, legte er Anfang der 60er-Jahre in der Zeitschrift TVÁŘ (Das Gesicht)<br />

dar, die er gemeinsam mit seinem Freund Jiří Pištora gegründet hatte.<br />

Es ging darum, Gesicht zu zeigen:


252<br />

Renata Cornejo<br />

Ein Dichter ist nur dann ein wahrer Dichter, wenn er sich niemals auf eine ideologische Form<br />

des Schaffens einlässt. In der Poesie geht es um die Poesie. Entweder du bist ein Propagandist,<br />

dann bist du ein Politiker – oder du verlässt dich auf deine ureigene Fähigkeit, die Realität zu<br />

eröffnen, sie neu zu schaffen. (SERKE 1982: 146)<br />

Solche Äußerungen sowie ein kritischer Artikel über die Lyrik der 50er-<br />

Jahre lösten die ersten Auseinandersetzungen mit der Kommunistischen<br />

Partei aus, die schließlich nach der Niederschlagung des Prager Frühlings<br />

zu einem öffentlichen Redeverbot des Autors führten. Nachdem sein erster<br />

Roman Mimner oder das Tier der Trauer (tsch. 1974, dt. 1986), der sich in<br />

metaphorischer Form mit dem Einmarsch der Sowjetischen Armee auseinandersetzt,<br />

1970 zunächst in der Zeitschrift SEŠITY (Hefte) unter dem Pseudonym<br />

Samuel Lewis veröffentlicht werden konnte, wurde er wegen vermeintlicher<br />

Verbreitung von Pornographie kurz darauf verboten. 1978<br />

erschien in der Edition PETLICE 1 Grušas zweiter Roman Dotazník aneb<br />

modlitba za jedno město a přítele (dt. Der 16. Fragebogen 1979), in dem<br />

die Geschichte der Tschechoslowakei von der nazistischen Okkupation<br />

1938 bis zum sowjetischen Einmarsch 1968 geschildert wird. Dieses Buch<br />

wurde zum Anlass einer strafrechtlichen Verfolgung des Schriftstellers und<br />

dessen Inhaftierung im August 1978. Auf Grund westlicher Proteste und der<br />

persönlichen Intervention von Heinrich Böll wurde Gruša zwar aus dem<br />

Gefängnis entlassen, jedoch weiter von den Behörden überwacht. Während<br />

eines dreimonatigen Studienaufenthaltes in den USA 1980 wurde ihm die<br />

tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt. Noch im Dezember desselben<br />

Jahres kam Gruša in die Bundesrepublik Deutschland, die für ihn zur<br />

neuen Heimat wurde.<br />

Gruša, der sich schon seit der frühesten Jugend literarisch orientierte,<br />

fremdsprachige Literatur las und nach seinem Berufsverbot als Übersetzer<br />

arbeitete, tendiert in seinen Werken zum Bi- bzw. Multilingualen. 2 Als mittlerweile<br />

bekannter Autor und Übersetzer wirkte er selbst an der deutschsprachigen<br />

Fassung seiner Romane mit 3 und gestaltete als Autorübersetzer<br />

die Originalversion des noch in der Tschechoslowakei entstandenen Ro-<br />

1 Der Untergrundverlag EDICE PETLICE wurde 1973 von Jiří Gruša und Ludvík Vaculík<br />

gegründet. Als unlizenzierter Verlag existierte er nur auf Basis der Arbeit eines kleinen<br />

Kreises von Autoren, die verbotene Bücher lektorierten, abtippten und weiter verbreiteten.<br />

2 Z.B endet Grušas Erzählung Dámský gambit mit einem deutsch-tschechischen Text.<br />

Häufig verwendet er aber auch ungarische, italienische, lateinische oder altgriechische<br />

Elemente in seinen Werken, in seinem Roman Mimner kreiert er gar eine eigene Fantasiesprache<br />

–„Alchadokisch“.<br />

3 Sein 1981 erschienener Roman Doktor Kokeš – Mistr Panny [Ackermann aus Böheim]<br />

wurde 1984 auf Deutsch unter dem Titel Janinka veröffentlicht, 1986 erschien die deutsche<br />

Übersetzung Mimner oder das Tier der Trauer.<br />

Stimmen aus dem „Stummland“. Zum Sprachwechsel von Jiří Gruša … 253<br />

mans Mimner oder das Tier der Trauer im Hinblick auf das deutsche Publikum<br />

und seine neue Situation um. Während der Ich-Erzähler in der tschechischen<br />

Fassung eingangs einen Albtraum hat, in dem er einen unaussprechlichen<br />

Ekel vor riesigen, ihm entgegen rollenden Brotlaiben erlebt,<br />

deren Oberfläche er sich zu berühren fürchtet, träumt der Ich-Erzähler der<br />

deutschen Fassung von einer furchterregenden Grenzkontrolle im totalitären<br />

utopischen Staat Alchadokien. Die konstatierte „Passlosigkeit“ ist das metaphorische<br />

Äquivalent, die deutsche Autorübersetzung der konkret erlebten<br />

und sprachlich bildhaft umgesetzten Exilsituation.<br />

1968 ist das Jahr, in dem Gruša durch ein öffentliches Redeverbot zum<br />

Schweigen gebracht wurde: „So wie ich einst als ‚Gesicht‘ 4 in die Gesichtslosigkeit<br />

geraten war, schlüpfte ich jetzt als ‚Schriftsteller‘ in die Sprachlosigkeit<br />

hinein.“ (GRUŠA 2000: 33f.) Gruša, der den Topos „Heimat im<br />

Wort“ in seiner sprachthematischen tschechischen Lyrik wiederholt aufgegriffen<br />

hat, wird nun mit der dilemmatischen Situation eines Dichters im<br />

„Sprachexil“ konfrontiert – im Sprachexil, in dem man ein „Rein-mit-der-<br />

Sprache-Spiel“ mit den unerwünschten Autoren trieb. „Böhmische Kochrezepte“<br />

nannte er später diese Umgangsart in seinem gleichnamigen Gedicht:<br />

Das Rein-mit-der-Sprache-Spiel<br />

(Böhmische Kochrezepte)<br />

Man friert sie ein,<br />

die sprache<br />

eben aufgeblüht<br />

noch halbwegs in der kehle<br />

man lässt sie gut bereifen<br />

und knetet sie zum zapfen<br />

etwa mannshoch<br />

dann drückt man sie<br />

zurück<br />

bis blut und scheiß<br />

darunter<br />

wörtchen für wörtchen.<br />

(GRUŠA 1988:27)<br />

In diesem „böhmischen Kochrezept“ aus seiner ersten Sammlung deutscher<br />

Gedichte Der Babylonwald (GRUŠA 1991) reflektiert der Autor expressiv<br />

den schwierigen Prozess des Spracherwerbs. Das „eben aufgeblühte“<br />

Sprachhandwerk, das er zu beherrschen gelernt hat, muss eingefroren und<br />

ein schriftstellerischer Neuanfang in der fremden Sprache gewagt werden.<br />

4 Als Mitbegründer der Zeitschrift GESICHT (Tvář) wurde Gruša von der Staatssicherheit<br />

überwacht und in deren Akte auch unter dem Decknamen „Gesicht“ geführt.


254<br />

Renata Cornejo<br />

Die neuen Wörter, unter „blut und scheiß“ hart erarbeitet, werden wie Teig<br />

zusammengeknetet und müssen der sich sträubenden Kehle erst abgetrotzt<br />

werden. Der Titel Babylonwald impliziert einerseits Reminiszenzen an eine<br />

waldreiche Region in Nordböhmen, wo sich Gruša vor seiner Ausreise aufhielt<br />

und seine Manuskripte aufbewahrte, andererseits eine Anspielung auf<br />

das biblische Babylon als Ursprungsort der Mehrsprachigkeit (der Turm<br />

von Babel): „Und vielleicht ist das Babylon in Böhmen kein Zufall, sondern<br />

der gemeinsame Ursprung – auch sprachlich ein Bruder der Sümpfe in Mesopotamien!<br />

Darum wählte ich diesen Namen für mein deutsches Buch.“<br />

(SERKE 1982: 52) Zu diesem Zeitpunkt lag das Erscheinen seines letzten<br />

Gedichtbandes in tschechischer Sprache bereits 20 Jahre zurück. Für Gruša,<br />

der auch im Exil bis 1985 auf Tschechisch schrieb, gehört der geglückte<br />

Sprachwechsel zur fünften der sieben „axiomatischen Absurditäten“ seines<br />

Lebens (GRUŠA 2000: 43), wie er merkwürdige, miteinander in Zusammenhang<br />

stehende Begebenheiten in seinem Leben nennt. 5 Er sieht einen<br />

unmittelbaren Zusammenhang (die dritte „axiomatische Absurdität) zwischen<br />

der Szene aus dem letzten, auf Tschechisch verfassten Werk Doktor<br />

Kokeš – Mistr Panny, in dem er das Genus des deutschen Lexems „Tod“<br />

ausführlich behandelte, und einem Hirnschlag nach dem Erscheinen der<br />

deutschen Übersetzung dieses Romans (dt. Janinka), der seinen Tod hätte<br />

bedeuten können:<br />

Ich habe bis 1985 weiter auf Tschechisch geschrieben, aber bei verschiedenen Gelegenheiten<br />

immer mehr deutsche Texte verfasst, bis ich nach der Krankheit plötzlich nicht mehr tschechisch<br />

schrieb. Die Krankheit hing wahrscheinlich mit diesem Sprachwechsel zusammen […].<br />

(PFOB 2001: 7f)<br />

Nach dem Hirnschlag, der eine vorübergehende Erblindung zur Folge hatte,<br />

stand er vor einem beinah unlösbaren Problem als Schriftsteller – die Muttersprache<br />

ist ihm abhanden gekommen. So ist es für ihn als Schriftsteller<br />

paradoxerweise erst durch die Krankheit ermöglicht worden, von der einen<br />

in die andere Sprachwelt zu wechseln: „Ich komprimierte meine Gedichte,<br />

machte sie außersprachlich. [...] Und lauschte der Sprache der Deutschen.<br />

Weil die Augen lädiert waren, wurde das Gehör schärfer.“ (GRUŠA 2000:<br />

49) Der fast blinde Schriftsteller brachte sich als vereinfachte Abbildung<br />

5 Als erste „axiomatische Absurdität“ bezeichnet Gruša die Tatsache, dass er in seiner<br />

Geburtstadt Pardubice als kleiner Junge versucht hat, aus dem Kloster der Salesianer<br />

Schauspieltexte zu entwenden und dass er an diesen Ort nach fast 40 Jahren zurückkehrte,<br />

um seine von der tschechoslowakischen Staatssicherheit angelegte Akte einzusehen.<br />

Die zweite „axiomatische Absurdität“ erkennt er darin, dass er gemeinsam mit seinem<br />

Freund Jiří Pištora bei einer Schauspielaufführung in Pardubice erstmalig vor Publikum<br />

sprach und dass er an Pištoras Grab, wieder in Pardubice, dies letztmalig tun konnte,<br />

bevor ihm ein öffentliches Redeverbot erteilt wurde.<br />

Stimmen aus dem „Stummland“. Zum Sprachwechsel von Jiří Gruša … 255<br />

von Worten große Ideogramme bei, die sich immer mehr verkleinerten, bis<br />

sie wieder zu Buchstaben wurden, die deutsche Worte bildeten: „Ich notierte<br />

das Deutsche plötzlich wie einst das Tschechische.“ (GRUŠA 2000: 51)<br />

Diese Phase der Zeichendarstellung seiner Gedichte in der Form von Ideogrammen<br />

versteht Gruša als eine Zwischenstufe im Prozess seines Sprachwechsels,<br />

die zwischen einer Vor- und Nachsprache liegt. Der unterschwellig<br />

verlaufende Sprachwechsel fand seine äußerliche physische<br />

Entsprechung in der körperlichen Einschränkung 6 und im psychischen Zusammenbruch.<br />

Der Sprachkonflikt wird als Identitätskonflikt ausgetragen,<br />

der Wahrnehmungsveränderungen verursachen und zur Auflösung der bis<br />

dahin klaren Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem führen kann.<br />

Als Ergebnis der inneren Zerrissenheit tritt an die Stelle der Dianoia die<br />

Paranoia:<br />

Es kamen Worte zu mir, die ich nicht mehr verlernen sollte. Ich fing an, sie als Tatsachen zu<br />

spüren – so wie einst auf Tschechisch. War einst meine tschechische Poetik als Dia-Noia erworben,<br />

so wäre jetzt ihre deutsche Schwester als Para-Noia zu verstehen. (GRUŠA 2002:<br />

66f.)<br />

Diese Lebenskrise bedeutete für den Autor den endgültigen Sprachwechsel,<br />

den künstlerischen Durchbruch in der deutschen Sprache und auch die<br />

Rückkehr zur Lyrik. Seine zweite deutsche Gedichtsammlung Die Wandersteine<br />

(1994) ist von Motiven wie Sprachverweigerung und Sprachverlust<br />

bis hin zum Verstummen bestimmt. Im Gedicht Wortschaft hat das lyrische<br />

Ich seine Sprache erst im „Stummland“ (wortwörtliche Übersetzung des<br />

tschechischen Lexems „Německo“ [Deutschland]) verloren und erst im<br />

Verstummen die Bedeutung des Unaussprechlichen verstanden. Die Vertreibung<br />

in die Sprachlosigkeit und der daraus resultierende Sprachverlust<br />

wird als universelle Erfahrung des Verlorenseins empfunden. Trotzdem ist<br />

und bleibt die Sprache für das lyrische Ich die einzige Möglichkeit, im<br />

„Stummland“ zu überleben, indem es sich eine neue sprachliche Identität<br />

zulegt. Dorthin führte ein langer Weg, der an den zwischen 1973 und 1989<br />

entstandenen tschechischen und deutschen Gedichten ablesbar ist, die 2001<br />

unter dem Titel Grušas Wacht am Rhein aneb Putovní ghetto herausgegeben<br />

wurden. Der Sprachwechsel wird häufig innerhalb eines Gedichtes realisiert.<br />

7 Diese Texte zeigen, dass sich Gruša v.a. als „Übersetzer“ und Vermittler<br />

zwischen den beiden Sprachen und Kulturen versteht, wie auch seine<br />

6 Die Metapher der körperlichen Einschränkung benutzt Libuše Moníková in ihrem Roman<br />

Pavane für eine verstorbene Infantin, in dem sie die Emigrantin in einen Rollstuhl<br />

setzt, als Symbol der Ohnmacht des Exilschriftstellers.<br />

7 Im Gedicht Ich rede wahrhaftig ist der Titel deutsch, der gesamte Text jedoch tschechisch,<br />

in Thamyrisovy texty ist die erste Strophe deutsch, die zweite tschechisch.


256<br />

Renata Cornejo<br />

politische Tätigkeit nach 1990 hinreichend beweist. 8 Dieser „Übersetzungsprozess“,<br />

der auch eine kulturelle Grenzüberschreitung bedeutet, gestaltet<br />

sich äußerst schwierig, denn der Sprachwechsel wird als ein ambivalenter,<br />

lustvoll-schmerzhafter Lernprozess mit psychischen und physischen Verletzungen<br />

erfahren: „Wundgelesen/ bei so vielen zeichen/ bist du verwirrt“<br />

(GRUŠA 1994: 39). Der Voltairsche Garten lässt sich sprachlich-poetisch<br />

nicht leicht bestellen: „all das liegt hinter dir/ vor dir/ der garten/ du darin/<br />

mitten im übersetzen“ (GRUŠA 2001:75) heißt es im Gedicht Geschehen,<br />

das in beiden Sprachen vorliegt.<br />

Zum „Über-Setzer“ im doppelten Sinne (Schriftsteller und Diplomat) wurde<br />

Gruša nicht erst nach dem politischen Wechsel in der ČSSR durch die<br />

Übernahme politischer Funktionen, sondern er setzte sich schon als Dissident<br />

für die Einhaltung der Menschenrechte ein und war einer der Ersten,<br />

die die Charta 77 mitinitiierten und unterschrieben – Gruša als der Fährmann,<br />

der mit Hilfe seiner Literatur zwischen zwei Sprachen, Sprachkulturen<br />

und -welten von einem Ufer an das andere übersetzt, in dem er übersetzt.<br />

Ota Filips siebenter Lebenslauf<br />

Der aus einer polnisch-deutsch-tschechischen Familie stammende Ota Filip<br />

(*1930) konnte sich in den 60er-Jahren nach seinem Journalistikstudium<br />

nicht lange seinem Beruf widmen. Wegen der „nicht richtigen Kaderabstimmung“,<br />

wegen dekadenter und sozialdemokratischer Tendenzen wurde<br />

er 1960 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und musste sich bis<br />

zum „Prager Frühling“ als Bau- und Hilfsarbeiter durchschlagen. Nach einem<br />

kurzen Intermezzo beim PROFILVERLAG wurde er 1969 wegen angeblicher<br />

staatsfeindlicher Betätigung mehrmals verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe<br />

verurteilt. 1974 wanderte er mit seiner Familie als politischer<br />

Flüchtling nach Bayern aus, wurde ausgebürgert und bekam 1978 die deutsche<br />

Staatsbürgerschaft. Trotz der Änderung der politischen Verhältnisse<br />

nach 1989 lebt er weiter im bayrischen Murnau und beabsichtigt nicht zurückzukehren.<br />

Den endgültigen Sprachwechsel hat der Journalist und Schriftsteller Filip<br />

nie konsequent vollzogen, obwohl er aus einer mehrsprachigen Familie<br />

stammt und von dem Kultur- und Sprachgemisch der in ihr lebenden Nationalitäten,<br />

der tschechischen, deutsch-jüdischen und der polnischen, stark<br />

beeinflusst war. Ähnlich wie Libuše Moníková studierte er später u.a. Ger-<br />

8 Jiří Gruša war nach 1990 tschechoslowakischer, später tschechischer Botschafter in der<br />

BRD, 1997/98 tschechischer Kultusminister, seit 1998 vertritt er sein Heimatland als<br />

Botschafter in Wien.<br />

Stimmen aus dem „Stummland“. Zum Sprachwechsel von Jiří Gruša … 257<br />

manistik und hatte demzufolge sehr gute sprachliche Voraussetzungen für<br />

einen Sprachwechsel, den er selbst für die einzig mögliche Konsequenz seines<br />

Exils hielt und den er nicht als ein Provisorium verstanden haben wollte.<br />

Seine Laufbahn als Prosaautor begann 1968 mit der Veröffentlichung<br />

des Romans Cesta ke hřbitovu (Der Weg zum Friedhof), als sich die politische<br />

Situation in der Tschechoslowakei vorübergehend liberalisierte. Seine<br />

drei weiteren, auf Tschechisch geschriebenen Romane konnten aus politischen<br />

Gründen in seiner damaligen Heimat nicht mehr erscheinen und wurden<br />

zwischen 1969 und 1975 im Fischer-Verlag in deutscher Übersetzung<br />

herausgegeben. 9 Die Sprachkonversion resultierte, seiner eigenen Aussage<br />

nach, überwiegend daraus, dass ihn die deutschen Übersetzungen der vor<br />

dem Exil verfassten Werke nicht zufrieden gestellt hatten (vgl. FILIP 1992:<br />

62), obwohl sie von der deutschen Literaturkritik sehr positiv aufgenommen<br />

wurden.<br />

Ich habe angefangen deutsch zu schreiben, weil ich in Deutschland lebe und meine Leser<br />

deutschsprachige Menschen sind. [...] Diese beiden sachlichen Überlegungen: Ich lebe für<br />

immer in Deutschland, meine Leser sind Deutsche, ich lebe vom Schreiben, also muß ich für<br />

die Leser in der Sprache schreiben, die sie verstehen – das war der Grund, [...]. (FILIP 1992:<br />

62)<br />

Obwohl er von der Ausbildung her Germanist war und schon seit einigen<br />

Jahren in der Bundesrepublik Deutschland als Journalist arbeitete, wagte er<br />

lange nicht, sich die deutsche Sprache als Autorsprache anzueignen, die<br />

vorgegebene Sprach- und Kulturgrenze zu überschreiten. Erst als seine<br />

Kommentare und Reportagen für die FAZ ohne Korrektur der Frankfurter<br />

Redaktion akzeptiert wurden, gewann er nach und nach an Selbstvertrauen<br />

und begann, seinen ersten Roman auf Deutsch zu schreiben. Erschienen ist<br />

er im Jahre 1981, sieben Jahre nach seiner Emigration, unter dem Titel<br />

Großvater und die Kanone und setzt sich thematisch mit der Absurdität des<br />

Krieges vor dem Hintergrund der Kulisse des 1. Weltkrieges auseinander.<br />

Der Sprachwechsel bedeutete zugleich einen thematischen Wechsel. Während<br />

die in der Tschechoslowakei verfassten Romane die Okkupationsjahre<br />

1938–1945 und die Zeit des realen Sozialismus zur historischen Kulisse<br />

werden lassen, auf der die persönlichen Erfahrungen des Autors filtriert und<br />

bewältigt werden, setzt sich Filip in seinen Exilromanen mit historischen,<br />

9 In der Übersetzung von Josephine Spitzer sind die Romane Das Café an der Straße zum<br />

Friedhof (1968), Ein Narr für jede Stadt (1969), Die Himmelsfahrt des Lojzek Lapáček<br />

aus Schlesisch-Ostrau (1975) und Zweikämpfe (1977) erschienen. Der Roman Maiandacht,<br />

an dem Filip zum Teil noch in der Tschechoslowakei, zum Teil schon in der<br />

„Exilheimat“ BRD arbeitete, erschien im Jahre1977 und sein erster im Exil geschriebener<br />

Roman Wallenstein und Lukretia 1978 – beide in der Übersetzung von Marianne<br />

Pasetti-Swoboda.


258<br />

Renata Cornejo<br />

moralischen und philosophischen Themen im weiteren Sinne auseinander.<br />

Die Geschichte wird als „Geschichte ihrer zahlreichen Interpretationen“<br />

(JORDAN 1998: 2) wahrgenommen, den thematischen Mittelpunkt bilden<br />

die ideologische Manipulation der objektiven Wirklichkeit und das Spiel,<br />

die Komödie des Machtapparats und dessen Handlanger. Mit dem Sprachwechsel<br />

scheint auch die Modifizierung seines literarischen Stils eng zusammenzuhängen,<br />

meint Jürgen Jacobs (JACOBS 1988: 22), eine These,<br />

der Filip zustimmt:<br />

In den slawischen Sprachen, so auch im Tschechischen, ist es möglich, locker zu schwärmen,<br />

man kann vieles schön und poetischer sagen, vor allem das Adjektiv und den Nebensatz aufspielen,<br />

ohne dabei auf die Genauigkeit der informellen Aussage viel achten zu müssen […] Im<br />

Deutschen, und das ist mir beim Schreiben des Romans in zwei Sprachen aufgefallen, ist man<br />

doch mit der Tradition verbunden, mit der Tradition der exakten Denker und des genauen<br />

sprachlichen Ausdrucks. Das Deutsche zwang sogar eine andere Atmosphäre auf. (MOSER<br />

1989: 4)<br />

Filip bezieht sich mit dieser Beobachtung auf seinen letzten Roman Der<br />

Siebente Lebenslauf, der in zweierlei Hinsicht eine Sonderstellung in seinem<br />

bisherigen Schaffen einnimmt. Erstens kehrt Filip thematisch wieder<br />

zur eigenen Familiengeschichte und zu persönlichen Erfahrungen zurück<br />

wie in seinen früheren tschechischen Romanen, diesmal jedoch verzichtet er<br />

weitgehend auf eine Fabulierung zu Gunsten der Autobiographie. 10 Zweitens<br />

veröffentlicht er diesen Roman sowohl in deutscher als auch in tschechischer<br />

Sprache, wobei es sich keineswegs um eine direkte Übersetzung<br />

(1:1) handelt, sondern um zwei verschiedene Fassungen desselben Romans.<br />

„Ich habe mich nicht tschechisch übersetzt, sondern ich habe mich tschechisch<br />

neu erzählt“, so Filip und fügt hinzu, dass die um ca. 150 Seiten kürzere<br />

tschechische Fassung aus finanziellen Gründen entstanden sei. Dass er<br />

damals auf eine entsprechende Anforderung des Brünner Verlags eingegangen<br />

war, bezeichnet er rückblickend als einen großen Fehler. (HÝBLOVÁ<br />

2002: 85) Obwohl Der siebente Lebenslauf zunächst auf Deutsch während<br />

eines Stipendienaufenthalts 1999 in Rom entstanden war, erschien die<br />

tschechische Version im Brünner Verlag Host bereits im Jahre 2000, d.h.<br />

ein Jahr vor der Herausgabe der deutschen Urfassung. Der siebente Lebenslauf<br />

mit dem Untertitel „Autobiographischer Roman“ präsentiert die kleine<br />

individuelle Geschichte unter dem Druck der großen mitteleuropäischen<br />

zwischen den Jahren 1939–1953 und ist zugleich als eine Lebensbeichte des<br />

10 Stark autobiographische Züge weisen die Romane Café an der Straße zum Friedhof<br />

1968 (Kindheit und Jugend in Schlesisch-Ostrau), Die Himmelsfahrt des Lojzek Lapáček<br />

aus Schlesisch-Ostrau 1975, Zweikämpfe 1977 (der Junge muss die Position des<br />

Vaters übernehmen) und Sehnsucht nach Procida 1988 (Leben des Autors in der BRD,<br />

Problem der Emigration) auf.<br />

Stimmen aus dem „Stummland“. Zum Sprachwechsel von Jiří Gruša … 259<br />

Schriftstellers zu verstehen, der öffentlich bezichtigt worden war, ein Agent<br />

der Staatssicherheitspolizei gewesen zu sein, die bereits in den Jahren<br />

1951–52 eine Akte über ihn geführt hatte. Diesem Vorwurf folgte eine<br />

durch den Dokumentarfilm Der lachende Barbar ausgelöste mediale Hetze,<br />

der Filips Sohn nicht gewachsen war und sich deshalb 1998 das Leben<br />

nahm. Der vorzeitige Tod seines Sohnes als Folge der Vorwürfe, dass er in<br />

den 50er-Jahren ein informeller Mitarbeiter der StB gewesen sein soll, war<br />

der entscheidende Beweggrund für die Entstehung seines Romans, den er<br />

seinem verstorbenen Sohn Pavel widmete: „Der Anlass war der tragische<br />

Tod meines Sohnes. Das andere war, dass ich beschuldigt worden bin, ein<br />

Agent der Staatsgeheimpolizei zu sein. Ich versuche das im Siebenten Lebenslauf<br />

zu erklären.” (HÝBLOVÁ 2002: 84) Filip versucht, sich dabei an<br />

Tatsachen und Dokumente zu halten, die er zur Einsicht bekam und kopierte<br />

und die ohne sein Wissen (so zumindest behauptet er), über ihn geführt<br />

worden sind: „Und aus diesen Dokumenten gibt es meinen Siebenten Lebenslauf,<br />

von dem ich nicht gewusst habe, dass es ihn überhaupt gibt. Ich<br />

habe mich erst auf Grund der Dokumente entdeckt.“ (HÝBLOVÁ 2002: 85)<br />

Den Titel seines Romans bezieht er also auf sein „Leben“ in den Akten des<br />

tschechoslowakischen Nachrichtendienstes, das am 13. Juli 1951 „zu laufen“<br />

beginnt, als über ihn, den vermeintlichen englischen Agenten, eine Akte<br />

angelegt und sein Leben von da an unauffällig im Hintergrund organisiert<br />

und überwacht wird. Filip unterscheidet den wirklichen Lebenslauf, den er<br />

lebt, einen gekürzten, den er „für die Behörden, für fremden Gebrauch und<br />

andere sinnlose Zwecke“ (FILIP 2001: 9) schreibt und vier weitere Lebensläufe,<br />

die er in seinen autobiographisch geprägten Romanen (vgl. Anm. 10)<br />

verschlüsselt hat. Die Geschichte, die Personen, Tatsachen und Dokumente<br />

in seiner „Lebensbeichte“ sind dieselben, manche Episoden fehlen jedoch in<br />

der einen oder anderen Fassung, andere wurden hinzugefügt. Entscheidend<br />

scheint für Filip dabei gewesen zu sein, an welches Lesepublikum sich sein<br />

Lebensbericht wendet.<br />

In der tschechischen Fassung wurde die dem Roman vorangestellte Widmung<br />

an den verstorbenen Sohn weggelassen, was nicht der einzige formale<br />

Unterschied ist. Sie wurde um historisch-politische Anmerkungen, um eine<br />

Zeittafel der historischen Entwicklung der Tschechoslowakei von 1918 bis<br />

1953 und um das letzte Kapitel „Der Steinbruch“ reduziert, in dem die Folgen<br />

der misslungenen Flucht über die Staatsgrenze in den Westen geschildert<br />

werden und mit dem die tschechische Fassung seines nächsten Romans<br />

Der achte Lebenslauf eingeleitet werden soll. Interessanter sind jedoch die<br />

inhaltlichen und sprachlichen Unterschiede seines Siebenten Lebenslaufs. In<br />

der deutschen Fassung meidet er bewusst Ereignisse und Namen, die möglicherweise<br />

eine kritischere Haltung zu den tschechisch-deutschen Beziehun-


260<br />

Renata Cornejo<br />

gen evozieren oder für den deutschen Leser schwer verständlich sein könnten.<br />

So lässt er z.B. den Namen Göring sowie die Geschichte vom Hausmeister<br />

Vorlička weg, der im Mai 1945 als ‚gerechte‘ Vergeltung und aus Rache<br />

die Frau eines deutschen Soldaten mit ihrem Baby erschießt und noch<br />

stolz auf seine Tat ist, oder die Schilderung der begeisterten Begrüßung der<br />

sowjetischen Befreiungsarmee durch die tschechische Bevölkerung am<br />

Kriegsende. Der Hauptunterschied besteht, wie erwähnt, in der Kürzung der<br />

tschechischen Fassung um das letzte Kapitel, in dem von den Folgen (Gefängnis)<br />

des gescheiterten Fluchtversuches in den Westen berichtet wird<br />

und dass dem Roman durch die glückliche Heirat des Protagonisten am Ende<br />

märchenhafte Züge verliehen werden. Mit der abrupten Unterbrechung<br />

von Filips Lebensgeschichte nach der Festnahme 1953 (sie endet mit dem<br />

Gerichtsurteil der jungen Soldaten, die gemeinsam mit Filip den Fluchtversuch<br />

in den Westen geplant hatten. Dieser konnte jedoch auf Grund der Information<br />

von Filips Onkel, dem sich der Neffe mit seinem Vorhaben anvertraut<br />

hatte, vereitelt werden) bleibt ein klärendes Ende, das Bekenntnis<br />

und Hinterfragen der eigenen Schuld, auf halbem Wege stecken. Es ist die<br />

Schlussfrage der deutschen Fassung, die die eigene, offen eingestandene<br />

Schuld relativiert, indem sie sie in kausale und geschichtliche Zusammenhänge<br />

stellt. Das eigene „klägliche Versagen”, die eigene Schuld und Mitschuld,<br />

in der der Schriftsteller sein Leben lang gefangen bleibt (vgl. FILIP<br />

2001: 350), kann erst aufgearbeitet werden, wenn Filip dem eigenen Vater,<br />

der ein Nazikollaborateur war, vergeben kann, so wie er sich Vergebung<br />

und Verständnis vom eigenen, inzwischen verstorbenen Sohn gewünscht<br />

hätte:<br />

Eine dritte Generation wird es in unserer Familie nach Pavels Selbstmord nicht mehr geben.<br />

Wer wird, da ich keine Enkelkinder und keine Kinder meiner Enkelkinder erwarten kann, bis<br />

ins dritte Glied, damit sich das biblische Wort und der Wille Gottes erfülle, für Vater Bohumils<br />

Sünden, für meine Sünden und für mein Versagen im einundzwanzigsten Jahrhundert nach<br />

Christi Geburt büßen? (FILIP 2001: 432)<br />

In dieser fehlenden Relativierung und dem ausgebliebenen offenen Schuldbekenntnis<br />

in der tschechischen Fassung sehe ich einen der wichtigsten<br />

Gründe dafür, warum die tschechische Kritik mit dem Autor so hart ins Gericht<br />

ging. Während die deutsche Literaturkritik Filips literarisches Können<br />

sachlich analysiert und die Selbstironie des Autors schätzt, der seine<br />

Schwächen und Fehler selbstkritisch und aufrichtig offen legt, zeigen die<br />

tschechischen Kritiker nur wenig Verständnis für Filips „Verteidigungsbericht“,<br />

den sie als „Wiedergutmachungsversuch“ und ein Sich-reinwaschen-Wollen<br />

interpretieren. In seiner Rezension Půvab a bída fabulace<br />

(Der Liebreiz und das Elend des Fabulierens) beschäftigt sich Lubor Dohnal<br />

mit dem Problem der Grenze zwischen einer literarischen Fiktion und einem<br />

Stimmen aus dem „Stummland“. Zum Sprachwechsel von Jiří Gruša … 261<br />

autobiographischen Roman und kritisiert in diesem Zusammenhang Ota<br />

Filip u.a. dafür, dass er einerseits in seinem Roman genaue Daten über den<br />

misslungenen Fluchtversuch im dokumentarischen Stil präsentiert, um damit<br />

die Illusion der Wahrhaftigkeit und Echtheit beim Leser hervorzurufen,<br />

andererseits aber diese Daten ‚zurecht schneidet‘, um ihnen einen symbolischen<br />

Nachdruck zu verleihen (so wird z.B. der vereitelte Fluchtversuch<br />

vom 17.6.1952 aus der deutschen Fassung in der tschechischen auf den<br />

symbolträchtigen Freitag, den 13., vorverlegt, der das Misslingen der bevorstehenden<br />

Republikflucht signalisiert) und sich somit bewusst einer Mystifizierung<br />

bzw. einer Lüge bedient (vgl. DOHNAL 2000: 28). Es scheint<br />

Dohnal unmoralisch, das Schicksal noch lebender, damals involvierter und<br />

betroffener Personen als literarischen Stoff zu ge- bzw. missbrauchen, da<br />

hier bagatellisiert und manipuliert werde: „Niemand, auch nicht ein Schriftsteller<br />

hat Recht, so mit dem menschlichen Schicksal der Lebenden umzugehen“,<br />

urteilt der Literaturkritiker Dohnal hart (DOHNAL 2000: 28), was<br />

Filip als Einschränkung schriftstellerischer Freiheit und als Anmaßung interpretiert,<br />

da diese „Zurechtweisung“ häufig von Menschen komme, die<br />

selbst in das frühere Regime involviert waren:<br />

Er ist meine Freiheit, das zu schreiben, was ich weiß und was ich meine.[...] Vor allem lehne<br />

ich ab, dass mich Literaturkritiker, die selbst in der schlimmsten Zeit der Stalinisten die größten<br />

Prediger waren, über die Demokratie belehren. [...] Ich will nicht belehrt werden, was ich in<br />

der Literatur kann und was nicht, von Leuten, die selbst nichts geschrieben haben.<br />

(HÝBLOVÁ 2002: 87)<br />

Tschechische Kritiker beschuldigen Filip, es ginge ihm primär um die eigene<br />

Freisprechung und den Versuch einer Katharsis beim Leser (vgl. LUKEŠ<br />

2000) − ein Ziel, für welches er bereit sei, die innere Logik des Textes aufzugeben,<br />

die Fakten zu opfern und durch das Fabulieren zu verdrehen. Im<br />

Vordergrund aller tschechischen Besprechungen steht eindeutig die moralische<br />

Frage, die Frage nach der Berechtigung einer Rechtfertigung eigener<br />

Schuld und um Schuldzuweisung, von der er übereinstimmend nicht freigesprochen<br />

wird (vgl. DOSTÁL 2000; LUKEŠ 2000). Die deutsche Kritik<br />

wertet dagegen den Roman als einen gelungenen Beitrag zum Verständnis<br />

der komplizierten Beziehungen und der verwickelten Zusammenhänge während<br />

des kommunistischen Regimes (vgl. OPLATKA 2001), die für das<br />

deutsche Lesepublikum aus der Außenperspektive nur schwer nachvollziehbar<br />

seien. Ota Filip kommentierte diese deutlich widersprüchliche Aufnahme<br />

und markante Missgunst der tschechischen Litraturkritik kulturspezifisch:<br />

„In der deutschen Kritik geht es immer um die Sache. In der<br />

tschechischen Kritik geht es darum, gegen jemanden sich aufzuspielen, ihn<br />

unmöglich zu machen.” (HÝBLOVÁ 2000: 90)


262<br />

Renata Cornejo<br />

Die Gründe für eine so unterschiedliche Rezeption sind nicht zuletzt auch<br />

die sprachlichen und stilistischen Differenzen beider Fassungen, die es Filip<br />

erlaubt haben, Gedankengänge und Gefühle in der für ihn poetischeren und<br />

klangvolleren tschechischen Sprache emotionaler und eindringlicher zu<br />

vermitteln und atmosphärischer zu gestalten:<br />

Im Tschechischen läßt es sich herrlich schwärmen. Es ist eine Sprache mit einem vitalen Adjektiv<br />

und mit Verben, die zum Spielen einladen. Ihre Nebensätze fließen frei und ohne Hindernisse.<br />

Das Deutsch ist eine genaue Sprache, manchmal im Ausdruck etwas zu hart [...]. Es<br />

ist eine Sprache exakter Denker und Techniker. (FILIP 1992: 63f.)<br />

Manche Sachkenntnisse werden beim tschechischen Lesepublikum vorausgesetzt<br />

und erlauben dem Autor ausführlichere Naturschilderungen oder<br />

Schilderungen des eigenen Gemütszustandes. In der tschechischen Fassung<br />

deklariert er offen seine schriftstellerische Intention – nämlich die Sünde<br />

aus sich herauszuschreien, sie mit anderen zu teilen, denn so wird sie nicht<br />

so schwer zu tragen sein und vielleicht sogar auch „tragbar“ werden (FILIP<br />

2000: 13). Auch die Frage des Gewissens wird anders behandelt. In der<br />

deutschen Fassung heißt es: „Mein Gewissen schweigt, allerdings auf eine<br />

seltsame Art und Weise: Je länger und geduldiger es schweigt, umso mehr<br />

reizt und beunruhigt es mich.“ (FILIP 2001: 16) Das tschechische Äquivalent<br />

spricht von Angst und Grauen vor dem Gewissen, das ihn Tag und<br />

Nacht beunruhigt (FILIP 2000: 14) – man ist versucht „verfolgt“ zu übersetzen.<br />

Filip selbst gesteht, dass ihm die deutsche Sprache als Sprache der<br />

Philosophen und Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts Genauigkeit abverlangt<br />

und er daher in der deutschen Fassung genauere Zeitangaben macht,<br />

die nicht unbedingt mit authentischen Daten übereinstimmen müssen. Zugleich<br />

bedeutet für ihn die deutsche Sprache eine Möglichkeit, Abstand von<br />

der eigenen Geschichte zu gewinnen und eine selbstkritische Distanz und<br />

Sachlichkeit zu bewahren.<br />

Zweifelsohne hat Ota Filip mit den Fassungen desselben Romans in zwei<br />

Sprachen einen neuen und ungewohnten Weg in seinem literarischen Schaffen<br />

eingeschlagen und auf seine Art und Weise die Frage des Sprachwechsels<br />

originell gelöst. Auch seine zwei nächsten, bis jetzt noch nicht veröffentlichten<br />

Romane Der achte Lebenslauf und Haus am Berg wurden auf<br />

Deutsch und Tschechisch verfasst und liegen zur Zeit in zweisprachigen<br />

Versionen vor.<br />

Die Ambivalenz des sprachlichen Grenzgängertums, das für beide Autoren<br />

zur Lebenshaltung wurde, hat am zutreffendsten Jiří Gruša zum Ausdruck<br />

gebracht, als er sich im gleichnamigen Essayband Glücklich heimatlos<br />

nannte. Denn obwohl beide Autoren, wie Seilkünstler, dem ständigen Balancieren<br />

auf den deutsch-tschechischen Sprachgrenzen ausgesetzt sind,<br />

Stimmen aus dem „Stummland“. Zum Sprachwechsel von Jiří Gruša … 263<br />

haben sie im ‚Stummland‘ zu einer Sprache gefunden, in der sie als Schriftsteller<br />

für immer beheimatet bleiben werden.<br />

Literaturverzeichnis:<br />

DOHNAL, Lubor (2000): Půvab a bída fabulace. – In: Lidové noviny<br />

7.12.2000, 28.<br />

DOSTÁL, Petr (1998): Taková zbytečná smrt. – In: Právo 17.1.1998.<br />

FILIP, Ota (1992): K západu jsem optimistický. – In: Hvížďala, Karel: České<br />

rozhovory ve světě. Praha, 1992, 59–82.<br />

FILIP, Ota (2000): Sedmý životopis. Brno: Host.<br />

FILIP, Ota (2001): Der siebente Lebenslauf. München: Herbig.<br />

GRUŠA, Jiří (1988): Der Babylonwald. Stuttgart: DVA.<br />

GRUŠA, Jiří (1994): Wandersteine. Stuttgart: DVA.<br />

GRUŠA, Jiří (2000): Das Gesicht – der Schriftsteller – der Fall. Vorlesungen<br />

über die Prätention der Dichter, die Kompetenz und das Präsenz als<br />

Zeitform der Lyrik. Dresden: Thelem.<br />

GRUŠA Jiří (2001): Grušas Wacht am Rhein aneb Putovní ghetto. Praha,<br />

Litomyšl: Paseka.<br />

GRUŠA, Jiří (2002): Glücklich heimatlos. Einblicke und Rückblicke eines<br />

tschechischen Nachbarn. Stuttgart, Leipzig: Hohenheim.<br />

HÝBLOVÁ, Klára (2002): Interview mit Ota Filip in Murnau am<br />

11.7.2001. – In: Dies., Ota Filip – „Der siebente Lebenslauf“. Ústí nad Labem:<br />

UJEP (Diplomarbeit), 84–102.<br />

JACOBS, Jürgen (1988): Mitten unter Mördern. – In: FAZ, 23.8.1988, 22.<br />

JORDAN, James (1998): Ota Filip. – In: KLG – 10/98, 1–8.<br />

LUKEŠ, E.: Doznání Oty Filipa. – In: Tvar 21/2000, 20.<br />

MOSER, Dietz Rüdiger (1989): Brückenschlag nach Prag. Gespräch mit<br />

Ota Filip. – In: Literatur in Bayern. München, H. 17, 2–10.<br />

PFOB, Julia (2001): Jiří Gruša – Interview mit dem Kosmopoliten. Interview<br />

von Julia Pfob am 21.8.2001. – In: Dies., Jiří Gruša – Dichter,<br />

Schriftsteller und Politiker. Zittau: Hochschule Zittau Görlitz (Diplomarbeit).


264<br />

Renata Cornejo<br />

OPLATKA, Andreas (2001): Der Fall, der keiner war. Ota Filip fordert Gerechtigkeit<br />

und verdient sie auch. – In: Neue Zürcher Zeitung 29.8.2001,<br />

33–34.<br />

SERKE, Jürgen (1982): Die verbannten Dichter: Berichte und Bilder einer<br />

neuen Vertreibung. Marburg: Albrecht Knaus.<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

Kurt Krolop<br />

Josef Körner: Philologische Schriften und Briefe. Hrsg. von Ralf Klausnitzer. Mit einem Vorwort<br />

von Hans Eichner (= Marbacher Wissenschaftsgeschichte 1). Göttingen: Wallstein 2001.<br />

480 S.<br />

1. Eine neue wissenschaftshistorische Schriftenreihe – und ihr Start mit<br />

der Edition von Schriften Josef Körners<br />

Es ist eine wohl nicht ohne Bedacht getroffene Entscheidung der beiden<br />

Herausgeber Christoph König und Ulrich Ott gewesen, ihre neue Schriftenreihe<br />

der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik<br />

im Deutschen Literaturarchiv Marbach gerade mit einem Band Philologische<br />

Schriften und Briefe von Josef Körner (1888–1950) zu eröffnen, einem<br />

Germanisten also, dessen Name über einen engeren Kreis von kundigen<br />

Romantikforschern hinaus wohl nur mehr als der des Verfassers jenes berühmten,<br />

seinerzeit unentbehrlichen und auch heute noch immer mit Gewinn<br />

zu lesenden (keineswegs nur ‚anzublätternden’) Bibliographischen<br />

Handbuchs des deutschen Schrifttums (KÖRNER 1949) allgemeiner geläufig<br />

sein dürfte.<br />

Als Herausgeber, Kommentator, Bio- und Bibliograph dieses mit einem<br />

würdigenden und empfehlenden Vorwort von Hans Eichner einleiteten<br />

Bandes zeichnet Ralf Klausnitzer, fachkompetent ausgewiesen vor allem<br />

durch eine wissenschaftsgeschichtlich wichtige Monographie über Romantikforschung<br />

und -forscher in der Ära des Nationalsozialismus (KLAUSNITZER<br />

1999).<br />

Die Publikation ist in vier Hauptteile gegliedert. „(Philologische) Schriften“<br />

(KÖRNER 2001: 9–185) bezieht sich als Sammeltitel auf eine knappe<br />

Auswahl von 14 Texten aus einer Gesamtmasse von rund 350 Titeln, welche<br />

ein (leider nicht durchnummeriertes) „Verzeichnis der Veröffentlichungen<br />

Josef Körners“ (ebd.: 351–384) einzeln aufzählt (einschließlich nicht<br />

immer vollständiger Listen von Rezensionen der selbständig erschienenen<br />

Schriften). Diese Bibliographie macht die erste Abteilung eines „Anhangs“<br />

(ebd.: 349–476) aus, dessen zweite Abteilung ein „Nachwort“ einnimmt, in<br />

dem der Herausgeber Ralf Klausnitzer unter der programmatischen Überschrift<br />

„Josef Körner – Philologe zwischen den Zeiten und Schulen. Ein<br />

biographischer Umriß“ (ebd.: 385–461) eine lebens- und werkgeschichtliche<br />

Gesamtwürdigung in zeit- und wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen<br />

zu bieten unternimmt. Den Abschluss bildet ein „Personenregister“<br />

(ebd.: 463–476), das sich allerdings an das eingangs gegebene


266<br />

Kurt Krolop<br />

Versprechen, „alle Personen“ zu erfassen, die im Text sowie im Anmerkungsapparat<br />

der Schriften, Briefe und des Nachworts erwähnt werden“<br />

(ebd.: 473), nicht nur nicht hält, sondern auch bei manchen erfassten Personen<br />

keineswegs alle Erwähnungen berücksichtigt.<br />

Etwa den gleichen Raum wie die Auswahl von „Schriften“ nimmt, an diese<br />

unmittelbar anschließend, eine Abteilung „Briefe“ (ebd.: 187–348) ein, in<br />

der an die 65 Schreiben abgedruckt sind, die Josef Körner von Anfang Januar<br />

1946 bis Anfang Mai 1950 von seinem „Tomi“ (ebd.: 289) Roztoky<br />

bei Prag aus an die seit November 1934 im schwedischen Exil zu Göteborg<br />

als Sprachlehrerin im Schuldienst lebende bedeutende deutschjüdische Literaturwissenschaftlerin<br />

und -theoretikerin Käte Hamburger (1896–1992) gerichtet<br />

hat, deren Lebenslauf der Herausgeber offenbar für so allgemein bekannt<br />

gehalten zu haben scheint, dass er meint, dem Leser keinerlei biographische<br />

Informationen preisgeben zu müssen, nicht einmal Geburts- und<br />

Sterbejahr.<br />

Am chronologischen Leitfaden des „biographischen Umrisses“ sei im Folgenden<br />

eine kritisch referierende Würdigung dieses thematisch so überaus<br />

wichtigen Bandes vorzunehmen versucht.<br />

2. Zur Herkunft, weltanschaulichen Orientierung und akademischen<br />

Ausbildung Körners<br />

Das ein wenig pompös mit „Herkunft und universitäre Sozialisation“ (ebd.:<br />

389–399) überschriebene erste Kapitel des biographischen Umrisses ist den<br />

mährischen Kindheits- und Schuljahren sowie den Wiener Studienjahren<br />

Josef Körners gewidmet.<br />

In Hinblick auf vermeintlich analoge „Ausgangsbedingungen“ (und wohl<br />

nicht nur auf die Gleichheit der Vornamen) hat der Herausgeber an späterer<br />

Stelle eine Parallele zwischen Josef Körner und Josef Nadler zu ziehen versucht:<br />

In ihren Geburtsjahrgängen nur vier Jahre voneinander getrennt und dem tschechischen Teil<br />

der k. u. k. Monarchie entstammend, erfuhren beide Germanisten ihre universitäre Sozialisation<br />

durch die spätpositivistische Philologie österreichischer Prägung. (ebd.: 439–440)<br />

Nicht in jedem dieser Punkte kann man indessen von Parallelen sprechen.<br />

Gewiss kamen beide Josefs aus den böhmischen Ländern, aber schon die<br />

Behauptung, beide wären „dem tschechischen Teil der k. u. k. Monarchie“<br />

entstammt, ist irreführend. Körner stammte aus dem südostmährischen Dorf<br />

Rohatec (Rohatetz) bei Hodonín (Göding), das – ähnlich wie die Gymnasialstadt<br />

Uherské Hradiště (Ungarisch Hradisch) – in einer kompakt tschechischsprachigen<br />

Region lag, die nur eine verschwindend geringe deutschsprachige<br />

Minderheit aufwies; genau umgekehrt lagen die Dinge bei Nadler,<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

der in einer kompakt deutschsprachigen Gegend mit einer verschwindend<br />

geringen tschechischsprachigen Minderheit aufwuchs. „Josef Nadler wurde<br />

1884 im nordböhmischen Neudörfl [!] geboren“ (ebd.: 440), stellt da eine<br />

sehr unpräzise Information dar; denn allein „nordböhmische Neudörf(e)l“<br />

dieses Ortsnamens gab es nicht weniger als ein halbes Dutzend, von denen<br />

Nadlers Geburtsort, die 200–Seelen-Dorfgemeinde „Neudörfel“ (so die offiziell<br />

korrekte Schreibweise) bei Hainspach, im sogenannten ‚Böhmischen<br />

Niederland‘ ganz dicht an der böhmisch-sächsischen Grenze zur Oberlausitz<br />

gelegen, fast ausschließlich deutsche Einwohner hatte.<br />

Die sogenannte „universitäre Sozialisation“ vollzog sich dann gleichsam<br />

umgekehrt kontrastiv: bei Körner im so gut wie kompakt deutschsprachigen<br />

Wien, bei Nadler innerhalb der Enklave eines deutschsprachigen „Städtchens“<br />

(ebd.: 55) inmitten der „slawischen Großstadt“ (ebd.: 55) Prag.<br />

Während die Kindheits- und Gymnasialjahre wie auch die Anfänge der<br />

Universitätslaufbahn Josef Nadlers bis hin zu seiner Berufung nach Königsberg<br />

(1925) stark konfessionell-katholisch geprägt oder zumindest mitbestimmt<br />

waren, dürfte Körner schon sehr früh einen nicht nur konfessionell,<br />

sondern auch allgemein religiös indifferenten, rein „anthropologischen“<br />

bzw. anthropozentrischen Standpunkt eingenommen haben, wie er dann in<br />

den Briefen an Käte Hamburger mit wiederholtem Nachdruck dargelegt ist.<br />

Diesen Sachverhalt verkennt der Herausgeber, wenn er schreibt, Körner<br />

habe den „Glauben seiner Vorfahren“ (ebd.: 390, Hervorhebung K. K.)<br />

nicht verleugnet. Woraus Körner nach eigenem Bekenntnis nie ein Hehl<br />

gemacht hat, das war seine jüdische „Abstammung“ (ebd.: 189), seine<br />

„Herkunft“ (ebd.: 189), aber jegliche „Gottesfiktion“ (ebd.: 239), also auch<br />

deren jüdisch-mosaische Spielart, war für ihn eine nicht mehr nachvollziehbare<br />

„ideelle Kinderei“ (ebd.: 216), ein „Atavismus des theologischen Zeitalters“<br />

(ebd.: 196), das endgültig vergangen sei.<br />

Das nationale Identitätsbewusstsein Körners, seines Elternhauses wie seiner<br />

später in nazistischen Vernichtungslagern ermordeten Geschwister Erna<br />

Körner (1893–1941) und Dr. Max Körner (1882–1943) scheint sich nicht<br />

nur im Festhalten an der „deutschen Sprache und Kultur“ (ebd.: 389) manifestiert,<br />

sondern in einem zwar nicht „deutschradikalen“, wohl aber<br />

„deutschliberalen“ Sinne auch eine historisch-politische Dimension umfasst<br />

zu haben. So schließt etwa die ausdrücklich den „geliebten Geschwistern Erna<br />

und Max“ gewidmete Schrift Das Nibelungenlied (Leipzig 1921) mit einem<br />

rezeptionsgeschichtlichen Rück- und Ausblick, der zugleich ein Geschichts-<br />

und Zeitgeschichtsbild erkennen lässt, das sonore Töne eines auch politisch<br />

instrumentierten nationalen Pathos keineswegs scheut und vermeidet:<br />

Fragt man sich, [...] wie ein Werk von solcher Tiefe der Empfindung [...] dem eigenen Volk<br />

Jahrhunderte lang so gut wie verloren sein konnte, dann muss der Hinweis auf den tragischen<br />

267


268<br />

Kurt Krolop<br />

Verlauf der deutschen Geschichte zur Antwort dienen, der innere Zusammenbruch der Nation<br />

im 16. und 17. Jahrhundert, durch den mit der politischen Macht auch die geistige Kultur des<br />

Volkes verschüttet ward. Beide sind glanzvoll wieder erstanden, und aus dem Nibelungenlied<br />

nicht zuletzt haben Kraft und Stolz und Zuversicht jene Männer gesogen, die am Beginn des<br />

19. Jahrhunderts dem deutschen Geist und dem deutschen Schwert die ruhmvollen Wege wiesen,<br />

die bis ans Ende des Säkulums immer höher und höher hinanführten. Hat eine trauervolle<br />

Gegenwart die Nation von dieser schon schwindligen Höhe nun jäh hinabgestürzt, – ihre geistigen<br />

Güter, die kein Feind rauben kann, sind ihr geblieben; die zu halten und zu hegen, an<br />

ihnen sich zu erraffen, sich zu erheben ist die Forderung des Tages. Wieder kann werden, was<br />

einst war, und zum andernmal an dem alten Gedichte sich ein Feuer entzünden, das alle Gewalt-<br />

und Fremdherrschaft vernichtet. (KÖRNER 1921: 121–122, Hervorhebungen K. K.).<br />

Nach Kenntnisnahme solcher Sätze erscheint einem die wenige Jahre später<br />

von August Sauer kolportierte Bezichtigung, bei Körner handle es sich um<br />

ein „übelbeleumdetes anationales Individuum“ (ebd.: 425 und 439) als eine<br />

besonders böswillige Verleumdung.<br />

Besonderen Wert hat Josef Körner stets auf die Feststellung gelegt, als Philologe<br />

und Literarhistoriker aus der Schule Jakob Minors (1855–1912) hervorgegangen<br />

zu sein, in seinen Studien „vornehmlich von Jakob Minor geleitet,<br />

als dessen letzter namhafter Schüler er zu bezeichnen ist“, wie die<br />

offenbar auf Körner selbst zurückgehende Formulierung in der ersten Auflage<br />

des Deutschen Literatur-Lexikons von Wilhelm Kosch (1928: Sp.<br />

1254) deutlich genug lautet. Und der dem Wirken Minors gewidmete Passus<br />

in der wissenschaftsgeschichtlichen Darstellung „Deutsche Philologie“,<br />

die Josef Körner für den von Eduard Castle betreuten dritten Band der<br />

Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte (1930: 48–89) beigesteuert<br />

hat, bietet nicht nur eine Charakteristik der germanistischen Leistungen,<br />

sondern auch eine einlässliche Schilderung der Vorlesungspraxis und Vortragsweise<br />

des verehrten akademischen Lehrers aus eigener Hörererfahrung.<br />

Wie Jonas Fränkel (1879–1965), der Verfasser eines bedeutsamen Nachrufs<br />

(KÖRNER 1949: 528) auf Jakob Minor, so sah auch Josef Körner die Tugenden,<br />

Ansprüche und Leistungsmöglichkeiten des spezifisch Philologischen<br />

von Poetik und Historik in Minors Lehr- und Forschungstätigkeit<br />

weithin musterhaft erfüllt. Nicht ohne Staunen wird man bei Körner – ein<br />

Jahr vor seinem frühen Tode – einen aus dieser Tradition heraus zu verstehenden<br />

Satz lesen können, der Schlegelsche Gedanken von der Philologie<br />

als Universalwissenschaft erneuern zu wollen scheint:<br />

[...] jedenfalls kann es nicht Aufgabe der Poetik sein, irgendeine [...] ‚Philosophie‘ auf das<br />

Gebiet der Dichtung anzuwenden [...], vielmehr hat der Poetiker, als Erforscher der dichtesten<br />

und deutlichsten menschlichen Ausdrucksgebilde, eher selbst den Philosophen zu belehren.<br />

(KÖRNER 2001: 315)<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

3. Zu Körners Beschäftigung mit der zeitgenössischen Gegenwartsliteratur.<br />

3.1. „Entdeckung der Gegenwartsliteratur“<br />

„Als Redakteur der Zeitschrift Donauland in Wien: Entdeckung der Gegenwartsliteratur“<br />

(ebd.: 399–413) ist der „zweite Abschnitt“ (ebd.: 388)<br />

des „biographischen Umrisses“ überschrieben.<br />

„Entdeckung der Gegenwartsliteratur“ bezeichnet hier einen Sachverhalt,<br />

mit dem Körner sich ebenfalls als Fortsetzer eines Wirkungsbereichs Jakob<br />

Minors (und des von diesem habilitierten Oskar Walzel) empfinden konnte.<br />

„Minors lebhaftes Interesse für das dichterische Schaffen der Gegenwart“<br />

hatte Jonas Fränkel 1912 in seinem Nekrolog für die NEUE ZÜRCHER<br />

ZEITUNG 1 mit besonderem Nachdruck hervorgehoben, während dieses „lebhafte<br />

Interesse“ schon ein Jahrzehnt vorher von Karl Kraus in der FACKEL<br />

satirisch glossiert worden war als der Ehrgeiz des Wiener Ordinarius, „im<br />

Germanistenseminar moderne Literatur zu züchten und als Minordomus der<br />

deutsch-österreichischen Literatur seines Amtes zu walten.“ (KRAUS<br />

1901/87: 25)<br />

Der als erstes Zeugnis eines solchen lebhaften Interesses vom Herausgeber<br />

in seine Textauswahl aufgenommene Aufsatz Dichter und Dichtung aus<br />

dem deutschen Prag (KÖRNER 2001: 55–66) vom September 1917 darf<br />

zwar als Beleg dafür gelten, dass Körner in der Tat als „einer der ersten Literaturwissenschaftler<br />

[...] die Bedeutung Franz Kafkas […] erkannte und<br />

benannte“ (ebd.: 386): aber eben nur als einer von ihnen, und nicht einmal<br />

als der allererste; in der Priorität war ihm da bereits mehr als ein Jahr zuvor<br />

sein Mentor Oskar Walzel mit dem Aufsatz Logik im Wunderbaren im<br />

BERLINER TAGEBLATT 2 vom 6. Juli 1916 bahnbrechend vorangegangen.<br />

Auch das an Körners Aufsatz so heftig von Max Brod gerügte Gruppierungsverfahren,<br />

ihn selbst zum „Führer“ (ebd.: 63) eines „Brodschen Kreises“<br />

(ebd.: 65) Prager Autoren zu erklären, war alles andere als neu; schon<br />

das PRAGER TAGBLATT vom 10. Februar 1912 hatte die Zeitschrift HERDER-<br />

BLÄTTER (1911/1912) definiert als „Organ der jungen Prager Dichter, die<br />

um Max Brod sich schließen“, ohne damit bei diesem auf Widerspruch zu<br />

stoßen. Ungewöhnlicher wirkte da schon die Erwähnung eines etwas peripheren<br />

Autors wie Hans bzw. Johannes Thummerer (1888–1921) im Kontext<br />

der Prager Werfel-Generation; aber absolute Priorität darf erst die meines<br />

Wissens allererste und gleich auch sehr nachdrückliche öffentliche<br />

Erwähnung und Hervorhebung eines Prager Salons für sich beanspruchen,<br />

1 Die auch heute noch so heißt, nicht NEUE ZÜRICHER ZEITUNG, wie auf Seite 376 zu<br />

lesen.<br />

2 Das wiederum so hieß und nicht BERLINER TAGBLATT (57).<br />

269


270<br />

Kurt Krolop<br />

der seither wiederholt von sich reden gemacht hat (vgl. zuletzt GIMPL<br />

2001):<br />

Einigte vordem in Berlin der Verein ‚Durch‘ die Vorkämpfer des Naturalismus, blühte das<br />

junge Wien in der Treibhausluft des Café Griensteidl auf, so fanden Prags jugendliche Dichter<br />

vornehmlich in dem bescheidenen Salon einer hochgebildeten Dame den beliebten Treffpunkt.<br />

Hugo Bergmann, der Herrin des Hauses nahestehend, ein tüchtiger philosophischer Kopf und<br />

wahrer Edelmensch, führte dort (der Krieg hat ja manches verändert) die geistvollen Debatten<br />

und von seinem Wort und Wesen empfingen die versammelten Literaten mehr Anregung als<br />

Fernstehende ahnen mögen. So geht etwa Max Brods bisher reifste Schöpfung, der Roman<br />

Tycho de [sic!] Brahes Weg zu Gott in der Grundidee auf eine Studie des bibelkundigen Philosophen<br />

zurück. (KÖRNER 2001:63)<br />

Die hier so rühmend erwähnte, wenn auch nicht beim Namen genannte<br />

„hochgebildete Dame“ war die Apothekersgattin Bert(h)a Fanta (1865–<br />

1918), welcher der „tüchtige philosophische Kopf und wahre Edelmensch“<br />

Hugo Bergmann (1883–1975), einstiger Klassenkamerad Franz Kafkas und<br />

späterer erster Direktor der National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem,<br />

als Schwiegersohn besonders nahe stand. Bergmanns Abhandlung Die<br />

Heiligung des Namens (Kiddusch haschem) in dem Sammelbuch Vom Judentum<br />

(Leipzig 1913) hat Max Brod (1960: 355) selbst in seiner Autobiographie<br />

Streitbares Leben als ein „Schriftwerk“ bezeichnet, das wie kaum<br />

ein anderes auf ihn einen „erleuchtenden Eindruck“ gemacht habe, gerade<br />

in Bezug auf Tycho Brahes Weg zu Gott – nicht Tycho de Brahes Weg zu<br />

Gott, wie das offenbar schon Körner unterlaufene, vom Herausgeber kommentarlos<br />

übernommene Fehlzitat des Romantitels lautet.<br />

Solche Errata vermögen bei aller Geringfügigkeit gleichwohl als warnende<br />

Exempel dafür zu dienen, dass man selbst Texte des mit Recht immer wieder<br />

als besonders akribisch gerühmten Josef Körner nicht ohne kritische<br />

Wachsamkeit und Überprüfung einfach nachdrucken kann, als seien sie gegen<br />

Fehlleistungen oder auch sachliche Irrtümer grundsätzlich gefeit. Ab<br />

und zu wäre – analog zu dem Körnerschen „Hier irrt Schlegel“ (KÖRNER<br />

2001: 144) – auch ein „Hier irrt Körner“ angebracht gewesen: so etwa,<br />

wenn es in dem hier erörterten Aufsatz heißt, „Männer wie Karl Egon Ebert<br />

und Siegfried Kapper“ hätten „in beiden Landeszungen Zwiesprache mit<br />

ihrer Muse“ (ebd.: 55) gehalten (übrigens eines der nicht ganz seltenen Beispiele<br />

für den „lebhaft bildernden [...] Stil“ (ebd.: 87) des frühen Körner,<br />

den dieser wenig später mit Recht der Schreibweise Josef Nadlers nachsagen<br />

wird.) In „beiden Landeszungen“ (also deutsch und tschechisch) hat<br />

indessen nicht schon Karl Egon Ebert (1801–1882), sondern erst Siegfried<br />

Kapper (1821–1879) publiziert; Friedrich Adler (1857–1938) erhielt keineswegs<br />

als der „einzige Österreicher Aufnahme in [...] die Modernen Dichtercharaktere“<br />

(ebd.: 58), sondern er war neben Richard Kralik (1852–<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

1934), Fritz Lemmermeyer (1857–1932) und Josef Winter (1857–1916) der<br />

vierte und, wenn man den aus dem Deutschen Reich ‚zugereisten‘, in Wien<br />

wohnhaften Oskar Hansen hinzurechnet, sogar der fünfte Autor aus Österreich<br />

unter den insgesamt 21 Beiträgern der Modernen Dichter-Charaktere<br />

von 1885; deren Mitherausgeber hieß nicht „Henckel“ (ebd.: 58), sondern<br />

Henckell, und zwar war es Karl Henckell (1864–1929), nicht aber „Henkkel,<br />

Wilhelm“ (ebd.: 467), wie eine – leider nicht vereinzelte – Fehlattribuierung<br />

des „Personenregisters“ behauptet.<br />

Zwar lautete der Titel der ersten Gedichtsammlung von Paul Leppin Glokken,<br />

die im Dunkeln rufen (1903), aber sein „Prager Gespensterbuch“ von<br />

1914 hieß nicht Severins Gang ins Dunkle (ebd.: 61), sondern Severins<br />

Gang in die Finsternis: eine Titelkontamination, wie sie Körner gelegentlich<br />

auch sonst unterlaufen ist, etwa in dem Brief an Käte Hamburger vom<br />

6. April 1948, wo der Titel der Schrift Umgang mit Dichtung (1936) von<br />

Johannes Pfeiffer (1902–1970) kontaminiert erscheint mit den Gedanken<br />

über die Dichtung (1941) von Gerhard Storz (1898–1983), dem dann auch<br />

die so entstandene Mischung Umgang mit der Dichtung (ebd.: 276) als Autor<br />

(vom Herausgeber ebenfalls unbemerkt und unberichtigt) zugeschrieben<br />

wird.<br />

Gewiss ist in dem Aufsatz Dichter und Dichtung aus dem deutschen Prag<br />

(wie auch in den übrigen thematisch verwandten Donauland-Artikeln) von<br />

einem „Kulturkampf gegen die tschechischen Einwohner der Moldaumetropole<br />

[...] nichts zu spüren“ (ebd.: 401), doch sind die nationalen Stereotype<br />

deutschliberaler Sichtweise des tschechisch-deutschen Neben- und Gegeneinander<br />

gleichwohl allerorten präsent: von Prag als Stadt der „ersten deutschen<br />

Universität“ (ebd.: 55) über die Bewertung der siebziger Jahre des 19.<br />

Jahrhunderts als die „verhängnisvollen Jahre“, welche die „deutsche Stadt“<br />

Prag „endgültig zur slawischen Metropole wandelten“ (ebd.: 60) und die<br />

Rede von einer dort einsetzenden „tatsächlichen Bedrängnis des Volkstums“<br />

(ebd.: 56) bis hin zur Charakteristik von Fritz Mauthners Grenzlandroman<br />

Der letzte Deutsche von Blatna (1887) als „typische Geschichte der<br />

Verdrängung der Deutschen aus altangestammten Sitzen“ (ebd.: 57).<br />

Mit dem markigen Vokabular von Feststellungen wie der, dass auch im<br />

„deutschen Prag“ als Literaturstadt „mit deutschem Wesen allzeit deutsche<br />

Dichtung vereint bleibt“ (ebd.: 56), wird nicht nur der Programmatik des<br />

Donauland, „heimisches Schrifttum und Heimatkunst zu pflegen und hochzuhalten“<br />

(wie es in einem Werbetext der Zeitschrift ausdrücklich heißt),<br />

dienstpflichtgemäß Rechnung getragen, es scheint darüber hinaus schon mit<br />

dem Titel „Dichter und Dichtung aus dem deutschen Prag“ auch ein kontrastiver<br />

Bezug auf Das jüdische Prag beabsichtigt gewesen zu sein – Titel<br />

einer wenige Monate zuvor, an der Jahreswende 1916/17 erschienenen, von<br />

271


272<br />

Kurt Krolop<br />

der Prager zionistischen Zeitung Selbstwehr herausgegebenen repräsentativen<br />

Sammelschrift, in der bereits die meisten derjenigen Namen vertreten<br />

gewesen waren, die nun bei Körner als Autoren des „deutschen Prag“ nahezu<br />

vollzählig figurierten: Alfred Klaar, Fritz Mauthner, Auguste Hauschner,<br />

Friedrich Adler, Hugo Salus, Oskar Wiener, Oskar Baum, Hugo Bergmann,<br />

Franz Kafka, Max Brod, Otto Pick, Rudolf Fuchs und Franz Werfel.<br />

3.2. Dienstzeit im k. u. k. Kriegsarchiv<br />

„Der zweite Abschnitt beleuchtet Körners Tätigkeit als Redakteur der Monatszeitschrift<br />

Donauland zwischen 1916 und 1919“ (ebd.: 388) resümiert<br />

der Herausgeber, meint damit aber wohl Körners gesamte dreijährige<br />

Dienstzeit im k. u. k. Kriegsarchiv; denn als Redakteur der ILLUSTRIERTEN<br />

MONATSSCHRIFT konnte er erst ab März 1917 tätig werden, als das erste<br />

Heft des DONAULAND erschien.<br />

Außer der recht wenig besagenden Feststellung, dass er im Kriegsarchiv<br />

„Kanzleiarbeiten“ (ebd.: 399) zu leisten hatte, wird von Körners Arbeit im<br />

Kriegsarchiv so gut wie nichts „beleuchtet“, obwohl er ja bereits „Anfang<br />

1916“ (399) in diese „Heldenbeschreibungsanstalt“, wie Kraus sie in einem<br />

Brief an Sidonie von Nádherny verächtlich nannte, versetzt worden war,<br />

also genau zur gleichen Zeit wie Rainer Maria Rilke, der in einem „arg bekümmerten“<br />

Brief vom 15. Februar 1916 an seinen Verleger Anton Kippenberg<br />

über den dortigen „Dicht-Dienst“ des „Heldenfrisierens“ zu berichten<br />

hatte. Der ehrgeizige und umtriebige Oberst Alois Veltzé (1864–1927),<br />

in Personalunion Mitherausgeber des Donauland und Vorstand der „Schriftenabteilung“<br />

des k. u. k. Kriegsarchivs, leitete auch deren Unterabteilung,<br />

die so genannte „Literarische Gruppe“, der im Laufe der Kriegsjahre zahlreiche<br />

namhafte Schriftsteller und erfolgreiche Journalisten angehörten, u.<br />

a. Rudolf Hans Bartsch, Franz Karl Ginzkey, Paul Stefan Grünfeld, Geza<br />

Silberer (Sil-Vara), Alfred Polgar, Franz Theodor Csokor und nicht zuletzt<br />

der „Titularfeldwebel“ Stefan Zweig, den Körner wohl erst seit dieser Zeit<br />

„mein Freund“ (219) titulieren konnte.<br />

Unbedingt bemerkt zu werden hätte auch verdient, dass DONAULAND schon<br />

wenige Wochen nach seinem ersten Erscheinen, bereits Mitte Mai 1917,<br />

zum Merkziel der Satire in der FACKEL von Karl Kraus geworden war und<br />

das bis in die ersten Nachkriegsjahre hinein auch leitmotivisch blieb. „Donauland“,<br />

so lautet gleich eingangs die satirische Definition dieser Zeitschrift<br />

in der Glosse „Literaten unterm Doppelaar“, „Donauland betitelt<br />

sich die Kriegsdienstleistung der zur Literatur Untauglichen, die jetzt in<br />

einem Bureau der Mariahilferstraße – man gönnt's ihnen – die Zukunft<br />

Österreichs nebbich schmieden.“ (KRAUS 1917: 22) Es darf vermutet werden,<br />

dass der FACKEL-Leser Franz Kafka diese Kriegs-, Literatur- und<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

Kriegsliteratursatire zu Kenntnis genommen hatte, als er Ende 1917 eine<br />

Mitarbeit an dieser Zeitschrift ablehnte (KÖRNER 2001: 403, Anm. 44.).<br />

Zu den Gründen solcher Ablehnung gehörte auch, was er bereits Anfang<br />

1917 in einem Briefentwurf zum Ausdruck gebracht hatte:<br />

ich bin nämlich nicht imstande, mir ein im Geiste irgendwie einheitliches Groß-Österreich<br />

klarzumachen und noch weniger allerdings, mich diesem Geistigen ganz eingefügt zu denken,<br />

vor einer solchen Entscheidung schrecke ich zurück. (KAFKA 1993: 336f.)<br />

3.3. Studien zu Arthur Schnitzler<br />

Nicht in der – erst 1925 von Willy Haas begründeten – LITERARISCHEN<br />

WELT (KÖRNER 2001: 405), wie es in diesem zweiten Abschnitt des „biographischen<br />

Umrisses“ irrtümlich heißt, sondern in Ernst Heilborns<br />

LITERARISCHEM ECHO (wie die dazugehörige Anmerkung 49, ebd., richtig<br />

ausweist), ist am 1. April 1917 Josef Körners erster Text zum Thema Arthur<br />

Schnitzler erschienen, die kritische Studie „Arthur Schnitzler und Siegmund<br />

[!] Freud“ (ebd.: 357). Sie sowie eine Ende 1917 im DONAULAND veröffentlichte<br />

Besprechung der Schnitzlerschen Komödie Fink und Fliederbusch<br />

(ebd.: 374) und schließlich die Ende 1918 ebenfalls im DONAULAND publizierte,<br />

vom Herausgeber in seine „Schriften“-Auswahl aufgenommene Abhandlung<br />

„Arthur Schnitzlers Gestalten und Probleme“ (ebd.: 67–83) waren<br />

die „Aufsätze“, die nach Josef Körners – ebenfalls in die Auswahl aufgenommenen<br />

– späteren „Persönlichen Erinnerungen an Arthur Schnitzler“<br />

(ebd.: 133–136) „dann zu einem umfänglicheren Buche zusammenflossen,<br />

das zufällig im Jahre seines 60. Geburtstages herauskam.“ (ebd.: 133).<br />

Es hätte laut Vorankündigung als XXIII. Band der Amalthea-Bücherei bereits<br />

im Herbst 1921 erscheinen sollen, wurde dann aber doch erst im März<br />

1922 ausgeliefert, also annähernd sechs Monate vor der erst im September<br />

1922 vorliegenden, Thomas Mann gewidmeten und von diesem empfohlenen,<br />

von Josef Körner jedoch kritisch „abgelehnten“ (KÖRNER 1949: 502)<br />

Studie des mit Arthur Schnitzler eng befreundeten Richard Specht, Arthur<br />

Schnitzler. Der Dichter und sein Werk, so dass es als der Festbeitrag zum<br />

bevorstehenden Geburtstag des Dichters (13. Mai 1922) gelten konnte. Die<br />

Bibliographie, die es nicht unter diesem „Jahre des 60. Geburtstages“, also<br />

nicht unter 1922, sondern nach dem Copyright-Vermerk unter 1921 verzeichnet<br />

(KÖRNER 2001: 359), lässt solche Zusammenhänge nicht erkennen,<br />

zumal zu diesem Werk – anders als bei der Mehrzahl der übrigen –<br />

kein Verzeichnis von Rezensionen angefügt ist.<br />

Generell macht sich in dem bibliographischen „Verzeichnis der Veröffentlichungen<br />

Josef Körners“ (ebd.: 351–384) wie auch im Anmerkungsapparat<br />

des „biographischen Umrisses“ (ebd.: 385–461) bisweilen ärgerlich störend<br />

bemerkbar, dass Texte, die in Periodica erschienen sind, fast stets nur mit<br />

273


274<br />

Kurt Krolop<br />

Seitenangaben innerhalb des jeweiligen Jahres-, Halbjahres- oder Quartalsbandes<br />

registriert werden und darüber hinaus eine noch präzisere Datierung,<br />

die oft sehr kontextrelevant sein könnte, bedauerlicherweise nicht erlauben.<br />

Während z. B. Josef Körner selbst in seinem Handbuch (KÖRNER 1949:<br />

502) die oben erwähnte Rezension der Schnitzler-Monographie von Richard<br />

Specht in den Preußischen Jahrbüchern konkret „November 1923“ datiert,<br />

muss man bei Klausnitzer aus der Quartalbandangabe „Oktober-Dezember<br />

1923“ (KÖRNER 2001: 376) den Monat erraten, ohne sicher sein zu können,<br />

ihn auch richtig getroffen zu haben.<br />

Wie in der Reproduktion des Aufsatzes Dichtung und Dichter im deutschen<br />

Prag (ebd.: 55–66) so sind auch im Abdruck der Studie Arthur Schnitzlers<br />

Gestalten und Probleme (ebd.: 67–83) aus dem Donauland offenbar bereits<br />

dort unterlaufene Fehlzitate vom Herausgeber unkorrigiert übernommen<br />

worden, also z. B. Seite 74 Doktor Gräßler anstatt Doktor Gräsler oder Seite<br />

78 Frau Berta und ihr Sohn anstatt Frau Beate und ihr Sohn; ferner Seite<br />

81–82 Abweichungen in Schnitzler-Zitaten von deren Textvorlage.<br />

Mit der auf Wertungen (etwa der Dichtersprache Schnitzlers) keineswegs<br />

verzichtenden Reminiszenz „Persönliche Erinnerungen an Arthur Schnitzler“<br />

(ebd.: 133–136) fanden nicht nur die Schnitzler-Studien Josef Körners,<br />

sondern auch dessen publizierte Beiträge zum Bereich des „Gegenwartsschrifttums“<br />

(ebd.: 364) ihren Abschluss. Klausnitzer hat versucht, den<br />

Standpunkt, von dem aus Josef Körner seine Wertungen zeitgenössischer<br />

Literatur vornahm, als Erscheinungsform einer allgemeineren Generationssymptomatik<br />

zu deuten:<br />

Als Angehöriger dieser Generation [der zwischen 1880 und 1890 Geborenen, K. K.], die sich<br />

nach dem expressionistischen Aufbruch in unterschiedlichen Lagern des politischen Spektrums<br />

wiederfand, partizipierte Körner aber weit eher an religiös begründeten Reintegrationsbemühungen<br />

als an den exklusiven Entdifferenzierungsprojekten der völkischen Bewegung. (ebd.: 411)<br />

Deutlich werde das in Körners Aufsatz über Zacharias Werner, „der eine<br />

Parallele zwischen romantischen und expressionistisch-gegenwärtigen<br />

Heilserwartungen zog“ (ebd.: 411).<br />

Dass Körner diese Parallele zog, besagt indessen keineswegs, dass er an<br />

einem der beiden Heilserwartungsphänomene, zwischen denen diese Parallele<br />

gezogen wurde, in irgendeiner Form „partizipiert“ hätte. In Schnitzlers<br />

Tagebuch findet sich unter dem 22. Dezember 1924 die Notiz: „Prof. Körner<br />

[...] über die Gottsucher (und dass ich ‚Gott sei Dank‘ keiner bin).“ Und<br />

im gleichen Sinne wird es in einem Brief an Käte Hamburger zwei Jahrzehnte<br />

später explizit heißen:<br />

Weder Werfels theologische Reaktion gegen den ‚naturalistischen Nihilismus‘ unserer Zeit,<br />

noch Th. Manns areligiöse Religiosität halte ich für mögliche Rettungen aus einem (scheinbaren<br />

oder wirklichen) geistig-sittlichen Chaos. Wir können nicht zurück (der klassische Versuch<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

dieser Art innerhalb der deutschen Geistesgeschichte heißt Friedrich Schlegel, und wie sehr<br />

spricht dieser dagegen!), wir müssen weiter voran [...] Die Gottesfiktion ist unhaltbar geworden<br />

[...], und darum gibt es kein Zurück zur Theologie, sondern nur ein resolutes Weiterschreiten<br />

innerhalb der Anthropologie. (ebd.: 238f.)<br />

Klarer lässt sich die Ablehnung jeglicher Teilhabe an „religiös begründeten<br />

Reintegrationsbemühungen“ wohl kaum formulieren.<br />

4. Zu Körners Forschung und Lehre 1919–1939<br />

Den umfangreichsten Teil des „biographischen Umrisses“ nimmt mit Recht<br />

dessen „dritter Abschnitt“ ein, überschrieben: „Gymnasialprofessor und<br />

Hochschullehrer in Prag: Produktive Jahre 1919–1939“ (ebd.: 413–449).<br />

Zwischen der Schilderung der „Bemühungen um Friedrich Schlegel“ (ebd.:<br />

415–423), d. h. vor allem um eine bereits 1928 in Aussicht gestellte „kritische<br />

Gesamtausgabe“ dieses Autors, und dem Bericht über den im Sommer<br />

1929 geglückten „Fund von Coppet“ (ebd.: 446–449), dem auch ein in die<br />

Textauswahl aufgenommener Artikel Körners in den MÜNCHNER (nicht:<br />

MÜNCHENER!) NEUESTEN NACHRICHTEN gilt (ebd.: 117–121: „Auferstehende<br />

Romantik!“), steht im Zentrum die ausführlichste Darstellung, die<br />

Josef Körners „Zweifacher Habilitationsversuch“ (ebd.: 423–445) an der<br />

Philosophischen Fakultät der Deutschen Universität Prag bisher in der Sekundärliteratur<br />

erfahren hat. Überaus wertvolle Ergänzungen des zu diesem<br />

Thema – vor allem im Jubiläumsheft 1/1994 des EUPHORION – wissenschaftsgeschichtlich<br />

bereits Recherchierten und Interpretierten erbringt hier<br />

vor allem die Auswertung einschlägigen Materials aus dem Archiv der Prager<br />

Karls-Universität.<br />

In der genetischen Darlegung dieser hochschulpolitisch so besonders symptomatischen<br />

Affaire hätte ganz gewiss auch Erwähnung (und entsprechende<br />

Berücksichtigung im „Personenregister“) der nicht unwesentliche Umstand<br />

verdient, dass der im Zusammenhang mit Körners erstem<br />

Habilitationsversuch von 1924/25 mehrfach erwähnte „Dekan“ (vgl. ebd.:<br />

430, Anm. 115–116; 430, Anm. 120–122) der führende Slavist der Prager<br />

deutschen Universität gewesen ist, Franz Spina (1868–1938), der dann von<br />

1926 bis 1938 auch als Minister der tschechoslowakischen Regierung angehörte,<br />

während es sich bei dem „Dekan“ (ebd.: 445), der nach dem Eintreten<br />

des Philosophen Oskar Kraus (1872–1942), des klassischen Philologen<br />

Siegfried Reiter (1863–1943) sowie des weltberühmten Orientalisten und<br />

Indologen Moritz Winternitz (1863–1937) für Josef Körner im Sommer<br />

1929 die Wiederaufnahme von dessen Habilitationsverfahren verfügte, um<br />

Arthur Stein (1871–1950) handelte, der in Briefen an Käte Hamburger als<br />

„Althistoriker“ (ebd.: 303) und „einer der vordersten, wenn nicht überhaupt<br />

der vorderste Epigraphiker unserer Zeit“ (ebd.: 292) auftauchen wird, ohne<br />

275


276<br />

Kurt Krolop<br />

beim Namen genannt, vom Herausgeber aber auch nicht identifiziert und<br />

attribuiert zu werden, so dass er im „Personenregister“ ebenfalls nicht angeführt<br />

erscheint.<br />

Zu den bedauerlichsten Lücken im Verzeichnis der Rezensionen wie auch<br />

im Kontext des „biographischen Umrisses“ gehört in diesem Zusammenhang<br />

das Fehlen der ungewöhnlich ausführlichen, sechs besonders kompress<br />

gedruckte Seiten umfassenden Besprechung, die der germanistische<br />

Ordinarius der Prager tschechischen Karls-Universität Josef Janko (1869–<br />

1947, nicht Janke, wie auf Seite 359 zu lesen!) in dem von ihm mitgeleiteten<br />

Neophilologen-Organ ČASOPIS PRO MODERNÍ FILOLOGII im Juni 1926,<br />

also noch zu Lebzeiten August Sauers, der von Josef Körner 1924 auch als<br />

erste Habilitationsschrift vorgelegten Monographie Klassiker und Romantiker<br />

gewidmet hat. Mit dieser vorbehaltlos zustimmenden Rezension, mit<br />

den gleichfalls durchwegs positiven Würdigungen Josef Körners durch den<br />

jüngeren literarhistorischen Ordinarius Otokar Fischer (1883–1938) sowie<br />

dessen „Kronprinzen“ Vojtěch Jirát (1902–1945, vgl. z. B. die vom Herausgeber<br />

ebenfalls nicht erfasste Anzeige der „Krisenjahre“ in der Tageszeitung<br />

ČESKÉ SLOVO vom 4. Februar 1937) war die Solidarität der Prager<br />

tschechischen Germanistik mit Körner in dessen Kontroversen sowohl mit<br />

August Sauer als auch mit Sauers Prager Nachfolger Herbert Cysarz deutlich<br />

genug markiert und artikuliert.<br />

Gleichwohl wird man dem vom Herausgeber übernommenen Urteil Konstanze<br />

Fliedls, die in Hinblick gerade auf August Sauer von einer „kaum<br />

noch verhüllten antisemitischen Prager Institutspolitik“ (ebd.: 425) gesprochen<br />

hat, so generell nicht zustimmen können; denn schließlich war der von<br />

Sauer ganz dezidiert bevorzugte Habilitationsanwärter Georg Stefansky<br />

(1897–1957) ebenso jüdischer Herkunft wie der ein Jahrzehnt ältere Körner<br />

und Sauer selbst galt bei völkischen Studenten wo nicht geradezu als Jude,<br />

so doch als eindeutig philosemitisch. Auch das Fehlurteil, Sauers Werbungsruf<br />

von 1907 „Deutsche Studenten – nach Prag!“ (ebd.: 439) als Appell<br />

eines „nationalkonservativen Aktivisten“ (ebd.: 439) zu interpretieren,<br />

zeugt von einer gründlichen Verkennung der Prager politischen Konstellation<br />

um 1900, in der die Losung der radikalsten nationalistischen „Aktivisten“<br />

– in bewusster Analogie zum antiklerikalen „Los von Rom!“ – vielmehr<br />

„Los von Prag!“ lautete, weil man die Hauptstadt Böhmens nicht nur<br />

wegen ihrer erdrückenden tschechischen Bevölkerungsmehrheit, sondern<br />

auch wegen der nach wie vor ungebrochen liberalen kommunalpolitischen<br />

Dominanz innerhalb der deutschsprachigen (weithin deutschjüdischen)<br />

Minderheit jederzeit preiszugeben bereit war zugunsten eines Universitätsstandorts<br />

in einer kompakt deutschsprachigen Region.<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

In einem Abschnitt des „biographischen Umrisses“, dessen Überschrift mit<br />

der Berufsbezeichnung „Gymnasialprofessor“ beginnt, hätte man gern auch<br />

etwas über die im „Verzeichnis der Veröffentlichungen“ durch mehrere<br />

Beiträge ausgewiesene Wirksamkeit des Philologen als Lehrer, Methodiker<br />

und Didaktiker im „höheren Schulwesen“ erfahren, z. B. über den auf Seite<br />

365 verzeichneten Aufsatz Der Schüler Gerber wird gerächt, mit dem Körner<br />

in die Debatten um Friedrich Torbergs unmittelbar vorher erschienenen,<br />

auf Prager Realien beruhenden, vieldiskutierten Erstlingsroman Der Schüler<br />

Gerber hat absolviert (1930) eingegriffen hat.<br />

In einem Brief Josef Körners an Käte Hamburger vom 25. Februar 1949<br />

heißt es auf bezeichnende Weise: „einst war mir Vortragen höchste Lust,<br />

ich verstand, Zuhörerschaft in Bann zu schlagen und das Bewußtsein solcher<br />

Beherrschung der Masse zu genießen.“ (ebd.: 312). In der im Goethe-<br />

Jahr 1932 gehaltenen, unter dem Titel Goethe und Ihr in der „Staatlichen<br />

Verlagsanstalt“ (nicht Versicherungsanstalt, wie es auf Seite 367 unbegreiflicherweise<br />

heißt) veröffentlichten „Rede an die studierende Jugend“ (gemeint<br />

ist hier nicht die Universitätsstudentenschaft, sondern nach gesamtösterreichischem<br />

und auch tschechischem Sprachgebrauch die Schuljugend<br />

höherer Lehranstalten) liegt in Gestalt einer Gedenk- und Festansprache ein<br />

Zeugnis der Rhetorik gymnasialprofessoralen „Vortragens“ vor, das als offensichtlich<br />

einzige überlieferte Probe dieser Textsorte schon deshalb (aber<br />

auch wegen des begrenzten Umfangs) Aufnahme in die notgedrungen<br />

knappe Textauswahl des Bandes verdient hätte, zumal da hier schon die in<br />

jedem Sinne „tiefe Skepsis“ (ebd.: 190) zum Ausdruck kommt, mit der<br />

Körner bereits 1932 und seither immer „realistischer“ (ebd.: 220) die zeitgeschichtlichen<br />

Vorgänge auf dem abendländischen Kontinent beobachtet,<br />

beurteilt und selber erlitten hat, „in dieser Epoche der Rebarbarisierung Europas,<br />

der Atempause zwischen einem die europäische Gesittung untergrabenden<br />

Weltkrieg und einem schon herandonnernden künftigen, der sie, ja<br />

die physische Existenz der Kulturmenschheit überhaupt zu vernichten<br />

droht.“ (KÖRNER 1932: 4)<br />

Nach Erlangung der venia docendi im August 1930 nahm Körner mit dem<br />

Sommersemester 1931 als Privatdozent und Titularprofessor am Seminar<br />

für deutsche Philologie der Deutschen Universität in Prag seine nicht ganz<br />

16 Semester währende Lehrtätigkeit auf, die bereits vor Abschluss des Wintersemesters<br />

1938/39 ihr erzwungenes Ende fand. Als einziger Germanist<br />

jüdischer Herkunft unter seinen Seminarkollegen war er von der wenige<br />

Wochen nach dem Diktat von München (30. September 1938) einsetzenden<br />

nazistischen Gleichschaltung der Prager Deutschen Universität unmittelbar<br />

betroffen und wurde schon „im Herbst 1938, als das Reich deren Verwaltung<br />

übernahm, auf Grund des Arierparagraphs [sic] aus dem Lehrkörper<br />

277


278<br />

Kurt Krolop<br />

ausgeschieden“ (KÖRNER 2001: 283), also keineswegs erst nach dem<br />

„Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag am 15. März 1939“ (ebd.:<br />

449), wie der Herausgeber im Widerspruch zu dem von ihm edierten Text<br />

behauptet. Nicht bloß eine „böse Vorahnung des Kommenden“ (ebd.: 453,<br />

Hervorhebung K. K.) musste demnach „den Prager Germanisten erfüllt haben“<br />

(ebd.: 453), als er Mitte November 1938 seine „Autobibliographie<br />

1911–1938“ als resümierenden „Schaffensbericht“ verfasste, sondern bereits<br />

die schmerzliche Gewissheit des vorzeitigen Endes einer ohnehin<br />

missgünstig verzögerten und behinderten akademischen Laufbahn. Der Periodisierungseinschnitt,<br />

von dem an der Herausgeber Josef Körners „Bittere<br />

Jahre 1939–1950“ (ebd: 449) beginnen lässt, wäre infolgedessen auf 1938<br />

vorzuverlegen.<br />

„Literaturgeschichtliche Übersichtsvorlesungen lehnte Körner ab“ (ebd.:<br />

446) stellt Klausnitzer unter Hinweis auf einen Brief an Bernhard Blume<br />

vom 15. Mai 1948 summarisch fest. Dass Körner solche „Übersichtsvorlesungen“<br />

nicht sehr hoch schätzte, besagt jedoch keineswegs, dass sie in seinem<br />

Lehrveranstaltungsangebot gänzlich gefehlt hätten. Vielmehr las er<br />

gleich in den ersten vier Semestern seiner Privatdozentur (Sommersemester<br />

1931 bis Wintersemester 1932/33) über die Geschichte des deutschen Romans<br />

im 18. und 19. Jahrhundert und für die Wintersemester 1936/37 sowie<br />

1938/39 war ein Kolleg über die „Geschichte der deutschen Romantik in<br />

weltliterarischer Sicht“ angekündigt: Lehrveranstaltungen also, denen man<br />

den Charakter von „literaturgeschichtlichen Übersichtsvorlesungen“ kaum<br />

wird absprechen können.<br />

5. Zu Körners Isolation und Verfolgung 1938–1945<br />

Hatte Körner alle Aussicht auf ein akademisches Lehramt endgültig durch<br />

den Beschluss der tschechoslowakischen Regierung vom 27. Januar 1939<br />

verloren, der die Zwangsentlassung aller Staatsbediensteten jüdischer Herkunft<br />

verfügte, so war er durch die bereits am 17. März 1939 erfolgte Übernahme<br />

aller seit 1933 angeordneten antijüdischen Diskriminierungs- und<br />

Restriktionsvorschriften des Hitler-Regimes durch die Protektoratsregierung<br />

darüber hinaus auch noch, wie Herbert Cysarz es überaus euphemistisch<br />

formulierte, „in die einsame Studierstube gescheucht“ (ebd.: 452), d. h.,<br />

weniger verblümt ausgedrückt, von nun an – genau wie sein Dresdener Kollege<br />

und Korrespondenzpartner Victor Klemperer – ebenfalls vor allem dem<br />

im „Großdeutschen Reich“ bereits Ende 1938 erlassenen Verbot der Benutzung<br />

von Bibliotheken, Archiven und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen<br />

unterworfen.<br />

Dank seiner nichtjüdischen tschechischen Ehefrau, die ihn nicht verließ,<br />

blieb Josef Körner – anders als seine Fakultätskollegen Siegfried Reiter,<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

Arthur Stein und Emil Utitz, der „Goedeke“-Bibliograph Alfred Rosenbaum,<br />

der „letzte große Meister deutscher Bücherkunde“ (KÖRNER 1949:<br />

5) sowie der Nestor der Prager tschechischen Germanistik Arnošt Kraus –<br />

von einer Deportation nach Theresienstadt einstweilen noch verschont und<br />

wurde erst am 4. Februar 1945 – zusammen mit anderen jüdischen Partnern<br />

sogenannter „Mischehen“ – von dem zweiten der insgesamt neun „Arbeitseinsatztransporte“<br />

(„AE“) erfasst, die zwischen Ende Januar und Mitte<br />

März aus Prag, Mährisch Ostrau (Ostrava), Olmütz (Olomouc) und Lípa<br />

nach Theresienstadt abgingen, ohne dass es dann noch zu einem Weitertransport<br />

der „arisch Versippten“ (wie der LTI-Terminus lautete) in ein<br />

Vernichtungslager gekommen wäre. Erst am Tage des Waffenstillstands,<br />

dem 8. Mai 1945, wurden Ghetto und Konzentrationslager Theresienstadt<br />

durch sowjetische Truppen auf deren Vormarsch nach Prag befreit.<br />

Seine Feststellung, dass „nach 1939 die offene Erinnerung an die Leistungen<br />

des als Juden [sic] aus dem akademischen Diskurs ausgegrenzten Körner<br />

unmöglich geworden war“ (KÖRNER 2001: 453), hat der Herausgeber<br />

selbst durch die Anmerkung relativiert, dass Bernard von Brentanos 1943<br />

erschienene August-Wilhelm-Schlegel-Biographie eine „Würdigung des<br />

Prager Philologen“ sowie Hinweise auf „Körners Briefausgaben und Monographien“<br />

(ebd.: 454) enthalte. Keineswegs systematisch angestellte Stichproben<br />

vermögen darüber hinaus nachzuweisen, dass in dieser Zeit auch<br />

andernorts auf Josef Körner mit voller Namensnennung Bezug genommen<br />

wurde, so z. B. durch Benno von Wiese im Kommentarband seiner Hebbel-<br />

Ausgabe (HEBBEL 1941: 273) oder durch Julius Petersen in seiner Methodenlehre<br />

Die Wissenschaft von der Dichtung (1939), auch noch in deren von<br />

Erich Trunz besorgten 2. Auflage (PETERSEN 1944: 97, 169). Es gehörte<br />

dazu offenbar nicht mehr, aber eben auch nicht weniger als ein gewisses<br />

Mindestmaß an intellektueller Redlichkeit und Zivilcourage, das freilich die<br />

Mehrzahl der Zunftgenossen nach Körners harter, aber gerechter Einschätzung<br />

damals vermissen ließ.<br />

Bewundernswert und unvergessen verdient die geistige Energie und Aktivität<br />

zu bleiben, die Josef Körner sich selbst unter den extremsten Bedingungen<br />

repressiver Ab- und Ausgesperrtheit gleichwohl noch bewahrt hat.<br />

Zu der Arbeit an einer „geplanten großen Poetik“ (KÖRNER 2001: 209),<br />

die bereits 1937 unter ihrem hinfort beibehaltenen Titel „Dichtung als Ausdrucksgebilde“<br />

in der methodologischen „Einleitung“ zu der Übungstextsammlung<br />

„Wortkunst ohne Namen“ (Prag 1937: 11) als „demnächst“ erscheinend<br />

angekündigt worden war, gesellten sich weitere Buchprojekte<br />

von zum Teil ganz erstaunlicher Weite und Vielfalt des Gegenstandsbereichs<br />

wie der Themenstellung: allen voran der Plan eines „Wertebuchs“<br />

(KÖRNER 2001: 238), dessen Obertitel schon 1942 „ziemlich fest“ (ebd.:<br />

279


280<br />

Kurt Krolop<br />

454) stand, so dass er 1946, lediglich ergänzt durch einen erläuternden Untertitel,<br />

in unverändertem Wortlaut von neuem angeführt werden konnte:<br />

„Wert und Werturteil in Wirtschaft, Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst.<br />

Versuch einer Grundlegung von Ökonomik, Poetik, Ethik und Ästhetik“<br />

(ebd.: 194); ferner „noch ein anderer Plan: ‚Technik und Politik, ein Versuch<br />

über den Lebenswert der Geisteswissenschaften‘“ (ebd.: 194), dem<br />

nach Kriegsende noch eine weitere „‚Staats‘-Schrift“ (ebd.: 267) vorangehen<br />

sollte, eine „politische Schrift“ (ebd.: 266) mit dem sprechenden Titel<br />

„Schuld und Sühne“, in mancher Hinsicht wohl eine Vorwegnahme dessen,<br />

was Theodor W. Adorno später als „Aufarbeitung der Vergangenheit“ thematisiert<br />

und reflektiert hat.<br />

An spezifisch literarhistorisch-monographischen, wie die „große Poetik“<br />

ebenfalls bereits in die Zwischenkriegsjahre zurückweisenden Arbeiten hat<br />

Körner neben dem ältesten, bereits 1922 angekündigten Projekt dieser Art,<br />

„Der Dichter der Lucinde / Friedrich Schlegel als Poet und Poetiker“ (ebd.:<br />

200; vgl. auch KÖRNER 1949: 313), vor allem auf sein geplantes „Heine-<br />

Buch“ (ebd.: 273) verwiesen sowie auf ein „Schillerbuch“ (ebd.: 206) unter<br />

dem in Aussicht genommenen Titel „Der unvollendete Schiller“ (ebd.: 193),<br />

von dem Körner noch in seinem letzten Lebensjahr die Arbeit an einem<br />

Problemkomplex beschäftigte, der die Überschrift erhalten sollte: „Die ästhetische<br />

Erlösung. Schillers Denken und Dichten vom Lebenswert der<br />

Kunst“ (ebd.: 326).<br />

Alle diese größeren literaturwissenschaftlichen Arbeiten standen im Zeichen,<br />

ja, man darf wohl sagen geradezu im Dienste von Bestrebungen, das<br />

Verfahren einer „integralen Motivanalyse“ (ebd.: 344) als die via regia literarischer<br />

Interpretation und Wertung zu erweisen und zu erproben. Ein klärendes<br />

Wort darüber, was Körner eigentlich begrifflich verstanden wissen<br />

wollte, wenn er diese Methode als „meine Motivanalyse“ (ebd.: 277, Hervorhebung<br />

K. K.) bezeichnete, wäre wohl im Nachwort am Platze gewesen,<br />

eventuell auch die Aufnahme der ihrem Verfasser methodisch besonders<br />

„wichtigen Einleitung“ (ebd.: 192) zu dem Band „Wortkunst ohne Namen“<br />

in die Textauswahl.<br />

6. Zu Körners letzten Lebens- und Schaffensjahren<br />

Von den „Briefen an Käte Hamburger“ (ebd.: 189–348) heißt es, sie gäben<br />

über die letzten fünf Lebens- und Schaffensjahre Körners „bessere Auskunft<br />

als jeder historische Berichterstatter es könnte“ (ebd.: 458). Das trifft wohl<br />

zu, allerdings unter einer wichtigen Voraussetzung, die der erfahrene Herausgeber<br />

Körner gelegentlich der umfangreichsten seiner eigenen Briefeditionen,<br />

der „Krisenjahre der Frühromantik“, gemacht hat, dass nämlich deren<br />

„Textbände unverständlich und wissenschaftlich unbenützbar“ (ebd.:<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

193) seien ohne einen umfassenden und zuverlässigen Kommentar: eine<br />

Voraussetzung, die in dieser Briefedition, wie an zahlreichen Beispielen zu<br />

zeigen wäre und an einigen wenigen auch gezeigt werden soll, leider nur<br />

sehr unzureichend gegeben ist.<br />

Insgesamt gehören diese Briefe ohne Zweifel zu den lebens-, zeit- und wissenschaftsgeschichtlich<br />

aufschlussreichsten, aber auch bestürzendsten und<br />

erschütterndsten Zeugnissen aus den ersten Prager (und nicht nur Prager)<br />

Nachkriegsjahren, die zugleich Körners letzte Lebensjahre gewesen sind.<br />

Sie berichten davon, wie nach Kriegsende „die radikale Lösung der Deutschenfrage<br />

hierzulande rücksichtslos auch die (sei’s noch so antinazistisch<br />

gesinnten und tätigen) Juden deutscher Kulturzugehörigkeit einbegreifen“<br />

wollte, was den Briefschreiber und „die (nichtjüdische, tschechische) Gattin<br />

ernstlich an Selbstmord denken ließ“ (ebd.: 191); wie die Tschechen nach<br />

Aufhebung der Deutschen Universität Prag „von den paar überlebenden<br />

jüdischen Dozenten [...] aus allen möglichen (natürlich lauter unsachlichen<br />

Gründen) niemanden an die Karlsuniversität übernommen“ hätten (ebd.:<br />

283); dass „der tschechische Nazismus, wie er seit Kriegsende hier wütet<br />

[...], gewiß nicht so brutal wie der deutsche, aber moralisch und intellektuell<br />

von derselben Faktur, [...] mit seinem Deutschen- und Magyarenhaß jede<br />

europäische Friedens- und Zukunftspolitik im voraus illusorisch“ mache<br />

(ebd.: 249).<br />

Im Unterschied zu seinem Prager Fakultätskollegen und Theresienstädter<br />

Schicksalsgenossen Emil Utitz haben bei Josef Körner die Leidenserfahrungen<br />

von Krieg und Verfolgung zu keinerlei linksorientierten Sympathien für<br />

sozialistische oder gar kommunistische Gesellschaftskonzepte geführt. Mit<br />

den „ausgezeichneten Schriften von Ludwig v. Mises“ (1881–1973) war für<br />

ihn der „theoretische Nachweis der Unhaltbarkeit sämtlicher sozialistischer<br />

Doktrinen, der tatsächlichen Undurchführbarkeit ihrer nicht durchdachten,<br />

aber umso verführerischen [sic! muss wohl heißen: verführerischeren] Programme“<br />

(ebd.: 221) schon längst unwiderleglich erbracht, und dass bei der<br />

„Neueinrichtung der ČSR“ (ebd.: 247) nicht rechtzeitig Sorge getragen<br />

wurde, dass nicht „die Fahrt unter stürmischem Wind schon jäh in die Totalität“<br />

(ebd.: 266) des Kommunismus führe, erschien ihm kaum weniger bedrohlich<br />

als der militärisch überwundene, aber nach Körners Überzeugung<br />

aus den Köpfen noch keineswegs verschwundene Geist des nazistischen<br />

Totalitarismus.<br />

Wenn Körner 1948 die italienischen Wahlen zu den „schweren Prüfungen“<br />

(ebd.: 274) zählt, dann ist die darin enthaltene Wertung nicht so zu verstehen<br />

und zu erläutern, wie Klausnitzer das in seiner einschlägigen Anmerkung<br />

getan hat, nämlich dass die Christdemokraten mit 48,5 % der Stimmen<br />

die Mehrheit erzielten, während Sozialisten und Kommunisten „zusammen<br />

281


282<br />

Kurt Krolop<br />

nur auf 31 %“ (ebd.: 274, Hervorhebung K. K.) gekommen seien, sondern<br />

aus Körners Sicht mit genau der entgegen gesetzten Akzentuierung: dass<br />

nämlich die Christdemokraten mit nur 48,5 % die absolute Mehrheit verfehlt<br />

haben, während es der linken Volksfront gelungen ist, einen bedrohlich<br />

hohen Stimmenanteil von 31 % zu erringen – nur so ergibt das den von dem<br />

dezidierten Antikommunisten mit den „schweren Prüfungen“ gemeinten<br />

Sinn.<br />

Neben solchen Sinnverfehlungen stößt man, wie bei dieser Gelegenheit<br />

vermerkt sei, auch auf Pseudokommentare des Herausgebers, die Informationen<br />

bieten, welche mit dem zu erläuternden Sachverhalt unmittelbar<br />

überhaupt nichts zu tun haben, wie z. B. die Mitteilung, dass Léon Blum<br />

1936/37 „der erste sozialistische (und jüdische) Premierminister Frankreichs“<br />

(ebd.: 232) gewesen sei, nicht das Geringste zur Erklärung des am<br />

31. August 1946 geschriebenen Satzes beiträgt: „Eben lese ich Blums Niederlage“<br />

(ebd.: 232). Und auch die Information, dass Thomas Mann 1949 in<br />

Frankfurt am Main und Weimar gefeiert worden sei, ist völlig irrelevant für<br />

die Erläuterung des Stichworts „Mann-Promotion“ (ebd.: 329), womit vielmehr<br />

die Promotion Manns zum Ehrendoktor der schwedischen Universität<br />

Lund am 27. Mai 1949 gemeint ist.<br />

Gänzlich unkommentiert bleibt darüber hinaus die Mehrzahl der Hinweise<br />

und Anspielungen auf aktuelle weltpolitische Ereignisse des ersten Nachkriegsjahrfünfts,<br />

die dem Briefschreiber Körner zum Anlass seiner äußerst<br />

skeptischen Zeitgeschichtsdiagnosen und -prognosen gedient haben, wie<br />

zum Beispiel am 04.05.1946 der „Beginn der Pariser Pourparlers“ (ebd.:<br />

211); am 16.07.1946 „die in mancher Hinsicht noch die Nazis übertreffenden<br />

Judenmassaker in Polen“ (ebd.: 225); am 24.08.1946 „die Radio-<br />

Nachricht, dass Tito das amerikanische Ultimatum abgelehnt hat“ (ebd.:<br />

229); am 29.09.1946 „Churchill in Zürich“ (ebd.: 242); am 02.10.1946 das<br />

„geradezu furchtbare Ereignis der Wallace-Rede“ (ebd.: 246); am<br />

16.01.1947 „die Moskauer Konferenz“ (ebd.: 253) und die „Montgomery-<br />

Reise“ (ebd.: 253); am 05.11.1948 „Trumans überraschende Wiederwahl“<br />

(ebd.: 302) oder am 09.01.1949 der „unerwartete, in den Auswirkungen<br />

noch unabsehbare Sieg Frankreichs in der Ruhrfrage“ (ebd.: 305).<br />

Abgesehen davon, dass manche der in den Brieftexten erwähnten Personen<br />

wie z. B. Eudo C. Mason (ebd.: 318, s. KÖRNER 1949: 488 und 489) oder<br />

Charlotte Bühler (ebd.: 339, s. KÖRNER 1949: 72) vom „Personenregister“<br />

gar nicht erfasst sind, kommt es dort auch zu einigen Fehlidentifikationen<br />

bzw. -attribuierungen. 3 Eine „Editorische Notiz“ (ebd.: 188) zum Abdruck<br />

3 So handelt es sich etwa bei „Ebbinghaus“ (KÖRNER 2001: 231 u. 233) mit Sicherheit<br />

nicht um „Ebbinghaus, Ernst A.“ (ebd.: 465), sondern um den angesehenen Marburger<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

der Briefe an Käte Hamburger spricht davon, es sei dabei eine „Behebung<br />

offenkundiger Schreibfehler“ erfolgt. Entweder ist das nicht konsequent<br />

genug geschehen oder aber es sind neue Fehler begangen worden, die auf<br />

das Konto des Herausgebers gehen. 4 Auch den Übersetzungskünsten des<br />

Herausgebers ist nicht ungeprüft über die Gasse zu trauen 5 .<br />

Juristen und Hochschulpolitiker Julius Ebbinghaus (1885–1981); die „Festschrift für<br />

Singer“ (ebd.: 258) galt nicht „Singer, Herbert“ (ebd.: 474), sondern dem aus Wien<br />

stammenden Berner Altgermanisten Samuel Singer (1860–1948, s. KÖRNER 1949:<br />

11); Verfasser des von Körner in besonders hohem Maße wertgeschätzten Buches Die<br />

Revolution des Nihilismus (1938, s. KÖRNER 1949: 534) war nicht ein „Hermann<br />

Rauschnigg“ (KÖRNER 2001: 276 u. 472), sondern der durch seine umstrittenen Gespräche<br />

mit Hitler (1940) weltberühmt gewordene Hermann Rauschning (1887–1982);<br />

Autor der Schrift Hitler’s Professors (1946) nicht ein „Max Weinrich“ (ebd.: 240 und<br />

476, so irrtümlich auch in KÖRNER 1949: 538), sondern der Linguist und Soziologe<br />

Max Weinreich (1894–1969). Bei Körner selbst (KÖRNER 2001: 137) wie auch im<br />

„Verzeichnis der Veröffentlichungen Josef Körners“ (ebd.: 352) lautet der Name des<br />

Mitherausgebers der Sammlung Die Brüder Schlegel im Briefwechsel mit Schiller und<br />

Goethe (1926) durchaus korrekt „Ernst Wieneke“, während Klausnitzer in seinen eigenen<br />

Texten sich generell für die Schreibung „Wienecke“ (ebd.: 418, Anm. 83–84 und<br />

476) entschieden hat. Analog dazu verwandelt das „Personenregister“ den im Körnerschen<br />

Text erwähnten polnischen Germanisten „S. v. Lempicki“ (ebd.: 171) in einen<br />

„Lempecki, Siegmund von“ (ebd.: 470). Die von Körner in seiner Nadler-Rezension<br />

(84) korrekt datierte Sauersche Rektoratsrede „Literaturgeschichte und Volkskunde“<br />

(1907) erscheint in Klausnitzers Darstellung nicht nur umdatiert auf 1906, sondern auch<br />

umgetauft in „Literaturwissenschaft und Volkskunde“ (ebd.: 438, Hervorhebung K. K.).<br />

Auch dem Titel des bekannten Sammelwerks Juden im deutschen Kulturbereich blieb<br />

eine – fast schon ungewollt parodistisch wirkende – Verballhornung nicht erspart: er<br />

lautet nun „Juden im deutschen Kulturbetrieb“ (ebd.: 390 u. 438, Anm. 14, Hervorhebung<br />

K. K.).<br />

4 So wird z. B. die auf Seite 300 beabsichtigte Antithese zum „idealistischen Phrasenrausch“<br />

nicht in einem „bestialischen Nachtrausch“ (KÖRNER 2001: 300) zu suchen<br />

sein, sondern in einem ebensolchen „Machtrausch“ erblickt werden müssen; und der<br />

Kontrast zu der witzig-aktualisierenden Wortbildung „Verunanständigung“ (ebd.: 311)<br />

muss natürlich „Veranständigung“ lauten, kann also nicht eine völlig witzlose „Verständigung“<br />

(ebd.: 311) sein; dass die Menschheit untergehen müsse, „solange der Haß<br />

das summum bonum diskutiert“ (ebd.: 306, Hervorhebung K. K.), dürfte Körner kaum<br />

so zu Papier gebracht, auf keinen Fall aber so gemeint haben, intendiert war wohl eher<br />

„diktiert“ oder „dekretiert“; und wenn Körner tatsächlich das Wort „querulanterisch“<br />

(ebd.: 252) geschrieben oder getippt haben sollte (was nicht viel an Wahrscheinlichkeit<br />

für sich hat), dann wäre das ebenso als „Schreib-fehler“ zu „beheben“ gewesen wie z.<br />

B. der aparte Infinitiv „exspektorieren“ (ebd.: 321), zumal Körner selbst nachweislich<br />

nicht „Exspektoration“, sondern durchaus normgerecht „Expektoration“ (ebd.: 142) geschrieben<br />

hat. Damit scheint das Problem eines etymologisch und/oder orthographisch<br />

recht eigenwilligen Umgangs mit Fremdwörtern in Zusammenhang zu stehen, wie es in<br />

des Herausgebers eigenen Texten etwa an Formen wie „obstinant“ (ebd.: 408 und 457),<br />

„Provinienz“ (ebd.: 394) oder „promt“ (ebd.: 421) punktuell sichtbar wird. Von geradezu<br />

ärgerlicher Häufigkeit sind Fälle, wo es zu mitunter höchst sinnstörenden Wechselvertauschungen<br />

von „sie“ bzw. „ihr“ mit großzuschreibendem „Sie“ bzw. „Ihr“ (als<br />

Höflichkeitsanrede) gekommen ist (ebd.: 124–125, 257, 279, 293, 312, 314, 345, 347).<br />

Zwei Beispiele für viele: Wenn Körner im Brief vom 25.02.1949 über seine Tochter<br />

283


284<br />

Kurt Krolop<br />

7. Zur Edition und Kommentierung der Briefe Körners<br />

Mitteilungen wie „es ist der 5. Brief, den ich heute zu fertigen habe“ (ebd.:<br />

272), oder „dies ist heut mein 8. Brief“ (ebd.: 274) vermitteln eine Vorstellung<br />

von der kaum glaublichen Extensität und Intensität der „weltweiten<br />

Korrespondenz“ (ebd.: 262), die Körner in den ersten Nachkriegsjahren (natürlich<br />

nicht „Nachkriegsjahrzehnten“, wie es auf Seite 344 heißt) neben<br />

seiner mühsamen Forschungs- und Manuskriptherstellungsarbeit noch weiterzuführen<br />

vermochte und von deren Gesamtumfang man außer dem Abdruck<br />

der Briefe an Käte Hamburger und gelegentlichen Hinweisen auf<br />

wichtige Korrespondenzpartner wie Oskar Walzel, Arthur Schnitzler, Karl<br />

Vossler, Walther Küchler, Paul Kluckhohn, Bernhard Blume, Erik Lunding,<br />

Wolfgang Paulsen und einen vielzitierten „E. Groosz“ 6 (ebd.: 391, 455,<br />

456, 457), dessen vollständigen Vornamen nicht einmal das „Personenregister“<br />

(ebd.: 466) verrät, leider nirgends einen zusammenfassenden Überblick<br />

erhält, der z. B. auch Victor Klemperers Tagebucheintragung vom 26.<br />

Januar 1947 einbeziehen könnte: „Ich schrieb [...] an Josef Körner in Prag,<br />

der mich im ‚Aufbau‘ entdeckt u. über die Aufbauredaktion zum Überleben<br />

beglückwünscht hat.“ (KLEMPERER 1999: 346)<br />

Erklärungsbedarf ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der „Editorischen<br />

Notiz“ (KÖRNER 2001: 188) zum Abdruck der Briefe an Käte Hamburger.<br />

Wenn es dort heißt: „Die im Deutschen Literaturarchiv Marbach lagernden<br />

Pauline an Käte Hamburger schreibt: „Paulinchen, (die ihren Namen sehr wohl weiß)“<br />

(ebd.: 314), dann soll damit natürlich nicht mitgeteilt werden, dass Paulinchen „ihren<br />

Namen“ (d. h. ihren eigenen) „sehr wohl weiß“, sondern vielmehr „Ihren Namen“ (d. h.<br />

den der Adressatin Käte Hamburger). Und umgekehrt: Wenn von Walther Küchlers<br />

französischer Ehefrau die Rede ist, dann darf es nicht heißen: „Und Ihre reizenden [...]<br />

Briefe“ (ebd.: 345); denn das wären ja dann die Briefe der Adressatin Käte Hamburger),<br />

sondern es ist zu textieren: „Und ihre reizenden [...] Briefe“.<br />

5 Abgesehen von Hispanismen im französischen Originaltext eines Briefes von August<br />

Wilhelm Schlegel wie „los bannières“ (ebd.: 144) und „los Methodistes“ (sic!, ebd.:<br />

145) wäre ein Missgriff wie die Übertragung von „par un missionaire des frères moraves“<br />

(ebd.: 144) durch „von einem Missionar der moravischen [!] Brüder“ (ebd.: 145)<br />

allein schon durch einen Blick auf die vorhergehende Seite zu vermeiden gewesen, wo<br />

Körner selber in einer Fußnote die „mährischen Brüder“ (ebd.: 144, Anm. 17) erwähnt.<br />

Die Wiedergabe der Wendung „pour calciner les statues antiques“ (ebd.: 145) durch<br />

„um die antiken Statuen zu verkohlen“ (ebd.: 146, Hervorhebung K. K.) bietet einen unfreiwilligen<br />

Berolinismus von gewiss ebenso unfreiwilliger Komik. Einen Höhepunkt<br />

solcher Fehlleistungen liefert der Schlusssatz dieses Briefzitats, wo der Passus „au nom<br />

des pitoyables et mesquines conceptions que [...] des âmes étroites se sont forgées de la<br />

Vérité Divine“ (ebd.: 145) wiedergegeben erscheint mit „im Namen der armseligen und<br />

bornierten Auffassungen, welche sich [...] eingeengte Seelen über die göttliche Wahrheit<br />

ausgehext haben“ (sic! Ebd.: 147, Hervorhebung K. K.).<br />

6 Vermutlich handelt es sich um den Bibliothekar und Historiker Hofrat Edmund Groag<br />

(1873–1945).<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

Briefe Josef Körners an Käte Hamburger sind nicht als Originale, sondern<br />

als Durchschläge im Nachlass Hamburger enthalten“, dann wäre zu diesem<br />

doch keineswegs selbstverständlichen Sachverhalt wohl ein Wort der Erläuterung<br />

am Platze gewesen, und bei der Feststellung: „Bis auf die Briefe vom<br />

21.VII.1946, 28.IX.1949 und 5.V.1950 [...] sind alle Briefe maschinenschriftlich<br />

abgefasst“ wäre zu fragen, ob diese drei genannten Ausnahmen<br />

originalhandschriftlich vorliegen oder aber vielleicht ebenfalls als Durchschriften;<br />

wobei noch anzumerken bliebe, dass es einen Brief vom<br />

„21.VII.1946“ unter den hier abgedruckten Schreiben nicht gibt.<br />

Auf den Seiten 272–273 wird ein undatierter Brief abgedruckt mit dem<br />

Herausgebervermerk: „Ohne Ort und Datum; in der Reihenfolge nach Brief<br />

vom 15.III.1948 und vor Brief vom 8.IV.1948“ (ebd.: 272). Was immer hier<br />

unter „Reihenfolge“ verstanden worden sein mag, die chronologische „Reihenfolge“<br />

ist es nicht; nach ihr gehört dieser Brief nicht in das Frühjahr<br />

1948, sondern in den Frühling 1946, wie nicht nur inhaltlich-thematische<br />

Parallelen belegen, sondern vor allem auch die Anrede „Liebe Frau Doktor“<br />

(ebd.: 272), die nach dem 23.II.1946 das förmlichere „Sehr verehrte Frau<br />

Doktor“ (ebd.: 195) ablöste, bis auch sie 1947 nach dem Prager Sommerbesuch<br />

Käte Hamburgers endgültig durch „Liebe Freundin“ (ebd.: 254) ersetzt<br />

wurde. „Liebe Frau Doktor“ wäre demnach im Jahre 1948 ein völlig unmotivierter<br />

Rückfall auf eine längst überwundene Zwischenstufe von Anredeförmlichkeit<br />

gewesen.<br />

Über Käte Hamburger, die Adressatin der abgedruckten Briefe, werden, wie<br />

bereits angedeutet, außer Titeln einiger – keineswegs aller – erwähnten Bücher<br />

und Aufsätze keinerlei Auskünfte geboten, nicht einmal einschlägige<br />

Hinweise auf Helmut Müsseners umfassende Monographie Exil in Schweden<br />

(1974), wo Leben und Schaffen der Literaturwissenschaftlerin im<br />

schwedischen Exil bereits vor nahezu drei Jahrzehnten detailliert und exemplarisch<br />

dargestellt worden sind. 7 „Im Handbuch sind so ziemlich alle<br />

Ihre Arbeiten angeführt. Sie werden etwa 7 mal zitiert; aber nicht etwa aus<br />

‚Freundschaft‘, sondern aus Pflicht“ (ebd.: 314), heißt es in Körners Brief<br />

vom 25. Februar 1949 an Käte Hamburger, ohne dass der Herausgeber sich<br />

auch nur bemüßigt gefühlt hätte, „aus Pflicht“ diese sieben Titel ausfindig<br />

zu machen und im „Handbuch“ nachzuweisen (KÖRNER 1949: 277, 316,<br />

324, 509, 518, 519, 524).<br />

Der ausdrücklich als „Körners bester Freund“ (KÖRNER 2001: 229, Anm.<br />

19) bezeichnete Walther Küchler (1877–1953) wird ebenso beharrlich wie<br />

7 Siehe bei Müssener (1974: 473) auch den Verweis auf eine „vollständige Bibliographie<br />

der Schriften und größeren Zeitschriftenpublikationen Käte Hamburgers“ in der Stifts-<br />

und Landesbibliothek von Västerås.<br />

285


286<br />

Kurt Krolop<br />

irreführend auf die Kennzeichnung „Wiener Romanist“ (ebd.: 229 und 445)<br />

festgelegt, obwohl Küchlers fünfjährige Wiener Lehrtätigkeit (1922–1927)<br />

nur die Zwischenstation einer akademischen Laufbahn darstellte, die den<br />

aus Essen stammenden Romanisten von Gießen und Würzburg über Wien<br />

schließlich 1927 auf einen „Hamburger Lehrstuhl“ (ebd.: 217) führte, von<br />

dem er dann 1933 zwangsweise entfernt wurde, weshalb er nach 1945 von<br />

seinem Wohnsitz Benediktbeuern (nicht „Benediktbeuren“, wie auf Seite<br />

256) aus „die Rückkehr auf seinen Hamburger Lehrstuhl“ (ebd.: 217) betrieb.<br />

Die Wichtigkeit des Korrespondenzpartners Paul Neuburger (1881–1959)<br />

für den Bibliographen Josef Körner bestand wohl nicht so sehr darin, dass<br />

er der Verfasser der Dissertation „Die Verseinlage in der Prosadichtung der<br />

Romantik“ (ebd.: 189 und KÖRNER 1949: 309) sowie der Bearbeiter des<br />

als „trefflich“ gerühmten Registerbandes zu der zehnbändigen Walzelschen<br />

Heine-Ausgabe im Insel-Verlag gewesen war (1920, vgl. KÖRNER 1949:<br />

372), als vielmehr in dem Umstand, dass er als Inhaber und Leiter des 1924<br />

gegründeten Genfer wissenschaftlichen Nachrichtendienstes „Pallas“ gerade<br />

auch für bibliographische Zwecke zumal in den ersten Nachkriegsjahren<br />

eine schlechthin unentbehrliche Informationsquelle darstellte.<br />

Rein gar nichts – nicht einmal die Abkürzung eines Vornamens – erfährt<br />

man über Carl Emil Lang (1876–1963), der auch im „Personenregister“<br />

(KÖRNER 2001: 469) lediglich als vornamenloser „Lang, Dr.“ figuriert,<br />

obwohl er doch ebendort als eine der meistgenannten Personen ausgewiesen<br />

ist und sicherlich das Hauptverdienst um die Betreuung der im Francke Verlag<br />

Bern erschienenen Titel Körners gehabt hat, auch und gerade um die<br />

ganz besonders arbeitsaufwendige und kostspielige postume Edition des<br />

dritten, des „Kommentar“-Bandes der „Krisenjahre der Frühromantik“<br />

(1958). Ein von Körner mit solchem Nachdruck als „ein so feiner und bewundernswert<br />

sachlicher Mensch“ (ebd.: 284) gerühmter leitender Verlagsmitarbeiter<br />

hätte ein kommentierendes Wort ganz gewiss verdient.<br />

Nicht unwichtig wäre es gewesen, Karl Schultze-Jahde nicht erst als die<br />

Person zu entschlüsseln, die auf Seite 347 hinter der Abkürzung „Sch.-J.“<br />

steht, sondern schon als den „Görlitzer Freund“ (ebd.: 242) zu identifizieren<br />

(und im „Personenregister“ auch auszuweisen), der im Herbst 1941 „auf<br />

dem Höhepunkt der Nazi-Erfolge darüber sein bißchen Verstand verlor“<br />

(ebd.: 242) sowie auch als den „Dr. Karl S.“ (ebd.: 339), dessen Görlitzer<br />

Adresse Körner seiner Korrespondenzpartnerin mitteilt. Der von Körner als<br />

Schriftsteller wie als Literaturwissenschaftler (nicht zuletzt als Theoretiker<br />

und Praktiker der „Motivanalyse“) geschätzte Schultze-Jahde wird im<br />

Handbuch mit nicht weniger als fünf Titeln erwähnt (KÖRNER 1949: 26,<br />

67, 451); laut einer Tagebucheintragung vom 3. September 1947 ist auch<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

Victor Klemperer dem „Görlitzer Studienrat“ anlässlich eines Vortrags am<br />

dortigen Gymnasium begegnet.<br />

8. Zum Verzeichnis der Schriften Körners<br />

Das „Verzeichnis der Veröffentlichungen Josef Körners“ (KÖRNER 2001:<br />

351–384), das sich für den Zeitraum bis Herbst 1938 auf die Körnersche<br />

„Autobibliographie 1911–1938“ (ebd.: 453, s. auch 192, 196, 231, 233)<br />

stützen konnte und wohl auch gestützt hat, scheint im Wesentlichen vollständig<br />

zu sein, zumindest in dem von Körner gemeinten Sinne, dass an<br />

Primärtexten „kaum etwas Wichtiges“ (ebd.: 453) übersehen ist. Erwähnung<br />

hätte allenfalls noch verdient, dass der Körnersche Artikel „Konzeption“ in<br />

einer bearbeiteten Fassung des von Körner als „Motivanalytiker“ hoch geschätzten<br />

Willy Krogmann (1905–1967) Eingang auch in den 1. Band der 2.<br />

Auflage des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte<br />

(KÖRNER/KROGMANN 1958: 883–884) gefunden hat.<br />

Bei der postumen Neuausgabe der „Wortkunst ohne Namen“ (siehe<br />

KÖRNER 1954) ist die bloße Angabe „2., erw. Aufl. Bern: Francke 1954“<br />

(KÖRNER 2001: 369) auf missverständliche Weise unvollständig. Denn es<br />

handelt sich hier erst um „Heft 1: Gegenstücke“ dieser beträchtlich erweiterten<br />

Auflage, dem laut Ankündigung des Herausgebers Wolfgang Kayser<br />

(1906–1960) noch zwei weitere folgen sollten: „Heft 2: Doppelfassungen“<br />

und „Heft 3: Übertragungen“ – wozu es dann allerdings nicht mehr gekommen<br />

ist.<br />

Lücken weisen die den selbständigen Titeln angefügten Verzeichnisse der<br />

Rezensionen auf. Das gilt, abgesehen davon, dass bei der Schnitzler-<br />

Monographie, wie schon erwähnt, ein solches Verzeichnis gänzlich fehlt<br />

(vgl. ebd. 359), vor allem für den Zeitraum, der durch die „Autobibliographie<br />

1911–1938“ nicht mehr abgedeckt ist. So fehlen z. B. nicht wenige<br />

Rezensionen des „Bibliographischen Handbuchs“ (vgl. ebd.: 371) und alle<br />

der „Marginalien“ (vgl. ebd.), obwohl es dazu im letzten der Briefe Josef<br />

Körners an Käte Hamburger vom 5. Mai 1950 bereits ausdrücklich heißt:<br />

„es sind auch schon Rezensionen erschienen“ (ebd.: 348). Verzeichnet ist<br />

nicht einmal die „Anzeige der ‚Poetik‘“ (ebd.: 330), für die Körner bei deren<br />

Verfasserin Käte Hamburger sich so herzlich bedankt. Dass darüber<br />

hinaus die „Einführung in die Poetik“ nur noch eine einzige Rezension erfahren<br />

haben soll (ebd.: 371), erscheint als in hohem Grade unwahrscheinlich.<br />

Ganz gewiss nicht ohne kritisches Echo ist der 1958 postum erschienene<br />

Kommentarband zu den Krisenjahren der Frühromantik (KÖRNER<br />

1958) geblieben oder die 1969 von Francke vorgelegte 2. Auflage der Textbände<br />

1 und 2, wahrscheinlich ebenso wenig wie die Reprints des Bibliographischen<br />

Handbuchs (KÖRNER [1966]), der Nibelungenforschungen<br />

287


288<br />

Kurt Krolop<br />

(KÖRNER 1968), der Botschaft der deutschen Romantik an Europa<br />

(KÖRNER 1969) und der Romantiker und Klassiker (KÖRNER 1971). Als<br />

Beispiel ausführlicher Würdigung sei lediglich auf Rainer Gruenters Rezension<br />

des 1. Heftes der 2. Auflage von Wortkunst ohne Namen (KÖRNER<br />

1954) im EUPHORION (50/1956: 234–236) verwiesen, die Körners Gedanken<br />

zur Gehalts-, Motiv- und Formanalyse auf überzeugende Weise in den<br />

wissenschaftsgeschichtlichen Kontext wertend einordnet.<br />

9. Fazit<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Entschluss zu einer kommentierten<br />

Edition des Bandes Philologische Schriften und Briefe von Josef<br />

Körner als Eröffnungsband einer Schriftenreihe zur Erforschung der Geschichte<br />

der Germanistik ein Pionierprojekt gewesen ist, das unter anderem<br />

höchst geeignet gewesen wäre, einen Bereich zu erschließen und zu erhellen,<br />

der aus zeitbedingten Gründen lange sozusagen im toten Winkel wissenschaftsgeschichtlichen<br />

Forschungsinteresses geblieben war: Lage, Befindlichkeit,<br />

Mentalität und Identitätsbewusstsein Prager jüdischer<br />

Wissenschaftler und Hochschullehrer „deutscher Kulturzugehörigkeit“<br />

(KÖRNER 2001: 191) in einer durch Besatzung, Krieg, Holocaust und Vertreibung<br />

weitgehend monokulturell gewordenen, einer neuen „Totalität“<br />

(ebd.: 266) unaufhaltsam zutreibenden Prager tschechischen Nachkriegsrealität.<br />

Leider ist aus diesem – auch in manch anderer Richtung wegweisenden –<br />

Pionierprojekt nicht auch eine Pionierleistung von uneingeschränkter wissenschaftlicher<br />

Brauch- und Benutzbarkeit geworden. Dem durch eine verbesserte<br />

und überarbeitete Neuauflage dieser in ihren Intentionen so begrüßenswerten<br />

Publikation wirksam abzuhelfen, wäre ein Ziel, aufs Innigste zu<br />

wünschen.<br />

Literatur:<br />

BROD, Max (1960): Streitbares Leben. Autobiographie. München: Kindler.<br />

CASTLE, Eduard (Hg.) (1930): Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte.<br />

Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn.<br />

Hrsg. von J.W. Nagl und J. Zeidler. Bd. 3: Von 1848 bis<br />

1890. Wien u.a.: Fromme.<br />

GIMPL, Georg (2001): Weil der Boden selbst hier brennt ... Aus dem Prager<br />

Salon der Berta Fanta (1865–1918). Furth im Wald/Prag: Vitalis.<br />

Ein Pionierprojekt, aber keine Pionierleistung<br />

HEBBEL, Friedrich (1941): Werke. 9 Bände. Bd. 9. Nach der historischkritischen<br />

Ausgabe von R.M. Werner systematisch geordnet von Benno von<br />

Wiese. Leipzig: Bibliographisches Institut.<br />

KAFKA, Franz (1993): Nachgelassene Schriften und Fragmente. Bd. 1.<br />

Frankfurt/Main: S. Fischer.<br />

KLAUSNITZER, Ralf (1999): Blaue Blume unterm Hakenkreuz. Die Rezeption<br />

der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich. Paderborn<br />

u.a.: Schöningh.<br />

KLEMPERER, Victor (1999): So sitze ich denn zwischen allen Stühlen.<br />

Tagebücher 1945–1949. Hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von<br />

Christian Löser. Berlin: Aufbau.<br />

KÖRNER, Josef (1921): Das Nibelungenlied. Leipzig u.a.: Teubner.<br />

KÖRNER, Josef (1932): Goethe und Ihr. Prag: Staatliche Verlagsanstalt.<br />

KÖRNER, Josef (1949): Bibliographisches Handbuch des deutschen<br />

Schrifttums. 3. völlig umgearbeitete und wesentlich vermehrte Auflage Bern<br />

u.a.: Francke. Nachdruck der 3. Aufl. Bern u.a. Francke [1966].<br />

KÖRNER, Josef (1954): Wortkunst ohne Namen. Übungstexte zu Gehalt-,<br />

Motiv- und Formenanalyse. 2. erw. Aufl. Heft 1: Gegenstücke. Bern u.a.:<br />

Francke.<br />

KÖRNER, Josef (1958): Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem<br />

Schlegelkreis. Kommentarband. Bern u.a.: Francke.<br />

KÖRNER, Josef/KROGMANN, Willy (1958): Konzeption. – In: Reallexikon<br />

der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von P. Merker und W.<br />

Stammler. 2. Aufl. hrsg. von W. Kohlschmidt und W. Mohr. Bd. 1 A-K.<br />

Berlin, New York: de Gruyter, 883–884.<br />

KÖRNER, Josef (1968): Nibelungenforschungen in der deutschen Romantik.<br />

2. reprograf. Auflage der 1. Aufl. Leipzig: Hassel [1911]. Darmstadt:<br />

WBG.<br />

KÖRNER, Josef (1969): Die Botschaft der deutschen Romantik an Europa.<br />

Nachdruck der Ausgabe Augsburg u.a.: Filser [1929]. Bern: Lang.<br />

KÖRNER, Josef (1971): Romantiker und Klassiker. Die Brüder Schlegel in<br />

ihren Beziehungen zu Schiller und Goethe. Unveränd. Nachdruck der Ausgabe<br />

Berlin: Askanische Verl. [1924]. Darmstadt: WBG.<br />

KOSCH, Wilhelm (1928): Deutsches Literatur-Lexikon. Bd. 1. Halle: Max<br />

Neimeyer Verlag.<br />

KRAUS, Karl (1901): Die Fackel III. Jahr. Nr. 87. Wien: Verlag „Die Fackel“.<br />

289


290<br />

Kurt Krolop<br />

KRAUS, Karl (1917): Die Fackel XIX Jahr. Nr. 457–461, Wien: Verlag<br />

„Die Fackel“.<br />

MÜSSENER, Helmut (1974): Exil in Schweden. Politische und kulturelle<br />

Emigration nach 1933. München: Hanser.<br />

PETERSEN, Julius (1944): Die Wissenschaft von der Dichtung. System und<br />

Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Aufl. hrsg. von E. Trunz. Berlin:<br />

Junker und Dünnhaupt.<br />

Die Beurteilung der schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen<br />

– retrospektiv betrachtet – unter besonderer Berücksichtigung<br />

der österreichischen Varietät<br />

Dalibor Zeman<br />

Es ist eine geläufige Beobachtung, dass im Rahmen einer plurizentrischen<br />

Betrachtung der deutschen Standardsprache Österreich einen wichtigen<br />

Platz einnimmt. Das österreichische Deutsch ist demnach ein „festes Faktum“,<br />

das sich auf allen linguistischen Beschreibungsebenen, und zwar auf<br />

der phonetisch-phonologischen, morphologischen und syntaktischen sowie<br />

lexikalischen Ebene manifestiert. Von Belang erscheint auch die pragmatische<br />

Ebene, deren Behandlung man in der österreichischen Germanistik<br />

eine besondere Bedeutung beimisst. Pionierarbeit hat diesbezüglich insbesondere<br />

Rudolf Muhr geleistet, auf den hier verwiesen sei (vgl. MUHR<br />

1993b, 1995). Es geht im Folgenden nun nicht um eine Analyse der Eigentümlichkeiten<br />

des österreichischen Deutsch – diese wurden bereits bei Peter<br />

Wiesinger Das österreichische Deutsch (WIESINGER 1988) und in zahlreichen<br />

weiteren Arbeiten zum österreichischen Deutsch ausführlich behandelt.<br />

Vielmehr greift der vorliegende Beitrag die Problematik der nationalen<br />

Varietäten des Deutschen auf. Das Hauptaugenmerk ist dabei nicht nur auf<br />

die in den 1980er Jahren begonnene Diskussion um nationale Varietäten des<br />

Deutschen gerichtet, sondern vor allem auf die Kontroversen, die sich innerhalb<br />

der so genannten plurizentrischen Richtung abspielen. Dabei stehen<br />

die widersprüchlichen Auffassungen über den ideologischen Status der<br />

österreichischen Varietät im Vordergrund. 1<br />

Bis in die Mitte der 1980er Jahre vertrat man in der deutschen Sprachwissenschaft,<br />

besonders in der damaligen Bundesrepublik Deutschland, bezüglich<br />

der für alle deutschsprachigen Länder verbindlichen deutschen Schriftsprache<br />

und ihrer Norm einen monozentrischen Standpunkt (vgl. MOSER<br />

1985: 1687ff.). Nach dieser Position galt die in der damaligen Bundesrepublik<br />

Deutschland, besonders aber in ihren nördlichen Teilen geltende<br />

Sprachform, das so genannte Binnendeutsch, als verbindliche Hauptform.<br />

Dass der kleinere Teil Deutschlands, die bis 1990 existierende Deutsche<br />

Demokratische Republik, sowohl politisch-gesellschaftlich als auch sprachgeographisch<br />

bedingt schriftsprachlich eigene Wege zu beschreiten begann<br />

1 Soziale Einstellungen und voluntative Komponenten sind Gründe dafür, dass die wissenschaftliche<br />

Diskussion um das österreichische Deutsch politisch und, wenn man so<br />

will, ideologisch bestimmt ist, so Hermann Scheuringer (2001: 102), der von der politisch-ideologischen<br />

Handhabung des österreichischen Deutsch spricht.


292<br />

Dalibor Zeman<br />

und über eine andere, doch gleichberechtigte Varietät der deutschen Sprache<br />

verfügte – insbesondere der DDR-spezifische Wortschatz bzw. das Vokabular<br />

des Marxismus-Leninismus (vgl. KINNE/STRUBE-EDELMANN<br />

1981: 5ff. und FLEISCHER 1987: 13ff.) – spielte in der sprachhistorischen<br />

Diskussion der Bundesrepublik nur eine marginale Rolle. Das DDR-<br />

Deutsch wurde als Nebenform der in der Bundesrepublik gültigen Hauptform<br />

des Binnendeutschen betrachtet.<br />

Ähnlich beurteilt wurden auch die als Außen- oder Randdeutsch eingestuften<br />

deutschen Varietäten in Ostbelgien, Luxemburg, Lothringen und dem<br />

Elsass, der Schweiz, Liechtenstein und Österreich, die geographisch im Westen<br />

und Süden an den binnendeutschen Raum anschließen und mit diesem<br />

das geschlossene, auf mehrere Staaten verteilte deutsche Sprachgebiet mit<br />

teilweise weiteren Staatssprachen bilden.<br />

Die schon in den sechziger Jahren begonnene und vor allem in den siebziger<br />

und frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts intensivierte Erforschung<br />

sprachlicher Eigenheiten sowohl in der damaligen DDR als auch in den<br />

„randdeutschen“ Ländern, die ihre Sprachvarietäten schon bald nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg als gleichberechtigte schriftsprachliche Formen aufwerteten<br />

und dabei trotz Abweichungen vom Binnendeutschen keineswegs die<br />

Konnotation eines unkorrekten Sprachgebrauchs besaßen, sensibilisierte zunehmend<br />

für einzelne sprachliche Unterschiede im Gesamtdeutschen<br />

(WIESINGER 1997: 1f.). Aus der Erforschung der sprachlichen Eigentümlichkeiten<br />

nicht nur in der damaligen DDR, sondern auch in der Schweiz<br />

entstanden neue Wörterbücher zum DDR-spezifischen (vgl. KINNE/STRU-<br />

BE-EDELMANN 1981) und zum schweizerischen Wortschatz. Auch der<br />

im Bibliographischen Institut in Mannheim erscheinende Duden nahm mehr<br />

und mehr süddeutsche, schweizerische und österreichische Eigenheiten auf,<br />

die als solche markiert wurden (DUDEN 1990: 1993–95). Die Republik<br />

Österreich hatte schon 1951 das für die Schulen verbindliche Österreichische<br />

Wörterbuch herausgebracht, das in der 35. Auflage (1979) sogar viele<br />

dialektale Ausdrücke, doch meist ohne entsprechende Kennzeichnung, aufnahm.<br />

Es ist aber auch Tatsache, dass bereits die früheren Auflagen des<br />

Österreichischen Wörterbuchs zahlreiche allgemein verwendete Wörter der<br />

österreichischen Umgangssprache und der österreichischen Mundarten enthielten,<br />

wenngleich keine Wörter in mundartlicher Schreibung. In der umstrittenen<br />

35. Auflage wurden solche mundartliche Ausdrücke berücksichtigt,<br />

die in der österreichischen Literatur eine Rolle spielen, in Zeitungen<br />

verwendet werden oder im Rundfunk zu hören sind (vgl. ÖWB 1979). So<br />

wird die Intention der 35. Auflage nicht primär die gewesen sein, sich von<br />

der schriftsprachlichen Norm abzusetzen, sondern möglichst viele, vor allem<br />

an Wien gebundene Ausdrücke einzubeziehen, die in der öffentlichen<br />

Die Beurteilung der schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen<br />

Kommunikation eine gewisse Relevanz haben, zumal sie zum Teil von da<br />

aus weiter verbreitet wurden. Das Österreichische Wörterbuch kann aber<br />

nach Reiffenstein kein historisches Wörterbuch sein und erst recht darf es<br />

kein Dialekt-Wörterbuch sein. Wörter wie Ergetag (Dienstag), Safaladi<br />

(Wurstart) etc. sollten ersatzlos gestrichen werden. Sie haben ihren legitimen<br />

Platz im Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich, nicht<br />

aber in einem standardsprachlichen Wörterbuch des Deutschen in Österreich<br />

(REIFFENSTEIN 1995: 161f.). Die Lemma-Auswahl kommentiert<br />

Reiffenstein wie folgt:<br />

Die Herausgeber des Österreichischen Wörterbuchs sollten m.E. bemüht sein, in erster Linie<br />

den aktuellen und den allgemein üblichen Wortschatz der Österreicher abzubilden. Das Wörterbuch<br />

sollte sichtbar machen, dass es nicht nur kein einheitliches Deutsch, sondern dass es<br />

auch kein einheitliches österreichisches Deutsch gibt. Die regionalen Besonderheiten haben<br />

gleiches Recht, die österreichischen innerhalb des Deutschen, aber nicht weniger die westösterreichischen<br />

innerhalb des österreichischen Deutsch. […] Freilich ist dann aber auch streng auf<br />

regionale Ausgewogenheit zu achten, die derzeit keineswegs gegeben ist. […] Ich ziehe aus<br />

meinen Überlegungen das folgende Fazit: Das Österreichische Wörterbuch ist ein brauchbares<br />

und, leider nur in einem begrenzten Bereich, notwendiges Buch. Es ließe sich ohne strukturelle<br />

Eingriffe freilich erheblich verbessern. (REIFFENSTEIN 1995: 161ff.)<br />

Die vermehrte Aufnahme mundartlicher Lexeme wurde aufgrund kritischer<br />

Einwände in der 36. Auflage von 1985 revidiert. Mitte der achtziger Jahre<br />

erfolgte auch in der Sprachwissenschaft ein Paradigmenwechsel. Den unmittelbaren<br />

Anstoß gab der australische Sprachwissenschaftler Michael<br />

Clyne, der 1984 einer bis dahin monozentrischen Betrachtung der deutschen<br />

Sprache eine plurizentrische entgegensetzte. Nach Clyne darf keine deutsche<br />

Sprachvarietät Anspruch auf alleinige normgerechte Korrektheit erheben<br />

und Bewertungsmaßstab für alle anderen Varietäten sein (vgl. CLYNE<br />

1984, 1993). Vielmehr setze sich die deutsche Gesamtsprache aus mehreren<br />

Erscheinungsformen zusammen, die gleichberechtigt die deutsche Schriftsprache<br />

bilden. Dabei kommt den staatsgebundenen Varietäten der ehemals<br />

zwei deutschen Staaten, der Schweiz und Österreich als den großen deutschen<br />

Sprachgebieten eine besondere Bedeutung zu, da diese durch die<br />

Verbindung von Staatsterritorium, Nation und Sprache als „nationale Varietäten“<br />

betrachtet werden (WIESINGER 1997: 1f.). Diese Ansicht scheint<br />

sich heute allgemein durchgesetzt zu haben, so dass sich sprachwissenschaftliche<br />

Kontroversen innerhalb der plurizentrischen Richtung abspielen,<br />

wobei sich drei unterschiedliche Positionen artikulieren:<br />

Der von Wiesinger so genannte „österreichisch-nationale Standpunkt“, nach<br />

dem das österreichische Deutsch als eine eigene Sprache „Österreichisch“<br />

verstanden wird: „Gegenüber den sprachlichen Verselbständigungsbestrebungen<br />

als Aufbau eines Gegensatzes von Österreichisch gegenüber Bundesdeutsch<br />

bzw. einer verselbständigenden nationalen Varietät Österrei-<br />

293


294<br />

Dalibor Zeman<br />

chisch, wie sie R. Muhr und andere betreiben, [...]“ (WIESINGER 1995:<br />

68). Wiesinger distanziert sich insbesondere von sprachpolitischen Seperationstendenzen.<br />

[...] Rudolf Muhr, wenn er zwar die deutsche Sprache in Österreich als eine Varietät des Deutschen<br />

gelten lässt, sie aber bewusst als Österreichisch bezeichnet, um damit weitere sprachpolitische<br />

Ziele anzusteuern. (WIESINGER 1995: 65)<br />

Als Vertreter dieser Richtung werden Anatoli Domaschnew, Michael Clyne,<br />

Hermann Möcker, Rudolf Muhr, Wolfgang Pollak und Ruth Wodak genannt,<br />

ferner der Kreis der Bearbeiter des Österreichischen Wörterbuchs.<br />

Stellvertretend für diesen Kreis erscheint bei Rudolf Schrodt Ernst Pacolt<br />

(SCHRODT 1997: 14), den Peter Wiesinger nicht erwähnt, da er sich zu<br />

dieser Problematik nie expressiv geäußert hat.<br />

Vor allem sprachpolitische Äußerungen von Muhr sorgten in den letzten<br />

Jahren für eine lebhafte Diskussion. Muhr spricht in seinem Beitrag von der<br />

Idee eines Europas der Regionen, hinter der er ein neues großdeutsches Hegemoniestreben<br />

erkennt:<br />

[…] die Wiedervereinigung Deutschlands war nicht nur ein Sieg über den Kommunismus,<br />

auch der Traum eines deutschen Europas, das alle deutschen Gebiete im größten Land Europas<br />

vereinigt […]. Die Idee des Europas der Regionen gewann in den Hinterköpfen mancher plötzlich<br />

eine neue Bedeutung und auf der Basis des alten Konzeptes der Sprachnation eine neue<br />

Stoßrichtung. All dies lässt sich unter dem Stichwort ‚Entnationalisierungstendenzen‛ und<br />

‚Entsolidarisierungstendenzen‛ zusammenfassen, die sich in verschiedensten Schattierungen<br />

zeigen und durch die Globalisierung der Weltwirtschaft massiv verstärkt werden (MUHR<br />

1996: 13).<br />

Hermann Scheuringer scheint der erwähnte Ansatz von Muhr unangemessen,<br />

insbesondere im Hinblick auf die Beschreibung der österreichischen<br />

Varietät.<br />

Deutschnationalismus, so wie ihn Rudolf Muhr und Rudolf de Cillia im Einklang mit den meisten<br />

Österreichern verstehen dürften, letztendlich das Bestreben, alle Deutschsprachigen in<br />

einem Staat zu vereinigen, ist ein nicht nur anachronistisches, sondern auch diskreditiertes<br />

Konzept nicht nur für Österreich, wo Deutschnationalismus ja geradewegs das Gegenstück<br />

zum österreichischen Staat und zur österreichischen Nation darstellt bzw. darstellen muss,<br />

sondern im deutschsprachigen Raum überhaupt; die jüngere Geschichte in Gestalt des Dritten<br />

Reiches, deren Nachfolger im Sinne gemeinsamer Verantwortung gleichermaßen die Bundesrepublik<br />

Deutschland wie Österreich sind, hat das Konzept pervertiert und ihm den verdienten<br />

Garaus bereitet – zumindest bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Dass man mit<br />

dem Konzept einmal auch Gutes verbinden konnte, nämlich Demokratisierung und Emanzipierung,<br />

mag historisch berechtigt sein. Die Geschichte hat es mit sich gebracht, und die gegenwärtige<br />

Entwicklung in Europa trägt es mit sich, dass man mit dem Konzept nichts Gutes mehr<br />

verbinden kann. (SCHEURINGER 1996: 6)<br />

In Rudolf Muhrs Beitrag von 1996 Österreichisches deutsch – nationalismus?<br />

Einige argumente wider den zeitgeist – Eine klarstellung stößt man<br />

Die Beurteilung der schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen<br />

häufig auf Argumente, mit denen eine Diskreditierung des Österreichischen<br />

behauptet wird.<br />

Die Förderung einer nationalen Variante kann, wie gesagt, nicht bedeuten, dass alles andere<br />

ausgeschlossen wird. Zugleich kann es aber auch nicht heißen, dass die eigene Sprache, wie<br />

das in Österreich vielfach geschieht, gegenüber anderen Varianten als Dialekt und damit als<br />

minderwertig angesehen wird. (MUHR 1996: 17)<br />

Peter Wiesinger, Hermann Scheuringer, Jakob Ebner u.a. kritisieren solche<br />

Äußerungen als der sprachlichen Realität nicht gerecht.<br />

Ich kann österreichische Vertreter dieses dogmatischen plurizentrischen Konzepts eben nicht<br />

verstehen, wenn sie, wie Rudolf Muhr und auch Rudolf de Cillia, immer und überall Dominanz<br />

und Vereinnahmung orten, ständig das Wort minderwertig anführen und behaupten, das Deutsche<br />

in Österreich werde so eingeschätzt, einen Widerstandskampf gegen Deutschland aufbauen<br />

und jeden, der nicht die staatsorientierte plurizentrische Linie teilen will, ins Lager der geradezu<br />

unverbesserlichen Monozentristen abschieben. (SCHEURINGER 1996: 7)<br />

Auch der bereits erwähnte Beitrag von Peter Wiesinger Das österreichische<br />

Deutsch in der Diskussion (WIESINGER 1995) gibt Aufschluss über Rudolf<br />

Muhrs Auffassungen und dessen sprachpolitische Ziele. Bereits im ersten<br />

Beitrag von 1982 Österreichisch. Anmerkungen zur linguistischen<br />

Schizophrenie einer Nation fragt Muhr nach dem Verhältnis von Nation und<br />

Sprache. Ausgangspunkt ist dabei der Ansatz Herders, der angesichts einer<br />

im 18. Jahrhundert fehlenden politischen Einheit Kultur und Sprache zur<br />

Kategorie politischer Identifikation erhob. Ergänzt wurden solche Ansätze<br />

im 19. Jahrhundert um die Territorialität, so dass schließlich eine Nation als<br />

Einheit von Nationalvolk, Territorium, Sprache und Kultur definiert wurde<br />

(MUHR 1982: 306ff.). Einen solchen Nationalbegriff überträgt Muhr auf<br />

den selbständigen Staat Österreich und seine Staatsbürger und empfindet es<br />

als ein problematisches Desiderat, dass die heute zweifellos vorhandene,<br />

vom Volk anerkannte und in der Volksmeinung fest verankerte österreichische<br />

Nationalität keine ihr spezifische Nationalsprache haben soll, denn die<br />

heimische gesprochene und die außerhalb des Staates kodifizierte, geregelte<br />

Schriftsprache würden auseinanderklaffen und in weiten Bevölkerungskreisen<br />

Kommunikationshemmungen mit sprachlichen und sozialen Minderwertigkeitsgefühlen<br />

auslösen (WIESINGER 1995: 65). Daraus ergebe sich nun für<br />

Muhr die zwingende Notwendigkeit nach einer Verbindung von Sprache,<br />

Sprachgebrauch und Nation, um so ein eigenständiges Österreichisch herauszubilden.<br />

In seinen Aufsatz von 1987 Deutsch in Österreich – Österreichisch. Zur<br />

Begriffsbestimmung und Normfeststellung der Standardsprache in Österreich<br />

konzipiert Muhr zwei neue Begriffe von Standardsprache, den „Standard<br />

nach außen“ und den „Standard nach innen“. Als „Standard nach außen“<br />

wird die herkömmliche Standardsprache verstanden, die man als<br />

295


296<br />

Dalibor Zeman<br />

Vortrags- und Vorleseprache und im Umgang mit Nichtmuttersprachlern<br />

gebrauche, die aber für einen Großteil der Österreicher eine fremdartige<br />

„Norm des Uneigentlichseins“ darstelle, eine Einstufung, die, wie soziolinguistische<br />

Erhebungen zeigen, dem Status und der Einschätzung der Standardsprache<br />

nicht entsprechen (MUHR 1987: 1ff.). Demgegenüber sei der<br />

„Standard nach innen“ die unter Österreichern in Alltagssituationen verwendete<br />

Sprachform als vertraute „Norm des Eigentlichseins“, die für „ungefährdete,<br />

entspannte Normalität“ sorge, weil hier Ungezwungenheit gegeben<br />

sei bzw. keine Sanktionen bei Normverstößen erfolgten. Dabei wird<br />

das gängige Gliederungsmodell der gesprochenen Sprache, Standardsprache,<br />

Umgangssprache, Dialekt aufgegeben. Stattdessen werden die Sprachebenen<br />

der Umgangssprache und des Dialekts, also der sogenannten Substandards,<br />

zum Standard und damit zur Standardsprache in Österreich<br />

erklärt und entsprechend als Österreichisch benannt. Auch in dem Beitrag<br />

von 1989 Deutsch und Österreich(isch): Gespaltene Sprache – Gespaltenes<br />

Bewusstsein – Gespaltene Identität stellt Muhr die Hypothese auf, es handle<br />

sich bei Deutsch und Österreichisch um eine „gespaltene Sprache“ bzw.<br />

sogar um zwei Sprachen, weshalb Muhr auch die Bezeichnung österreichischer<br />

Spracheigenheiten als Austriazismen ablehnt, da diese den Bezug zur<br />

deutschen Sprache und ihre Einordnung als Varianten zu dieser voraussetzen.<br />

Solange nun diese sprachliche Trennung durch die wichtige Verselbständigung<br />

des Österreichischen nicht vollzogen sei, leide der Österreicher<br />

an einem gespaltenen Bewusstsein, an einer gespaltenen Identität (MUHR<br />

1989: 74ff.). Einige weitere Beiträge Rudolf Muhrs aus den neunziger Jahren<br />

stellen Apologien dar, vor allem die Reaktion auf Wiesingers kritischen<br />

Aufsatz Das österreichische Deutsch in der Diskussion (WIESINGER<br />

1995) bzw. auch auf Scheuringers Beiträge. 2 Davon zeugt der bereits erwähnte<br />

Text Österreichisches deutsch – nationalismus? Einige argumente<br />

wider den zeitgeist – Eine klarstellung.<br />

Es besteht ein Vorwurf, die Verwendung des Ausdrucks ‚Österreichisch‛ deute darauf hin, dass<br />

man das österreichische Deutsch als eigenständige Sprache betrachte, was ein Zeichen sprachnationalistischer<br />

Einstellung und Absichten sei. Zugleich zeige das, dass das Herdersche Konzept<br />

der Sprachnation verfolgt werde, derzufolge eine Nation als Einheit von Volk, Territorium,<br />

Sprache und Kultur definiert werde und ich angeblich einen solchen Nationsbegriff<br />

ebenfalls für Österreich anstrebe. 3<br />

Behauptet wird dies entgegen besseren Wissens, weil ich in der Diskussion<br />

des entsprechenden Referats bereits klarstellte, dass das ‚Österreichische‛<br />

2 Mittlerweile sind alle an der Diskussion beteiligten Sprachwissenschaftler (Wiesinger,<br />

Scheuringer, Muhr) bestrebt, sprachpolitische Bewertungen zu vermeiden.<br />

3 MUHR (1995: 66) verweist hier auf Wiesinger.<br />

Die Beurteilung der schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen<br />

für mich nie etwas anderes war und ist als eine ‚nationale Variante‛ des<br />

Deutschen und der Ausdruck nur wegen seiner handhabbareren Form verwendet<br />

wurde. Das habe ich auch in einer Reihe von Artikeln immer wieder<br />

betont. Der Zweck solcher, hartnäckig aus derselben Ecke kommender und<br />

faktenwidriger Verfahrensweisen ist es wohl nur, meine angeblich ‚sprachnationalistischen<br />

Absichten‛ zu untermauern, um mich als Separatisten ausgrenzen<br />

zu können (MUHR 1996: 16).<br />

Darüber hinaus betont Muhr in einem seiner neueren Aufsätze, dass die Bezeichnungen<br />

der österreichischen Varietät des Deutschen „Österreichisches<br />

Deutsch“ vs. „Österreichisch“ synonym zu gebrauchen und dass damit die<br />

„nationale Varietät des Österreichischen Deutsch“ und nicht eine eigenständige,<br />

österreichische „Nationalsprache“ gemeint sei. Insofern lasse sich die<br />

Verwendung dieses Begriffs nicht als Beleg eines angeblichen Sprachnationalismus<br />

deuten (MUHR 1997: 49f.).<br />

Was das „Binnendeutsche“ anbelangt, so wird mit diesem Terminus das<br />

Deutsche in Deutschland bezeichnet. Nach Peter v. Polenz umfasst das Binnendeutsche<br />

„im neuen Sinne“ mindestens die drei Staaten aus dem historischen<br />

Erbe des Vor-Bismarckschen Deutschland, also die Bundesrepublik<br />

Deutschland, die DDR und Österreich (mehr dazu POLENZ 1988: 209). Es<br />

sei deshalb sehr zu bedauern, dass noch 1985 Hugo Moser dieses „Binnendeutsch“<br />

als „Hauptform“ (bestehend aus der „Hauptvariante Bundesrepublik“<br />

und der „Variante DDR“) den „Regionalen Varianten“ gegenübergestellt<br />

hat, zu denen er die österreichische und schweizerische Variante<br />

ebenso wie Lëtzebuergesch, Elsässisch, Belgiendeutsch usw. sowie „Überseevarianten“<br />

rechnet (MOSER 1985: 1687). Eine solche Gleichstufung des<br />

heutigen österreichischen Deutsch als „Regional-“ und (implizit: „Neben-“)<br />

Variante mit Letzebuergesch, Elsässisch usw. ist nicht nur soziolinguistisch<br />

und sprachpolitisch unzutreffend, sie erscheint auch für frühere Zeiten als<br />

höchst fragwürdig, vor allem wenn man an die frühere Rolle der in Zentren<br />

wie Wien, Prag, Budapest gesprochenen, geschriebenen und gedruckten<br />

deutschen Standardsprache in der Habsburgermonarchie denkt, an die bis<br />

heute wirkende Bedeutung des Deutschen als lingua franca in Südosteuropa,<br />

an den bedeutenden Beitrag von Wien und Prag zur deutschsprachigen Literatur<br />

und Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts (POLENZ 1988: 208).<br />

Demzufolge sollte der Mosersche Begriff „Binnendeutsch“ relativiert werden.<br />

Muhr hingegen hält „Binnendeutsch“ überhaupt für veraltet (MUHR<br />

1997: 50), er schlägt bereits in seinem Beitrag von 1993 Österreichisch –<br />

Bundesdeutsch – Schweizerisch. Zur Didaktik des Deutschen als plurizentrische<br />

Sprache Termini wie „deutschländisch“ bzw. „Deutschlandismus“<br />

oder „Teutonismus“ vor:<br />

297


298<br />

Dalibor Zeman<br />

[...], dass die deutsche Standardsprache nicht die Sprache des größten Landes plus einiger<br />

sogenannter ‚Austriazismen‛ und ‚Helvetismen‛ ist, sondern die Schnittmenge aus diesen drei<br />

gleichberechtigten Varianten. Die Begriffe ‚Austriazismus‛ oder ‚Helvetismus‛ sind daher<br />

entweder aufzugeben oder es ist diesen noch ein Dritter hinzuzufügen, nämlich der des ‚Teutonismus/Deutschlandismus‛,<br />

der jene sprachlichen Erscheinungen kennzeichnet, die nur in<br />

Deutschland vorkommen. (MUHR 1993: 113f.)<br />

Auch dem Beitrag von 1997 ist zu entnehmen, dass die wissenschaftliche<br />

Beschreibung der staatsbezogenen Varianten im Deutschen auf der Basis<br />

des plurizentrischen Konzepts eine entsprechende Terminologie erfordert.<br />

Demnach nennt Muhr die Bezeichnungen der Haupterscheinungsformen des<br />

Deutschen „Deutschländisch“ oder „Bundesdeutsch“ (für das Deutsche in<br />

Deutschland), „Österreichisches Deutsch“ oder „Österreichisch“ (für das<br />

Deutsche in Österreich) bzw. „Schweizerisches Deutsch“ oder Schweizerisch<br />

(für das Deutsche in der Schweiz). Die Bezeichnungen für die Varianten<br />

der einzelnen Vollvarietäten des Deutschen nennt er ,Deutschlandismen‘<br />

(Varianten des Deutschländischen), Austriazismen (Varianten des österreichischen<br />

Deutsch) bzw. Helvetismen (Varianten des schweizerischen<br />

Deutsch). Ungeeignet seien die Begriffe Germanismus bzw. Teutonismus,<br />

da ersterer Sprachmerkmale bezeichnet, die Interferenzen zwischen dem<br />

Gesamtdeutschen und anderen Sprachen darstellen, während der zweite negativ<br />

konnotiert ist (MUHR 1997: 49f.). In diesem Sinne hat z.B. Hermann<br />

Möcker vorgeschlagen, man solle im Verhältnis zu „österreichisch“ und<br />

„schweizerisch“ nicht in missverständlicher Weise von „deutsch“ reden,<br />

sondern von „deutschländisch“ und bezüglich der deutschen Staatszugehörigkeit<br />

nicht von „Deutschen“, sondern von „Deutschländern“ (MÖCKER<br />

1992: 236ff.). Auch Scheuringer ist mit der semantischen Vielfalt des Wortes<br />

„deutsch“ nicht glücklich und würde als Adjektiv zu „Deutschland“ lieber<br />

„deutschländisch“ sehen (SCHEURINGER 1996: 7).<br />

Aus weiteren Ausführungen des bereits erwähnten Beitrags von Muhr<br />

(1996) geht allerdings eine radikalere sprachpolitische Gesinnung hervor.<br />

Muhr spricht von der sprachlichen Verselbständigung Österreichs, die befürchtet<br />

würde, und davon, dass alle europäischen Staaten zugleich Sprachnationen<br />

seien. Das Konzept der österreichischen Staatsnation sei der einzig<br />

mögliche Weg, um dessen Existenz aufrechtzuerhalten. Allerdings:<br />

Was an dem Konzept der österreichischen Sprachnation an sich schlecht sein sollte (wenn es<br />

sie gäbe), müsste doch einmal erklärt werden; denn alle europäischen Nationalstaaten sind<br />

zugleich Sprachnationen. Warum also ist dieses Konzept für Österreich abzulehnen? Wohl nur,<br />

weil die sprachliche Verselbständigung Österreichs, aus welchen Motiven immer, gefürchtet<br />

wird. Dass diese Angst völlig unbegründet ist und viel eher eine ständige Angleichung stattfindet,<br />

wird von den Kritikern völlig ignoriert. (MUHR 1996: 16)<br />

Die Beurteilung der schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen<br />

Muhr wirft seinen Kritikern eine unreflektierte Haltung vor. „Wäre ich ein<br />

österreichischer Sprachnationalist, dann wären die Kritiker wohl nur großdeutsche/deutschnationale<br />

Sprachnationalisten“ (MUHR 1996: 16).<br />

Nicht einmal Wolfgang Pollak, der ebenfalls zu der Gruppe der Forscher<br />

gehört, die den österreichisch-nationalen Standpunkt vertreten, artikuliert<br />

sich so radikal. In seinem 1992 veröffentlichten Band mit dem Titel Was<br />

halten die Österreicher von ihrem Deutsch? Eine sprachpolitische und soziosemiotische<br />

Analyse der sprachlichen Identität der Österreicher wird<br />

betont, dass es die deutsche Sprache sei, die Österreich mit dem deutschen<br />

Sprach- und Kulturraum verbinde. Diese Verbindung weise insofern einen<br />

dialektalen Charakter auf, als diese fundamentale Partizipation zugleich auf<br />

der Anerkennung der staatsnationalen Varietät des österreichischen Deutsch<br />

und der spezifischen historischen und kulturellen Tradition Österreichs beruhe,<br />

wobei auf das heutige Österreich bezogen, Nation keine ethnischsprachnationale<br />

Kategorie im Sinne Herders sei (POLLAK 1992: 103f.).<br />

Die Rolle der Sprache als wesentlichem Konstituens der deutschen Nation<br />

beruhe auf dem unizentrisch-norddeutsch geprägten Homogenitätspostulat<br />

des Hochdeutschen:<br />

Seit der Anerkennung des plurizentrischen Modells hat das Verhältnis von Sprache und Nation<br />

eine andere Bezugsqualität bekommen. Die Standardsprache gewährleistet, insbesondere als<br />

schriftlich konstituiertes Medium, die weitgehende sprachliche Einheitlichkeit der deutschen<br />

Kommunikationsgemeinschaft. Andererseits wurden wir sogar in diesem Bereich für gewisse<br />

Varianten sensibilisiert, die mehr qualitativ als quantitativ als identitätsstiftende Signale fungieren.<br />

Es geht also um die medial sehr variable Dialektik zwischen Einheit und Vielfalt, und<br />

ich finde, daß man diese nicht gegeneinander ausspielen sollte, sondern in dieser Dialektik eine<br />

Bereicherung und ein wesentliches identitätsförderndes Moment sehen sollte. (POLLAK 1992:<br />

104)<br />

Die zweite Position, die Wiesinger behandelt, bezeichnet er als deutschintegrativen<br />

Standpunkt: Es gebe keine österreichischen Spracheigentümlichkeiten<br />

im eigentlichen Sinne, wenn man die Verbreitung der Varianten<br />

mit dem österreichischen Staatsgebiet vergleicht: Viele Austriazismen gehören<br />

entweder auch dem Süddeutschen an oder sie sind in Westösterreich<br />

unbekannt oder ungebräuchlich (WIESINGER 1995: 68f.). Eine Ausnahme<br />

bildet nur der amtliche Sprachgebrauch, da die staatliche Verwaltung eine<br />

eigene Terminologie hervorgebracht hat (z.B. Bezeichnungen für Behörden<br />

und Ämter). Analog könne man von einem gesamtösterreichischen Wortschatz<br />

sprechen (WIESINGER 1988: 25ff.). Wiesinger nennt als Vertreter<br />

dieser Richtung Hermann Scheuringer und Norbert Richard Wolf. Hermann<br />

Scheuringer lehnt die Bezeichnung einer „plurizentrischen Sprache“ für das<br />

Deutsche grundsätzlich ab und spricht lieber von einer „pluriarealen Sprache“,<br />

weil „plurizentrisch“ die Existenz von nationalen oder staatlich ein-<br />

299


300<br />

Dalibor Zeman<br />

heitlichen Varietäten des Deutschen in relativ strikter Abgrenzung voneinander<br />

suggeriere, „die es so nicht gibt“. Scheuringer sieht die Staatlichkeit<br />

als ein Räumlichkeitsmuster unter vielen, hält sie aber bezogen auf das<br />

österreichische Deutsch für eine Randgröße.<br />

Immer mehr hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass der Terminus ‚plurizentrisch‛ den arealen<br />

Mustern des deutschen Sprachgebiets nicht gerecht werden kann. Er hat zwar anfänglich<br />

durchaus positiv dazu beitragen können, dass [...] die historisch unsinnige, auf Herrschaftsansprüchen<br />

basierende unizentrische Sicht auf die deutsche Hochsprache mit der Bevorzugung<br />

einer ‚binnendeutschen‛ de facto mittel- und norddeutschen Norm ad acta gelegt wurde, doch<br />

hat seine Umlegung auf deutschsprachige Staaten nicht Pluralismus gebracht, sondern lediglich<br />

mehrfachen Zentralismus: So wie ‚plurizentrisch‛ in der Diskussion verwendet wurde und<br />

wird, suggeriert es national oder staatlich einheitliche Varietäten des Deutschen in relativ strikter<br />

Abgrenzung voneinander, die es so nicht gibt. Plurizentrisch ist eigentlich pluriunizentrisch.<br />

(SCHEURINGER 1996b: 151f.)<br />

Scheuringer betont insbesondere die Irrelevanz der Begriffsbildung „plurizentrisch“:<br />

Die Diskussion ums österreichische Deutsch und in weiterer Folge ums Deutsche als sogenannte<br />

plurizentrische Sprache ist leider in diesem Fahrwasser gelandet, indem der Terminus plurizentrisch,<br />

der von seiner Grundbedeutung her eigentlich nichts anderes sagt als ‚mehrere Zentren<br />

habend‛ und mir insofern fürs Deutsche als gut verwendbar erschiene, de facto auf Staaten<br />

umgelegt, also Zentrum mit Staat gleichgesetzt wird. Dem entspricht in keinem der deutschsprachigen<br />

Staaten die sprachliche Realität. Die in meinen Augen geradezu dogmatische<br />

Handhabung des Terminus verhindert den Blick auf die wahre Plurizentrizität des Deutschen,<br />

in deren Rahmen die staatliche Ebene nur eine von vielen ist und nur kleine Teile des Sprachsystems<br />

betrifft. [...] Und ich wüsste auch nicht, warum ich mich nicht als Deutschen sehen<br />

sollte, weil mein <strong>Passau</strong>sstellungsland ebenso zufällig Österreich heißt, wie es Deutschland für<br />

jemand heißt, der in meiner Heimatregion zufällig ein paar Kilometer weiter seine zufällige<br />

deutsche Staatsangehörigkeit erhalten hat, sonst aber genauso ist wie ich in allen seinen kulturellen<br />

Traditionen. (SCHEURINGER 1996a: 7)<br />

Wie aus den Aussagen Scheuringers ersichtlich, ist für die Bestimmung der<br />

Varietäten des Deutschen die Standardsprache der Ausgangspunkt. Der Beschreibungsrahmen<br />

wird durch kodifizierte Normen definiert. Gefragt wird<br />

zuerst, ob die Ausdrücke den kodifizierten Schrift- und Standardsprachennormen<br />

entsprechen oder davon abweichen, ob sie regional und geschrieben<br />

oder nur gesprochen vorkommen. Was die Definition der Standardsprache<br />

angeht, so bildet sie eine überall gültige Form der kodifizierten deutschen<br />

Schriftsprache einschließlich einer geringen Anzahl österreichischer und<br />

schweizerischer Spezifika. Länder, Regionen und soziale Gruppen werden<br />

von der Standardsprache überdacht. Die darunter liegenden Varietäten gehen<br />

nicht mit Staatsgrenzen konform, daher wird von arealen und nicht von<br />

staatlichen Varietäten gesprochen (vgl. SCHEURINGER 2001: 102).<br />

Scheuringer, steht mit seinem Konzept auf dem Standpunkt, und das grenzt<br />

Die Beurteilung der schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen<br />

ihn am deutlichsten von Muhr ab, dass innerhalb des gesamten deutschen<br />

Sprachraums (vor allem in Bezug auf die areale Verteilung des Wortschatzes)<br />

Begriffe wie ‚nationale Varianten‘ oder ‚Plurizentrizität‘ nicht angemessen<br />

seien, weil sie die Existenz von nationalen oder staatlich einheitlichen<br />

Formen des Deutschen suggerierten, die es aber nicht gebe. Der<br />

eigentliche Streitpunkt besteht meines Erachtens darin, dass das österreichisch-nationale<br />

Konzept den Schwerpunkt auf das Vorhandensein mehrerer<br />

staatlicher Einheiten legt, die für den Sprecher als soziale Bezugspunkte<br />

dienen, während beim deutsch-integrativen Standpunkt das nationale Moment<br />

sozusagen heruntergespielt wird.<br />

Was aber an Scheuringers Konzept bzw. dessen Schlussfolgerungen unklar<br />

bleibt, ist die Behauptung, dass der Terminus ‚plurizentrisch‘ den arealen<br />

Mustern des deutschen Sprachgebiets nicht gerecht werde. Auch der Einwand,<br />

dass die Bezeichnung „plurizentrisch“ zu einer Sprachraumbetrachtung<br />

mit staatlich eingeengtem Horizont führe, stellt keine plausible Erklärung<br />

dar. Zumal Wiesinger in seinem Band Das österreichische Deutsch<br />

(1988) deutlich gemacht hat, dass insbesondere auf der Ebene des Wortschatzes<br />

das österreichische Deutsch seine auffälligsten Eigenheiten zeigt<br />

und dennoch keine Einheit bildet. Vielmehr weist der Wortschatz in Form<br />

unterschiedlicher Bezeichnungen auf eine fünffache räumliche Gliederung<br />

(WIESINGER 1988: 25ff.). Bereits in seinem 1983 erschienenen Beitrag<br />

Sprachschichten und Sprachgebrauch in Österreich spricht Wiesinger von<br />

einem österreichischen Wortschatz, der sich jeweils in unterschiedlicher<br />

Verbreitung nur im Osten und vielfach auch im Süden Österreichs durchgesetzt<br />

hat, so dass ein deutlicher innerösterreichischer Ost-West-Gegensatz<br />

entsteht (vgl. WIESINGER 1983: 192), wobei die Grenze zwischen beiden<br />

von einem breiten Raum gebildet wird, der je nach Lexem variiert und als<br />

dessen westlicher Teil die Bundesländer Vorarlberg, Tirol, Salzburg (teilweise)<br />

und Oberösterreich (teilweise) gelten können. In einzelnen Fällen<br />

nimmt zudem das Bundesland Vorarlberg auf Grund seiner basisdialektal<br />

alemannischen Grundlage eine besondere Position ein (vgl. EICHHOFF:<br />

Bände 1/2/3/4). Es ist offensichtlich, dass in Bezug auf die räumliche<br />

Verbreitung keine Homogenität des österreichischen Wortschatzes gegeben<br />

ist. Daher ist es auch nicht angemessen, eine dogmatische Handhabung des<br />

Terminus Plurizentrismus zu konstatieren, nur weil das plurizentrische<br />

Konzept das staatliche Territorium, im vorliegenden Fall das österreichische<br />

Gebiet, als Ausgangspunkt der Beschreibung der jeweiligen nationalen Varietät<br />

verwendet. Immerhin weist das österreichische Deutsch eine Reihe<br />

von so genannten echten Austriazismen auf, die nur in Österreich existieren.<br />

Diese werden allerdings von einem deutsch-integrativen Konzept bagatelli-<br />

301


302<br />

Dalibor Zeman<br />

siert. Dabei korrespondiert die Ansicht einer fünffachen räumlichen Gliederung,<br />

so Wiesinger, in gewisser Weise mit Scheuringer:<br />

[...] wahre Plurizentrizität des Deutschen, in deren Rahmen die staatliche Ebene nur eine von<br />

vielen ist und nur kleine Teile des Sprachsystems betrifft [...]. (SCHEURINGER 1996: 7) [Hervorhebung<br />

von D.Z.]<br />

Eine teilweise Übereinstimmung äußert sich in der ähnlichen Auffassung<br />

beider Forscher, dass die Mehrzahl der Varianten in erster Linie areal verteilt<br />

ist, was als wahrscheinlich erscheinen lässt, dass in diatopischer Sicht<br />

Österreich eine Reihe von Arealen (Räumlichkeitsmustern) zeigt. Wiesinger<br />

geht mit Scheuringer insofern konform, als das österreichische Deutsch vor<br />

allem bei Berücksichtigung der phonetisch-akzentuellen und lexikalischen<br />

Eigenschaften keine Einheit bildet, sondern in sich mehrfach gegliedert ist,<br />

so dass sich die Bezeichnung Österreichisch im Sinne einer staatlich gebundenen,<br />

spezifischen Sprachform verbietet. Bei Klassifizierung des im österreichischen<br />

Deutsch gebräuchlichen besonderen Wortschatzes lassen sich<br />

fünf Gruppen feststellen (vgl. WIESINGER 1983: 192f.), die das areale<br />

Moment sehr wohl nahe legen.<br />

In einem früheren Beitrag macht Scheuringer deutlich (SCHEURINGER<br />

1988), dass die sprachliche Vielgestaltigkeit nicht zu verurteilen ist. Sprachliche<br />

Regionalisierung innerhalb des Deutschen heißt ohnehin schon seit<br />

langem Regionalisierung nach Staaten, allerdings werden dem österreichischen<br />

Deutsch bestimmte sprachliche Besonderheiten aufgezwungen:<br />

Die Existenz einer spezifischen österreichischen Variante stand stets außer Frage. Sie bedarf<br />

keiner hochoffiziellen Patronanz oder gar Forcierung. Es ist unbestritten, dass der Verwaltungsstaat<br />

mit Hilfe seiner Beamten und mit Hilfe seiner Lehrer gewollt oder ungewollt die<br />

Ausbildung großlandschaftlicher Varianten fördert. Die zusätzliche Aufoktroyierung sprachlicher<br />

Besonderheiten durch staatliche Zentralstellen muss Gegenreaktionen herausfordern.<br />

(SCHEURINGER 1988: 66) [Hervorhebungen von D.Z.]<br />

Die dritte Position in dieser Diskussion ergibt sich aus einer kritischen Auseinandersetzung<br />

mit den beiden zuvor thematisierten Standpunkten. In der<br />

Forschung spricht man von einem „österreichisch-integralen Standpunkt“<br />

(SCHRODT 1997: 15). Dessen Kernthese lautet, dass die deutsche Sprache<br />

auch in Österreich „gültig“ sei. Das österreichische Deutsch bestehe aus „eine[r]<br />

Summe von einzelnen, doch geographisch wechselnden Erscheinungen,<br />

denen aber insgesamt normative Gültigkeit in Österreich zukommt“<br />

(WIESINGER 1996: 69; EBNER 1989: 88ff.; SCHRODT 1997: 14). Das<br />

österreichische Deutsch sei keine nationale Varietät, zumal der Begriff der<br />

Nation eine Einheitlichkeit voraussetzt, die schon auf sprachlicher Ebene<br />

nicht existiert. Als nationale Varietät würde das österreichische Deutsch nur<br />

dann gelten können, wenn man „die territorialen und pragmatischen Momente<br />

Die Beurteilung der schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen<br />

seiner Gültigkeit und Verwendung in Österreich zu den alleinigen Kriterien<br />

macht“ (WIESINGER 1995: 69f.). Mit dem Terminus „österreichischintegral“<br />

wird die Eigenständigkeit des österreichischen Deutsch in der Summe<br />

seiner Abweichungen von anderen Varietäten betrachtet und an seinem<br />

Anspruch, als eigenständige Norm zu gelten, festgehalten, allerdings ohne<br />

Bezug auf nationale oder areale Konzepte. Diese österreichisch-integrale Position<br />

vertreten neben Peter Wiesinger auch die von ihm erwähnten Jakob<br />

Ebner und Ingo Reiffenstein. Reiffensteins Aussagen scheinen allerdings in<br />

Bezug auf eine normgerechte bzw. legitime Anerkennung der nationalen<br />

österreichischen Variante der deutschen Hochsprache nicht zu überzeugen:<br />

Ein unbestrittenes Faktum aber ist auch, dass die deutsche Hochsprache in Österreich in einigen<br />

Punkten von der z.B. in der BRD gültigen Norm abweicht, vor allem im Lexikon, aber<br />

auch in der Hochlautung. Soweit diese Abweichungen in den Normbüchern [...] kodifiziert<br />

sind, reichen sie meines Erachtens nicht aus, von einer nationalen österreichischen Variante der<br />

deutschen Hochsprache zu reden, zumal es landschaftliche Wortschatzunterschiede ja auch<br />

sonst im Binnendeutschen gibt. (REIFFENSTEIN 1982: 12)<br />

Im Folgenden sollen die beiden Konzepte, die sich seit 1994/95 herauskristallisiert<br />

haben, das plurizentrische und das pluriareale, paradigmatisch<br />

gegenübergestellt werden.<br />

Der „pluriareale-normbezogene/normorientierte Ansatz“, so Muhr (MUHR<br />

1997), nimmt als Ausgangspunkt die deutsche Sprache als Gesamterscheinung<br />

und betont die überregionale Gültigkeit der deutschen Standardsprache,<br />

zugleich aber auch die sprachliche Uneinheitlichkeit der einzelnen nationalen<br />

Varietäten des Deutschen. Dieser Ansatz versteht Gemeinsamkeiten<br />

der einzelnen nationalen Varietäten im Wortschatz hinsichtlich<br />

Verbreitung und aktivem Gebrauch nur in der Verwaltungsterminologie und<br />

bei einem geringen Teil des Verkehrswortschatzes tatsächlich als staatsgebunden.<br />

Demgegenüber trete meist ein größerer Verkehrswortschatz entweder<br />

nur in Teilgebieten der deutschsprachigen Staaten oder grenzüberschreitend<br />

auf, so dass die Mehrzahl der Varianten nicht national, sondern einfach<br />

areal verteilt ist. Damit soll gesagt werden, dass in diatopischer Sicht Österreich<br />

eine ganze Reihe von Räumlichkeitsmustern zeigt. Basisdialektal ist<br />

das Land Teil der beiden großen oberdeutschen Dialekträume des Bairischen<br />

und des Alemannischen; der allergrößte Teil Österreichs gehört dabei<br />

zum bairischen Raum. Im räumlichen Anschluss an das bairische Dialektgebiet<br />

Bayerns sind dies im Grunde acht der neun Bundesländer, nämlich<br />

Oberösterreich, Niederösterreich mit Wien, das Burgenland, die Steiermark,<br />

Kärnten, Salzburg und Tirol, wobei Tirol in seinem Westen und insbesondere<br />

Nordwesten auch schon alemannische Dialekte kennt. Der Zahl ihrer<br />

Sprecher nach dürften mehr Menschen in Österreich muttersprachlich bairische<br />

Dialekte bzw. auf diesen aufbauende Nonstandard-Varietäten sprechen<br />

303


304<br />

Dalibor Zeman<br />

als in Bayern selbst (SCHEURINGER 2001: 98). Daher ist es für die Vertreter<br />

des pluriarealen Ansatzes angebracht, eher von einer arealen Verteilung<br />

des Lexikons bzw. den einzelnen regionalen Varianten zu sprechen,<br />

weil die Homogenität des österreichischen Wortschatzes in Bezug auf die<br />

diatopische Verbreitung nicht gegeben ist und weil das Attribut ‚national‛<br />

Staatlichkeit impliziert.<br />

Es wird auf die angeblich geringe Zahl von Austriazismen verwiesen (in der<br />

neuesten Auflage des Wörterbuchs von Jakob Ebner Wie sagt man in Österreich<br />

1998 ist allerdings die Anzahl der angeführten Austriazismen auf etwa<br />

8 000 nahezu verdoppelt). Weiter wird postuliert, dass der Begriff plurizentrisch<br />

zu einer „Sprachraumbetrachtung mit staatlich eingeengtem Horizont“<br />

führe (SCHEURINGER 1996b: 150). U.a. ist damit der Vorwurf eines<br />

so genannten Nationalvarietätenpurismus verbunden (vgl. AMMON<br />

1995 und MUHR 1997: 47), da z.B. das Österreichische Wörterbuch bundesdeutsche<br />

Ausdrücke mit einem Sternchen markiert, was als Hinweis an<br />

die Wörterbuch-Benutzer zu verstehen ist, diese Wörter in Österreich nicht<br />

unbesehen zu verwenden da die eigene nationale Varietät vor dem Eindringen<br />

von Varianten aus einer anderen nationalen Varietät zu schützen sei.<br />

Wie schon weiter oben erwähnt, beruht das pluriareale Paradigma vor allem<br />

auf zwei Hypothesen: dem so genannten „Uneinheitlichkeitsargument“ und<br />

dem „Überschneidungsargument“. Es gibt einige empirische Daten, die es<br />

möglich machen, beide Behauptungen wenigstens annäherungsweise einer<br />

Überprüfung zu unterziehen (vgl. GLAUNINGER 1997; EICHHOFF<br />

1977/1978 und MUHR 1997).<br />

Im Rahmen des Uneinheitlichkeitsarguments ist es wichtig zu beachten, wie<br />

groß die innerösterreichischen Unterschiede überhaupt sind. Die Untersuchung<br />

von Glauninger liefert hierzu erstmals umfassende und stichhaltige<br />

Daten (GLAUNINGER 1997). Die Ergebnisse der lexikalischen Übereinstimmung<br />

zwischen den Landeshauptstädten im mündlichen Gebrauch belegen,<br />

dass der Grad der Übereinstimmung nirgendwo geringer als 76 %<br />

liegt. Lediglich bei fünf von 36 Vergleichspaaren beträgt die Übereinstimmung<br />

weniger als 80 %, und zwar zwischen Bregenz im Vergleich zu Linz,<br />

Klagenfurt, St. Pölten, Wien und Eisenstadt (GLAUNINGER 1997: 258ff).<br />

Man kann somit von einem sehr hohen Homogenitätsgrad des untersuchten<br />

Lexikons sprechen. Unterstützt werden Glauningers Ergebnisse auch durch<br />

die Daten in den Karten von Jürgen Eichhoff (1977/1978). Die von Muhr<br />

vorgenommene Auszählung von 112 Karten ergab auch dort ein hohes Maß<br />

sprachlicher Kongruenz zwischen den Regionen. Bei 86 der 112 Begriffe<br />

(77 %) ist der Sprachgebrauch in ganz Österreich einheitlich. Bei 26 von<br />

112 Begriffen (23 %) besteht innerhalb Österreichs eine deutliche Varianz,<br />

wobei in den meisten Fällen ein einheitliches österreichisches Lexikon dem<br />

Die Beurteilung der schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen<br />

westösterreichischen gegenübersteht. Ausschließlich in Österreich kommen<br />

zwölf der 112 Begriffe (11 %) vor (MUHR 1997: 55). Die Untersuchungen<br />

von Glauninger und Muhr machen deutlich, dass es zwischen dem Osten<br />

und Westen Österreichs sehr wohl sprachliche Unterschiede gibt. Diese sind<br />

aber laut Muhr, zumindest im Lexikon, geringer als bislang angenommen.<br />

Auch das bereits erwähnte Überschneidungsargument beruht auf dem pluriarealen<br />

Konzept. Dieses Argument besagt, dass es zwischen Österreich<br />

und Bayern (aber auch mit der Schweiz) zahlreiche Ähnlichkeiten im<br />

Sprachgebrauch gibt und vor allem viele üblicherweise als Austriazismen<br />

bezeichnete Wörter auch in Bayern verwendet werden. Dieser Umstand<br />

ließe es nicht angebracht erscheinen, von einer „nationalen“ Variante des<br />

österreichischen Deutsch zu sprechen, da diese damit über keine sprachlichen<br />

Spezifika verfüge (MUHR 1997: 56). Die dahinter stehende Idee ist,<br />

dass eine „nationale Varietät“ durch massive linguistische Unterschiede<br />

gekennzeichnet und ihr Sprachgebiet mit der Staatsgrenze identisch sein<br />

müsste. Allerdings verwechselt man dabei die Begriffe „Varietät“ und<br />

„Sprache“, da nur eine „Sprache“ üblicherweise mit den Staatsgrenzen<br />

weitgehend deckungsgleich ist. Es liegt im Wesen einer plurizentrischen<br />

Sprache und deren Varietäten, dass diese untereinander mehr Gemeinsamkeiten<br />

als Unterschiede nennen, da sie sonst im linguistischen Sinne tatsächlich<br />

als Sprachen anzusehen wären (MUHR 1997: 56). Weiterhin wird<br />

übersehen, dass das Bairische nur in einem Teilgebiet Deutschlands gesprochen<br />

wird und durch das übrige „Binnendeutsche“ überdacht wird. Die Beschreibung<br />

der nationalen Varietäten muss daher auch den Status der jeweiligen<br />

Variante berücksichtigen. Es genügt nicht, das Vorhandensein eines<br />

Ausdrucks bloß zu konstatieren, erst der soziolinguistische Stellenwert entscheidet<br />

über seinen Gebrauch und seine kommunikative Relevanz. Nach<br />

Muhr wird dieser soziolinguistische Stellenwert bzw. Aspekt von den Vertretern<br />

des pluriarealen Konzepts vernachlässigt.<br />

Ulrich Ammon widmet in seinem Band Die deutsche Sprache in Deutschland,<br />

Österreich und der Schweiz (AMMON 1995) der Typologie und Beschreibung<br />

der nationalen Sprachvarianten einen verhältnismäßig langen<br />

Abschnitt, in dem sich wichtige, diese Fragestellungen betreffende theoretische<br />

Erwägungen finden, die implizit auch das Überschneidungsargument<br />

aufgreifen. Ammon unterscheidet zunächst zwischen solchen nationalen<br />

Varianten, deren Standardsprachlichkeit im Sprachkodex des betreffenden<br />

nationalen Zentrums ausgewiesen ist, und solchen, die nur nach Maßgabe<br />

anderer Komponenten des sprachlichen Kräftefeldes einer Sprachvarietät<br />

standardsprachlich sind (vgl. AMMON, 1995: 102). Die erste typologische<br />

Differenzierung ist also die zwischen kodifizierten und nichtkodifizierten<br />

nationalen Varianten.<br />

305


306<br />

Dalibor Zeman<br />

Eine weitere bedeutsame Aufteilung nationaler Varianten ist danach möglich,<br />

ob sie nur in demjenigen nationalen Zentrum bekannt sind, in dem sie<br />

gelten, oder ob sie darüber hinaus auch in anderen Zentren der betreffenden<br />

Sprache bekannt sind, in denen sie nicht gelten. Terminologisch lässt sich<br />

diese Differenzierung fassen, indem man zwischen nationalen Varianten<br />

nach Geltung und Bekanntheit unterscheidet (AMMON 1995: 103). Ein<br />

Beispiel für eine nationale Variante nur nach Geltung, und zwar ein „Teutonismus“,<br />

bildet das Wort Sahne, das auch in Österreich und der Schweiz<br />

bekannt ist (vgl. dazu EICHHOFF 2000: Karte 4–29; KÖNIG 2001: 222;<br />

SCHEURINGER 1988: 65 4 ). Es erscheint sogar in den Sprachkodizes beider<br />

Zentren, ist dort aber als „binnendeutsch“ markiert (vgl. ÖWB 2000). Es<br />

handelt sich somit bei Sahne um einen Teutonismus nur nach Geltung (Geltung<br />

nur in Deutschland), nicht nach Bekanntheit (Bekanntheit nicht nur in<br />

Deutschland).<br />

Nationale Varianten können ferner unterschieden werden in solche, die situationsunabhängig<br />

sind (absolute nationale Variante), d.h. unabhängig von<br />

der Situation, in der sie Verwendung finden, und in solche, die nur situationsabhängig<br />

(stilistische nationale Variante) als solche definiert werden<br />

können (AMMON 1995: 104).<br />

In einem vierten Differenzierungsschritt lassen sich nationale Varianten, die<br />

innerhalb des eigenen Zentrums in Variation stehen mit einer auch in einem<br />

anderen Zentrum geltenden oder einer gemeindeutschen Variante, unterscheiden<br />

von solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, die also innerhalb<br />

ihres Zentrums in dieser Hinsicht invariant sind. Die ersteren sind demnach<br />

beim Sprechen und Schreiben substituierbar (austauschbare nationale Variante)<br />

– jedenfalls unter rein denotativem Aspekt –, die letzteren dagegen<br />

nicht (AMMON 1995: 104). Terminologisch lassen sich diese Unterschiede<br />

in austauschbare und nicht austauschbare bzw. zentrumsintern variable und<br />

zentrumsintern invariable nationale Varianten differenzieren. Ein Beispiel<br />

für eine austauschbare nationale Variante in Österreich ist das Lexem Paradeiser,<br />

neben dem in Österreich auch das gemeindeutsche Lexem Tomate<br />

gilt (ÖWB 1995; AMMON 1995: 104). Nach Wiesinger wäre in diatopischer<br />

Sicht gerade dieses Beispiel dem gesamtösterreichischen Wortschatz<br />

zuzuordnen, das sich von der Bundeshauptstadt Wien, teilweise erst in den<br />

letzten Jahrzehnten, in ganz Österreich durchgesetzt hat und geographisch<br />

zumindest im Gegensatz zu den in Bayern gebräuchlichen Bezeichnungen<br />

steht (mehr dazu WIESINGER 1983: 192; ähnlich auch KÖNIG 2001:<br />

224). Dagegen ist das Wort Karfiol ein nicht austauschbarer Austriazismus,<br />

denn seine lexikalische Entsprechung in den anderen Zentren, Blumenkohl,<br />

4 Weitere Beispiele verzeichnet WIESINGER (1983: 192f., 1988: 25ff.).<br />

Die Beurteilung der schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen<br />

gilt in Österreich nicht. An dieser Stelle wollen wir noch erwähnen, dass<br />

bezüglich einer präzisen regionalen Differenzierung des österreichischen<br />

Wortschatzes unterschiedliche Auffassungen anzutreffen sind. In einem<br />

früheren Beitrag von Wolfgang Dressler und Ruth Wodak scheint das die<br />

diatopische Einordnung des Lexems Paradeiser in Frage gestellt worden zu<br />

sein.<br />

Paradeiser ist eben weithin in Österreich in der sozialen Bewertung so sehr gesunken, dass es<br />

nur für eine partielle Gruppe von (standardsprachlich) bewusst Österreichisch Redenden bzw.<br />

Dialektsprechern die separative Sprachfunktion erfüllen kann. (DRESSLER/WODAK 1983:<br />

253)<br />

Auch aus einer neueren empirischen Untersuchung geht hervor, dass sich<br />

auch in Ostösterreich von Wien und den anderen Städten ausgehend, umgangssprachlich<br />

zunehmend das Lexem Tomate durchsetzt und Paradeiser<br />

auf dialektale Ebene verdrängt (WIESINGER 2002).<br />

Die typologische Unterscheidung nationaler Varianten lässt sich noch weiter<br />

führen. Es existieren einerseits solche nationale Varianten, die in der<br />

gesamten Region gelten, im Gegensatz zu solchen, die nur in einem Teil des<br />

Zentrums gelten. So erstreckt sich insbesondere die Geltung mancher Austriazismen<br />

nur auf Ostösterreich und die Geltung vieler Teutonismen nur<br />

auf Norddeutschland. Fleischhauer oder Fleischhacker sind nur ostösterreichisch<br />

(ÖWB 2000, EBNER 1998, KÖNIG 2001: 196, WIESINGER 1983:<br />

192, 1988: 25ff.), westösterreichisch heißt es Metzger. Dagegen gelten Lexeme<br />

wie Abitur, Matura (Matura ist nach Wiesinger [1983, 1988] dem<br />

gesamtösterreichischen Wortschatz zuzuordnen) oder Flugpost in ganz<br />

Deutschland bzw. Österreich. Eine dementsprechend geeignete terminologische<br />

Differenzierung ist die in nationale Varianten einer Teilregion im Gegensatz<br />

zu nationalen Varianten der Gesamtregion des jeweiligen Zentrums<br />

(AMMON 1995: 106). Man könnte zunächst meinen, solche Varianten, die<br />

nicht einmal in der ganzen Region gelten, müssten auf jeden Fall Spezifika,<br />

also nationale Varianten nur dieser Region sein. Dass dies jedoch keineswegs<br />

immer zutrifft, zeigt die weitere typologische Differenzierung zwischen<br />

solchen nationalen Varianten, die lediglich in einer einzigen nationalen<br />

Region gelten, und solchen, deren Geltungsbereich sich auf mehr als<br />

eine nationale Region erstreckt. Beispiele des erstgenannten Typs sind die<br />

Lexeme Marille (Aprikose) in Österreich oder Velo (Fahrrad) in der<br />

Schweiz; sie gelten jeweils nur in der betreffenden Region. Beispiele für<br />

den letzteren Typ sind das Lexem Erdapfel (Kartoffel), das in Österreich<br />

und in der Schweiz gilt (aber nicht in Deutschland), oder das Wort Aprikose,<br />

das in Deutschland und in der Schweiz gilt (aber nicht in Österreich)<br />

(KÖNIG 2001: 206). Es liegt nahe, hier terminologisch zu unterscheiden<br />

zwischen spezifischen und unspezifischen nationalen Varianten. Aprikose<br />

307


308<br />

Dalibor Zeman<br />

ist demnach eine unspezifische nationale Variante Deutschlands wie auch<br />

der Schweiz. Ihre Entsprechung, Marille, ist dagegen eine spezifische nationale<br />

Variante Österreichs (AMMON 1995: 106). Man könnte nun bei den<br />

unspezifischen nationalen Varianten weiter differenzieren nach Geltung nur<br />

in einer Teilregion oder in der Gesamtregion, und zwar sowohl in Bezug auf<br />

die eigene als auch die jeweils andere Region. Es gibt aber auch Varianten,<br />

die außer in zwei Regionen noch in einer dritten Teilregion gelten. Ein Beispiel<br />

ist die Perfektbildung mit sein bei Verben wie liegen, sitzen, stehen,<br />

die nicht nur in Österreich und in der Schweiz, sondern überdies auch noch<br />

in Süddeutschland gilt (AMMON 1995: 108). In der Literatur werden jedoch<br />

diese Perfektformen mit sein als nationale Varianten Österreichs klassifiziert<br />

(TATZREITER 1988: 94).<br />

Das plurizentrische-kommunikationsorientierte Paradigma legt den<br />

Schwerpunkt auf das Vorhandensein mehrerer staatlicher Einheiten, die für<br />

den einzelnen Sprecher als soziale Bezugspunkte und als Handlungsrahmen<br />

dienen und daher auch Kommunikationsgemeinschaften mit eigenen pragmatischen<br />

kommunikativen Normen darstellen (MUHR 1997: 48). Das<br />

staatliche Territorium dient als Ausgangspunkt der Beschreibung von Sprache<br />

und Kommunikation des jeweiligen Landes bzw. der jeweiligen Varietät,<br />

die in einem weiteren Schritt zu den anderen Varietäten in Bezug gesetzt<br />

und mit diesen verglichen wird. Jede Varietät ist zuerst für sich zu<br />

beschreiben und aus sich heraus zu definieren, womit gewährleistet wird,<br />

dass die Normen der jeweiligen nationalen Varietät korrekt erfasst werden.<br />

Als einer nationalen Varietät zugehörig wird die Summe aller nichtstandardsprachlichen<br />

und standardsprachlichen Formen betrachtet, die es auf dem Territorium<br />

eines (z.B. deutschsprachigen) Landes gibt (MUHR 1997: 48) 5 . Davon<br />

stehen wiederum jene im Mittelpunkt der Beschreibung, die entweder<br />

überregionale oder wenigstens großregionale Verbreitung und/oder besondere<br />

soziale Relevanz haben, wobei nicht nur das Vorkommen linguistischer<br />

Ausdrücke, sondern auch ihr kommunikativer Gebrauch und ihre soziale<br />

Funktion als Mittel zum Ausdruck regionaler, sozialer und/oder<br />

nationaler Zugehörigkeit beschrieben wird.<br />

Abschließend ist noch hervorzuheben, dass für den plurizentrischen Ansatz<br />

die deutsche Standardsprache als Schnittmenge der drei Vollvarietäten betrachtet<br />

wird, während das pluriareale Konzept die überregionale Gültigkeit<br />

der deutschen Standardsprache betont.<br />

5 Ähnlich wie bei Ulrich Ammon „kodifizierte“ und „nichtkodifizierte“ nationale Varianten.<br />

Die Beurteilung der schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen<br />

Zusammenfassung<br />

Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ist eine heftige Diskussion über<br />

den Stellenwert nationaler Varietäten im Gange. Eine monozentrische Sicht<br />

wird mittlerweile von niemandem mehr ernsthaft vertreten. Angemessener<br />

scheint ein plurizentrisches Verständnis des Deutschen als Sprache mit drei<br />

nationalen Varietäten, mit dem die Existenz staatsbezogener Variationen<br />

akzeptiert und der bundesdeutsche Alleinvertretungsanspruch relativiert<br />

wird. Dieser Auffassung, dass jedes deutschsprachige Land eine selbständige<br />

sprachliche Region bildet, wurde zuerst in der damaligen Deutschen<br />

Demokratischen Republik mit der Darstellung des DDR-Wortschatzes entsprochen<br />

(FLEISCHER 1987). In Österreich entwickelten sich in der Diskussion<br />

der folgenden Jahre drei unterschiedliche Standpunkte, wobei das<br />

pluriareale Konzept der Sprachrealität am nächsten kommen dürfte, zumal<br />

viele Merkmale nicht mit Staatsgrenzen, sondern mit historisch gewachsenen<br />

Dialektverbänden in Zusammenhang stehen.<br />

Es wird zunehmend deutlich, dass in den letzten Jahren in der früher zum<br />

Teil emotional geführten Debatte um das österreichische Deutsch zwar unterschiedliche<br />

Standpunkte bestehen, jedoch Sachlichkeit und Nüchternheit<br />

in Sicht zu sein scheinen. Dies stellt z.B. Muhrs Beitrag von 1997 unter Beweis,<br />

in dem wichtige terminologische und theoretische Überlegungen angestellt<br />

werden. Auch Scheuringer ist bestrebt, den nüchternen Tatsachen möglichst<br />

objektiv gerecht zu werden und, wie er selbst sagt, sprachpolitische<br />

Bewertungen unbedingt zu vermeiden. Obschon viele in unserem Beitrag erwähnte<br />

Texte nicht den Gegenstand an sich behandeln, sondern eher den Charakter<br />

sprachpolitischer Ideologien haben, sollte auf diese Aspekte und Bewertungen,<br />

die wohl mehr mit gesellschaftlichen und politischen Einstellungen<br />

verbunden sind, nicht verzichtet werden, denn auch solche Momente<br />

gehören unseres Erachtens zu einer wissenschaftlichen Diskussion.<br />

Dass die regionalen und nationalen Ausprägungen des österreichischen<br />

Deutsch nicht bloße Anhängsel an eine an Deutschland orientierte Norm<br />

darstellen, sondern als gleichwertige Varietäten anzusehen sind, beweisen u. a.<br />

die 1994 begonnenen österreichischen EU-Beitrittsverhandlungen, im Rahmen<br />

derer 23 spezifisch österreichische Lexeme aus dem Bereich des Lebensmittelrechts<br />

EU-primärrechtlich verankert wurden (vgl. de CILLIA<br />

1995). Das konkrete Resultat dieser sprachpolitischen Auseinandersetzungen<br />

um den österreichischen EU-Beitritt war das so genannte Protokoll Nr.<br />

10, das in gewissem Sinne eine erste Anerkennung der eigenen österreichischen<br />

Variante der deutschen Sprache in internationalen Verträgen darstellt.<br />

Die Regelung verpflichtet zur Verwendung dieser Austriazismen, indem sie<br />

in der deutschen Sprachfassung neuer Rechtsakte den in Deutschland verwendeten<br />

Ausdrücken in geeigneter Form hinzugefügt werden. Es handelt<br />

309


310<br />

Dalibor Zeman<br />

sich also ausschließlich um eine Angelegenheit des EU-Rechtes und zukünftiger<br />

Rechtspapiere der EU. Sie betrifft aber nicht die landeseigene<br />

Rechtspraxis und nicht die alltägliche deutsche Sprachpraxis (vgl. WIESIN-<br />

GER 2002). Daher können, da es sich bei den genannten Ausdrücken nur<br />

um Lebensmittelbezeichnungen handelt, in Österreich sowohl im landeseigenen<br />

Lebensmittelrecht als auch im Lebensmittelhandel und in der Gastronomie<br />

darüber hinausgehende weitere Bezeichnungen uneingeschränkt<br />

verwendet werden. Die Reaktionen auf diese Sprachregelung waren unterschiedlich.<br />

Kritisch wurde vermerkt, dass im Protokoll Nr. 10 die österreichische<br />

Varietät auf lediglich 23 Wörter reduziert wird, weshalb der Vertreter<br />

des „österreichisch-nationalen Standpunktes“ Wolfgang Pollak eine<br />

uneingeschränkte Anerkennung aller Austriazismen forderte (vgl. POLLAK<br />

1994).<br />

Bei diesen Lexemen des österreichischen Deutsch ist einerseits aus sprachgeographischer<br />

und sprachsoziologischer Sicht zu fragen, inwieweit sie auf<br />

den Ebenen der Umgangssprache und der Schrift- und Standardsprache in<br />

ganz Österreich oder nur in Teilgebieten verwendet werden und inwieweit<br />

sie in der Alltagskommunikation unterschiedliche Markierungen aufweisen.<br />

Exakte Ergebnisse bringt Peter Wiesinger (WIESINGER 2002), der in seiner<br />

neuesten Studie der Frage nachgeht, inwieweit die im Protokoll Nr. 10<br />

festgelegten Ausdrücke im österreichischen Handel und in der Gastronomie<br />

verwendet werden, bzw. ob auch andere, vor allem die bundesdeutschen<br />

Bezeichnungen anzutreffen sind. Wiesinger stellt fest, dass dort, wo die Alltagssprache<br />

in ganz Österreich einheitliche Bezeichnungen aufweist, diesen<br />

auch die Bezeichnungen im Handel folgen. Wo aber in größeren Teilen des<br />

Landes regionale Verschiedenheit besteht wie z. B bei Ribisel vs. Johannisbeere,<br />

dominiert die in Deutschland gebräuchliche Bezeichnung (vgl.<br />

WIESINGER 2002). Im Einzelnen geht es um folgende 23 österreichische<br />

Bezeichnungen:<br />

Beiried, Eierschwammerl, Erdäpfel, Faschiertes, Fisolen, Grammeln, Hüferl, Karfiol, Kohlsprossen,<br />

Kren, Lungenbraten, Marillen, Melanzani, Nuss, Obers, Paradeiser, Powidl, Ribisel,<br />

Rostbraten, Schlögel, Topfen, Vogerlsalat, Weichseln.<br />

So zeichnet sich die Frage ab, welche Verwendung die Austriazismen künftig<br />

in der österreichischen Sprachpraxis finden werden bzw. ob und inwiefern<br />

sich die österreichischen Sprachverhältnisse im vereinten Europa ändern<br />

werden. 6<br />

6 Für wertvolle Hinweise bin ich Peter Wiesinger von der Universität Wien zu Dank<br />

verpflichtet.<br />

Die Beurteilung der schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen<br />

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der 38. Neubearbeiteten Auflage (1997). – In: Zeitschrift für germanistische<br />

Linguistik 28, 41–64.<br />

WIESINGER, Peter (2001): Das Deutsch in Österreich. – In: G. Helbig, L.<br />

Götze, G. Henrici, H. J. Krumm (Hgg.), Deutsch als Fremdsprache. Ein<br />

internationales Handbuch. Halbbd. 1. Berlin, New York: de Gruyter, 481–<br />

491.<br />

WIESINGER, Peter (2002): Austriazismen als Politikum. – In: W. Ágel, A.<br />

Gardt, U. Haß-Zumkehr, T. Roelcke (Hgg.), Das Wort. Seine strukturelle<br />

und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag.<br />

Tübingen: Niemeyer, 159–182.<br />

315


Sprache als Faktor der wirtschaftlichen Integration<br />

Marek Nekula, Kateřina Šichová<br />

Nicht nur die politischen, sondern auch die wirtschaftlichen Beziehungen<br />

der Bundesrepublik Deutschland zu den MOE-Ländern haben nach 1989<br />

eine neue Dynamik bekommen. Durch Kooperationen, Direktinvestitionen<br />

und Verlagerung der Produktion ist im Laufe der Zeit eine Reihe von großen,<br />

mittleren und kleinen Unternehmen entstanden, die in unterschiedlicher<br />

Form und in unterschiedlichem Ausmaß als ‚gemischt‘ gelten können. Das<br />

hier präsentierte Projekt „Osteuropäische Sprachen als Faktor der wirtschaftlichen<br />

Kommunikation“ (2003–2005), das im Rahmen des FOROST-Verbundes<br />

durch das Bayerische Ministerium für Wissenschaft, Forschung und<br />

Kunst finanziert wird und am <strong>Bohemicum</strong> angesiedelt ist, befasst sich mit der<br />

Kommunikation in solchen Unternehmen. Die Unternehmenskommunikation<br />

wird im Kontext der Organisationskommunikation analysiert und als ein<br />

Netz von intendierten/erwarteten Interaktionen verstanden, die nach innen<br />

und außen ein strukturiertes Ganzes ergeben und die in konkreten Kommunikationsereignissen<br />

eingelöst/nicht eingelöst werden. Bei der Analyse liegt<br />

der Fokus auf deutschen, österreichischen und schweizerischen Unternehmen,<br />

die in der Tschechischen Republik Niederlassungen, Tochtergesellschaften,<br />

Joint ventures oder neue Unternehmen gründeten und dadurch in<br />

einen interkulturellen Kontext traten.<br />

Dabei kommt es bei einer Organisation zunächst nicht auf konkrete Individuen,<br />

sondern auf die Rollen oder auf die Stellen und ihre Aufgabenbereiche<br />

an, die sich in interaktivem Verhältnis zu anderen Rollen definieren<br />

lassen und die alle zusammen eine ‚Ganzheit‘ (ein strukturiertes Ganzes)<br />

bilden, die intern wie extern agieren soll. Um die Organisation agieren lassen<br />

zu können, werden diese Stellen durch Individuen besetzt, die ihre Rollen<br />

(Stellen) im idealen Fall ‚ausfüllen‘. Das heißt, dass die Individuen fähig<br />

sind, die Interaktionen auszuführen, die für ihre Rollen erwartet werden<br />

bzw. relevant sind. Diese Interaktionen setzen sie konkret in der Kommunikation<br />

um. Überspitzt formuliert könnte man auch Unternehmen als Organisationen<br />

definieren, wobei die Organisation als Ganzheit von Interaktionen<br />

verstanden werden könnte, die ihre Mitglieder v.a. in der internen, aber<br />

auch in der externen Kommunikation ausführen (MAST 2003).<br />

Allein auf Grund der Definition des Unternehmens als Organisation wird<br />

also deutlich, dass die Frage der Kommunikation für die Unternehmen von<br />

existentieller Bedeutung ist. Es überrascht nicht, dass dies für die interkultu-


318<br />

Marek Nekula, Kateřina Šichová<br />

rell agierenden Unternehmen in ganz besonderem Maße zutrifft, da diese<br />

durch die geeignete Wahl des gemeinsamen sprachlichen Kodes eine<br />

Kommunikation zunächst überhaupt möglich machen müssen.<br />

Grundsätzlich gibt es in der interkulturellen Kommunikation bei der Wahl<br />

des Kodes, der Sprache – sowohl zwischen den Unternehmen als auch innerhalb<br />

des Unternehmens (vgl. auch VANDERMEEREN 1998) – drei Varianten:<br />

die Nicht-Adaptation, die Adaptation und die Standardisierung. (1)<br />

Im Falle der Nicht-Adaptation fehlt ein gemeinsamer Kode, so dass auf<br />

Übersetzer- und Dolmetscherdienstleistungen zurückgegriffen werden<br />

muss. (2) Bei der Adaptation geht ein Kommunikationsteilnehmer – passiv<br />

oder auch aktiv – auf die Muttersprache des Anderen ein, die für ihn in der<br />

Regel eine Fremdsprache ist. Im Falle, dass eine solche Adaptation in beiden<br />

Richtungen erfolgt, nennen wir sie symmetrisch, nur in einer Richtung<br />

erfolgend ist sie als asymmetrisch zu charakterisieren. Die asymmetrische<br />

Adaptation droht in der konkreten Kommunikation sowie innerhalb des Unternehmens<br />

in eine kommunikative Dominanz (der Muttersprachler) und<br />

Subdominanz (der Nichtmuttersprachler) überzugehen, so dass die interkulturelle<br />

Kommunikation durch Neutralisierungsstrategien entlastet werden<br />

muss wie etwa die paritätische Besetzung des Vorstandes und Aufsichtsrates,<br />

die Einrichtung von Tandems u.a.m. (vgl. NEKULA 2002, auch<br />

HÖHNE 1995, 1997). (3) Unter Standardisierung versteht man in der interkulturellen<br />

Kommunikation die Wahl einer dritten Sprache, in deutschtschechischen<br />

Unternehmen etwa des Englischen (vgl. NEKVAPIL 2000,<br />

VOLLSTEDT 2002), in niederländisch-tschechischen Unternehmen oft des<br />

Deutschen, in Osteuropa immer noch auch des Russischen usw. Die angesprochenen<br />

Varianten werden im Konkreten kombiniert.<br />

Die Aufgabe des oben erwähnten Projektes ist es, festzustellen, welcher Kode<br />

bzw. welche Kodes wie und unter welchen Bedingungen sowie unter welchem<br />

Kostenaufwand und mit welchen Konsequenzen in den deutschtschechischen<br />

Unternehmen in der Tschechischen Republik gewählt werden.<br />

Wenn man den Kostenaufwand am Beispiel der deutsch-tschechischen Unternehmen<br />

berechnen bzw. diesen Kostenaufwand zumindest andeuten will,<br />

kann dieser grundsätzlich positiv oder negativ abgegrenzt werden. Der positive<br />

Wert ist die Investition in die Qualifikation der Arbeitskräfte, der negative<br />

Wert sind die anfallenden Kosten bei fehlender Qualifikation derselben.<br />

Das Attribut ‚positiv‘ in ‚positiver Wert‘ macht dabei deutlich, dass die Kosten<br />

für eine Sprachausbildung bzw. eine Ausbildung in der interkulturellen<br />

Sprache als Faktor der wirtschaftlichen Integration<br />

Handlungskompetenz sowie die Mehrausgaben für entsprechend ausgebildete<br />

Fachkräfte als (eine Art) Investition verstanden werden kann, die für<br />

das Unternehmen zumindest mittelfristig einen Mehrwert bringt. Dass dies<br />

tatsächlich so ist, zeigt die Tatsache, dass die richtige Sprachqualifikation<br />

nicht nur die Kosten für Dolmetscher- und Übersetzerdienstleistungen senkt,<br />

sondern die wirtschaftliche Leistung eines Unternehmens steigert. Vandermeeren<br />

(1998) macht dies im Hinblick auf deren Außenhandel nachvollziehbar.<br />

Die Investitionen in die Fremdsprachenausbildung bringen aber in<br />

den interkulturell gebildeten und agierenden Unternehmen einen Mehrwert<br />

auch im Hinblick auf die Arbeitsproduktivität.<br />

Das Attribut ‚negativ‘ in ‚negativer Wert‘ macht deutlich, dass die Kosten<br />

für interne wie externe Dolmetscher- und Übersetzungsdienstleistungen<br />

sowie Sprachassistenten als laufend anfallende Kosten zu verstehen sind.<br />

Außerdem sind darunter auch Verluste bzw. Folgekosten zu verstehen, die<br />

durch fehlende Kontrolle der Kommunikation (etwa bei Einführung neuer<br />

Technologien oder bei Geschäftsverhandlungen und Schließen von Verträgen)<br />

oder nicht erzielte Kostenoptimierung durch Steigerung der Arbeitsproduktivität<br />

zustande kommen, die durch weiche Faktoren wie etwa<br />

Kommunikationsklima bzw. Identifikation mit dem Unternehmen durchaus<br />

steuerbar ist.<br />

Obwohl die zentrale Bedeutung der Kommunikation und des Kommunikationsmanagements<br />

für ein Unternehmen im Allgemeinen und für ein interkulturell<br />

agierendes Unternehmen im Besonderen deutlich geworden ist,<br />

scheint die genaue Berechnung des negativen und positiven Wertes des<br />

Sprachfaktors (der Sprachqualifikation) keine einfache Aufgabe zu sein.<br />

Daher haben wir uns in unserem Beitrag im Prinzip nur auf den negativen<br />

Wert beschränkt, in dessen Rahmen sich die sog. Nicht-Adaptations-Fälle<br />

mit DOLMETSCHEN und ÜBERSETZEN quantitativ erfassen lassen.<br />

Die Wirkung der symmetrischen und asymmetrischen Adaptation bzw. auch<br />

der Standardisierung, die im Hinblick auf ihren positiven wie auch negativen<br />

Wert eher über qualitative Methoden fassbar gemacht werden kann<br />

(Motivation u.a. durch Interviews), lassen wir in diesem Beitrag weitgehend<br />

außer Acht.<br />

So wurde in der ersten Phase unseres Projektes in den Jahren 2002 und<br />

2003 durch eine Fragebogenbefragung die Belastung der Unternehmen<br />

durch Einschaltung von Sprachvermittlung im Hinblick auf spezifische<br />

Domänen innerhalb der Unternehmen erhoben und – wenigstens teilweise –<br />

berechenbar gemacht. Dabei wurden die Unternehmen zunächst durch eine<br />

319


320<br />

Marek Nekula, Kateřina Šichová<br />

Anzeige in der Zeitschrift der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer<br />

PLUS angesprochen, dann wurden die deutschen, österreichischen<br />

und schweizerischen Unternehmen angeschrieben, die in der Tschechischen<br />

Republik aktiv sind und bei der DTIHK Prag, bei der AHST der<br />

Österreichischen Botschaft bzw. bei der HST der Handelskammer Schweiz<br />

registriert sind.<br />

Der Fragebogen besteht aus 10 weiter gegliederten Fragen, die neben der<br />

Unternehmensgröße, der Vertretung des Unternehmens an den mittel- und<br />

osteuropäischen Märkten und der Unternehmensbranche auch Informationen<br />

über Firmensprache, Tschechischkenntnisse der ausländischen Mitarbeiter,<br />

Dolmetscher- und Übersetzereinsätze und Förderung des Fremdsprachenerwerbes<br />

der Mitarbeiter des Unternehmens erfassen. Der Fragebogen<br />

wurde extern begutachtet und an einer kleinen Probegruppe von 5 Unternehmen<br />

weiter geschärft.<br />

Auf diese Weise wurden ca. 2.000 Unternehmen angesprochen, wobei die<br />

Rücklaufquote bei ca. 17 % lag. Bei einem solchen Rücklauf – sowie auch<br />

im Hinblick darauf, dass die Unternehmen bezüglich Größe 1 und Branche<br />

proportional zur Wirtschaftsstruktur der Tschechischen Republik vertreten<br />

sind – lassen sich nach Auswertung der Fragebögen mit gebotener Vorsicht<br />

gewisse Tendenzen aufzeigen, auf deren Grundlagen auch der ‚Wert‘ des<br />

Sprachfaktors (der Sprachqualifikation) in diesen Unternehmen quantitativ<br />

bestimmt werden kann.<br />

Mit der wachsenden Globalisierung der wirtschaftlichen Kontakte und der<br />

Unternehmenstätigkeit haben einige, vor allem die großen im internationalen<br />

Bereich agierenden Unternehmen in ihre Satzungen oder in die Beschreibung<br />

ihrer Unternehmenspolitik auch die Frage der offiziellen Firmensprache<br />

miteinbezogen.<br />

1 Hinsichtlich ihrer Größe werden Unternehmen in drei Gruppen gegliedert: klein, mittelgroß,<br />

groß. Die Größe wird entweder nach dem Firmenumsatz oder nach der Zahl der<br />

Beschäftigten definiert. Wir haben für die Bestimmung der Größenklasse die Mitarbeiterzahl<br />

herangezogen und bezeichnen ein Unternehmen als klein, wenn es weniger als<br />

10 Beschäftigte hat, als mittelgroß wenn es über 10 bis 499 Mitarbeiter verfügt. Zu den<br />

Großunternehmen zählen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten. Diese Definition<br />

richtet sich nach den Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie<br />

(1997/98). Nach MÖLLER/BRANDMEIER (2002: 42).<br />

52%<br />

Sprache als Faktor der wirtschaftlichen Integration<br />

Vorgabe der Firmensprache<br />

10%<br />

38%<br />

keine Angaben<br />

nein<br />

ja<br />

Aus der Statistik geht hervor, dass mehr als die Hälfte aller Unternehmen<br />

eine offizielle Firmensprache vorsieht (in den großen Unternehmen sind es<br />

ungefähr zwei Drittel). Wenn man von solchen Antworten wie „offiziell<br />

zwar Deutsch, tatsächlich Tschechisch“ oder „Englisch, aber verwendet<br />

wird Deutsch“ zunächst absieht, kann man folgende Verteilung der Sprachen<br />

feststellen: in den meisten Unternehmen mit einer offiziellen Firmensprache<br />

ist die Firmensprache Deutsch (55 %). Wenn man die Angaben, wo<br />

Deutsch als eine der zwei offiziellen Firmensprachen fungiert, dazurechnet,<br />

steigt die Zahl beträchtlich. Tschechisch als alleinige Firmensprache haben<br />

9 % der Befragten angegeben.<br />

15%<br />

5%<br />

55%<br />

Firmensprache<br />

16%<br />

9%<br />

Englisch<br />

Tschechisch<br />

Deutsch<br />

Englisch+Deutsch<br />

Tschechisch+Deutsch<br />

Im Vergleich mit einer älteren Studie, in der die Kommunikationssprache in<br />

solchen Unternehmen erfragt wurde (vgl. SCHMITZ/PHILIPP 1996), ist<br />

eine weitere Stärkung der Fremdsprachen, besonders des Englischen, sicht-<br />

321


322<br />

Marek Nekula, Kateřina Šichová<br />

bar. Trotzdem wird in dem Diagramm auf den ersten Blick deutlich, dass<br />

sich das Deutsche in der Tschechischen Republik in solchen Unternehmen<br />

sehr wohl vor dem Englischen behaupten kann, wofür es in Tschechien wie<br />

im übrigen Osteuropa immer noch relativ gute strukturelle Voraussetzungen<br />

gibt (vgl. NEKULA <strong>2004</strong>), da das Deutsche neben dem Englischen immer<br />

noch zu den meistunterrichteten Fremdsprachen gehört:<br />

160.000<br />

140.000<br />

120.000<br />

100.000<br />

80.000<br />

60.000<br />

40.000<br />

20.000<br />

0<br />

1991/92<br />

1992/93<br />

Fremdsprachen an tschechischen Gymnasien<br />

(nach statistischen Angaben des MŠMT)<br />

1993/94<br />

1994/95<br />

1995/96<br />

1996/97<br />

1997/98<br />

1998/99<br />

1999/00<br />

2000/01<br />

2001/02<br />

2002/2003<br />

Englisch<br />

Deutsch<br />

Französisch<br />

Russisch<br />

Spanisch<br />

Nach dem Bericht eines Meinungsforschungsinstituts, in dem die Fremdsprachenkenntnisse<br />

in der Tschechischen Republik ausgewertet wurden, lag<br />

Deutsch im Mai 2003 mit 40 % deutlich vor Russisch mit 29 % und Englisch<br />

mit 27 % (vgl. NEKULA <strong>2004</strong>).<br />

Latein<br />

Andere Angaben lassen jedoch eine leise Skepsis im Hinblick auf das Niveau<br />

dieser Kompetenz aufkommen:<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

Sprache als Faktor der wirtschaftlichen Integration<br />

Noch schlechter sieht es an den Grundschulen aus:<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

Fremdsprachenqualifikation der Lehrer an Gymnasien<br />

(nach Nekvapil 2003) in %<br />

1995/96 1996/97<br />

qualifiziert<br />

nicht qualifiziert<br />

Diagramm 7: Fremdsprachenqualifikation der Lehrer an den<br />

Grund- und Hauptschulen (nach Nekvapil 2003) in %<br />

1995/96 1996/97<br />

So besagt die Angabe einer offiziellen Firmensprache wohl nichts über die<br />

tatsächliche Kommunikationssprache. Die tatsächliche Sprachwirklichkeit<br />

in den Unternehmen sieht offensichtlich anders aus als die, die offiziell intendiert<br />

wird. Auch wenn wir die Unternehmen von Deutschland aus konsequent<br />

zweisprachig angeschrieben haben, wurden in der Regel die tschechischen<br />

Fragebögen zurückgeschickt:<br />

323<br />

qualifiziert<br />

nicht qualifiziert


324<br />

66%<br />

Marek Nekula, Kateřina Šichová<br />

Sprachversion<br />

der zurückgesandten Fragebögen<br />

5%<br />

29%<br />

deutsche Version<br />

tschechische Version<br />

beide Versionen<br />

Dieses Bild wird durch Angaben über den Umfang des Dolmetschens und<br />

Übersetzens in deutsch-tschechischen Unternehmen bestätigt. So ist festzustellen,<br />

dass in 18 % der Unternehmen fest angestellte Sprachvermittler arbeiten,<br />

wobei die Prozentzahl bei großen Unternehmen auf 40 % steigt. In<br />

43 % der Unternehmen, die Sprachvermittler fest anstellen, arbeitet mehr<br />

als eine Person als Dolmetscher, Übersetzer oder Sprachassistent. Beispielsweise<br />

wurden in einem Automobilwerk im Jahre 2003 laut der Dolmetscherabteilung<br />

etwa 80 ausländische Experten, 9 interne und bis zu 60<br />

externe Sprachvermittler beschäftigt.<br />

Fest angestellte Sprachvermittler<br />

(insgesamt)<br />

82%<br />

18%<br />

fest angestellt<br />

keine oder keine<br />

Angaben<br />

Ein Beweis dafür, dass man mit den deklarierten Firmensprachen Deutsch<br />

und Englisch nicht überall zurecht kommt, ist auch die Zahl der Unternehmen,<br />

die keinen eigens für die Übersetzung fest angestellten Sprachvermittler<br />

haben, sondern nach eigenen Angaben für den unternehmerischen All-<br />

Sprache als Faktor der wirtschaftlichen Integration<br />

tag, d.h. sowohl für die gesprochene als auch für die geschriebene Kommunikation<br />

regelmäßig externe Dolmetscher und Übersetzer benötigen. Insgesamt<br />

sind es 58 % (47 % der kleinen Unternehmen, 66 % der mittelgroßen<br />

Unternehmen und 70 % der großen Unternehmen).<br />

Externe Sprachvermittler<br />

42%<br />

58%<br />

externe Sprachvermittler<br />

keine oder keine Angaben<br />

Zusammengerechnet sind es 71 % der Unternehmen, die explizit angegeben<br />

haben, Sprachvermittler fest angestellt zu haben oder freiberuflich zu beschäftigen,<br />

bzw. für solche Personen finanzielle Ausgaben zu haben:<br />

29%<br />

Sprachvermittler JA X NEIN<br />

(insgesamt)<br />

71%<br />

JA, extern und/oder<br />

intern<br />

NEIN, keine (oder keine<br />

Angaben)<br />

Die Zahl der Unternehmen, welche die Tätigkeit der Sprachvermittler bestätigen,<br />

ist jedoch viel größer (80 %, bei großen Unternehmen sogar 95 %!).<br />

Einige Unternehmen, welche die Frage nach Inanspruchnahme von Sprach-<br />

325


326<br />

Marek Nekula, Kateřina Šichová<br />

vermittlern mit ‚nein‘ beantwortet haben, haben ihre Angaben in weiteren<br />

Antworten korrigiert, indem sie die Dienstleistungen der Sprachvermittler<br />

bei Übersetzungstätigkeiten beschrieben und somit indirekt angegeben haben.<br />

Unklar ist, ob man in solchen Unternehmen doch interne oder externe<br />

Sprachvermittler beschäftigt oder ob anderweitig beschäftigte Mitarbeiter<br />

für diese Tätigkeiten eingesetzt werden.<br />

20%<br />

Tatsächliche Inanspruchnahme der<br />

Sprachvermittler<br />

80%<br />

JA<br />

NEIN (oder keine<br />

Angaben)<br />

An dieser Stelle ist es interessant, sich die Unternehmen anzusehen, die keine<br />

Sprachvermittler brauchen bzw. die davon ausgehen, keine Sprachvermittler<br />

zu benötigen. So gibt ein Maschinenhersteller mit 8.300 Beschäftigten an,<br />

dass er in Tschechien 9 Mitarbeiter beschäftigt, wobei in Deutschland 4 Mitarbeiter<br />

für Tschechien zuständig sind. Eine ähnliche Konstellation findet<br />

man auch bei einer Bank mit 3.000 Beschäftigten, bei der in Deutschland 4<br />

Mitarbeiter für Tschechien zuständig sind und die in Tschechien 3 Mitarbeiter<br />

angestellt hat. Auf Grund weiterer Angaben ist dies ein klares Beispiel dafür,<br />

dass die tschechischen Mitarbeiter neben den Marketing- und anderen Aufgaben<br />

auch die Rolle der Sprachvermittler gegenüber der Zentrale übernehmen<br />

müssen, da die Mitarbeiter in Tschechien über keine Entscheidungsbefugnisse<br />

und die Mitarbeiter in der Zentrale über keine Tschechischkenntnisse<br />

verfügen. Ähnlich sieht es bei einem Unternehmen aus, welches Hopfen<br />

vertreibt und in Deutschland etwa 50, in Tschechien einen Mitarbeiter<br />

beschäftigt, oder bei anderen Unternehmen, zum Beispiel einem internationalen<br />

Speditionsunternehmen, einem Reifenhandelsunternehmen usw. Auch<br />

hier besteht ein Teil der Arbeitsaufgaben tschechischer Mitarbeiter in der<br />

Sprach- oder der auf der Landessprache basierenden Wissensvermittlung für<br />

die Entscheidungsträger. Dies trifft auf weitere Unternehmen zu, deren Inhaber<br />

oder Management über keine Tschechischkenntnisse verfügen und bei<br />

Entscheidungen sowie bei der Kommunikation mit Handelspartnern, Kunden<br />

und Behörden auf die Vermittlung der deutsch und englisch sprechen-<br />

Sprache als Faktor der wirtschaftlichen Integration<br />

den tschechischen Mitarbeiter angewiesen sind. Insgesamt handelt es sich<br />

um weitere ca. 7 % der Unternehmen, oft aus den Branchen Finanz- und<br />

Beratungsunternehmen und Handel, in denen die Sprach- und Wissensvermittlung<br />

zwar nicht als solche reflektiert wird, in denen jedoch auf Grund<br />

der Verteilung von Entscheidungskompetenzen eine solche Tätigkeit im<br />

Arbeitsalltag von tschechischen Mitarbeitern regelmäßig durchgeführt werden<br />

muss, damit die deutschsprachige Leitung Entscheidungen treffen kann.<br />

Das Verhältnis sieht dann folgendermaßen aus:<br />

13%<br />

Sprachvermittlertätigkeit<br />

87%<br />

JA<br />

KEINE (oder keine<br />

Angaben)<br />

Die Umfrage hat ergeben, dass in den meisten Unternehmen, nämlich in 87<br />

%, entweder professionelle Sprachvermittler oder in einer anderen Position<br />

beschäftigte Mitarbeiter als Sprachvermittler eingesetzt werden. Das ist 15<br />

Jahre nach der Wende und unmittelbar nach der EU-Osterweiterung ein<br />

eher bescheidenes Ergebnis.<br />

Das Ausmaß der Belastung, die durch Dolmetschen und Übersetzen entsteht,<br />

ist schon deswegen schwer zu bestimmen, weil die Angaben in den<br />

Fragebögen auf der Selbsteinschätzung der Unternehmen beruhen, die sehr<br />

subjektiv sein kann. Einer der Befragten bemerkt zu der Frage, ob in seinem<br />

Unternehmen gedolmetscht wird, Folgendes: „Nein, meine Mitarbeiter übersetzen,<br />

wenn ich an Besprechungen teilnehme.“ In diesem Fall weiß man<br />

augenscheinlich, dass ein Teil der unmittelbaren Mitarbeiter des deutschen<br />

Leiters kein Deutsch bzw. Englisch beherrscht und dass in diesem Unternehmen<br />

gedolmetscht wird, und zwar auch innerhalb des Unternehmens,<br />

nicht nur bei Verhandlungen mit Behörden, Kunden und Zulieferern. Da der<br />

deutsche Manager ohne Tschechischkenntnisse arbeitet und eine Produktion<br />

mit 60 tschechischen Mitarbeitern leitet, ist davon auszugehen, dass man in<br />

diesem Unternehmen beim konsekutiven Dolmetschen wöchentlich mehrere<br />

327


328<br />

Marek Nekula, Kateřina Šichová<br />

Stunden verliert, die man an anderer Stelle einsetzen könnte. Dieser Fall ist<br />

trotz der zitierten Selbsteinschätzung eindeutig. Es ist sicher nicht falsch,<br />

wenn man davon ausgeht, dass die Situation anderer Unternehmen ähnlich<br />

gelagert ist.<br />

Dennoch kann die Belastung durch das Dolmetschen und Übersetzen in<br />

gewissem Maß quantifiziert werden. Hier beschränken wir uns auf die etwa<br />

80 % der Unternehmen, die dazu eindeutige Aussagen gemacht haben.<br />

Im Hinblick auf die qualitative Bestimmung des negativen Wertes des<br />

Sprachfaktors (der Sprachausbildung) ist die Verteilung der Dolmetscher-<br />

und Übersetzerdienste in der Unternehmenskommunikation von Interesse.<br />

47 % der Befragten (bei großen Unternehmen sind es 60 %), die dolmetschen<br />

und/oder übersetzen lassen müssen, tun dies innerhalb des Unternehmens.<br />

53%<br />

Übersetzen und/oder Dolmetschen INTERN<br />

47%<br />

ja<br />

nein (oder keine<br />

Angaben)<br />

Im Hinblick auf die quantitative Berechnung der anfallenden Kosten stellen<br />

wir fest, dass 54 % monatlich, 6 % wöchentlich und 36 % der Unternehmen<br />

täglich dolmetschen und/oder übersetzen lassen müssen.<br />

Sprache als Faktor der wirtschaftlichen Integration<br />

Übersetzen und/oder Dolmetschen<br />

INTERN<br />

54%<br />

4%<br />

6%<br />

36%<br />

täglich wöchentlich<br />

monatlich keine Angaben<br />

Sehen wir uns das interne tägliche Übersetzen/Dolmetschen an, stellen wir<br />

fest, dass in 44 % dieser Unternehmen bis zu 2 Stunden täglich und in ganzen<br />

56 % der Unternehmen mehr als 2 Stunden täglich Sprachvermittlertätigkeiten<br />

ausgeübt werden.<br />

Tägliches Übersetzen und/oder<br />

Dolmetschen INTERN<br />

56%<br />

44%<br />

bis zu 2 Std. täglich mehr als 2 Std. täglich<br />

Noch größer ist die Zahl der Unternehmen, die Dolmetscher- und/oder<br />

Übersetzungstätigkeiten nach außen richten: an Kunden, Behörden, Ge-<br />

329


330<br />

Marek Nekula, Kateřina Šichová<br />

schäftspartner und Lieferanten. Hier sind es 76 %. Die Frequenz des täglichen<br />

Dolmetschens/Übersetzens liegt aber in diesem Fall deutlich niedriger,<br />

d.h. täglich wird in 5 %, wöchentlich in 23 % der Unternehmen übersetzt.<br />

Übersetzen und/oder Dolmetschen<br />

NACH AUSSEN<br />

24%<br />

76%<br />

ja<br />

nein (oder<br />

keine<br />

Angaben)<br />

So zeigt sich, dass das Unternehmen in der Tat als Ganzheit von Interaktionen<br />

verstanden werden kann, die ihre Mitglieder v.a. in der internen Kommunikation<br />

ausführen. Die Angaben zum täglichen Dolmetschen und Übersetzen,<br />

wobei die Frage der Standardisierung und der symmetrischen oder<br />

asymmetrischen Adaptation der Mitarbeiter in der interkulturellen Kommunikation<br />

hier außer Acht gelassen wird, verdeutlichen dies noch einmal.<br />

Wenn man dann allein die Angaben zum täglichen Dolmetschen berechnet,<br />

kommt man bei ca. 2000 deutsch-tschechischen Unternehmen zum Ergebnis,<br />

dass in 576 Unternehmen täglich gedolmetscht wird. Rechnen wir pro<br />

Unternehmen nur einen Sprachvermittler und zwei Mitarbeiter, für die gedolmetscht<br />

werden muss, und nur eine Stunde pro Arbeitstag, die durch<br />

konsekutives Dolmetschen verloren geht, sind es je nach Länge der Arbeitswoche<br />

6 bis 7 Arbeitswochen pro deutschen und tschechischen Mitarbeiter<br />

und pro Dolmetscher im Jahr, die man an Zeit für eine Übersetzung<br />

des Dolmetschers aufbringt. Gehen wir von einem Gehalt von 30.000<br />

Kč/monatlich für den tschechischen Mitarbeiter, von 5.000 Euro/monatlich<br />

für den deutschen Mitarbeiter und von 40.000 Kč/monatlich für den Dolmetscher,<br />

ergibt dies ca. 400.000 Kč bzw. 13.500 Euro pro Unternehmen,<br />

die für dieses Warten pro Jahr ausgegeben werden. Bei 576 Unternehmen<br />

sind es ca. 232.000.000 Kč bzw. 8. Mio. Euro pro Jahr, seit der Wende ca.<br />

3,25 Mrd. Kč bzw. 110 Mio. Euro. Bei einer zusätzlichen Stunde pro Tag<br />

Sprache als Faktor der wirtschaftlichen Integration<br />

verdoppelt sich diese Summe. Im Fall der großen Unternehmen könnten die<br />

nach den oben angeführten Angaben berechneten Kosten allein im erwähnten<br />

Automobilwerk bei ca. 113 Mio. Kč bzw. 3,8 Mio. Euro pro Jahr bzw.<br />

bei ca. 1,6 Mrd. Kč bzw. 53 Mio. Euro seit der Wende liegen. Dabei sind<br />

gerade die großen Unternehmen, die oft mehrere Dolmetscher in der internen<br />

und externen Kommunikation beschäftigen, am stärksten unter denen<br />

vertreten, die von einem solchen Service täglich Gebrauch machen, so dass<br />

die Angaben für die Tschechische Republik kräftig nach oben korrigiert<br />

werden müssten:<br />

28%<br />

5%<br />

Größe der Tochter-Unternehmen<br />

8%<br />

59%<br />

groß<br />

mittel<br />

klein<br />

keine Angaben<br />

Zu 8 % haben wir es mit 160 großen Unternehmen zu tun. Eingangs wurde<br />

gesagt, dass 95 % der großen Unternehmen den Einsatz von Sprachvermittlern<br />

bestätigen, 60 % dieser Unternehmen setzen sie intern ein. Das wären<br />

96 Unternehmen. Gerade diese großen Unternehmen, die die Sprachvermittler<br />

für die interne Kommunikation benötigen, weil ihre Organisation und<br />

damit auch die Kommunikation sehr komplex ist, nehmen die Übersetzungs-<br />

und Dolmetscherdienstleistungen in der Regel täglich in Anspruch.<br />

Und auch wenn die Größe und Komplexität der Prozesse in diesen Unternehmen<br />

nicht unbedingt immer mit der des besagten Automobilwerkes vergleichbar<br />

ist, sind die Kosten, die sich hier abzeichnen (gegen 100 Mrd.<br />

Kronen bzw. 3,3 Mrd. Euro seit der Wende) atemberaubend. Diese Summe<br />

ist übrigens gar nicht so unrealistisch, wie es auf den ersten Blick erscheint,<br />

denn wir sind bisher jeweils von einer Stunde pro Tag ausgegangen, die<br />

durch konsekutives Dolmetschen verloren geht.<br />

Selbst diese teilweise Berechnung für Tschechien macht also deutlich, dass<br />

die gemischten Unternehmen allein durch die Sprachvermittlung finanziell<br />

beträchtlich belastet werden, denn wir haben nur die berechenbaren Kosten<br />

einbezogen: Verluste durch fehlende kommunikative Kontrolle bei geschäftlichen<br />

Verhandlungen nach außen, Verluste bei Desinterpretation<br />

331


332<br />

Marek Nekula, Kateřina Šichová<br />

durch Dolmetscher in der ‚Produktion‘, Verluste durch Demotivation usw.<br />

sind hier nicht eingeschlossen. Diese Belastung der Wirtschaft, die etwa<br />

durch niedrigere Lohnkosten oder durch Steueranreize selbstverständlich<br />

bei weitem ausgeglichen wird, wird noch deutlicher, wenn man diese Berechnung<br />

auf den gesamten ostmitteleuropäischen Raum projiziert. Die<br />

Auswertung für die ‚deutsch-tschechischen‘ Unternehmen macht damit die<br />

unmittelbare ökonomische Bedeutung des Kommunikationsmanagements in<br />

den Unternehmen und der bewussten und gezielten Fremdsprachenpolitik<br />

der mitteleuropäischen Staaten auch im Hinblick auf den Bedarf im Wirtschaftssektor<br />

sichtbar. Daher sollte zugunsten der Wirtschaft interveniert<br />

werden. Wenn man nur einen Teil des so errechneten negativen Wertes (d.h.<br />

der ständig anfallenden Kosten fürs Dolmetschen und Übersetzen) in die<br />

Sprachqualifizierung bereits während der Ausbildung positiv investieren<br />

würde, wäre schon viel getan. Ganz abgesehen von positiven Auswirkungen<br />

derselben auf den Außenhandel (vgl. VANDERMEEREN 1998), das Arbeitsklima<br />

und Arbeitsproduktivität usw.<br />

Wie bereits oben erwähnt, geht aus der Fragebogenbefragung hervor, dass<br />

beinahe 2/3 der gemischten Unternehmen allein Deutsch als Firmensprache<br />

vorsehen, während nur in 14 % der Unternehmen Tschechisch bzw. Tschechisch<br />

und Deutsch als Firmensprache zugelassen werden. Präferiert wird<br />

also eine asymmetrische Adaptation auf das Deutsche (die Standardisierungsvariante<br />

mit Englisch ist mit 15 % vertreten). Die Sprachpolitik des<br />

Unternehmens richtet sich somit – zumindest in großen Unternehmen –<br />

nach den Machtverhältnissen. Die Richtung des Investitions-, Technologie-,<br />

Wissenstransfers sowie die Dominierung der Chefetage bzw. des Managements<br />

durch ausländische Mitarbeiter bestimmt in der Regel auch die Firmensprache.<br />

So verbindet sich die Sprache mit der Statuskategorie und wird<br />

selbst zum Statusmerkmal. Die Wahl des Deutschen als Firmensprachen in<br />

den gemischten Unternehmen führt zudem zur sog. kommunikativen Dominanz<br />

(des Muttersprachlers) und Subdominanz (des Fremdsprachlers), was<br />

die Hierarchisierung in diesen Unternehmen verhärten und bis hin zur negativen<br />

sprachlich-ethnischen Stereotypisierung führen kann. Dies ist für ein<br />

positives Klima in den Unternehmen sowie für die Arbeitsproduktivität derselben<br />

nicht zuträglich, denn die Unternehmen sind, wie wir eingangs erwähnt<br />

haben, Organisationen, die als Ganzheit von Interaktionen verstanden<br />

werden können, die ihre Mitglieder v.a. in der internen, aber auch in der<br />

externen Kommunikation ausführen. Die Kommunikation, in denen sich<br />

diese Interaktionen konkret umsetzen, ist von ganz zentraler Bedeutung. Für<br />

die interkulturellen Unternehmen gilt dies doppelt.<br />

Sprache als Faktor der wirtschaftlichen Integration<br />

Auf der Basis der in der zweiten Phase unseres Projektes in den Unternehmen<br />

durchgeführten Interviews sollen Wege aufgezeigt werden, wie eine<br />

kommunikative Polarisierung in der interkulturellen Kommunikation wahrgenommen<br />

wird, ob und wie dabei die sprachlich-ethnische Komponente<br />

eine Rolle spielt, ob und wie diese mit anderen sozialen Kategorien kombiniert<br />

werden und ob und wie eine Hierarchisierung (Asymmetrie) entsteht<br />

und wie dieser entgegengewirkt werden kann. Die bereits durchgeführten<br />

und bisher nur teilweise ausgewerteten Interviews zeigen, dass die Neutralisierungsstrategien<br />

sehr vielfältig sind. In kleineren Unternehmen, in bestimmten<br />

Fällen auch in großen, wird die symmetrische Adaptation oder<br />

Standardisierung als Neutralisierungsstrategie eingesetzt, bei der zwar<br />

sprachlich-ethnische Kategorien in der interkulturellen Kommunikation<br />

durch die Sprache (phonetische, grammatische, pragmatische Besonderheiten)<br />

ebenfalls aktualisiert, nicht aber hierarchisiert werden (jeweils in der<br />

Fremdsprache). Die Symmetrie, die bei der asymmetrischen (mit Status<br />

kombinierten) Adaptation fehlt, kann durch paritätische Besetzung von<br />

Vorstand und Aufsichtsrat, durch Schaffung von deklariert symmetrischen<br />

Tandems oder durch Aufrechterhaltung der tschechischen Merkmale im<br />

Logo nach innen und nach außen kommuniziert werden. Auch die Bevorzugung<br />

von kooperativen statt konfrontativen Tandems wurde appliziert, in<br />

denen die kommunikative Polarisierung und damit auch die ethnische Polarisierung<br />

und Stereotypisierung geschwächt werden konnte. Bewusst überwunden<br />

wird die Aktualisierung von ethnischen Kategorien und Stereotypen<br />

durch kollegiale Kategorisierungen usw. All diese Neutralisierungsstrategien<br />

können beim integrierten Kommunikationsmanagement bewusst zusammengefasst<br />

werden.<br />

In kleineren gemischten Unternehmen, wo man intensiver aufeinander angewiesen<br />

ist und wo die Aufteilung in die Domänen ‚Management‘ und<br />

‚Produktion‘ nicht so stark ausgeprägt ist, trägt übrigens die Unternehmenspolitik<br />

der tatsächlichen Sprachwirklichkeit Rechnung. Nicht allein die<br />

tschechischen Mitarbeiter sollen sich an das Deutsche anpassen, wünschenswert<br />

und nötig sind ebenso Tschechisch-Kenntnisse der deutschen<br />

Mitarbeiter, was sich dann auch in der personellen Arbeit kleinerer Unternehmen<br />

bemerkbar macht (vgl. NEKULA 2002).<br />

Die Wege und Methoden im Hinblick auf die Größe des Unternehmens und<br />

die Komplexität der Produktion sind also unterschiedlich, doch ist das Ziel<br />

identisch: die Unternehmenskommunikation zu optimieren, die Spannungen,<br />

die sich auf die interne Interaktion negativ auswirken können, zu minimalisieren,<br />

die direkten negativen Kosten zu senken. Ein bewusstes<br />

333


334<br />

Marek Nekula, Kateřina Šichová<br />

Kommunikationsmanagement in den Unternehmen sowie eine vorausschauende<br />

Sprachpolitik der mitteleuropäischen Staaten können hierzu einen<br />

wichtigen Beitrag leisten.<br />

Literatur<br />

HÖHNE, Steffen (1995): Vom kontrastiven Management zum interkulturellen.<br />

Ein Überblick über kontrastive und interkulturelle Management-<br />

Analysen. – In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 21, 75–106.<br />

HÖHNE, Steffen (1997): Von asymmetrischer zu kooperativer Kommunikation.<br />

Beobachtungen zu kulturbedingten Divergenzen bei Kommunikations-<br />

und Personalinstrumenten in deutsch-tschechischen Joint ventures. –<br />

In: S. Höhne, M. Nekula (Hgg.), Sprache, Wirtschaft, Kultur. Deutsche und<br />

Tschechen in Interaktion. München: Iudicium, 99–125.<br />

MAST, Claudia (2002): Unternehmenskommunikation. Stuttgart: Lucius &<br />

Lucius.<br />

MÖLLER, Joachim/BRANDMEIER, Michael (2002): Der Aufbau der<br />

Wirtschaftsbeziehungen zu Mittelosteuropa – Ergebnisse einer Befragung<br />

ostbayerischer Unternehmen. – In: J. Möller, M. Nekula (Hgg.), Wirtschaft<br />

und Kommunikation. Beitrage zu den deutsch-tschechischen Wirtschaftsbeziehungen.<br />

München: Iudicium, 29–50.<br />

NEKULA; Marek (2002): Kommunikationsführung in deutschtschechischen<br />

Firmen. – In: J. Möller, M. Nekula (Hgg.), Wirtschaft und<br />

Kommunikation. Beiträge zu deutsch-tschechischen Wirtschaftsbeziehungen.<br />

München: Iudicium, 65–83.<br />

NEKULA, Marek (<strong>2004</strong>): Deutsch als Europasprache aus tschechischer<br />

Sicht. – In: Ch. Lohse (Hg.), Die deutsche Sprache in der Europäischen<br />

Union. Rolle und Chancen aus rechts- und sprachwissenschaftlicher Sicht.<br />

Baden-Baden: Nomos, 129–144.<br />

NEKVAPIL, Jiří (2000): On Non-Self-Evident Relationships between Language<br />

and Ethnicity: How Germans Do Not Speak German, and Czechs Do<br />

Not Speak Czech. – In: Multilingua 19, 37–53.<br />

NEKVAPIL, Jiří (2003): On the Role of the Languages of Adjacent States<br />

and the Languages of Ethnic Minorities in Multilingual Europe: the Case of<br />

the Czech Republic. – In: J. Besters-Dilger, R. die Cillia, H.–J. Krumm, R.<br />

Rindler Schjerve (eds.), Mehrsprachigkeit in der erweiterten Europäischen<br />

Union / Multilingualism in the enlarged European Union / Multilingualisme<br />

dans l’Union Européenne élargie. Klagenfurt: Drava, 76–94.<br />

Sprache als Faktor der wirtschaftlichen Integration<br />

SCHMITZ, Norbert/PHILIPP, Christine (1996): Interkulturelles Management.<br />

Die Zusammenarbeit von Tschechen und Deutschen: Ergebnisse einer<br />

Kienbaumstudie. Unveröffentlichtes Manuskript.<br />

Statistická ročenka ČR 2003. Praha: Český statistický úřad. (www.czso.cz)<br />

VOLLSTEDT, Marina (2002): Sprachenplanung in der internen Kommunikation<br />

internationaler Unternehmen. Studien zur Umstellung der Unternehmenssprache<br />

auf das Englische. Hildesheim: Olms.<br />

VANDERMEEREN, Sonja (1998): Fremdsprachen in europäischen Unternehmen.<br />

Untersuchungen zu Bestand und Bedarf im Geschäftsalltag mit<br />

Empfehlungen für Sprachenpolitik und Sprachunterricht. Waldsteinberg:<br />

Heidrun Popp.<br />

335


Hildegard BOKOVÁ (Hg.): Zur Erforschung des Frühneuhochdeutschen in<br />

Böhmen, Mähren und der Slowakei. Vorträge der internationalen Tagung<br />

veranstaltet vom Institut für Germanistik der Pädagogischen Fakultät der<br />

Südböhmischen Universität. České Budějovice 20.-22. September 2001.<br />

Wien (Edition Praesens) <strong>2004</strong>, 244 S.<br />

Im vorliegenden Tagungsband sind insgesamt vierzehn Beiträge veröffentlicht,<br />

die den bisherigen Stand der Erforschung des Frühneuhochdeutschen<br />

in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich, Tschechien und in der<br />

Slowakei skizzieren. Im Vordergrund der Untersuchungen standen hauptsächlich<br />

Texte aus den so genannten Randgebieten, d.h. Texte, die auf dem<br />

Gebiet Böhmens, Mährens, Schlesiens und der Slowakei entstanden sind.<br />

Die Textauswahl ist an diesem Sammelband besonders hervorzuheben,<br />

denn als Untersuchungsmaterialien standen den Forschern nicht nur Urkunden,<br />

Stadt- und Findbücher oder Stadt- und Privatkorrespondenz zur Verfügung,<br />

sondern auch medizinische Fachliteratur, Materialien aus dem Bereich<br />

der juristischen Literatur oder Gesangbücher. In den Beiträgen wurden<br />

diese Textsorten und Texttypen unter dem Aspekt der historischen Pragmalinguistik<br />

und der Textlinguistik analysiert. In einigen Aufsätzen wurden<br />

darüber hinaus auch neue Forschungsansätze auf dem Gebiet des Frühneuhochdeutschen<br />

angedeutet und vorgeschlagen.<br />

Einen interessanten Ansatz zur Erforschung der Kanzleisprachen bietet Peter<br />

Ernst, 1 der sich mit der Frage nach der kommunikativen Funktion historischer<br />

Sprachen befasst. Er definiert Ziele und Aufgaben der historischen<br />

Pragmalinguistik und bietet mehrere Untersuchungsmöglichkeiten an, anhand<br />

derer man sich unter diesem Aspekt mit einem historischen Text beschäftigen<br />

kann. Am Beispiel der historischen Texte aus dem Bereich der<br />

Kanzleisprachen versuchte er die Frage „Wer kommuniziert mit wem worüber<br />

zu welchem Zweck?“ zu beantworten und nachzuweisen, in welchem<br />

Verhältnis das Gesprochene und das Geschriebene zueinander stehen. Als<br />

Quelle für seine Untersuchung dienten 20 Urkunden aus Südböhmen aus<br />

den Jahren 1333 bis 1412. 2 Dabei stellte Ernst fest, dass man bei der Frage<br />

nach der kommunikativen Funktion der Urkunden zwischen dem ‚Inhalt‘<br />

1 Ernst, Peter: Kanzleisprachen als Quellen der Historischen Pragmalinguistik,<br />

9–19.<br />

2 Es handelt sich um Texte, mit denen sich Hildegard Boková beschäftigt und<br />

im Anhang ihrer Arbeit im vollen Wortlaut präsentiert hat. Dazu: Boková,<br />

Hildegard (1998): Der Schreibstand der deutschsprachigen Urkunden und<br />

Stadtbucheintragungen Südböhmens aus vorhussitischer Zeit (1300–1419).<br />

Frankfurt/Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien.


338<br />

Neue Literatur<br />

und der ‚kommunikativen Aufgabe‘ unterscheiden muss. Diesbezüglich<br />

betont er den perlokutionären Charakter des kommunikativen Vorgangs.<br />

Anhand seiner Untersuchungen verdeutlicht er, dass die mündliche und die<br />

schriftliche Sprache einander ergänzen.<br />

In den Bereich der historischen Pragmatik fällt auch der Beitrag von Mario<br />

Hrašna, 3 der sich mit einigen Aspekten von J. L. Austins Sprechakttheorie<br />

auseinander setzt. In seiner Studie vergleicht er von diesem theoretischen<br />

Ansatz ausgehend zwei Textsorten, und zwar das stark konventionalisierte<br />

und institutionalisierte Urkundenformular und den wesentlich vereinfachten<br />

und daher an Sprechakttypen ärmeren Privatbrief. Als Ausgangsquelle für<br />

die Untersuchung standen dem Autor fünfzehn Briefe von Jan Jiskra von<br />

Brandýs aus dem Zeitraum 1442–1457 zur Verfügung. Auf Basis der Textanalyse<br />

beschreibt er, welche Formularteile im Brief beibehalten wurden,<br />

welche verschwunden sind und wie diese Entwicklung verlief. Weiter interessiert<br />

er sich dafür, welche grammatischen, lexikalischen und syntaktischen<br />

Mittel verwendet wurden. Der Aufsatz ist ein Hinweis darauf, dass<br />

die Sprechakttheorie für die diachrone Sprachwissenschaft neue Anregungen<br />

bringen kann.<br />

Eine komparative Studie bietet auch Arne Ziegler. 4 Seine Untersuchungen<br />

legen ihren Fokus auf den Durchsetzungsprozess der deutschen Sprache in<br />

der städtischen Kommunikationspraxis. Im Vordergrund steht für ihn dabei<br />

die Frage, wann dieser Prozess einsetzte und zu welchem Zeitpunkt die Ablösung<br />

von der in der Regel lateinischen Sprache erfolgte. Als Quelle standen<br />

ihm Briefe und Urkunden der städtischen Überlieferung aus den Jahren<br />

1245–1500 zur Verfügung, die im ersten Findbuch des Stadtarchivs Bratislava<br />

verzeichnet wurden. Im Rahmen seiner Analyse vergleicht er die Zunahme<br />

deutscher Texte und versucht den Zeitpunkt zu bestimmen, wann<br />

sich das Deutsche in den städtischen Urkunden, hier am Beispiel von Bratislava<br />

aufgezeigt, gegenüber dem Lateinischen durchsetzt. Ziegler geht dabei<br />

von der quantitativ-linguistischen Methode aus. Seine Thesen zum Ablösungsprozess<br />

dokumentiert er mit zahlreichen Abbildungen und Graphiken.<br />

Die beiden darauffolgenden Beiträge haben einen eher informativen Charakter.<br />

Sie bieten einen Überblick über den Forschungsstand und die Perspektiven<br />

der Erforschung des Frühneuhochdeutschen in Tschechien und in<br />

3 Hrašna, Mario: Sprechakte und Formular, 21–32.<br />

4 Ziegler, Arne: Sprachliche Ablösungsprozesse im historischen Sprachkontakt.<br />

Lateinische und deutsche Schriftlichkeit in städtischer Kommunikation im<br />

Spätmittelalter, 33–54.<br />

Neue Literatur<br />

der Slowakei. Hildegard Boková 5 stellt eine Übersicht überlieferter deutscher<br />

Texte auf dem Gebiet Südböhmens zusammen, die bereits in der historischen<br />

Sprachwissenschaft bearbeitet wurden. Es handelt sich um Texte<br />

geistlichen Inhalts, literarische Texte weltlichen Inhalts, fachsprachliche<br />

und kanzleisprachliche Texte. Im Weiteren informiert sie über methodologische<br />

Ansätze und Forschungsinteressen in der älteren und neueren Historiolinguistik<br />

im Bezug auf südböhmische Texte. Von Bedeutung ist dieser<br />

Beitrag auch deshalb, weil dort weitere Perspektiven der frühneuhochdeutschen<br />

Forschung mit Ausblick auf die dortigen bis jetzt noch nicht erschlossenen<br />

Archivmaterialien verdeutlicht werden.<br />

Jörg Meier 6 schildert in seinem Aufsatz Möglichkeiten und Perspektiven<br />

der Erforschung bisher unbekannter frühneuhochdeutscher Texte auf dem<br />

Gebiet der Slowakei. Einen wichtigen Punkt stellt die Präsentation des Bochumer<br />

Forschungprojekts dar, das – unter der Leitung von Klaus-Peter<br />

Wegera, Ilpo Tapani Piirainen und Jörg Meier sowie Juraj Spiritza auf slowakischer<br />

Seite – die Erfassung und Erschließung der deutschsprachigen<br />

Bestände in den Archiven der Slowakischen Republik zum Ziel hat. Von<br />

besonderem Wert ist auch der Anhang, in dem sich ausführliche Informationen<br />

über die Archive mit Adressen und Bestandangaben befinden.<br />

Eine interessante Quelle für die Erforschung des Frühneuhochdeutschen<br />

stellt zweifelsohne auch die medizinische Fachliteratur dar. Seit dem Mittelalter<br />

erschienen auf dem Gebiet Böhmens und Mährens einige bemerkenswerte<br />

Schriften, die bereits Gegenstand der Forschung geworden sind.<br />

Gundolf Keil 7 präsentiert eine medizinische Schrift Lanfranks von Mailand<br />

unter dem Titel Die Kleine Chirurgie, die von einem böhmischen Translator,<br />

wahrscheinlich einem Wundarzt, ins Deutsche übersetzt wurde. Da die<br />

Schrift in Böhmen lediglich in einer einzigen Abschrift erhalten ist, geht es<br />

in der Studie darum, die Stellung der Chirurgia-parva-Fassungen in der<br />

böhmischen Fachprosa sichtbar zu machen, sie in den Kontext der chirurgischen<br />

Literatur einzuordnen und mit der lateinischen Vorlage zu vergleichen.<br />

Von besonderem Interesse ist darüber hinaus die Qualität der Übersetzung.<br />

Das Ergebnis der Analyse weist nach, dass der Übersetzer<br />

Probleme mit der Darstellung des Inhaltlichen hatte und an einzelnen Fachtermini<br />

gescheitert ist. In dem Text treten auch viele Schreibfehler auf, so-<br />

5 Boková, Hildegard: Zur Erforschung frühneuhochdeutscher Texte aus Südböhmen,<br />

55–74.<br />

6 Meier, Jörg: Deutschsprachige Handschriften und Dokumente des Mittelalters<br />

und der Frühen Neuzeit in slowakischen Archiven. Bericht über ein interdisziplinäres<br />

Projekt, 75–87.<br />

7 Keil, Gundolf: Die ‚Kleine Chirurgie‘ Lanfranks von Mailand, 89–110.<br />

339


340<br />

Neue Literatur<br />

dass man voraussetzen kann, dass es sich hier nicht um die Urschrift, sondern<br />

um eine Abschrift handelt. Schwierigkeiten bereitete dem Übersetzer<br />

auch der „Schreibdialekt“.<br />

Einen weiteren Beitrag zum Thema medizinische Fachliteratur leistet auch<br />

Hilde-Marie Groß. 8 Sie befasst sich mit dem kriegschirurgischen Feldbuch<br />

Die Prager Wundarznei, eine Handschrift, die im 14. Jahrhundert im mährisch-schlesischen<br />

Raum entstanden ist und bis vor kurzem noch unbekannt<br />

war. Die Aufmerksamkeit wird zuerst der inhaltlichen Gliederung der<br />

damaligen Lehrbücher dieser Art gewidmet, unter denen das untersuchte<br />

Werk, was die Struktur betrifft, eine Ausnahme darstellt. Die Schrift wurde<br />

nicht wie üblich nach topographisch-anatomischen Kategorien geordnet,<br />

sondern nach Verletzungsarten strukturiert. Sehr wertvoll ist auch die begleitende<br />

Textanalyse, die sich vor allem auf Sprachgebrauch, Beschreibung<br />

und Funktion von Verben, Adjektiven, Adverbien und anderen Stilmitteln<br />

konzentriert. Die Untersuchung zeugt auch davon, wie fachlich und sprachlich<br />

gewandt der Verfasser dieses interessanten Werkes war.<br />

Sehr bereichernd ist der Beitrag von Lenka Vaňková, 9 die für ihre Forschung<br />

über die Syntax der historischen Fachsprachen ebenfalls die medizinische<br />

Fachliteratur nutzte. Als Quellen verwendet sie vier handschriftliche<br />

Texte des so genannten ‚Olmützer medizinischen Korpus‘, die aus dem 15.<br />

Jahrhundert stammen. Es handelt sich um ein Rezeptar, ein Kräuterbuch,<br />

ein Kompendium, ein wunderärztliches Traktat und eine iatromedizinische<br />

Abhandlung. Die Aufmerksamkeit lenkt die Autorin auf die Struktur des<br />

Satzes, wobei sie den Schwerpunkt auf die Gestaltung von Satzgefügen legt.<br />

Mit Hilfe der Satzanalyse wird untersucht, ob sich die Textsorten-Varianz<br />

der untersuchten Texte in ihrer Struktur widerspiegelt oder ob den Fachtexten<br />

aus dem medizinischen Bereich im Wesentlichen einheitliche syntaktische<br />

Strukturen zugrunde liegen. In Bezug auf die Analyse sollen dann die<br />

vorkommenden Unterschiede und Übereinstimmungen erschlossen werden.<br />

Dabei werden auch der Autor und der Adressat berücksichtigt.<br />

Ilpo Tapani Piirainen 10 weist in seinem Beitrag auf eine interessante, in der<br />

deutschen Historiographie bislang nicht erwähnte Quelle hin. Es handelt<br />

sich um eine Handschrift des 15. Jahrhunderts, die in Georgenberg (Spišská<br />

8 Groß, Hilde-Marie: Die ‚Prager Wundarznei‘ – Ein Feldbuch der Kriegschirurgie<br />

als Beispiel frühneuhochdeutschen medizinisch-naturwissenschaftlichen<br />

Schrifttums im mährisch-schlesischen Raum, 111–126.<br />

9 Vaňková, Lenka: Zur Syntax der frühneuhochdeutschen medizinischen Fachprosa<br />

anhand des Olmützer Quellenkorpus, 127–142.<br />

10 Piirainen, Ilpo Tapani: Die Zipser Chronik aus dem 15. Jahrhundert. Ein Beitrag<br />

zum Frühneuhochdeutschen in der Slowakei, 143–170.<br />

Neue Literatur<br />

Sobota) entstanden ist. In der Studie widmet sich der Autor den wichtigsten<br />

Aspekten der Chronikliteratur und ihrer Erforschung. Um den zeitgenössischen<br />

Bezug zum Inhalt des Chroniktextes zu ermöglichen, liefert er einen<br />

kurzen Einblick in die Geschichte Ungarns. Den wichtigsten und wertvollsten<br />

Teil stellt eine kritische und buchstabentreue Edition des Textes dar.<br />

Zu den fachsprachlichen Materialien, die neue Perspektiven für die Erforschung<br />

des Frühneuhochdeutschen anbieten, gehören auch Strafgerichtsordnungen<br />

und Rechtsbücher. Diese Quellen wurden insbesondere unter<br />

dem lexikalischen Aspekt untersucht, so wie es in ihrem Beitrag Libuše<br />

Spáčilová 11 ausführlich darstellt. Sie leitet ihre Studie mit einer allgemeinen<br />

Charakteristik der Rechtssituation in Olmütz im Mittelalter und in der frühen<br />

Neuzeit ein. Gegenstand ihrer Untersuchungen war die Gerichtsordnung<br />

von Heinrich Polan aus dem Jahre 1550. Da es sich um Fachliteratur<br />

handelt, wird die Aufmerksamkeit auch der allgemeinen Charakteristik der<br />

deutschen Rechtssprache gewidmet. Das Interesse der Autorin richtet sich<br />

auf das Vokabular der Gerichtsordnung und dessen Spezifika. Im Rahmen<br />

der Analyse konzentriert sie sich vor allem auf die Verwendung von Paarformeln,<br />

mehrgliedrigen Wortketten, Attributen und Synonymen. Im Text<br />

werden deutsche Rechtstermini, deutsche Formeln mit deutschen Komponenten<br />

(synonymen und nicht synonymen), lateinische Rechtsbegriffe, Personenbezeichnungen,<br />

lateinische Rechtstermini für Rechtsverhandlungen<br />

und Formeln mit lateinischen Komponenten untersucht. Um die Vielfältigkeit<br />

des Vokabulars der Olmützer Gerichtsordnung zu zeigen, bietet die<br />

Autorin zum Schluss ihrer Studie einen Vergleich mit dem Rechtswortschatz<br />

der ‚Peinlichen Gerichtsordnung‘ Kaiser Karls V. (Carolina) aus dem<br />

Jahre 1532. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Olmützer Gerichtsordnung<br />

wesentlich reicher an lateinischen Rechtstermini war. Den Grund dafür<br />

sieht sie hauptsächlich in der Person des Verfassers und dessen Ausbildung.<br />

Eine komparative Studie auf dem Gebiet der historischen Rechtsfachsprache<br />

bietet Mária Papsonová. 12 Für die Untersuchung steht ihr die in Sillein<br />

(Žilina) niedergeschriebene Rechtskompilation aus dem Jahre 1378 zur Verfügung,<br />

die auf den landrechtlichen Teil des Sachsenspiegels zurückgreift.<br />

Als Wortschatzbeispiel wählte die Autorin folgende Begriffe: das Heergewäte,<br />

die Gerade, die Morgengabe und zuletzt Gedinge (Leibgedinge, Leib-<br />

11 Spáčilová, Libuše: Zum Vokabular der Olmützer Gerichtsordnung aus dem<br />

Jahre 1550, 171–192.<br />

12 Papsonová, Maria: Iclich weyb erbet czweier wegene – Wörter aus dem Bereich<br />

des Erbrechts, ihre Verwendung und Übersetzung im Silleiner Rechtsbuch,<br />

193–204.<br />

341


342<br />

Neue Literatur<br />

zucht). Es handelt sich um Rechtswörter, die zur Bezeichnung der Erbfolge<br />

in Sondervermögen dienten. Die Bedeutung dieser Ausdrücke wird weiter<br />

eingehend erläutert. Sehr interessant ist vor allem der Vergleich mit der<br />

1473 angefertigten Übersetzung des landrechtlichen Teiles der obengenannten<br />

deutschen Vorlage ins Tschechische. Die Untersuchungen weisen nach,<br />

dass die Übersetzer auf große Schwierigkeiten gestoßen sind, die sich aus<br />

der Inkongruenz der Ausgangs- und Zielsprache ergeben haben, und dass<br />

sie mit fremden Rechtszuständen konfrontiert wurden, die dem einheimischen<br />

Recht nicht entsprachen, weshalb auch die notwendigen lexikalischen<br />

Äquivalente fehlten. Darum wurden für einen Begriff oft mehrere Übersetzungen<br />

verwendet wie z.B. für das Wort Morgengabe die Ausdrücke wieno,<br />

Pl. wiena, von frawenmorgen gob, o zenach a o gegich wienach.<br />

Mit der Sprache der Rechtsquellen befasst sich auch Ľudmila Kretterová. 13<br />

Den Gegenstand ihrer Untersuchungen stellt eine Handschrift aus der zweiten<br />

Hälfte des 16. Jahrhunderts dar. Es handelt sich um ein Gerichtsprotokoll.<br />

Die Autorin konzentriert sich bei der Analyse der Sprache auf die mhd.<br />

kurzen Vokale, mhd. langen Vokale und mhd. Konsonanten und deren<br />

Schreibvarianten. Die Untersuchungen im Bereich des Vokalismus und Konsonantismus<br />

sollen weiterhin nachweisen, welchem Dialekt der Text zuzuordnen<br />

ist. Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass in dieser Handschrift<br />

die Einflüsse des Ostoberdeutschen überwiegen.<br />

Mit zwei anderen und für die Erforschung des Frühneuhochdeutschen nicht<br />

desto weniger interessanten und Erkenntnis bringenden Quellen beschäftigen<br />

sich die letzten beiden Beiträge. Jana Kusová 14 macht in ihrer Studie auf die<br />

Textsorte ‚Säulenbuch‘ aufmerksam, indem sie das architekturtheoretische<br />

Traktat von Gabriel Krammer einer Textanalyse unterzieht. Die Autorin konzentriert<br />

sich auf stereotype Textkomponenten des vorliegenden Geometrie-<br />

und Architekturtraktates, auf die Terminologie, die als Grundlage der Fachsprache<br />

diente, und analysiert die unter dem fachsprachlichen Einfluss in<br />

dem Text auftretenden Paarformeln. Im Rahmen dieser Untersuchung wird<br />

das Interesse darauf gelegt, ob eine Wortverbindung als Paarformel bezeichnet<br />

werden kann oder ob es sich um die Beschreibung eines Sachverhalts<br />

oder Gegenstands handelt. Im Mittelpunkt der Analyse steht die Benutzungsfrequenz<br />

der Paarformeln, ihre sprachliche Zusammensetzung und<br />

13 Kretterová, Ľudmila: Zur Sprache der Gerichtsprotokolls gegen die Kindesmörderin<br />

Dorothea Gilg in Diln/Banská Belá aus dem Jahre 1561, 205–212.<br />

14 Kusová, Jana: Zur Textsorte „Säulenbuch“. Gabriel Krammer „Architectvra.<br />

Von den Fvnf Seülen Sambt Iren Ornamenten Vnd Zierden“, Prag 1600, 213–<br />

227.<br />

Neue Literatur<br />

die Zugehörigkeit zum terminologischen System der Architektur und Geometrie.<br />

Albrecht Greule 15 widmet sich der Problematik der Erforschung der Textsorte<br />

‚Kirchenlied und Gesangbuch‘, die bis jetzt in der historischen Sprachwissenschaft<br />

nur peripher behandelt wurde. Aus diesem Grund setzt er sich<br />

zunächst mit den Fragestellungen der Forschungen zum Frühneuhochdeutschen<br />

auseinander, wobei er die Untersuchung der Kirchenlieder als<br />

eine perspektivenreiche Quelle hervorhebt. Greule weist auf die methodischen<br />

Probleme der sprachwissenschaftlichen Kirchenliedforschung und<br />

stellt mögliche Vorgehensweisen bei der Analyse eines geistlichen Liedes<br />

dar. Seine Entwürfe verdeutlicht er anhand einer exemplarischen Analyse<br />

und eines Sprachvergleichs.<br />

Der vorliegende Tagungsband zeugt davon, dass die Untersuchungen der<br />

älteren deutschen Texte auf dem Gebiet Tschechiens und der Slowakei von<br />

großer Bedeutung sein können. Denn auch sie können einen wichtigen Beitrag<br />

zur Erforschung des Frühneuhochdeutschen leisten und deren Ergebnisse<br />

ergänzen, bestätigen und erweitern. Es ist zu begrüßen, dass hier nicht<br />

nur neue Quellen und Materialien, sondern auch interessante methodologische<br />

Ansätze vorgestellt wurden.<br />

343<br />

Miroslava Durajová<br />

Ernst EICHLER (Hg.): Selecta Bohemico-Germanica. Tschechisch-deutsche<br />

Beziehungen im Bereich der Sprache und Kultur. Münster, Hamburg, London<br />

(Lit Verlag) 2003, 228 Seiten.<br />

Der rezensierte Sammelband erschien als der sechste Band der von Ernst<br />

Eichler, Hubert Rösel und Herbert Zeman herausgegebenen Reihe „Erträge<br />

Böhmisch-Mährischer Forschungen“, die Hubert Rösels Monographien Die<br />

deutsche Slavistik und ihre Geschichte an der Universität Prag (1995) und<br />

Die Familiennamen von Rettendorf (1995), Ernst Eichlers und Gerhard<br />

Schröters Sammelband Deutsch-tschechischer Wissenschaftsdialog im Lichte<br />

der Korrespondenz zwischen Wilhelm Streitberg und Josef Zubatý 1891–<br />

1915 (1999), Andrea Hohlmeyers Darstellung der deutschsprachigen Dichtung<br />

in den böhmischen Ländern der Jahre 1895 bis 1945 ,Böhmischen Volkes<br />

Weisen‘ (2002) und Franz Kaipers 1935 entstandene und von Eichler<br />

15 Greule, Albrecht: Gesangbücher als Quelle des Frühneuhochdeutschen in<br />

Böhmen, 229– 242.


344<br />

Neue Literatur<br />

nun herausgebene Promotion Die tschechischen Ortsnamen des Kreises<br />

Königinhof a.d. Elbe (2001) einschließt.<br />

Nicht nur erscheint der Sammelband im Kontext einer interessanten Reihe,<br />

mit dem Untertitel seines Bandes spielt der Herausgeber auch auf die von<br />

Bohuslav Havránek und Rudolph Fischer herausgegebenen Klassiker der<br />

deutsch-tschechischen Sprachkontaktforschung an, in denen im Übrigen<br />

Eichlers Arbeiten nicht fehlten. Damit stellt sich die Frage, inwieweit sich<br />

der rezensierte Sammelband in der Bedeutung mit den wirkungsvollen<br />

Sammelbänden der 60er Jahre messen kann. Auch wenn Eichler durch den<br />

Haupttitel seines Bandes durchaus Bescheidenheit anmeldet und Erwartungen<br />

bremst, ist festzustellen, dass sein Sammelband – im sprachwissenschaftlichen<br />

Teil etwa durch die Beiträge Tilman Bergers und Stanislava<br />

Kloferovás – für die deutsch-tschechische Sprachkontaktforschung eine<br />

wegweisende Rolle haben dürfte.<br />

Wie bereits angedeutet, gliedert sich der Sammelband in zwei Abschnitte,<br />

den sprach- und den literaturwissenschaftlichen bzw. kulturgeschichtlichen.<br />

Der sprachwissenschaftliche Teil wird durch Tilman Bergers Beitrag Gibt<br />

es Alternativen zur herkömmlichen Beschreibung der tschechischen Lautgeschichte?<br />

(9–37) eröffnet, in dem sich der Autor – unter Hinweis auf die<br />

Klassiker der deutsch-tschechischen Sprachkontaktforschung (Gebauer,<br />

Trávníček, Komárek, Lamprecht, Trost, Skála, Povejšil u.a.), seine früheren<br />

Arbeiten und die Arbeiten von Jakobson und v.a. von Thomason und<br />

Kaufman – zunächst allgemein mit der Fragen der internen und externen<br />

Faktoren des Sprach-, insbesondere Lautwandels auseinandersetzt. V.a. die<br />

allgemeinen Überlegungen im Hinblick auf den Sprachwechsel der „Deutschen“<br />

vom Deutschen zum Tschechischen in der zweiten Hälfte des 14.<br />

und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, der auf der phonologischen<br />

Ebene etwa beim Verlust der Mouillierungskorrelation sowie bei anderen<br />

Sprachwandelerscheinungen eine Grundvoraussetzung für die Beeinflussung<br />

des Tschechischen durch das Deutsche darstellt, sind sehr anregend.<br />

Dies verdeutlicht Bergers Hinweis auf das Sorbische bzw. auf das Slowenische,<br />

wo ein vergleichbarer Sprachwechsel und damit auch eine vergleichbare<br />

Beeinflussung auf der phonologischen Ebene fehlen. Daran ändert<br />

nicht einmal die Tatsache etwas, dass die Phonologisierung von f und die<br />

anschließende Verschiebung des bilabialen w zum labiodentalen v und damit<br />

auch die Herausbildung des labiodentalen, durch Stimmhaftigkeit/Stimmlosigkeit<br />

differenzierten Paares f – v, welche auf den deutschtschechischen<br />

Bilingualismus der Tschechen und die lexikalischen Entlehnungen<br />

und nicht unbedingt auf den Sprachwechsel vom Deutschen zum<br />

Tschechischen zurückgehen, die generelle Geltung dieses phonologischen<br />

Lautwandelmodells in Frage stellt. Die Begründung für den deutsch-<br />

Neue Literatur<br />

tschechischen Bilingualismus im 10./11. Jahrhundert, dem der Sprachwechsel<br />

vom Deutschen zum Tschechischen und in diesem Zusammenhang auch<br />

die Depalatalisierung als erste Phase beim Verlust der Mouillierungskorrelation<br />

folgen sollte, durch den Hinweis auf Cosmas’ Böhmische Chronik scheint<br />

dagegen weniger überzeugend zu sein, da sich Cosmas’ Aussage zwar auf das<br />

10. Jahrhundert bezieht, in Wirklichkeit aber wohl vom zeitgenössischen<br />

Sprachverhalten im 12. Jahrhundert ausgeht. Außerdem ist Cosmas’ Zeugnis<br />

ein Beweis dafür, dass der deutsch-tschechische Bilingualismus zu diesem<br />

Zeitpunkt nur bei der adeligen Elite ausgeprägt war, was die Verbindung<br />

der Depalatalisierung mit dem Sprachwechsel vom Deutschen zum<br />

Tschechischen noch zusätzlich problematisiert, denn dieser dürfte vor diesem<br />

Hintergrund kaum eine durchgreifende soziale Erscheinung sein, die<br />

einen Lautwandel initiieren konnte. Ungeachtet dessen ist Bergers Beitrag<br />

eine wesentliche Bereicherung in der Untersuchung des deutschtschechischen<br />

Sprachkontakts auf der phonologischen Ebene, die der Forschung<br />

neue Perspektiven eröffnet.<br />

Auch der Beitrag Sprachatlanten im Kontakt – Tschechisch-Deutsch von<br />

Kloferová eröffnet neue Perspektiven in der deutsch-tschechischen Sprachkontaktforschung.<br />

Kloferová versucht allein auf der Grundlage der Sprachatlanten<br />

als sprachgeographische Projektion des mundartlichen Materials,<br />

ohne dass sie auf die sprachliche Realität im Detail eingeht, deutschtschechische<br />

Sprachkontakterscheinungen zu hinterfragen. Die beiden von<br />

ihr verwendeten Beispiele, d.h. „Art, wie die Kartoffeln/Rüben aufbewahrt<br />

werden“ und „Bezeichnungen für Scheune“, sprechen für die Plausibilität<br />

der verwendeten Methode. So gelingt es Kloferová vor dem Hintergrund<br />

der sprachgeographischen Darstellungen (in den an das tschechische<br />

Sprachgebiet angrenzenden deutschen Dialekten kommen andere Lexeme<br />

vor), das tschechische dialektale krecht (Gracht) als Terminus zu präsentieren,<br />

der um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der<br />

Landwirtschaft aus dem Deutschen künstlich entlehnt und eingeführt wurde.<br />

Die in den tschechischen Dialekten früher gängigen Bezeichnungen wurden<br />

dadurch verdrängt. Dagegen geht die Reihe Scheune – Stadel – Tenne in der<br />

Brünner und Wischauer Sprachinsel auf die ursprüngliche Polysemie des<br />

tschechischen mlat/humno zurück, die sich im Dialekt dieses Gebiets länger<br />

halten konnte und im Laufe der Zeit generell durch die Bezeichnung stodola<br />

(von stadall/Stadel) verdrängt wurde.<br />

In den Arbeiten von Marie Janečková Entlehnungen aus dem Deutschen und<br />

den österreichisch-bairischen Dialekten im Wortschatz der südböhmischen<br />

Dialektregion, die ihre Ausführungen zu lexikalischen, teilweise auch phraseologischen<br />

Entlehnungen in der südböhmischen Dialektregion in einen weiteren<br />

Kontext stellt, aber auch in den Arbeiten von Alena Jaklová Germanis-<br />

345


346<br />

Neue Literatur<br />

men als Flurnamen in Südböhmen (Namen von Grundstücken, Hydronyma,<br />

Oronyma) und „Germanismen in den südböhmischen Slangs“ (Flößerslang,<br />

Bierbrauerslang, Glasbläserslang, Fischerslang) stehen lexikalische Entlehnungen<br />

aus unterschiedlichen Wortschatzbereichen sowie ihre Variation und<br />

Adaptation im Vordergrund. Der Beitrag Tschechisch-deutsches Lehngut im<br />

historischen Argot und neueren Gefängnisslang in Böhmen von Jiřina van<br />

Leeuwen-Turnovcová befasst sich neben den quantitativen Aspekten der<br />

Lehnkontakte (sinkende Bedeutung der hebr.-jidd. Etyma und steigende Anzahl<br />

der Romani-Etyma) mit der Frage des Biligualismus und dessen Rolle<br />

für die Form der Entlehnung (verbreiteter deutsch-tschechischer Bilingualismus,<br />

fehlender romani-tschechischer Bilingualismus) und fasst das in ihren<br />

früheren Arbeiten gewonnene soziolektale Material jenseits des deutschen<br />

Rotwelsch sowie vor dem Hintergrund des deutschen Rotwelschs zusammen.<br />

Im Zusammenhang mit der Adaptation der Entlehnungen geht die Verfasserin<br />

nicht nur auf traditionelle Weise auf die Adaptation der Lautform und die Derivation<br />

ein, sondern bespricht gerade in diesem Kontext besonders relevante<br />

semantische Transformationen: Semantisierung und Resemantisierung.<br />

Im literaturwissenschaftlichen Teil befasst sich Hans Rothe in seinem Aufsatz<br />

Biblia Slavica – Die paulinische Lehre von der einen Sünde und den<br />

vielen Lastern – Lesekörner 4–7 mit (alttschechischer) Konzeptualisierung<br />

von Sünde und Ludger Udolph in seinem Beitrag Zur Funktion der Heiligenverehrung<br />

in Böhmen im 17. Jahrhundert mit der Instrumentalisierung<br />

von Landesheiligen, die als Beweis zur Zugehörigkeit des Landes zur wahren<br />

Kirche diene. Václav Boks Aufsatz ist mit Einige Beobachtungen zur<br />

lateinischen Legende über Agnes von Prag zu ihren mittelalterlichen deutschen<br />

und tschechischen Übertragungen betitelt, während Karlheinz Hengst<br />

in seinem Aufsatz Lehrwerke zum Tschechischen aus der Zeit des Humanismus<br />

in Sachsen das lateinisch-tschechisch-deutsche Vokabular (1514–<br />

42) und Lehrwerke von Klatovský (1567), der in den letzten brücken eingehender<br />

besprochen wurde, sowie von Gelenius (1544), Gessner (1555), Daniel<br />

Adam z Veleslavína (1579), Megiser (1603), Loderecker (1605) u.a.<br />

beschreibt. In seinem Beitrag Fritz Walter Nielsen als Nachdichter tschechischer<br />

Poesie oder: Anmerkungen zur appellativen Funktion der literarischen<br />

Übersetzung verfolgt Manfred Jähnichen die deutsch-tschechischen<br />

Kulturbeziehungen.<br />

Auch wenn offen bleibt, ob der rezensierte Band eine mit den Klassikern<br />

deutsch-tschechischer Sprachkontaktforschung vergleichbare Wirkungsgeschichte<br />

haben wird, lässt sich bereits sagen, dass er eine Reihe von wichtigen<br />

Ansätzen und Aufsätzen enthält, die dafür die besten Voraussetzungen liefern.<br />

Marek Nekula<br />

Neue Literatur<br />

Ingeborg FIALA-FÜRST, Jörg KRAPPMANN (Hgg.): Lexikon deutschmährischer<br />

Autoren. Olomouc: Univerzita Palackého v Olomouci 2002/2003 [Loseblattsammlung].<br />

(= Beiträge zur mährischen deutschsprachigen Literatur 5)<br />

Die tschechische Germanistik zeigt seit einiger Zeit ein verstärktes regionalhistorisches<br />

Interesse an den deutschsprachigen Autoren des Landes, die<br />

lange Zeit im Schatten der Prager deutschen Literatur standen. Gleich ob es<br />

sich um Arbeiten zur deutschsprachigen Literatur des Böhmerwaldes oder<br />

zum so genannten Grenzlandroman handelt, offenkundig stößt man, bedingt<br />

durch die Öffnung des Jahres 1989 und eine damit ermöglichte Wiederentdeckung<br />

und Neubewertung historischer Traditionen, auf ein vielfältiges,<br />

oft vergessenes und verdrängtes Erbe, welches aus der engen nationalliterarischen<br />

Perspektive ausgeschlossen blieb. Die Gründe hierfür sind nicht nur<br />

in einer kommunistisch geprägten Kulturpolitik zu sehen, kam es doch unmittelbar<br />

nach 1945 angesichts der in deutschem Namen begangenen<br />

Verbrechen zu einer massiven Verdrängung der ‚deutschen‘ kulturellen<br />

Wurzeln in ganz Mittel- und Osteuropa.<br />

Und wenn auch zu konzedieren ist, dass unter ästhetischen Kriterien ein<br />

großer Teil dieser regionalen Literatur zu recht in Vergessenheit geriet, so<br />

kann doch der kulturhistorische Nutzen einer lexikalischen Erfassung von<br />

Texten auch zweit- oder drittklassiger Autoren nicht ernsthaft bestritten<br />

werden, auch wenn das Fernziel, eine territoriale Kulturgeschichte Böhmens<br />

und Mährens, „die die geistigen Erzeugnisse aller auf diesem Gebiet lebenden<br />

Bevölkerungsgruppen mit einbezieht, ohne die historisch-politischen<br />

Rahmenbedingungen außer acht zu lassen“ (Vorwort 3), offenkundig weniger<br />

aus methodischen denn aus arbeitskapazitären Gründen zunächst nicht<br />

verfolgt wird. Allerdings stellt sich die Frage, weshalb überhaupt der Anspruch<br />

erhoben wird, Literatur eben nicht bzw. nicht in erster Linie auf der<br />

Basis der sprachnationalen Kategorisierung zu behandeln, wenn dann doch<br />

in letzter Konsequenz eine selbstgewählte Beschränkung des Lexikons auf<br />

das deutschmährische literarische Schaffen erfolgt. Territorialisierung als<br />

Ausweg aus den Beschränkungen der Nationalliteratur kann ja wohl erfolgreich<br />

nur aus einer übernationalen, die Sprachen übergreifenden Perspektive<br />

erfolgen.<br />

Dabei ist eine sprachnationale Eingrenzung durchaus zu legitimieren – insbesondere<br />

aus der Perspektive neuzeitlicher Literaturgeschichtsschreibung,<br />

schließlich ist seit dem 19. Jahrhundert die konstitutive Rolle gerade der<br />

Schriftsteller am Prozess der Nationalisierung unübersehbar, ein Prozess,<br />

der eben nicht nur ein rezeptives Phänomen darstellt, wie auf Seite 7 des<br />

Vorwortes suggeriert wird. Gerade die Autoren sind maßgeblich an der Entstehung<br />

der ‚Nation‘, verstanden als modernes soziales Konstrukt, beteiligt.<br />

347


348<br />

Neue Literatur<br />

Insofern sind Aussagen, nach denen der „böhmische Landespatriotismus“<br />

als die „vornehme Haltung der Intellektuellen“ um die Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

zu verstehen sei (Vorwort 1f.) missverständlich, wird hiermit doch<br />

eine fortgesetzte übernationale Orientierung gerade bei den Schichten assoziiert,<br />

die zu diesem Zeitpunkt in ihrer überwältigenden Mehrheit eine eindeutige<br />

nationale Identifikation besaßen. Einen fortdauernden Landespatriotismus<br />

findet man gerade in den intellektuellen Schichten bestenfalls<br />

vereinzelt, der öffentliche Diskurs ist um 1848/49 eindeutig national konnotiert.<br />

Dem Manko einer umfassenden Darstellung zur deutschmährischen Literatur<br />

begegnet nun das vorliegende Lexikon, als Loseblattsammlung konzipiert<br />

und somit offen für künftige Entdeckungen und Erweiterungen. Ein<br />

zunächst lobenswertes Unterfangen, wird doch eine wichtige Basis für künftige<br />

Arbeiten zur deutschmährischen Literatur geschaffen. Aus einer Datenbank<br />

mit 1216 Autoren und ca. 2000 „Verfassern wissenschaftlicher oder<br />

allgemein nichtfiktiver Abhandlungen“ (Vorwort 5) wurden für das Lexikon<br />

ca. 10 % ausgewählt (Vorwort 8). Man wird also zunächst gespannt sein,<br />

nach welchen Kriterien die Aufnahme in das Lexikon deutschmährischer<br />

Autoren erfolgt, da offenkundig enzyklopädische Vollständigkeit nicht intendiert<br />

ist, andererseits neben Literaten auch Wissenschaftler und Philosophen<br />

aufgenommen wurden. Ein zentrales Kriterium der Verfasser bildet<br />

die Genealogie, die Abstammung der jeweiligen Autoren. Allerdings wird<br />

dieses Kriterium offenkundig nicht stringent durchgehalten, müsste man<br />

sich doch sonst über die Erfassung von Autoren wie Karl Brand verwundern,<br />

der zwar 1895 in der Nähe von Mährisch Ostrau geboren wurde, aber<br />

schon 1896 mit der Familie nach Prag verzog. Ein anderes Beispiel stellt<br />

der 1909 in Iglau geborene Louis Fürnberg dar, der seit 1911 in Karlsbad<br />

lebte. Das „Mährische“ müsse sich im Werk widerspiegeln, so lautet eine<br />

weitere inhaltliche Bestimmung, deren nähere Spezifizierung die Verfasser<br />

allerdings vermeiden. Und so erscheint selbst die Klassifikation von Ludwig<br />

Winder und Ernst Weiß als deutschmährische Autoren wohl nicht unproblematisch,<br />

da offenkundig als Kriterien vor allem essentialistische Bestimmungen<br />

wie Geburt und Sprache herangezogen werden, man über das<br />

„Mährische“ im Werk selbst in den jeweiligen Artikeln leider nichts erfährt.<br />

Dabei könnten gerade die „lebens-, werk- und zeitgeschichtlichen Parallelerfahrungen<br />

und -entwicklungen“ bei Winder und Weiß einen Zugang zum<br />

postulierten ‚Mährischen‘ eröffnen (KROLOP 1992: 60).<br />

Bekanntlich hatte Otto Pick (1927: 12) als einer der ersten auf Gemeinsamkeiten<br />

der mährischen Dichter hingewiesen. Im Vergleich zu den böhmischen<br />

und Prager Autoren zeigen sich Eigenarten der mährischen im<br />

„schwermütigere[n] Unterton ihrer Schöpfungen“, in der „Neigung zum<br />

Neue Literatur<br />

Exakten, zur Sachlichkeit, zur prägnanten Objektivität“ und in einem „klare[n]<br />

Zurückschauen auf leidvolle Kindheitserlebnisse.“ Es wäre sicher<br />

spannend gewesen, diese Überlegungen aufzugreifen und im Hinblick auf<br />

die Gesamtkonzeption des Lexikons weiter zu verfolgen.<br />

Schlichtweg von Unkenntnis zeugen Behauptungen, wonach „sich die Germanistik<br />

in Deutschland keine Sorgen mit regionalen und nationalen Abgrenzungen<br />

macht und sich auf das Kriterium der einheitlichen Sprache<br />

zurückzieht“ (Vorwort 5). Im Rahmen der Renaissance der territorialen Literaturgeschichtsschreibung,<br />

gleich ob bayerischer, österreichischer oder<br />

rheinischer Couleur, wurden immer auch methodische Fragen erörtert.<br />

Und wieso es leichter sei, „das Werk Kafkas hermeneutisch zu interpretieren,<br />

als es im komplizierten böhmischen (d.h. deutsch-tschechisch-jüdischen Umfeld)<br />

zu begreifen“ (Vorwort 2) bleibt angesichts der Dichte und Tiefe des<br />

Kafkaschen Œvres, an dem sich schon viele Interpreten abgearbeitet haben,<br />

ein Geheimnis der Herausgeber.<br />

Schauen wir uns nun punktuell einzelne Artikel an. Als positives Beispiel<br />

sei der Ungar-Artikel von Dieter Sudhoff hervorgehoben, der gleichermaßen<br />

Aspekte der Biographie wie solche des Werkes kenntnisreich vermittelt<br />

und dem eine überzeugende Einordnung in die Zeit gelingt. 1 In diesem Artikel<br />

findet der Leser eine fundierte biographische Verankerung und literarhistorische<br />

Einordnung sowohl in den regionalen Kontext als auch den der<br />

Epoche, der Leser erhält eine genaue Einführung in das Werk Ungars.<br />

Bei anderen Artikeln sind dagegen leider nicht zu selten formale und inhaltliche<br />

Mängel zu konstatieren. Dies betrifft unerlässliche Aktualisierungen,<br />

in der Bibliographie zu Ernst Weiß fehlen beispielsweise die wichtige Studie<br />

von Margita Pazi (2001) sowie die im Aufbau Verlag erschienenen<br />

Textausgaben. Problematisch erscheint eine unkommentierte Aussage bei<br />

Ludwig Winder (3) zur Erfahrung des Dichters mit einem auf Mähren konzentrierten<br />

Antisemitismus, wird doch von Ausschreitungen auch in Prag<br />

immer wieder berichtet, sei es von Moritz Hartmann aus dem Jahre 1848,<br />

sei es von Max Brod aus der Zeit der Badeni-Unruhen 1897 oder von F.C.<br />

Weiskopf (1931) zu den so genannten ‚Prager Ereignissen‘ vom 16.-<br />

19.11.1920. Schon legendär sind bekanntlich Kafkas Worte an Milena in<br />

einem Brief aus diesen Tagen:<br />

1 Ludwig Winder: „Ungars Prag ist gespenstischer als Meyrinks gespenstische<br />

Stadt: gespenstisch in der Nüchternheit eines mörderischen Alltags, der die<br />

großen Wunder [?] und Verbrechen mit dem Schall gleichzeitig vorbeihastenden<br />

Stadtlärms verbirgt.“ (6) [zitiert nach: L.W. (Ludwig Winder): Erzähler.<br />

In: DEUTSCHE ZEITUNG BOHEMIA 96, Nr. 24 (31.1.1923), 2]<br />

349


350<br />

Neue Literatur<br />

Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß. ‚Prašivé plemeno‘<br />

habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören. (KAFKA 1998: 288)<br />

Manche Artikel sind sehr kurz geraten und gehen nicht über rudimentärstes<br />

Lexikonwissen hinaus, so die Artikel zu Thomas Brey, der nur 7 ½ Zeilen<br />

umfasst, zu Joseph Leonard Knoll, zu Fritz Koberg oder zu Paul Lamatsch<br />

von Warnemünde, bei denen lediglich lexikographische Daten geboten<br />

werden. Wenigstens eine Einschätzung der Werke, die über die bloße Nennung<br />

der Titel hinausgeht, sollte doch als Mindeststandard geboten werden.<br />

Handelt es sich bei den zuvor genannten um Persönlichkeiten, die nicht im<br />

Zentrum der geisteskulturellen Entwicklungen standen, so sollte der Eintrag<br />

zur Familie Lichnowsky die Bedeutung dieser für Mähren wie für die Österreichische<br />

Monarchie insgesamt wichtigen Familie pointiert hervorheben.<br />

Doch auch hier erhält der Leser eine weitgehend additive Aufzählung von<br />

z. T. oberflächlichen Fakten. So erfährt man lediglich von Karl Alois Lichnowskys<br />

Korrespondenz mit A. G. Forster, dass daraus die „hohe Anerkennung“<br />

(1) für Lichnowsky hervorgehe und Forster ihn [?] mit wichtigen<br />

Persönlichkeiten des damaligen Wien bekannt gemacht habe, eine kulturhistorische<br />

Einschätzung dieser Korrespondenz fehlt leider. Gleichermaßen<br />

wird zwar die Freundschaft mit Goethe vermerkt, Karl Alois Lichnowsky<br />

eröffnete Kontakte zum Wiener Hof, aber auch hier fehlt eine weitergehende<br />

geisteshistorische Einordnung dieses so bedeutenden Zeitgenossen (und<br />

Förderer Beethovens). In diesem Zusammenhang sei auch gleich eine kompetente<br />

inhaltliche und stilistisch-syntaktische Redigierung der Texte eingefordert:<br />

Nach der Ermordung des Fürsten Lichnowsky als eines rechtsorientierten Abgeordneten des<br />

Frankfurter Parlaments durch die aufständischen Truppen in Frankfurt 1848, wurde Weerth der<br />

Verleumdung [Felix] Lichnowskys angeklagt, seine Behauptung, daß er in seinem Werk keine<br />

konkrete Person gestaltet hat, wurde von der Justiz abgelehnt [Herv. S.H.]. (4) 2<br />

Formulierungen wie die im Artikel zu Louis Fürnberg, der „[...] mit dem<br />

Song ... [Herv. S.H.] Die Partei, die Partei, die hat immer recht .... [...] sein<br />

Gewissen zu beruhigen“ (4) suchte, erscheinen in einem Lexikon mit wissenschaftlichem<br />

Anspruch doch etwas fehl am Platz.<br />

2 Siehe Weerth, Georg: Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski.<br />

Ähnlich vage die Formulierung zu Felix Lichnowsky, dem Freund Franz<br />

Liszts: „Die Kontakte Felix Lichnowskys zu Franz Liszt verhalfen zum<br />

Durchbruch des romantischen Stils in der Troppauer und Teschener Region,<br />

der dann durch spätere Aufenthalte Cosima Wagners in Grätz bei Troppau<br />

neuen Anstoß bekam.“ (5) Der Erkenntnisgewinn solcher nicht weiter ausgeführter<br />

Thesen darf wohl als dürftig bezeichnet werden.<br />

Neue Literatur<br />

Unverständlich bleibt nur, wieso gerade Autoren, bei denen das sicher näher<br />

zu spezifizierende ‚Mährische‘ – die Thematisierung regionaler oder mentaler<br />

‚mährischer‘ Aspekte bzw. ein biographischer Bezug zur Region – außer<br />

Frage stehen dürfte, eher knapp abgehandelt werden, so Marie von Ebner-<br />

Eschenbach auf nur sechs Seiten, Jakob Julius David auf nur vier und Ferdinand<br />

von Saar auf gerade mal drei Seiten!<br />

Offenkundig hat man den Autoren der einzelnen Beiträge kein Style sheet<br />

zur Hand gegeben oder auf eine Schlussredaktion verzichtet, wie sonst sind<br />

die unterschiedlichsten Bibliographieregelungen zu erklären? Hier das Ergebnis<br />

einer Stichprobe: Im Artikel Sealsfield wird die Sekundärliteratur<br />

alphabetisch in der Reihenfolge Vorname (ausgeschrieben), Nachname angeordnet,<br />

bei Bratranek wird der Vorname abgekürzt. Bei Richard Schaukal<br />

finden wir dagegen eine chronologische Anordnung der Sekundärliteratur.<br />

Der Artikel zu Ferdinand von Saar verzichtet bei der Primärliteratur auf<br />

Erscheinungsort, Auflage und Verlagsangabe (bis auf Ausnahmen), die Sekundärliteratur<br />

wird in der Reihenfolge Nachname, Vorname angeordnet.<br />

Soll das als Handbuch konzipierte Lexikon deutschmährischer Autoren seiner<br />

Aufgabe gerecht werden, eine Basis für künftige wissenschaftliche Arbeiten<br />

zur deutschmährischen Literatur und Kultur zu bieten, dann müssen<br />

Kriterien wie Vollständigkeit, Genauigkeit und Vergleichbarkeit der bibliographischen<br />

Angaben als Mindeststandard berücksichtigt werden. Erst die<br />

Präzision derartiger Angaben bietet die Gewähr für das Hauptanliegen solcher<br />

Lexika: das der Reliabilität.<br />

Für eine Überarbeitung dieses ohne Zweifel wichtigen Nachschlagewerkes<br />

bleibt also einiges zu tun, was insbesondere die inhaltliche Konzeption des<br />

Vorwortes betreffen sollte. 3<br />

Literatur<br />

KAFKA, Franz (1998): Briefe an Milena. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt/Main:<br />

Fischer.<br />

KROLOP, Kurt (1992): Ernst Weiß und das ‚expressionistische Jahrzehnt‘<br />

in Prag. – In: Ernst Weiß – Seelenanalytiker und Erzähler von europäischem<br />

Rang. Beiträge zum Ersten Internationalen Ernst-Weiß-Symposium<br />

3 Von völliger Unkenntnis wissenschaftlicher Institutionen im engeren Fachkontext<br />

zeugt beispielsweise, wenn eine Zusammenarbeit mit den „unterschiedlichen<br />

Institutionen der Vertriebenen“ ausdrücklich nicht abgelehnt<br />

wird und man dies mit einem Hinweis auf die Mitgliedschaft des Leiters der<br />

Arbeitsstelle, Ludvík Václavek, im Collegium Carolinum meint begründen zu<br />

müssen!<br />

351


352<br />

Neue Literatur<br />

aus Anlaß des 50. Todestages - Hamburg 1990. Hg. v. P. Engel u. H.-H.<br />

Müller. Bern, Berlin u.a.: Lang, 52–66. (= Jahrbuch für Internationale Germanistik.<br />

Reihe A – Kongreßberichte 31)<br />

PAZI, Margita (2001): Franz Kafka und Ernst Weiß. – In: Dies., Staub und<br />

Sterne. Aufsätze zur deutsch-jüdischen Literatur. Hrsg. von S. Bauschinger,<br />

P. M. Lützeler. Göttingen: Wallstein Verlag.<br />

PICK, Otto (1927): Deutsche Dichter in Brünn und im mährischen Gebiet. –<br />

In: Prager Presse 7/333 (4.12.1927). Beilage: Brünn, die Hauptstadt von<br />

Mähren.<br />

WEISKOPF, Franz Carl (1931): Das Slawenlied. Berlin: Kiepenheuer.<br />

Steffen Höhne<br />

Gero FISCHER (Hg.): Z Čech do Vídně. Životní vzpomínky kováře Josefa<br />

Pšeničky. / Von Böhmen nach Wien. Lebenserinnerungen des tschechischen<br />

Schmiedes Josef Pšenička. Brno (Nakladatelství Doplněk) 2001, 174 Seiten.<br />

Dieses Buch enthält die Lebenserinnerungen des Schmieds Josef Pšenička,<br />

der 1854 im böhmischen Lečice geboren wurde und seit 1872 in Wien lebte,<br />

wo er 1941 starb. Sie reichen bis zum Jahre 1925, dem Todesjahr von Pšeničkas<br />

Frau.<br />

Pšenička verfasste seine Erinnerungen handschriftlich auf Wunsch seiner<br />

Tochter Anna, und zwar in tschechischer Sprache. Seine jüngere Tochter<br />

Hermine fertigte hierzu – ebenfalls handschriftlich – die deutsche Übersetzung<br />

an. Beide Handschriften wurden von Pšeničkas Enkelin zur Buchveröffentlichung<br />

freigegeben, welche von dem Slavisten Gero Fischer besorgt<br />

wurde.<br />

Die Ausgabe umfasst drei jeweils auf Deutsch und Tschechisch abgedruckte<br />

einführende Texte: eine Einleitung von Gero Fischer (6–11), einen Text<br />

über Tschechen in Wien von Jana Pospíšilová (12–16) und den Text Studienreisen<br />

zum Kennenlernen Österreichs und seiner Kultur von Miroslav<br />

Válka (16–19). Den Hauptteil bilden Pšeničkas tschechisch verfasste Erinnerungen<br />

(20–82) und deren deutsche Übersetzung (83–158). Eine Bildbeilage<br />

(158–174), u.a. auch mit Faksimiles von Auszügen der beiden Handschriften,<br />

runden den Band ab.<br />

Pšeničkas Text stellt ein sozialgeschichtlich bemerkenswertes Dokument<br />

dar, eine Biographie ‚von unten‘, die Biographie eines wandernden Handwerkers,<br />

der sich mühsam emporarbeiten musste. So verwundert es nicht,<br />

dass Pšenička gerade den Schilderungen finanzieller Schwierigkeiten viel<br />

Neue Literatur<br />

Raum widmet, nicht selten mit sehr konkreten Angaben. Es handelt sich<br />

eben um die Erinnerungen eines Menschen, der mit jedem Kreuzer rechnen<br />

musste. Des Weiteren bietet Pšenička Beschreibungen seiner Arbeits- und<br />

Wohnbedingungen sowie politischer und familiärer Umstände.<br />

Es bietet sich an, Pšeničkas Erinnerungen mit denen des deutsch-jüdischen<br />

Schriftstellers Fritz Mauthner (1849–1923) zu vergleichen (MAUTHNER<br />

1918), denn zumindest bei oberflächlicher Betrachtung zeigen sich einige<br />

Parallelen: Die Autoren gehören derselben Generation an, beide stammen<br />

aus Böhmen, beide sind von dort ausgewandert, Pšenička nach Wien,<br />

Mauthner (im Jahre 1876) nach Berlin. Doch trotz dieser Parallelen scheinen<br />

Pšeničkas und Mauthners Erinnerungen zwei verschiedenen Welten<br />

anzugehören. Mauthner, der Sohn eines wohlhabenden Industriellen, thematisiert<br />

seine finanzielle Situation überhaupt nicht und konzentriert sich statt<br />

dessen ganz auf seine persönliche, v.a. seine intellektuelle Entwicklung. Bei<br />

Pšenička hingegen erfahren wir nur recht wenig über seine Ausbildung.<br />

Mauthner verrät – wenn auch ironisch distanziert – einiges über seine frühen<br />

Liebschaften und andere persönliche Beziehungen. Pšenička äußert sich<br />

nur eher knapp und beiläufig über persönliche und familiäre Bindungen,<br />

allerdings mit einer Ausnahme: Die ausführlichen Darlegungen über den<br />

Tod seiner Frau (145–150) lassen erkennen, wie tief ihn dieser getroffen<br />

haben muss.<br />

Bezeichnend ist auch, dass Pšenička nur sehr knapp darauf eingeht, wann<br />

und wie er Deutsch gelernt hat (108–110, vgl. auch die Bemerkungen von<br />

Pospíšilová, 15f.), während der nachmalige Sprachphilosoph Mauthner intensiv<br />

über seine Tschechisch- und andere Sprachstudien referiert.<br />

Es lässt sich somit konstatieren, dass Pšeničkas Erinnerungen gerade in sozialgeschichtlicher<br />

Hinsicht sehr aufschlussreich sind. Sie sind aber noch<br />

aus einer anderen Sicht hochinteressant, und zwar aus sprachlichen Gründen.<br />

Im tschechischen Text Pšeničkas sind nämlich mehrere sprachliche<br />

Register in einer geradezu abenteuerlichen Weise kombiniert: Neben Dialektausdrücken<br />

und Elementen der Umgangssprache finden sich zahlreiche<br />

Germanismen, deren Verwendung zumindest teilweise gewiss damit zu erklären<br />

ist, dass Pšenička einen großen Teil seines Lebens in deutschsprachiger<br />

Umgebung zugebracht hat. Zudem ist der Text in einer sehr eigenwilligen<br />

Orthographie abgefasst. Die deutsche Übersetzung wiederum weist<br />

teilweise erhebliche Interferenzen aus dem Tschechischen auf. Inwieweit<br />

diese Interferenzen dem Umstand geschuldet sind, dass es sich hierbei eben<br />

um eine Übersetzung handelt und inwieweit Pšeničkas Tochter Hermine<br />

auch sonst in ihrem Deutsch tschechische Interferenzen verwendete, ist natürlich<br />

schwer zu entscheiden. Auf jeden Fall sind diese beiden Texte eine<br />

wahre Fundgrube für die Kontaktlinguistik.<br />

353


354<br />

Neue Literatur<br />

Die Spezifik dieser beiden Texte soll hier zumindest an einem Beispiel illustriert<br />

werden. Zunächst ein Auszug aus dem tschechischen Text:<br />

Ten měsic po žnech, než začnou posvíceni, tak jsou v Roudnici dva ročni velké trhy (Jahrmarkt)<br />

na tyto dni dostavala veškerá čeládka jejich slůžebné, též měly ten den frei, na tyto dva<br />

trhy šel každý si něco koupit a to žádný dříve neoblekl až na posvíceni.<br />

Hned v neděly ráno, když bylo krásné počasy, byly jíž na návsi postavený krámy s cukrovim a<br />

všelijaké hračky, kolo (Ringelspiel) komedianti zde zase byla bouda kde prý divotvorná panna<br />

z červenýmy oči a byle vlasy až nazem ta za 5 kr. každému prý uhádla co se mu stalo a co se<br />

mu ještě příště stane, flašinety hrály na všech stranach a žebráku jak by je byl někdo ze všech<br />

stran zbubnoval, hoste přijížděly na vozech ksedlákum a ktěm chudšim přišly pěšky, mezi to ta<br />

hudba od těch děti, jeden hrál na mundharmonyku, druhý na trumpetku a píštalu a mezi to se se<br />

všemy zvony zvonilo do kostela, tak větší radosti nemohlo být. (36)<br />

Die entsprechende deutsche Übersetzung lautet:<br />

Der Monat nach der Ernte wo die Kirtage beginnen sind in Raudnitz 2 große Jahrmärkte, da<br />

bekamen meistens die Dienstboten ihren Lohn, denn diesen Tag bekamen sie frei. Auf diesen 2<br />

Jahrmärkten ging ein jeder sich etwas zu kaufen und das hat keiner früher angezogen bis am<br />

Kirtag.<br />

Gleich Sonntag früh wenn es schönes Wetter gab, waren auf der Straße die Buden aufgestellt,<br />

mit Zuckerwaren und verschiedenen Bäckereien Spielereien, ein Ringelspiel, eine Komödiantenbude<br />

war auch darunter eine Frau mit roten Augen und weißen Haaren bis zur Erde reichend<br />

für 6 Kreuzer hat sie jedem erraten was früher war und was die Zukunft bringt. Werkel spielte<br />

an allen Enden und Bettler waren so viel als wie wenn sie von allen Seiten zusammengetrommelt<br />

worden wären. Gäste kamen per Wagen zu den Bauern und zu den ärmeren zu Fuß. Unter<br />

denen die Musik von den Kindern, der eine spielte auf der Mundharmonika der andere auf der<br />

Trompete oder Pfeiferl unterdem läuteten sie mit allen Glocken in die Kirche, so konnte es<br />

keine größere Freude geben. (103)<br />

Eine ausführliche linguistische Analyse dieser Passagen kann hier nicht gegeben<br />

werden, doch ist wohl unschwer zu erkennen, wie ergiebig diese ausfallen<br />

könnte.<br />

Die Beispiele zeigen auch, dass der Herausgeber die ursprüngliche Orthographie<br />

der Handschriften beibehalten hat, „um die Authentizität und Originalität<br />

zu wahren“ (9). Gerade auch aus kontaktlinguistischer Sicht ist diese<br />

Entscheidung zu begrüßen. Man kann sich allerdings auch vorstellen, wie<br />

mühsam die Anfertigung einer alle orthographischen Eigenheiten bewahrenden<br />

Buchvorlage gewesen sein muss. Dieses Vorhaben scheint nicht<br />

vollauf gelungen. Zumindest finden sich im deutschen Text diverse Fehler,<br />

die vermutlich reine Tippfehler darstellen und nicht im Manuskript vorkommen<br />

dürften, z.B. Reichspat statt „Reichsrat“ (129), Maht statt „Macht“<br />

(129), Bumen statt „Blumen“ (139), Soren statt „Sorgen“ (148) u.a. Sollte es<br />

eine weitere Auflage dieses Texts geben – was zu hoffen ist – so sollte dieser<br />

noch einmal Korrektur gelesen werden.<br />

Neue Literatur<br />

Die einführenden Texte sind recht unterschiedlichen Charakters. Am informativsten<br />

ist die Einleitung von Fischer; sie gibt über die Entstehungs- und<br />

Editionsgeschichte von Pšeničkas Erinnerungen sowie über deren sprachliche<br />

Besonderheiten Auskunft. Der Text von Pospíšilová ist ebenfalls durchaus<br />

interessant, v.a. die Ausführungen zu Studien über Tschechen in Wien.<br />

Allerdings beschränkt sich Pospíšilová hier auf die Nennung von Forscherpersönlichkeiten,<br />

ohne deren einschlägige Werke zu zitieren. Meines Erachtens<br />

wäre es sinnvoll gewesen, diesen Text um eine Bibliographie zu ergänzen;<br />

zumindest Standardwerke wie GLETTLER (1972) oder BROUSEK<br />

(1980) hätten aufgeführt werden sollen. Nicht ganz nachvollziehbar ist,<br />

warum der Text von Válka in das Buch aufgenommen wurde. Válka berichtet<br />

lediglich über Studienreisen von Pädagogen und Studenten der Brünner<br />

Masaryk-Universität nach Österreich; ein Zusammenhang zu Pšeničkas Erinnerungen<br />

ist nicht erkennbar.<br />

In jedem Falle ist aber die Herausgabe von Pšeničkas Erinnerungen sehr zu<br />

begrüßen. Insbesondere die deutsch-tschechische Sprachkontakt-Forschung<br />

– vgl. zu dieser POVEJŠIL (1997) – wird hiermit durch sehr interessantes<br />

Material bereichert. Gero Fischer ist daher zuzustimmen, wenn er diese Erinnerungen<br />

folgendermaßen charakterisiert:<br />

Das tschechische Original ist wie die deutsche Übersetzung ein Gradmesser für den Stand der<br />

sprachlichen Integration bzw. Assimilation der ersten bzw. der zweiten Generation. Beide<br />

Texte lassen sich als authentische Quellen für Assimilation und Sprachverlust analysieren. (11)<br />

Literatur<br />

BROUSEK, Karl M. (1980): Wien und seine Tschechen. München: Oldenbourg.<br />

GLETTLER, Monika (1972): Die Wiener Tschechen um 1900. (= Veröffentlichungen<br />

des Collegium Carolinum. Bd. 28.) München, Wien: Oldenbourg.<br />

MAUTHNER, Fritz (1918): Erinnerungen. I. Prager Jugendjahre. München:<br />

Georg Müller.<br />

POVEJŠIL, Jaromír (1997): Tschechisch-Deutsch. – In: H. Goebl, P. H. Nelde,<br />

Z. Starý, W. Wölck (Hgg.), Kontaktlinguistik. Ein internationales Handbuch<br />

zeitgenössischer Forschung. Bd. 2. Berlin, New York: de Gruyter, 1656–<br />

1662.<br />

355<br />

Karsten Rinas


356<br />

Neue Literatur<br />

Alena KÖLLNER: Buchwesen in Prag. Von Václav Matěj Kramerius bis Jan<br />

Otto (Buchforschung 1). Wien (Edition Praesens) 2000, 177 Seiten, 28 Abb.<br />

Ein Emigrantenschicksal war der erweiterteren Diplomarbeit der Wahlwienerin<br />

Alena Kadlecová-Köllner über das Buchwesen in Prag bisher beschieden:<br />

Während sie im deutschen Sprachraum einige Beachtung fand, 1<br />

blieb es in der Tschechischen Republik bei einer einzigen, kurzen Besprechung.<br />

2 Mangelndes Interesse ist noch keine Kritik; es zeugt lediglich von<br />

einer schwachen Forschungsdynamik. Das ist bedauerlich, denn eine kritische<br />

Auseinandersetzung – auch mit einem nicht allseitig gelungenen Buch<br />

– kann zu Diskussionen führen und anregend wirken.<br />

Alena Köllners Band über Prag eröffnet die Reihe „Buchforschung. Beiträge<br />

zum Buchwesen in Österreich“, die von Murray G. Hall und Peter R. Frank<br />

herausgegeben wird. 3 Dem Band kommt deshalb auch programmatische Bedeutung<br />

zu, lässt sich doch am Beispiel Prags auf exemplarische Weise die<br />

Entwicklung jenes mehrsprachigen Kulturlebens untersuchen, das die Habsburger<br />

Monarchie im „langen 19. Jahrhundert“ prägte. Hier wird sichtbar, wie<br />

die verschiedenen Sprachkulturen während des Prozesses ihrer Emanzipation<br />

gar keine andere Möglichkeit hatten, als sich Infrastrukturen (wie z. B. Buchwesen,<br />

Bildungswesen und die ökonomische Infrastruktur) zu teilen, die<br />

ebenfalls erst im Aufbau begriffen waren und einheitlich reguliert wurden.<br />

Diese Verstricktheit wurde von den nationalen Forschern im Nachhinein oft<br />

ignoriert, um möglichst schon dort eine „nationale Eigenständigkeit“ zu deklarieren,<br />

wo eine solche noch kaum angestrebt wurde oder erst im Entstehen<br />

war. Eine solche Wissenschaft im Dienste der nationalen Ideologie ist heute<br />

nicht mehr nötig; so kann man daran gehen, die langsame Ausdifferenzierung<br />

1 Besprechungen erschienen von Irmgard Heidler (auf HABSBURG , November 2001),<br />

Stephan Niedermeier (Bohemia 2002/1, 273f.) und Joachim Bahlcke (Zeitschrift<br />

für Siebenbürgische Landeskunde 25, 2002, H. 2, 276f.).<br />

2 Die Besprechung stammt von Jiří Pokorný. – In: Český časopis historický 99<br />

(2001), 638–639.<br />

3 In der schön ausgestatteten Reihe ‚Buchforschung‘ bei der Wiener Edition<br />

Präsens sind übrigens schon weitere Bände erschienen. Im Jahr 2001 Carl<br />

Junkers Studien Zum Buchwesen in Österreich. Gesammelte Schriften (1896–<br />

1927) (Band 2) und als Band 3 Ingeborg Jaklins Studie über Das österreichische<br />

Schulbuch im 18. Jahrhundert aus dem Wiener Verlag Trattner und dem<br />

Schulbuchverlag (2003). Im Herbst 2005 soll ein Band über das Buchwessen<br />

in Wien erscheinen. Außerdem zeichnen die Herausgeber auch für die Zeitschrift<br />

„Mitteilungen der Gesellschaft zur Erforschung des Buchwesens in<br />

Österreich“ (www.buchforschung.at) verantwortlich.<br />

Neue Literatur<br />

der national-kulturellen Eigenständigkeit aus den Strukturen zu untersuchen,<br />

die allen Völkern der Monarchie im 18. Jahrhundert gemeinsam waren. 4<br />

Der Titel „Buchwesen in Prag“ deutet Inhalt und Aufbau ganz gut an: Es<br />

geht um eine klare regionale Abgrenzung, innerhalb derer die Manipulation<br />

mit Büchern thematisiert werden soll. Die Mehrsprachigkeit Prags wird dadurch<br />

in das Thema einbezogen, was der Arbeit einen großen Vorzug gegenüber<br />

der Methode bisheriger, oft sprachlich-national orientierter Forschungen<br />

verschafft. Der Untertitel weist darauf hin, dass es um keine<br />

wissenschaftliche Untersuchung, sondern vielmehr um einen historischen<br />

Überblick geht, der durch die Namen zweier Unternehmer begrenzt wird.<br />

Einschlägig interessierte Leser werden diese Personen bzw. ihre Firmen<br />

kennen, andere, zumal deutschsprachige, vielleicht nicht; die Wahl des Titels<br />

ist in dieser Hinsicht nicht sehr glücklich. Doch weist er auch auf die<br />

Hauptschwäche des Buches hin: Das Prager Buchwesen ab den 1780er Jahren<br />

wird in einem personengeschichtlichen Panorama dargestellt, wobei<br />

Kramerius und Otto im Vordergrund stehen, während ihren einzelnen Kollegen<br />

kaum mehr Raum zugestanden wird, als dem Wörtchen „bis“ im Titel<br />

entspricht. Es stellt sich die Frage, ob man dieses daher nicht besser durch<br />

„und“ ersetzt hätte. Die Perspektive der Arbeit wird schließlich dadurch<br />

bestimmt, dass die Entwicklung des Prager Buchwesens in den Kontext des<br />

tschechischen „nationalen Wiedererwachens“ gestellt wird.<br />

Kramerius und Otto stehen für zwei Abschnitte dieser Entwicklung und<br />

gleichzeitig für die zwei Großkapitel, in die das Buch aufgeteilt ist. Im Zentrum<br />

des ersten Kapitels steht also das frühe „nationale Wiedererwachen“ mit<br />

Kramerius’ Versuch, einen auf tschechischsprachige Bücher spezialisierten<br />

Verlag zu gründen und wirtschaftlich am Leben zu erhalten. Alena Köllner<br />

versucht zu Beginn, einen Eindruck von der Komplexität der Prager Kultur<br />

am Ende des 18. Jahrhunderts vermitteln. Es gelingt ihr dabei nicht immer,<br />

aus der großen Menge angesammelten Materials die für ihre Absicht wichtigen<br />

Angaben herauszufiltern und deren Funktion deutlich zu machen. So erscheint<br />

die Schulproblematik eindeutig übergewichtet gegenüber für das<br />

Buchwesen ungleich bedeutenderen Abschnitte über literaturvermittelnde<br />

Institutionen wie Bibliotheken, Leihbüchereien und Kaffeehäuser, die wiederum<br />

zu kurz kommen gegenüber dem Verlagsbuchhandel. Außerdem isoliert<br />

die Autorin diese Vermittlungsinstanzen in separaten Kapiteln, während<br />

4 Das habsburgische Buchwesen in seiner Gesamtheit darzustellen unternimmt<br />

das von Peter R. Frank initiierte Projekt „Topographie der Buchdrucker,<br />

-händler, Verleger u.a. in der österr.-ungar. Monarchie 1750–1850. Status,<br />

Fortschritt, Probleme“, das vorgestellt wurde in: Mitteilungen der Gesellschaft<br />

für Buchforschung in Österreich, <strong>2004</strong>/1, 56–58.<br />

357


358<br />

Neue Literatur<br />

sie in dieser Frühphase des modernen Buchwesens tatsächlich in einem engen<br />

funktionalen, ökonomischen und auch personellen Zusammenhang miteinander<br />

standen. Letztlich führt das zu einer Anhäufung von Fakten, die in der<br />

chronologisch-biographischen Auflistung von „Buchdruckern, die gleichzeitig<br />

Buchhändler und Verleger waren“, „Buchdrucker und Verleger (ohne Sortiment)“<br />

und „Buchdrucker, Verleger und Antiquare (ohne Druckerei)“ gipfelt.<br />

Diese Kategorisierung hätte man ohne Verluste mit dem als Anhang<br />

abgedruckten „Verzeichnis der Prager Buchdrucker, Buchhändler und Verleger“<br />

verschmelzen können, ohne dabei auf etwas verzichten zu müssen. Im<br />

Gegenzug hätte man den Inhalt durch eine anschaulichere Darstellung von<br />

Zusammenhängen ergänzen können. Ein komplexeres Bild ergibt sich letztlich<br />

nur für Kramerius und Otto.<br />

Kramerius’ Versuch, einen Verlag zu gründen, der auf tschechischsprachige<br />

Publikationen spezialisiert ist, war nach dem Ableben seines Gründers zum<br />

Scheitern verurteilt. Das hatte zur Folge, dass die deutschböhmische und<br />

tschechischsprachige Literatur bis zur Jahrhundertmitte von den selben Verlagen<br />

publiziert wird. Diese werden von Köllner im Rahmen des Gremiums<br />

der Prager Buchhändler behandelt, wobei diese fünfzig Jahre in enzyklopädischer<br />

Form gerafft dargestellt werden. Die Darstellung von Zusammenhängen<br />

und die Einbettung in die politischen, ökonomischen und literarischen<br />

Verhältnisse kommt deswegen zu kurz. Erst in der zweiten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts waren endlich die Voraussetzungen für eine Autonomie<br />

des tschechischen Buchwesens gegeben. Alena Köllner widmet sich Jan<br />

Otto als dem bekanntesten und am besten erforschten Vertreter dieser Epoche.<br />

In diesem Zusammenhang ist vor allem mit Köllner noch einmal auf<br />

Jaroslavs Švehlas Quellenstudie über Jan Otto hinzuweisen, die nach 1948<br />

ungedruckt im Archiv in Staré Hrady liegen blieb. Es ist bedauerlich, dass<br />

Švehla bis heute weder gedruckt ist noch einen Nachfolger gefunden hat.<br />

Der schon erwähnte Anhang bringt ein „Verzeichnis der Prager Buchdrucker,<br />

Buchhändler und Verleger“ in Form einer gedruckten Datenbank. Ausgewertet<br />

wurde jedoch nur die im Literaturverzeichnis angegebene deutsch- und<br />

tschechischsprachige Sekundärliteratur zum Prager Buchwesen. Damit ist<br />

gleichzeitig auch das große Positivum dieser Auflistung verbunden, da sie<br />

gewissermaßen ein aktuelles Register darstellt, über das man nicht nur die<br />

wichtigsten Daten nachschlagen, sondern auch Verweise auf vorhandene Sekundärliteratur<br />

zu einem Unternehmer erhält. Leider ist die Bibliografie<br />

durchaus nicht vollständig – das wäre wohl auch zu viel verlangt für eine Diplomarbeit.<br />

Doch fallen leider auch grundlegende Forschungen wie Karel<br />

Bezděks Dissertation über Krameriova Česká Expedice (Praha 1951; ein Exemplar<br />

befindet sich im Prager Ústav pro českou literaturu). Sie kann also nur<br />

als Ausgangspunkt für vertiefende Forschungen dienen.<br />

Neue Literatur<br />

Ein anderes Beispiel zu Andreas Gerle: Bei ihm wird nur angegeben, er sei<br />

Buchhändler gewesen, doch war er offensichtlich auch Leihbibliothekar –<br />

darauf weist zumindest die zeitgenössische Quelle Beobachtungen in und<br />

über Prag, von einem reisenden Ausländer hin, die 1787 von Andreas’ Bruder<br />

Wolfgang Gerle verlegt wurde. Obwohl Köllner diese Quelle in ihrem<br />

„Literaturverzeichnis“ (und auch im „Verzeichnis der Illustrationen“) auflistet,<br />

fehlt unter „Andreas Gerle“ der Verweis auf sie. Bei der Forschungsliteratur<br />

verhält es sich ähnlich: im Fall Andreas Gerle vermisst man zum<br />

Beispiel Josef Volfs kleinen Aufsatz „Knihkupci pražští Volfg. Gerle a Jan<br />

Herrl” (In: Zvon, 23/1922, 100), in dem der Dobrovský-Briefwechsel anhand<br />

von Zubrs Register auf die Gebrüder Gerle durchgesehen wird. Doch<br />

auch Josef Dobrovský bzw. seinen Briefwechsel sucht man im Literaturverzeichnis<br />

Alena Köllners vergeblich. Es wäre also notwendig, die gesamte<br />

(und besonders auch die zeitgenössische) Literatur zum Prager Buchwesen<br />

zu berücksichtigen und vor allem auch den darin enthaltenen Verweisen<br />

auf die ältere Literatur konsequent nachzugehen.<br />

Die Arbeit über Buchwesen in Prag von Václav Matěj Kramerius bis Jan<br />

Otto kann als Anstoß in viele Richtungen interpretiert werden. Sowohl ihre<br />

zahlreichen Mängel als auch der Versuch, einem deutschsprachigen Publikum<br />

auf einer zweisprachigen Quellenbasis die Komplexität der Prager<br />

Verhältnisse zu vermitteln sowie zwei ihrer herausragenden Vertreter vorzustellen,<br />

verlangen nach einer Fortsetzung, nach weiteren Forschungen,<br />

nach gründlicheren und systematischeren Darstellungen; auch würde es<br />

nicht schaden, den Zeitrahmen gerade dann bescheidener anzulegen, wenn<br />

nur 170 Seiten zur Verfügung stehen. Wer immer diese zukünftige Studie<br />

verfasst, wird trotzdem gut daran tun, auch dieses Buch zur Hand zu nehmen<br />

und kritisch darauf zurückzugreifen.<br />

359<br />

Michael Wögerbauer<br />

Primus-Heinz KUCHER: Ungleichzeitige / verspätete Moderne. Prosaformen<br />

in der österreichischen Literatur 1820–1880. Tübingen, Basel (Francke)<br />

2002, 464 Seiten.<br />

Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit zu Prosaformen der Literatur in<br />

Österreich ist das auch von zeitgenössischen Beobachtern (Seidlitz, Lorm)<br />

wahrgenommene, literarische Modernisierungsdefizit, sieht man einmal von<br />

markanten, wenn auch nicht unumstrittenen Ausnahmen wie Stifter und<br />

Sealsfield ab.<br />

Den offensichtlichen Widerstand gegen Modernisierung (im deutschen Verständnis), faßbar an


360<br />

Neue Literatur<br />

der skeptischen Distanz zur industriellen Massenware ‚Roman‘, und begleitet von der Gefährdung<br />

des dichterischen Autonomieanspruchs durch eine entstehende ‚Tauschwertabstraktion,<br />

einem Zur-Ware-Werden der Menschen und Dinge‘, steht ein sowohl unvermitteltes, selbstgenügsames<br />

als auch auf beides (Modernisierung und Ökonomisierung) ironisch reflektierendes<br />

Textpanorama gegenüber. (4)<br />

Verstärkt wird diese Distanz gegenüber der ‚Moderne‘ durch die einem<br />

amalgamierenden teleologischen Konzept von Nationalität entgegenstehende<br />

Heterogenität der österreichischen Regionen und Landschaften, durch<br />

die eine wesentlich größere Binnendifferenzierung entstand, als man sie im<br />

übrigen deutschen Sprachraum vorfinden konnte.<br />

Die vorliegende Arbeit versteht sich somit als ein Beitrag zur Diskussion<br />

über den widerspruchsvollen Komplex ‚Restauration-Vormärz-Nachmärz‘<br />

(9) in seiner „ungleichzeitigen Mehrsträngigkeit“. Ausgangspunkt ist die<br />

Frage nach dem Zustand der Roman- und Erzählprosa im Kontext der Gattungsdiskussion,<br />

aber auch unter den Bedingungen von öffentlicher Produktion<br />

und Rezeption. Dabei geht es um den Einsatz von Romantheorie und<br />

Romanpraxis, die, auf die ‚Darstellung des menschlichen Lebens als eines<br />

großen Abenteuers‘ abzielend (Hillebrand), in eine „Art Kulturgeschichte<br />

bürgerlicher Bewußtheit“ münden (21).<br />

Angesichts von Autorenkontrolle, Zensur, Selbstbeschränkung sind – greift<br />

man das Stichwort Literatur und Öffentlichkeit auf – die Erfahrungen der<br />

Autoren von Willkür und Obskurantismus; Rückzug, Resignation, Anpassung<br />

geprägt, Kucher konstatiert zu Recht Selbstaufgabe als Haltung (67).<br />

Die Außenwahrnehmung Österreichs als europäisches China, als eine „ausgeklügelte<br />

Maschinerie aus Unterdrückung und Zivilisation“ (223) – so<br />

Ludwig Börne in den Schüchternen Bemerkungen über Österreich und<br />

Preußen (1818) – prägt das Bild der Monarchie und ihrer Literatur zu weiten<br />

Teilen. Neben den Befund der Stagnation und mangelnden Dynamik<br />

tritt ferner die plurinationale (Leser-)Struktur, die nach Groß-Hoffinger einer<br />

selbständigen österreichischen Literatur im Wege stehe (76). Kuchers<br />

Fazit: „Öffentlichkeit hat sich zu einem komplexen, von unterschiedlicher<br />

Binnendynamik geprägten polykulturellen bzw. plurinationalen Phänomen<br />

entwickelt, das sich nationalsprachlich zunehmend verselbständigt, [...].“ (84)<br />

Im zweiten Abschnitt wird mit Hilfe eines gattungstypologischen Zugangs<br />

die Herausbildung der modernen Prosa untersucht. In den Reiseberichten<br />

findet um 1800 ein markanter Paradigmenwechsel von gelehrt-wissenschaftlich-enzyklopädischer<br />

zu subjektiv-literarischer Beschreibungsform<br />

statt. Die Etablierung der Gattung per ästhetischer Aufwertung erfolgt vor<br />

allem durch Goethe und Forster. Insbesondere nach 1819 erhält der österreichische<br />

Reisebericht kompensatorische Funktion durch die Möglichkeit<br />

neuartiger Zugriffe auf Wirklichkeit und durch die Möglichkeit der Integra-<br />

Neue Literatur<br />

tion literarischer und politischer Diskurse. Berichtendes Reisen als Ort literarischer<br />

und gesellschaftlicher Selbstverständigung leistet einen zentralen<br />

Beitrag zur literarischen Kommunikation. Als Besonderheit für Österreich<br />

konstatiert Kucher auf der stofflichen Ebene die Exploration der Peripherie,<br />

auf der ästhetisch-literarischen die Mischform aus Reise-, Genre- und<br />

Stadtprosa (168). Erwartungsgemäß tritt Sealsfields Austria-Schrift ins Zentrum<br />

der Betrachtung, 1 man findet ferner Analysen zu Anton Johann Groß-<br />

Hoffinger (Österreich wie es ist, 1833), Willibald Alexis (Wiener Bilder,<br />

1833), Franz E. Pipitz (Fragmente aus Österreich, 1839), Viktor von Andrian-Werburg<br />

(Österreich und dessen Zukunft, 1842), 2 Adalbert Stifter<br />

(Wien und die Wiener, 1844), Josef Tuvora (Briefe aus Wien, 1844) und zu<br />

dem wahrscheinlich von Uffo Horn verfassten Reisebericht Oestreich. Städte,<br />

Länder, Personen und Zustände (1842), der hier fälschlich Franz Schuselka<br />

zugeschrieben wird. 3 Zentrale Themen dieser Texte sind die Kleinstaaterei,<br />

die nationale Problematik Österreichs, die staatliche Überwachung,<br />

die soziale Frage (Bauern), die Unterschiede zwischen Metropole<br />

und Peripherie, die Selbstdarstellung des höfischen Systems und die Reflexion<br />

literarisch-kultureller Öffentlichkeit. In Adalbert Stifters Wien-Bilder-<br />

Zyklus, eine „Apologie biedermeierlicher Lebenshaltung“ (213), erscheinen<br />

die „faszinierenden und beunruhigenden Triebkräfte des Sozialen und der<br />

Modernisierung, die Wien als Großstadt ausweisen [...] zwar nochmals gebannt“<br />

(213), weisen aber bereits auf die unumkehrbaren Prozesse der Modernisierung.<br />

1 Kucher hatte vor einigen Jahren eine sehr verdienstvolle Textausgabe vorgelegt:<br />

Sealsfield, Charles [= Karl Postl] (1928 [1994]): Austria as it is or Sketches<br />

of continental courts by an eye-witness. London [= Österreich wie es ist<br />

oder Skizzen von Fürstenhöfen des Kontinents, Wien 1919]. Eine kommentierte<br />

Textedition. Hrsg. von Primus-Heinz Kucher), Wien, Köln, Weimar:<br />

Böhlau.<br />

2 Siehe hierzu die aktuelle Textausgabe von Madeleine Rietra (Hg.) (2001):<br />

Wirkungsgeschichte als Kulturgeschichte. Viktor von Andrian-Werburgs Rezeption<br />

im Vormärz. Eine Dokumentation mit Einleitung, Kommentar und einer<br />

Neuausgabe von Österreich und dessen Zukunft (1843). Amsterdam, Atlanta:<br />

Rodopi (= Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 143).<br />

3 Sowohl das Deutsche Anonymenlexikon als auch F. Fellner (Franz Schuselka.<br />

Ein Lebensbild. Diss. Wien 1948: 22f.) vermerken zwar Schuselka als Verfasser<br />

von Österreich, Städte, Länder, Personen und Zustände (Hamburg: Hoffmann<br />

& Campe). Allerdings widerspricht die positive Darstellung der emanzipatorischen<br />

Bestrebungen der österreichischen Slawen grundlegend der<br />

Einstellung, die Schuselka in seinen Vormärzbroschüren vertrat, so dass seine<br />

Autorschaft mehr als zweifelhaft erscheint.<br />

361


362<br />

Neue Literatur<br />

Im dritten Abschnitt wendet sich Kucher dem Roman zu. Der neue Blick<br />

auf die Geschichte seit Herder weist dem historischen Roman eine neue<br />

Funktion zu: konstatiert wird die Tendenz zur dokumentarisch-deskriptiven<br />

Eingrenzung der epischen Potentiale zugunsten ideologisch unterlegter ‚Authentizität‘,<br />

eine Historisierung der Fiktion (276). Politische Diskursebenen<br />

beispielsweise bei Carl Herloßsohn (Der Ungar) sind die Konflikte zwischen<br />

Loyalität verlangender feudaler Tugend und den auf Autonomie abzielenden<br />

historisch-staatsrechtlichen Partikularinteressen (293), ein „Plädoyer<br />

für eine vernunftorientierte, unterschiedliche regionale, nationale und<br />

kulturelle Interessen berücksichtigende Herrschaftspraxis“ (296) lässt sich<br />

im Werk erkennen.<br />

Geschichte wird im Roman als ständiger Einbruch der Gewalt, als von oben willkürlich praktizierte<br />

Herrschaft vorgeführt und zugleich in einer Gegenbewegung als dialogischer Prozeß<br />

skizziert. (296)<br />

Die Aktualität von Herloßsohn zeigt sich dann, wenn Geschichte in Willkür<br />

umschlägt, wenn das Prinzip des Dialogs, des rationalen Interessenausgleichs,<br />

nicht berücksichtigt wird, womit auch die Forderung nach kritischer<br />

Überprüfung des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie verknüpft wird.<br />

Im Nachmärz setzen sich dann Schwunderfahrung und Entpolitisierung<br />

durch, ein „Relevanzverlust der Literatur in der zunehmend publizistisch definierten<br />

literarischen Öffentlichkeit“ (367). Die neuen Formen sind das Feuilleton<br />

und die Unterhaltungsblätter. „Gerade das Österreich der Nach-48er<br />

Periode kann als Paradefall vielfältiger Strategien der Resignation und gesuchter<br />

Anpassungen an die neuen alten Verhältnisse gesehen werden.“ (368)<br />

Im Ergebnis lassen sich für den literarischen Modernisierungsprozess in<br />

Österreich folgende übergreifende Parameter erkennen:<br />

1. Das österreichische Literatursystem stellt sich als ein äußerst heterogenes<br />

Konzept ‚gleichzeitig und nebeneinander existierender nationalkultureller<br />

Systeme‘ dar, die Dominanz der deutschsprachigen Öffentlichkeit gerät ab<br />

1830 zunehmend unter Druck der aufstrebenden ‚slawo-hungarischen‘<br />

Sphären (429). Daraus folgt die Notwendigkeit, die Unterschiede zur deutschen<br />

Literaturproduktion angemessen zu würdigen, Kucher plädiert sinnvollerweise<br />

für eine offene Literaturgeschichtsschreibung.<br />

2. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigt sich das deutschsprachige Literatursystem<br />

Österreichs ziemlich ausdifferenziert und ‚überraschend paradox<br />

strukturiert‘ (430). Allerdings erfolgt ein Bedeutungsverlust Wiens nach<br />

1815/1830, ein „unaufholbares strukturelles Hintertreffen“ (430) gegenüber<br />

den neuen deutschen Zentren Leipzig, Hamburg und Stuttgart und angesichts<br />

neuer Binnenkonkurrenz vor allem in Budapest und Prag. Wien sank<br />

Neue Literatur<br />

im Vormärz „auf die Funktion einer Erfahrungsepisode für jüngere Autoren<br />

herab.“ (430) Als weiterer Aspekt wird das Verhältnis des deutschsprachigen<br />

Literatursystems Österreichs zu dem sich entfaltenden nationalkulturellen<br />

System der Monarchie betrachtet, wobei sich „überraschend gute, offene,<br />

keineswegs nur einseitige Beziehungen, auch nach 1848, zur<br />

ungarischen Öffentlichkeit“ (431) entwickelten. Für Böhmen kommt es zu<br />

keinem vergleichbaren Dialog, was auch mit der Exilsituation vieler<br />

deutschsprachiger Böhmen erklärt wird.<br />

3. Das Rollenprofil der österreichischen Autoren weist insofern markante<br />

Spezifika auf, da sich die im deutschen und westeuropäischen Raum etablierende<br />

Figur des freien Schriftstellers in Österreich nicht durchsetzen<br />

konnte. Die Optionen waren hier der beamtete Dichter oder eben die Emigration.<br />

4. Dies hatte nach Kucher weitere Konsequenzen für das Rollenprofil, welches<br />

von Sublimierungen und der Verdrängung von Widersprüchen (Bsp.<br />

Grillparzer, Der arme Spielmann) oder der strategischen Anpassung an den<br />

Markt geprägt ist, wofür die Journalprosa bei „gleichzeitiger penibler Ausblendung<br />

relevanter gesellschaftlich-politischer Konfliktebenen (nationale<br />

Frage, Zensur)“ (432) als Beispiel dienen mag. Auffällig ist aber, in welchem<br />

Maße Autoren wie Grillparzer, Stifter oder Sealsfield Referenzen für<br />

die Vertreter der Moderne boten (Nietzsche, Benjamin, Kafka, Musil).<br />

5. Auf dem Gebiet der Romanprosa konstatiert Kucher Zurückhaltung. Die<br />

Modernität der österreichischen Prosa entfaltete sich in den „kleinen, hybriden<br />

Formen, Skizzen, Studien, Genrebildern und Dorfgeschichten,“ (433)<br />

während der Roman in Deutschland – verspätet zwar – um 1820 bereits gefestigt<br />

und präsent war (23).<br />

Die vorliegende Studie darf zweifelsohne als ein Meilenstein in der Analyse<br />

des literarischen Systems der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert bezeichnet<br />

werden, wird hier doch der die nationalen Literaturen überschreitende<br />

Anspruch nicht nur postuliert, sondern auch erfüllt. Weitergehende<br />

Studien zu anderen Textsorten und Kunstgattungen, mit denen sich das spezifisch<br />

Mitteleuropäische dieser Region genauer erfassen lassen müsste,<br />

sollten sich anschließen.<br />

363<br />

Steffen Höhne


364<br />

Neue Literatur<br />

Bedřich W. LOEWENSTEIN: Wir und die anderen. Historische und kultursoziologische<br />

Betrachtungen. Dresden (Thelem) 2003, 436 Seiten.<br />

In dem nach 1989 neu entfachten Diskurs um europäische Traditionen und<br />

Integrationen nehmen die Beiträge von Bedřich Loewenstein zumeist eine<br />

zentrale Rolle ein. Es ist insofern ein glücklicher Umstand, dass eine Auswahl<br />

aus Loewensteins Essays – meist aus den 1990er Jahren – nun leicht<br />

zugänglich als Sammelband beim Dresdner Universitätsverlag Thelem erschienen<br />

ist. Die vier zentralen, thematischen Blöcke umfassen:<br />

– Arbeiten zur (nationalen) Konstitution von Wir-Gruppen<br />

– Arbeiten zur tschechischen Kultur des 19. Jahrhunderts, deren Spezifik<br />

Loewenstein in einer kompensatorischen Funktion angesichts fehlender<br />

staatlicher Selbstbestimmung erkennt<br />

– Arbeiten zu Masaryk<br />

– Arbeiten zur Revolution in Europa, verbunden mit einer fundamentalen<br />

Kritik an der Revolutionsromantik – Loewenstein schlägt hier eine<br />

durchaus bedenkenswerte begriffliche Substitution vor: statt von<br />

Revolution von Krise zu sprechen<br />

Hinzu kommen weitere Einzelstudien biographischer Natur und – gewissermaßen<br />

als humoresker Abschluss – zum politischen Witz. 1 Die Texte<br />

sind als ideengeschichtliche, kulturanthropologische und biographische<br />

Studien geprägt von der Authentizität eines Historikers und Sozialtheoretikers,<br />

der – so Bernd Ulrich im Nachwort – die „Brüche des 20. Jahrhunderts<br />

buchstäblich am eigenen Leibe erfahren hat.“ (431)<br />

Ausführlicher soll hier der erste thematische Block vorgestellt werden, der<br />

sich im weitesten Sinne der Konstituierung von Gruppen und deren Gemeinschaftscodes<br />

und Symbolik widmet. Die Notwendigkeit sozialer Identität,<br />

ein uraltes „Bedürfnis nach kollektiver Selbstbestätigung und Verwurzelung<br />

in idealistischen Vergangenheiten“ (51) auf der einen Seite, geht auf<br />

der anderen einher mit Verleugnungspraktiken, Ausgrenzungen, Ex-post-<br />

Aufwertungen der eigenen Gruppe. Es ist diese Pseudologik, die der Bildung<br />

von Gruppenbewusstsein, dem immer schon das „Fiktive, Projektive<br />

und Willensmäßige […] (50)“ eigen war, zugrunde liegt und die auch bei<br />

der Bildung von Nationalbewusstsein eine zentrale Rolle spielt: „Jeder Nationalismus<br />

erfindet falsche Ahnen und projiziert die eigene Gruppe, vor<br />

allem deren Vorzüge, in die Vergangenheit, die von diesen nicht unbedingt<br />

etwas wußte, und so gehen auch andere Kollektive vor.“ 2 Nation wird somit<br />

1 Die Geschichte und das Lachen. Eine sozialpsychologische Betrachtung, insbesondere<br />

das Witzeerzählen unter Diktaturen, 413–430.<br />

2 Identitäten – Vergangenheiten – Verdrängungen, 45–55, 51.<br />

Neue Literatur<br />

eher als Produkt sozialer Kommunikation verstanden denn als Ergebnis aus<br />

Modernitätsdefiziten. Dabei sind kollektive Emanzipationsbewegungen<br />

nicht automatisch freiheitlich in einem „tragfähig-konstruktiven“ Sinne,<br />

Loewenstein beklagt ihr retardierendes Element (die Rückfälle ins Mythische,<br />

in „moralisch-topographische Geschlossenheit der Clanmentalität“ 3 ,<br />

eine, wenn man so will, anthropologische Konstante, die sich auf die metaphorische<br />

Dimension des Hauses zurückführen lässt:<br />

Das Haus kann als Urform der Unterscheidung von Innen und Außen interpretiert werden, von<br />

Vertrautem und Fremdem, Mein und Dein. Es stattet sozusagen unser schwaches Ich mit identitätsstützenden<br />

Schalen aus, die Geborgenheit, Ansehen, Anerkennung vermitteln. (60)<br />

Eine solcherart anthropologisch fundierte Denkfigur lässt sich auf das Dilemma<br />

der Vielvölkermonarchie Habsburg übertragen: „man baute ins gemeinsame<br />

Haus Mitteleuropa lauter kleine Häuser mit geheiligten Innenräumen,<br />

denen leider die gothischen Wasserspeier fehlten, um die Dämonen<br />

herauszulassen, aber immer mit Mauern und Zäunen gegen die verdächtigen<br />

Anderen, die das gleiche taten.“ (239) Gerade die Analogien zur Ethologie<br />

scheinen auf universale Gesetzmäßigkeiten sozialen Agierens zu weisen:<br />

die Abgrenzung von Gruppen, ihre territoriale Verteilung, die Herstellung<br />

von Rangordnungen mit aggressiven Regungen nach innen und außen, Imponiergehabe,<br />

submissive Beschwichtigungen, Unterdrückung von Außenseitern.<br />

Das darin erkennbare Konzept des ambivalenten Anderen, welches<br />

zum bedrohlichen Anderen mutiert, macht sich offenkundig der moderne<br />

Nationalismus zu Nutze. Aus den Vorstellungen von Nation entsteht eine<br />

„hochemotionale Gemeinschaftsideologie“ (70). Die nationale Identität ist<br />

dabei selbst nicht frei von Ambivalenzen, sie bietet einerseits den Menschen<br />

Halt, vermittelt Sinn, strukturiert politisches Handeln, andererseits schafft<br />

sie unüberwindliche Grenzen, erzeugt Feinde und schafft somit die „Hörigkeit<br />

geschlossener Kollektive“. Unterstützt durch Kollektivsymbolik entsteht<br />

ein Schichten übergreifendes Wir-Gefühl, mit dessen Hilfe letztlich<br />

ein Anspruch auf Geltung einer bestimmten Denk- und Verhaltensweise<br />

erhoben wird.<br />

Aus diversen Erinnerungsschichten, heterogenen Traditionsbeständen, lokalen<br />

Mythen entsteht eine Integrationsideologie mit hoher Mobilisierungsfähigkeit;<br />

sie vermittelt kollektive Identität, suggeriert ein gemeinschaftliches<br />

Schicksal auf der Basis vermeintlicher gemeinsamer Herkunft, fordert<br />

sprachlich-kulturelle Homogenität (103).<br />

Loewenstein, dem es um eine andere Art von Geschichte im Sinne einer<br />

„Vergegenwärtigung vergangener Chancen“ (52) geht, betrachtet Xenopho-<br />

3 Wir und die anderen, 57–74, 59<br />

365


366<br />

Neue Literatur<br />

bie und Xenophilie als biologisch vorgegebene Möglichkeiten, nicht als<br />

zwangsläufige Determinanten.<br />

Ein besonderes Augenmerk gilt dem patriotischen Diskurs, 4 der sich seit<br />

dem späten 18. Jahrhundert herausbildet. Die josephinischen Reformen,<br />

also die Erschaffung eines Wohlfahrts-, Macht- und Erziehungsstaates, der<br />

Vernunft und Nutzen als einzige Maximen anerkennen soll und in dessen<br />

Kontext auch das Sprachedikt von 1784 zu sehen ist, motiviert aus der<br />

Überzeugung, Vielsprachigkeit als etwas Überkommenes, als Hindernis<br />

gesellschaftlicher Entwicklung zu verstehen, 5 rufen partikulare landespatriotische<br />

Interessen auf den Plan, die in eine Reihe von Initiativen der Aristokratie<br />

münden: die Landesgewerbeausstellung im Clementinum 1791,<br />

die Mitwirkung des landespatriotischen Adels bei der Königlich böhmischen<br />

Gesellschaft der Wissenschaften, der Gründung diverser Institutionen<br />

wie dem Prager Polytechnikum (1806), dem Verein patriotischer Kunstfreunde<br />

(1806), dem Prager Konservatorium (1811), der Böhmischen Sparkassa<br />

(1825), dem Verein zur Ermunterung des Gewerbegeistes (1833),<br />

dem Vaterländischen Museumsverein (1818). Allerdings zeigte sich bald<br />

eine nur geringe Reichweite dieser Initiativen, die sich in „dieser krisenhaften<br />

Zeit als letztlich nicht attraktiv genug für die in Bewegung geratenen<br />

mittleren und unteren Bevölkerungsschichten“ (181) erwiesen. Der Patriotismusdiskurs<br />

in Mitteleuropa blieb – anders als in England – folgenlos<br />

(145). Eine Spaltung der böhmischen Gesellschaft entlang emotionalisierter<br />

Sprachgrenzen ist somit das Ergebnis, allerdings eben nicht als ein zwangsläufiges:<br />

Jede geschichtliche, jede geistige Bewegung ist die Resultante vieler Faktoren und muß aus<br />

ihren Bedingungen, allerdings auch in ihrer Kontingenz, ihrer Nicht-Selbstverständlichkeit,<br />

gedeutet werden. (156)<br />

Der zweite thematische Block, der hier ausführlicher gewürdigt werden soll,<br />

betreibt Mythendestruktion. Widerlegt wird die Legende vom ausgeprägten<br />

tschechischen Demokratismus, vom fehlenden Antisemitismus und von der<br />

Unmöglichkeit von Antisemitismus in marxistisch geprägten Gesellschaften.<br />

Bezogen auf die Nationalkultur ergibt sich das Problem von Kultur als Widerspiegelung<br />

gesellschaftlicher Wirklichkeit. In der tschechischen Gesellschaft<br />

kam der ‚Kultur‘ angesichts des Desiderats hochkultureller Muster<br />

und Produkte eher eine kompensatorische Funktion zu, was sich insbesondere<br />

in Idee und Umsetzung eines Nationaltheaters dokumentieren sollte. In<br />

4 Von den ‚patriotischen Tugenden‘ zum Kult des Volkes. Der Patriotismus<br />

zwischen Aufklärung und Frühromantik, 135–156, 141.<br />

5 Bernard Bolzano: Patriotismus – ein offenes Projekt, 173–182, 175.<br />

Neue Literatur<br />

Zeiten politischer Ohnmacht wird eine kulturelle Gegenwelt benötigt, die<br />

ihr Vorbild in Deutschland und der deutschen Kultur fand, von der man sich<br />

ja gerade abgrenzen wollte. Darin erkennt Loewenstein die grundlegende<br />

Ambivalenz des Nationalismus, einmal als „Werkzeug potentieller Egalisierung,<br />

Solidarisierung und Aktivierung“, dann als „Ausdruck einer Sakralisierung<br />

des Vaterlands und der Nation, also einer Rücknahme des modernen,<br />

säkularen Individualismus zugunsten des geheiligten Ganzen,“ 6 und<br />

damit einer Abwehr der kosmopolitischen Moderne. Loewenstein erkennt<br />

gar eine gebrochene Beziehung der tschechischen Nationalkultur zur bürgerlichen<br />

Lebensform (222). Zwar kommt es in der nachrevolutionären Ära<br />

Bach zu Versuchen, „die zentralisierende und entpolitisierende Wirkung<br />

wirtschaftlicher und persönlicher Freizügigkeit in Kombination mit fester<br />

staatlicher Autorität“ als ein „quasi-bonapartistisches Herrschaftsinstrument“<br />

7 einzusetzen und somit durch eine Reduktion des Staatsgedankens<br />

eine Entfremdung der Völker vom Staat zu verhindern, ab den 1860ern wird<br />

dieser Prozess jedoch durch eine zunehmende Verbreitung der nationalen<br />

Agitation unterminiert, auch wenn es sich dabei um keine zwangsläufige<br />

Entwicklung handelt, wie die vorhandene historische „Chance einer attraktiven<br />

Reichsidee“ belegt, „die den zentrifugalen nationalen Integrationsbewegungen<br />

mehr als bürokratisch-polizeiliche Penetration, nämlich Identifikation,<br />

Partizipation, Aufstieg, Schutz, Gerechtigkeit geboten und<br />

Hoffnungen geweckt hätte.“ (200) In diesem Kontext problematisiert Loewenstein<br />

den unterstellten Zusammenhang zwischen Modernisierung bzw.<br />

Industrialisierung und Sprachnationalismus:<br />

Nicht in erster Linie nüchterne Unternehmer- und Marktinteressen, sondern ‚kulturnationale‘<br />

Kommunikation durch Schule, Universität, Bücher, Zeitschriften, Kongresse, Vereine standen<br />

vor 1848 im Vordergrund [...]. (195)<br />

Loewenstein konstatiert eine Dominanz der ideologischen Orientierung bestimmter<br />

Elitegruppen, keinen zwingenden Zusammenhang mit Prozessen<br />

der Modernisierung. Interessant erscheint hier der Hinweis auf Thuns Konzept<br />

einer Trennung in sprachnationale und sachpolitische Bereiche (196),<br />

ähnlich auch von Klácel vertreten. Aber letztlich steht im Ergebnis doch die<br />

Chancenlosigkeit des bilingualen Landespatriotismus gegenüber dem ansteigenden<br />

intransigenten Sprachnationalismus (201).<br />

6 Theatralik, Historismus, bürgerliche Repräsentation. Aspekte der tschechischen<br />

Kultur im 19. Jahrhundert, 203–223, 209.<br />

7 Bürgerliche Bewegung und nationaler Orientierung um die Jahrhundertmitte.<br />

Einige Überlegungen, 183–201, 191.<br />

367


368<br />

Neue Literatur<br />

Dem Diktum Prečans, der Loewenstein im Nachwort als einen grenzüberschreitenden<br />

Vermittler – zwischen den Disziplinen und zwischen den Kulturen,<br />

insbesondere Deutschen und Tschechen – charakterisiert und der dabei<br />

immer eine europäische Dimension berücksichtigt, ist angesichts der<br />

intellektuellen Qualität und Tiefe der Loewensteinschen Essays nichts weiter<br />

hinzuzufügen.<br />

Steffen Höhne<br />

Fritz MAUTHNER: Der neue Ahasver. Ein Roman aus Jung-Berlin. Hrsg.<br />

und mit einem Nachwort von Ludger Lütkehaus. Berlin, Wien (Philo) 2001,<br />

387 S.<br />

Das Werk des in Prag aufgewachsenen deutsch-jüdischen Journalisten,<br />

Schriftstellers und Sprachphilosophen Fritz Mauthner (1849–1923) findet in<br />

den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit. Dies dokumentiert sich etwa<br />

in Publikationen wie LEINFELLNER & SCHLEICHERT (1995) oder<br />

HENNE & KAISER (2000), des weiteren in der Neuherausgabe seiner<br />

wichtigsten philosophischen Werke im Rahmen der Wiener Mauthner-<br />

Ausgabe (1997ff.). Auch die Neuherausgabe des 1881 als Fortsetzungsroman<br />

und 1882 in Buchform veröffentlichten Romans Der neue Ahasver ist<br />

im Rahmen dieser ‚Mauthner-Renaissance‘ zu sehen.<br />

Das Thema dieses Romans ist die Auseinandersetzung mit antisemitischen<br />

Tendenzen, die seit den ausgehenden 70er Jahren des 19. Jahrhunderts im<br />

Deutschen Reich an Boden gewannen, auch in Intellektuellen-Kreisen. 1<br />

Mauthner legt seine ‚anti-antisemitische‘ Haltung bereits im – Theodor<br />

Mommsen zugedachten – Vorwort dar (5–8).<br />

Der Inhalt des autobiographisch geprägten Romans sei hier kurz referiert:<br />

Der Protagonist Heinrich Wolf, aus Böhmen stammender Jude, lässt sich<br />

nach seinem Medizinstudium in Berlin als Arzt nieder. Seiner jüdischen<br />

Herkunft und dem jüdischen Glauben entfremdet und dem Deutschen Reich<br />

zugewandt, gelingt es ihm, in der Gesellschaft Berlins Fuß zu fassen. Er<br />

verkehrt in adligen Kreisen und verliebt sich in Clemence von Auenheim.<br />

Sein Wunsch, Clemence zu heiraten, wird bewilligt, doch muss Heinrich<br />

zwei Bedingungen erfüllen: Er soll sich für ein Jahr von Clemence trennen,<br />

und er soll zum Christentum konvertieren. Die Trennungszeit verbringt<br />

Heinrich in Afrika. Bei seiner Rückkehr nach Berlin muss er schockiert<br />

1 Zu den historischen Hintergründen vgl. VIERHUFE (2000: 147–149).<br />

Neue Literatur<br />

feststellen, dass sich im Deutschen Reich eine massiv antisemitische Stimmung<br />

breit gemacht hat und die ‚Judenfrage‘ zur Tagesfrage geworden ist.<br />

Unter diesen Umständen wird es Heinrich unmöglich, zum Christentum<br />

überzutreten:<br />

Mein Gefühl verbietet mir in diesem Augenblicke, um Einlaß ins Christentum zu bitten. Alle<br />

Gründe sind ohnmächtig gegen dieses Gefühl. Wenn es nur das kleine Rudel wahnsinniger<br />

Friedensstörer wäre, welches die alte Schmach der christlichen Völker erneuert, wenn das<br />

deutsche Volk sich so wie Du verächtlich oder auch nur lachend abwenden würde, glaube mir,<br />

mein Victor, auch ich hätte Mannesmut genug, unbeirrt meinen Weg zu schreiten. Aber so ...<br />

(333)<br />

Dieser Verzicht auf Konversion ist um so tragischer, als Heinrich sich als<br />

Christ empfindet:<br />

Ich bin ein Christ, seitdem ich denken kann, und früher sollte doch niemand für sein Leben<br />

verantwortlich gemacht werden. Ich bin ein Christ, wenn schon ein Wort aussprechen soll, was<br />

besser unausgesprochen bliebe. Und gerade darum, weil ich der großen Christenheit durch freie<br />

Wahl angehöre mit jedem Zuckern meiner Wimpern, gerade darum fühle ich doppelt die Qual,<br />

sagen zu müssen: Ich kann in diesen Zeiten den äußeren Übertritt zum Christentum nicht vollziehen.<br />

Wäre ich Jude, ein Jude noch dazu, wie er jetzt von unberufenen Fingern an alle Wände<br />

gemalt wird, so würde ich mich weigern, aber ich wäre mit ganzer Seele auf Seiten des Judentums,<br />

wäre einig mit mir selbst. So aber muß ich eine Tat unterlassen, nach der ich mich sehne,<br />

wahrhaftig wie nach Erlösung! (328)<br />

Die Handlung des Romans mündet in eine Katastrophe: Bei antisemitischen<br />

Ausschreitungen wird Clemence getötet. Heinrich duelliert sich mit seinem<br />

Widersacher, dem Intriganten Kurt von Egge, und kommt dabei zu Tode.<br />

Schon diese kurze Inhaltswiedergabe lässt erkennen, dass der Roman<br />

durchaus triviale Züge besitzt. Vierhufe (2000: 146) spricht von einer „tragischen,<br />

wenn auch in gängigen Klischees der Unterhaltungsliteratur dargebotenen<br />

Handlung.“ Auch Ludger Lütkehaus gelangt in seinem Nachwort<br />

zum Roman zu einer kritischen Einschätzung:<br />

Die gesellschaftlichen Typen aus Adel, Bürgertum und Unterschicht sind mehr oder minder<br />

klischiert, die Charaktere, vor allem die weiblichen, nur schwach konturiert, Gut und Böse auf<br />

das Erkennbarste einander entgegengestellt. (377)<br />

Zudem weist Lütkehaus mit Recht auf bedenkliche antislawische und antinegroide<br />

Elemente in Mauthners Roman hin (380).<br />

Mauthners Hang zur grotesken Übertreibung, der sich auch in anderen seiner<br />

Romane zeigt, verleiht gerade dem Ahasver-Roman eine beklemmendprophetische<br />

Dimension: Einem heutigen Leser dürfte es kaum möglich<br />

sein, die von Mauthner grell überzeichneten, ad absurdum getriebenen antisemitischen<br />

Hetzreden zu rezipieren, ohne dabei an die an den Juden verübten<br />

nationalsozialistischen Verbrechen zu denken. In diesem Sinne äußert<br />

sich auch Vierhufe (2000: 159):<br />

369


370<br />

Neue Literatur<br />

Die ästhetische, poetische Form des Romans mag mißlungen sein. Die parodistische, vor allem<br />

die satirische Darstellung der Entstehung des politischen, rassistisch argumentierenden Antisemitismus<br />

im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts zeigt jedoch Mauthners Fähigkeit,<br />

politische Phänomene zu analysieren und zu deuten.<br />

Natürlich berücksichtigt auch Lütkehaus in seinem Nachwort diesen<br />

Aspekt, doch neigt er hier bei einigen Passagen des Romans zur Überinterpretation.<br />

Wenn etwa der reiche Kaufmann Bumcke eine antisemitische<br />

Versammlung finanziell fördert und auf dieses ‚Verdienst‘ aufmerksam<br />

macht mit den Worten: „Wer zahlt den Gas! (Rufe: ‚Das Gas heißt es,<br />

Bumcke!‘) Einerlei, den Gas oder das Gas! Wer’s zahlt, ist Bumcke!“ (344),<br />

so ist dies nach Lütkehaus eines der „atemverschlagenden Details“, die dem<br />

Roman „seinen abgründig-prophetischen Charakter“ verleihen (382). Hier<br />

aber eine auch noch so leise Andeutung oder Vorwegnahme von Gaskammern<br />

zu vermuten, ist schlicht verfehlt. Inhaltlich gesehen geht es hier lediglich<br />

um die ‚Energieversorgung‘ der Versammlung, stilistisch gesehen<br />

manifestiert sich hier die von Mauthner häufiger praktizierte Technik, Figuren<br />

durch sprachliche Fehler bzw. Besonderheiten zu charakterisieren, vgl.<br />

etwa auch die fehlerhafte Wiedergabe von Fremdwörtern durch den jüdischen<br />

Schneider Oswald Fränkel (150, 152, 311 u.ö.) (vgl. VIERHUFE<br />

2000: 151f.); zudem greift Mauthner hier – gewissermaßen in verschiedenen<br />

Variationen – die Fremdwortthematik auf, die dann vor allem im Kapitel<br />

XVII, beim Vergleich der Juden mit Fremdwörtern, fruchtbar gemacht<br />

wird (306f., vgl. hierzu das Nachwort, 384f.). 2<br />

Lütkehaus versucht den Roman partiell gegen die zeitgenössische Kritik in<br />

Schutz zu nehmen. Dabei argumentiert er in teilweise irreführender Weise,<br />

insbesondere in seinen Ausführungen zu Eduard Engel. Lütkehaus verweist<br />

auf Mauthners (1910/11) Beschäftigung mit assimilierten Internationalismen<br />

im Deutschen (und anderen europäischen Sprachen):<br />

Mit kaum verhohlenem Hohn auf den Nationalpurismus, wie ihn etwa der ‚Entwelscher‘ Eduard<br />

Engel vertrat [...] werden hier [...] alle ‚Urigkeiten‘ zumal arischer, aber auch dogmatischorthodoxer<br />

Provenienz einem sprachkritischen Exerzitium in Internationalismus unterzogen<br />

(385) 3<br />

2 Zum Fremdwort Gas – einem Lieblingsbeispiel Mauthners – vgl. auch<br />

MAUTHNER (1923/II: 265f., III: 135). Wiederholt wird das Beispiel auch in<br />

MAUTHNER (1910/11) verwendet; vgl. v.a. die Stichwörter ‚Geist I.‘ (375f.)<br />

und ‚Einfluß‘ (236); ferner etwa Seite 380 u. 623.<br />

3 ‚Entwelscher‘ spielt hierbei auf den Titel von Engels ‚Verdeutschungswörterbuch‘<br />

(ENGEL 1918) an sowie allgemein auf sein Eintreten gegen Fremdwörter,<br />

wie es etwa auch in seiner Stillehre (ENGEL 1914) zum Ausdruck<br />

kommt.<br />

Neue Literatur<br />

Diese Haltung konstatiert Lütkehaus (384) auch für den Ahasver-Roman,<br />

vor allem für das Kapitel XVII, in welchem die Juden mit Fremdwörtern<br />

verglichen werden. Es handle sich hierbei um die Formulierung eines Programms,<br />

das dem „xenophoben Sprachpurismus jede Geschäftsgrundlage<br />

entzieht – das Programm des assimilierten Sprachkritikers Mauthner“ (385).<br />

Angesichts dieser antipuristischen Haltung Mauthners erscheint es denn<br />

natürlich auch nicht weiter verwunderlich, dass der Roman von „dem<br />

Sprachpuristen und ‚Entwelscher‘ Eduard Engel [...] mit einem Verriß“ bedacht<br />

wird (378) (vgl. ENGEL 1882).<br />

Hier wird allerdings eine Konfliktsituation konstruiert, die es so nie gegeben<br />

hat. Tatsächlich stehen Mauthner und Engel (der im übrigen ebenfalls<br />

jüdischer Abstammung war) 4 sich in ihren Auffassungen zur Fremdwortfrage<br />

viel näher, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Zwar unterscheiden<br />

sich Engels und Mauthners Ansichten diametral, wenn es um die Einschätzung<br />

der Wichtigkeit der ‚Fremdwortfrage‘ geht:<br />

Für das kostbarste Seelengut eine Volkes, für die Sprache, aus der alles tiefste Geistesleben<br />

sprießt, gibt es keine größere Gefahr als das Massengewelsch, wie es in Deutschland seit dem<br />

Jahrhundert der nachäffenden Humanisterei bis auf diesen Tag getrieben wird. (ENGEL<br />

1914:286)<br />

Dagegen Mauthner (1920: 17)<br />

Ich glaube: die Zeiten sind vorüber, in denen die Sprachreinigung eine Lebensfrage des deutschen<br />

Volkes war.<br />

Aber im Hinblick auf die Bewertung älterer Lehnwörter und neuerer, modischer<br />

Übernahmen aus fremden Sprachen stehen sie sich in ihren Auffassungen<br />

sehr nahe:<br />

Die Aneignung fremder Wörter und Begriffe ist in der Geschichte jeder Sprache nachzuweisen.<br />

[...] Niemand sieht oder hört es mehr, daß ‚Kirche‘ ursprünglich ein griechisches Wort war,<br />

‚Kreuz‘ ein lateinisches. Dem Irdischen ging es nicht anders als dem Überirdischen; hundert<br />

Küchenausdrücke sind ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit eingedeutscht worden: Kohl, Radieschen<br />

usw. Dazu kamen freilich auch lächerliche Modeausdrücke, gegen welche dem Deutschen<br />

Sprachverein ein eiserner Besen zu wünschen wäre. (MAUTHNER 1920:16)<br />

Aus fremden Sprachschätzen entlehnt hat das Deutsche, wie alle neueren Sprachen, seit unvordenklichen<br />

Zeiten. [...] Aus dem griechischen Kyriaké wurde mit der Zeit Kirche, aus coróna<br />

Krone [...] L e h n w ö r t e r heißen diese durch gewaltsame Umbildung völlig eingebürgerten<br />

Fremdlinge [...] Nie hat ein vernünftiger Freund der deutschen Sprache und ihrer Reinheit<br />

gegen diese Lehnwörter etwas eingewandt [...] Lehnwörter sind eine unentbehrliche Bereicherung<br />

unsrer Sprache, und wären die neueren Fremdwörter von gleicher oder ähnlicher Art, so<br />

gäbe es überhaupt keine Fremdwörterfrage. (ENGEL 1914:167)<br />

4 Hierzu und zu einer differenzierteren Bewertung von Engel und seinem Werk<br />

vgl. ICKLER (1988), SAUTER (2000) und STIRNEMANN (2003).<br />

371


372<br />

Neue Literatur<br />

Tatsächlich ist es auch keineswegs der Fremdwortpassus im Ahasver-<br />

Roman, der Engels Widerspruch erregt. Im Gegenteil: Gerade diese Stelle<br />

wird von Engel (1882: 239) ausdrücklich als eine der wenigen gelungenen<br />

hervorgehoben! Trotz seiner ästhetischen Mängel ist Mauthners Roman aus<br />

mehreren Gründen lesenswert. Mauthner (1918: 52f.) schildert eindrücklich<br />

sein Gefühl, nirgends verwurzelt zu sein:<br />

Wie ich keine rechte Muttersprache besaß als Jude in einem zweisprachigen Lande, so hatte ich<br />

auch keine Mutterreligion, als Sohn einer völlig konfessionslosen Judenfamilie.<br />

Eben dieses Gefühl wird auch im Ahasver-Roman sehr detailliert dargestellt<br />

(vgl. auch VIERHUFE 2000: 149–153). Darüber hinaus besitzt Mauthners<br />

Roman eine deutliche autobiographische Prägung. Sie zeigt sich etwa in den<br />

starken biographischen Parallelen zwischen dem Protagonisten Wolf und<br />

Mauthner (vgl. VIERHUFE 2000: 149), aber auch etwa im Kapitel XIII, das<br />

die Arbeit in einer Redaktion am Tag des Bekanntwerdens der Katastrophe<br />

des Panzerschiffs „Großer Kurfürst“ und des Attentats auf den Kaiser Wilhelm<br />

I. (d.h. am 2.6.1878) schildert. Dieser Schilderung liegen offenkundig<br />

eigene Erlebnisse Mauthners zugrunde (vgl. MAUTHNER 1919: 360f.).<br />

Aus biographischer Sicht interessant ist der Ahasver-Roman auch deshalb,<br />

weil er gewissermaßen eine Ergänzung zu Mauthners Erinnerungen darstellt,<br />

in denen seine Berliner Jahre nicht mehr behandelt werden. Zudem<br />

tauchen typische Themen Mauthners immer wieder auf, so etwa Reflexionen<br />

über die Sprache oder auch über deutsch-tschechische Beziehungen.<br />

Die Textfassung des Romans macht leider keinen sehr ausgereiften Eindruck;<br />

bedauerlicherweise finden sich zahlreiche Druckfehler. Hier nur eine<br />

kleine Blütenlese: „Ich werden noch eine kurze Zeit leiden“ (136); „ein<br />

Schwiegersohn mit einer bürgerliche Tätigkeit“ (137); „ein Welt von Abenteuern“<br />

(142); „nehme auch ich vielleicht Dienste in der Türke“ (336). 5<br />

Leider blieb auch Lütkehaus’ Nachwort nicht vom Druckfehlerteufel verschont,<br />

wobei zwei Fehler besonders unangenehm auffallen:<br />

Fritz Mauthner wurde in ‚Hořice‘ geboren oder – bei deutscher Schreibung<br />

– in ‚Horzitz‘ (vgl. MAUTHNER 1918: 12f.) oder – wie es manchmal auch<br />

heißt – in ‚Horitz‘ (vgl. etwa KILLY 1990: 20), keinesfalls aber in „Horzotz“<br />

(375). In seinem sprachphilosophischen Werk, insbesondere in seinem<br />

Wörterbuch der Philosophie, beschäftigt sich Mauthner intensiv mit Lehnübersetzungen,<br />

nicht aber mit „Lehrübersetzungen“ (385).<br />

5 Interessanterweise kommen diese Fehler auch in der elektronischen Fassung des<br />

Ahasver-Romans des Projekts Gutenberg (http://gutenberg.spiegel.de/mauthner/ahasver/ahasver.htm)<br />

vor.<br />

Neue Literatur<br />

Trotz der kleineren ‚Schönheitsfehler‘ darf konstatiert werden, dass die<br />

Herausgabe dieses Romans eine verdienstvolle Tat für die Mauthner-<br />

Forschung darstellt. Wertvoll ist auch die dem Nachwort angehängte Bibliographie.<br />

6<br />

Literatur<br />

ENGEL, Eduard (1882): Fritz Mauthner: ‚Der neue Ahasver‘. – In: Das<br />

Magazin für Litteratur. 51. Jg., Nr. 18, 237–240.<br />

ENGEL, Eduard (1914): Deutsche Stilkunst. 22.-24. Aufl. Wien, Leipzig:<br />

Tempsy & Freytag.<br />

ENGEL, Eduard (1918): Entwelschung. Verdeutschungswörterbuch für<br />

Amt, Schule, Haus und Leben. Leipzig: Hesse & Becker.<br />

HENNE, Helmut/KAISER, Christine (Hg.) (2000): Fritz Mauthner – Sprache,<br />

Literatur, Kritik. Tübingen: Niemeyer.<br />

ICKLER, Theodor (1988): Arthur Schopenhauer als Meister und Muster in<br />

Eduard Engels ‚Deutscher Stilkunst‘. – In: Muttersprache 4. Bd. 98, 297–<br />

313.<br />

KILLY, Walther (Hg.) (1990): Literatur Lexikon Bd. 8. Gütersloh, München:<br />

Bertelsmann.<br />

LEINFELLNER, Elisabeth/SCHLEICHERT, Hubert (Hg.) (1995): Fritz<br />

Mauthner. Das Werk eines kritischen Denkers. Wien, Köln, Weimar: Böhlau.<br />

MAUTHNER, Fritz (1910/11): Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge<br />

zu einer Kritik der Sprache. 2. Bände. München, Leipzig: G. Müller.<br />

MAUTHNER, Fritz (1918): Erinnerungen I. Prager Jugendjahre. München:<br />

Georg Müller.<br />

MAUTHNER, Fritz (1919): Ausgewählte Schriften. Bd. 1. Stuttgart, Berlin:<br />

DVA.<br />

MAUTHNER, Fritz (1920): Muttersprache und Vaterland. Leipzig: Dürr &<br />

Weber.<br />

MAUTHNER, Fritz (1923): Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 3 Bände.<br />

3. Aufl. Leipzig: Meiner.<br />

6 Vgl. aber auch die ausführliche Bibliographie in VIERHUFE (2000: 160f.).<br />

373


374<br />

Neue Literatur<br />

MAUTHNER, Fritz (1923/24): Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge<br />

zu einer Kritik der Sprache 3. Bände. 2. vermehrte Auflage. Leipzig: Meiner.<br />

SAUTER, Anke (2000): Eduard Engel. Literaturhistoriker, Stillehrer,<br />

Sprachreiniger. Bamberg: Collibri.<br />

STIRNEMANN, Stefan (2003): Das gestohlene Buch. Eduard Engels<br />

‚Deutsche Stilkunst‘ und Ludwig Reiners. – In: Schweizer Monatshefte 83.<br />

Jg., Heft 8/9, 50–52.<br />

VIERHUFE, Almut (2000): Politische Satire? Fritz Mauthners Roman ‚Der<br />

neue Ahasver‘ und der Berliner Antisemitismusstreit. – In: H. Henne, Ch.<br />

Kaiser (Hg.): Fritz Mauthner – Sprache, Literatur, Kritik. Tübingen: Niemeyer,<br />

145–161.<br />

Karsten Rinas<br />

Stefan Michael NEWERKLA: Sprachkontakte Deutsch – Tschechisch – Slowakisch.<br />

Frankfurt/Main (Peter Lang) <strong>2004</strong>, 780 Seiten.<br />

In der Einleitung zu seinem Buch Sprachkontakte Deutsch – Tschechisch –<br />

Slowakisch weist Newerkla auf die lange Tradition in der Reflektion der<br />

deutschen Elemente im Tschechischen hin, die bis auf Jan Hus’ spontane<br />

Deutung in Výklad viery... (Auslegung des Glaubensbekentnisses...) bzw.<br />

auf Dobrovskýs Überlegungen zurückgehen, und vermisst eine Monographie,<br />

die auf den deutsch-tschechischen Sprachkontakt umfassend eingehen<br />

würde. Auch sein Buch, in dem viele wichtige Hinweise auf einzelne Themen<br />

in erster Linie des deutsch-tschechischen, weniger des deutschslowakischen<br />

Sprachkontakts enthalten sind, schließt diese Lücke nicht<br />

schon allein deswegen, da im Zentrum seines Buches der Wortschatz, genauer<br />

gesagt, die ca. 3 500 wichtigsten deutschen Lehnwörter im Tschechischen<br />

und Slowakischen (mit 15 000 Wortformen) stehen, während die anderen<br />

Entlehnungen, einschließlich der semantischen, im einführenden Teil<br />

nur in Auswahl erwähnt werden und mit Hinweis zur ausgewählten weiterführenden<br />

Literatur versehen sind. Dabei wäre gerade im Hinblick auf die<br />

Behandlung der Lexik die Fragestellung nach der Bedeutungsstruktur von<br />

polysemen Lexemen (Parallelen in der Metaphorik und den Wortfeldern<br />

sowie in der Wortbildung) als Resultat des Sprachkontaktes von besonderem<br />

Interesse, wie dies etwa in Martin Sandhops Buch Von Abend bis Zunge:<br />

Lexikalische Semantik des Deutschen, Tschechischen, Englischen und<br />

Französischen im Vergleich (2003) deutlich wird. Ähnliches gilt von der<br />

Phraseologie.<br />

Neue Literatur<br />

Die Terminologie der Beschreibung der deutschen Lehnwörter und deren<br />

Adaptation im tschechischen und slowakischen Wortschatz wird im allgemeinen<br />

Hauptteil (17–98) aufbereitet, die Zusammenstellung der deutschen<br />

Lehnwörter und ihrer Wortformen im Tschechischen und Slowakischen, die<br />

nicht vollständig ist und kaum vollständig sein kann, sowie eine einfache<br />

semantisch-etymologische Deutung einschließlich der Hinweise zum Erstbeleg<br />

und zur Quellenliteratur werden im speziellen Hauptteil (99–612)<br />

vorgenommen, der den beeindruckend umfangreichen Kern des verdienstvollen<br />

Wörterbuches bildet. So enthält jeder Eintrag des „eigentlichen Materialteils“<br />

– so Newerkla – die Angabe von Grundform, Bedeutung<br />

(manchmal mit übertragenen Bedeutungen, manchmal nicht, vgl. etwa šoupat<br />

vs. šukat), Herkunft, Variation, Parallelen in anderen – vornehmlich<br />

westslavischen – Sprachen, Erstbelegen, Quellen-, gegebenenfalls auch<br />

ausgewählter Sekundärliteratur. Einer guten und schnellen Orientierung in<br />

der vorliegenden Arbeit, die in sich ein auf deutsch-tschechischen Sprachkontakt<br />

spezialisiertes etymologisches Wörterbuch darstellt, dienen ein Abkürzungsverzeichnis,<br />

ein Siglenverzeichnis der Quellen, ein ausführliches<br />

Literaturverzeichnis und ein Autoren- sowie jeweils ein Wortregister für das<br />

Tschechische und für das Slowakische (613–780).<br />

Im allgemeinen Hauptteil geht Newerkla etwa auf die Frage der Klassifikation<br />

von Entlehnungen, der Adaptation in der Lautung, Morpho(no)logie,<br />

Wortbildung und Semantik sowie auf Richtung und Zeitpunkt kultureller<br />

Strömungen ein, die sich in den Entlehnungen spiegeln und die seine Ausführungen<br />

zum Wortschatz vorbereiten. Zu betonen ist hier v.a. die in Anlehnung<br />

auf Bellmann vorgenommene Unterscheidung von Lehnwörtern<br />

des Typs A, die bisher unbekannte Gegenstände und Kategorien bezeichnen<br />

(Kulturlehnwörter) und die die besten Chancen auf volle Integration ins<br />

Tschechische oder Slowakische haben, und denen des Typs B, die als Alternativen<br />

zum tschechischen und slowakischen Wortgut verstanden werden<br />

können und das Tschechische und Slowakische semantisch, vor allem aber<br />

stilistisch bereichern. Durch die sonst sinnvolle Unterscheidung von „Geber-“<br />

und „Ursprungssprache“ (33), durch die der Autor die für seine Fragestelltung<br />

in Frage kommende Unterscheidung „echte“ und „unechte Germanismen“<br />

ablöst, wird jedoch in Newerklas Wörterbuch, das sich als „ein<br />

vollständiges etymologisches Wörterbuch“ (32) versteht, das Konzept der<br />

mehrfachen Etymologie und die Unterscheidung zwischen genetischer, primärhistorischer<br />

und historischer Quelle von Sekundärentlehnungen etwas<br />

verkürzt dargestellt.<br />

In ergänzenden Exkursen setzt er sich mit den in der Sekundärliteratur<br />

mehrmals angesprochenen Fragen phonologischer Sprachwandelprozesse<br />

und des Sprachkontakts, des andernorts wiederholt ausführlicher behandel-<br />

375


376<br />

Neue Literatur<br />

ten mitteleuropäischen Sprachbundes, der Verdrängung von Lehnwörtern<br />

(Sprachpurismus) sowie der Frage des Tschechischen als Vermittler von<br />

deutschen Lehnwörtern ins Polnische und Slowakische auseinander. Gerade<br />

diese Exkurse machen deutlich, dass im Zentrum von Newerklas Interesse<br />

eindeutig die Sprachkontakte Deutsch – Tschechisch stehen. Das im Titel<br />

des Buches erwähnte Slowakische ist nicht direkt, sondern über den besonderen<br />

alphabetischen Register (zum Tschechischen und) zum Slowakischen<br />

erschließbar.<br />

Im „speziellen Hauptteil“ bzw. im „eigentlichen Materialteil“ unterscheidet<br />

Newerkla zwischen den „Entlehnungen“ und „vermeintlichen Entlehnungen“,<br />

im Rahmen der „Entlehnungen“ geht er zunächst chronologisch vor,<br />

d.h. es werden alphabetisch Entlehnungen aus dem Germanischen/Westgermanischen,<br />

dem Gotischen, dem frühen Althochdeutschen, dem Althochdeutschen,<br />

dem Altsächsischen, dem Mittelhochdeutschen, dem älteren<br />

Frühneuhochdeutschen, den oberdeutschen Dialekten (nach 1350), den mitteldeutschen<br />

Dialekten (nach 1350), dem Mittelniederdeutschen (bis 1650)<br />

bzw. Niederdeutschen, dem jüngeren Frühneuhochdeutschen, Neuhochdeutschen<br />

zusammengestellt. Innerhalb dieser Sektionen wird alphabetisch geordnet.<br />

Vor diesem Hintergrund erscheint die Erstellung des Wortregisters,<br />

das eine Orientierung quer durch genannte Sektionen überhaupt möglich<br />

macht, sehr vorteilhaft.<br />

Allein durch den Hinweis auf Newerklas Gliederung wird neben der Frage<br />

von Varietäten und diesbezüglichen Quellen, die nur partiell berücksichtigt<br />

wurden, auch das Problem angesprochen, wie das Material zu gliedern ist,<br />

das auf unterschiedlichen Wegen ins Tschechische und Slowakische gelangte.<br />

Im Hinblick darauf, dass Newerklas Perspektive vorrangig eine diachrone<br />

ist (vgl. etwa Angaben zum Erstbeleg im Tschechischen/Slowakischen,<br />

u.a.), ist aber seine Gliederung durchaus nachvollziehbar, auch wenn im<br />

Rahmen des „Neuhochdeutschen“ (417–518) „Entlehnungen vornehmlich<br />

österreichischer bzw. bairisch-österreichischer Herkunft“ (401–417) auffallend<br />

bescheiden ausfallen und die Frage der Varietäten noch einmal dringend<br />

vor Augen führen. Würden wir Newerklas Unterscheidung von Geber-<br />

und Urpsrungssprachen auf die Varietäten übertragen, entspricht die schwache<br />

Vertretung von „Entlehnungen vornehmlich österreichischer bzw. bairisch-österreichischer<br />

Herkunft“ kaum der Realität. Die schwache Vertretung<br />

von „Entlehnungen vornehmlich österreichischer bzw. bairischösterreichischer<br />

Herkunft“ hat dabei unterschiedliche Gründe. Einerseits<br />

fehlen hier manche Lexeme, andererseits werden sie unter Entlehnungen<br />

aus dem Neuhochdeutschen eingereiht, auch wenn diese von der Aussprache,<br />

der Form, der Frequenz und dem Umfang der Vorkommensweisen oder<br />

der Bedeutung doch eher dem Süddeutschen zuzuordnen sind bzw. über das<br />

Neue Literatur<br />

Süddeutsche gekommen sind: aušus, ešus; vuřt, frajle, hajzl, lajtnant, vikslajvant;<br />

hic, šprot, punc, kvinde, knop, jeminkote/jesuskote, pešunk, perkamt,<br />

piglovat, plenta, putyka; šuple; fusekle, grešle, grundle, kaprle, kapsle,<br />

koprle, kramle, mašle; fajn(ový); sesle, kajzrrok, prýglpatent, štrúdl,<br />

štrycle... Die süddeutsche Vermittlung müsste auch bei Entlehnungen wie<br />

kilo, minuta, lupa, perón... berücksichtigt werden.<br />

Newerklas Gliederung wirft außerdem auch die Frage auf, wo Entlehnungen<br />

zu platzieren und zu suchen sind, bei denen z.B. das Altbairische eine Rolle<br />

spielte, das etwa Šlosar im Zusammenhang mit dem lat. organa – abai. argana<br />

– tschech. varhana, varhany erwähnt. Newerkla löst diese Frage dadurch,<br />

dass er die altbairische Vermittlung von varhany gar nicht erwähnt<br />

und dieses unter Lehnwörter einreiht, „die vielmehr Entlehnungen aus dem<br />

Lateinischen bzw. den romanischen Sprachen sind“, auch wenn damit wohl<br />

kaum ernsthaft behauptet werden kann, dass diese nicht durch das sie bereits<br />

integrierende „Deutsche“ vermittelt bzw. dass diese nicht aus dem sie<br />

bereits integrierenden „Deutschen“ entlehnt wurden.<br />

Diese Bemerkungen mindern aber nicht die Bedeutung des rezensierten<br />

Wörterbuches deutsch-tschechischer (und -slowakischer) Lehnwörter, das<br />

auf den Arbeiten von J. Beneš, E. Eichler, B. Havránek, J. Janko, M. Jelínek,<br />

I. Němec, E. Rippl, V. Šmilauer, D. Šlosar, E. Skála, P. Trost u.a.m.<br />

sowie den verdienstvollen dialektologisch oder soziolinguistisch ausgerichteten<br />

Arbeiten von S. Kloferová, S. Utěšený, J. Ernst, J. van Leeuwen-<br />

Turnovcová u.a. aufbaut, sie konkretisiert und in beachtlicher Fülle erweitert.<br />

So bildet dieses Wörterbuch zweifellos eine wichtige Grundlage für<br />

weitere Forschung zum Sprach- und Kultukontakt im mitteleuropäischen<br />

Kontext nicht nur für Linguisten.<br />

377<br />

Marek Nekula<br />

Heinrich PLETICHA (Hg.): Piaristen und Gymnasiasten. Schülerleben im<br />

alten Prag. (Bibliotheca Bohemica Band 40) Prag, Furth (Vitalis) 2001, 102<br />

Seiten.<br />

Dieser Sammelband bietet Texte, in denen in Prag aufgewachsene Autoren<br />

über ihre dort verbrachte Schulzeit berichten. Er enthält einen kurzen Passus<br />

über das Piaristengymnasium aus Fritz Mauthners Erinnerungen (11–20) (=<br />

MAUTHNER 1918: 37–47), einen Auszug aus dem Kapitel „Die Piaristenschule“<br />

aus E.E. Kischs Abenteuern in Prag (21–25) (= KISCH 1968<br />

[1920]: 359–362), das Gedicht Erster Schultag von Franz Werfel (27–30)<br />

und als Hauptstück das 1888 verfasste humoristische ‚Schul-Epos‘ Die


378<br />

Neue Literatur<br />

Meyeriade von Oskar Kraus (31–84) nebst dem nachträglich von Kraus verfassten<br />

25. Gesang (91–99) sowie einigen Bemerkungen zur Meyeriade von<br />

Kisch (85–90) (= KISCH 1968 [1920]: 403–407). Informationen über die<br />

Texte und deren Autoren finden sich in Pletichas Vorwort (7–10) sowie in<br />

den biographischen Hinweisen (101f.).<br />

Der aus Nordböhmen stammende Historiker Heinrich Pleticha hat schon<br />

früher Arbeiten zur Geschichte der Pädagogik ‚aus der Schülerperspektive‘<br />

veröffentlicht. In seinem Jugendbuch Ihnen ging es auch nicht besser<br />

(PLETICHA 1965) lässt er in fiktiven, aber auf Quellenstudien basierenden<br />

Berichten Schüler aus vier Jahrzehnten über ihren Alltag berichten. Und in<br />

dem von ihm herausgegebenen Band Die Kinderwelt der Donaumonarchie<br />

(PLETICHA 1995) werden u.a. auch Schule und Erziehung im alten Österreich<br />

behandelt, v.a. im Beitrag von Winfried Böhm (1995). Des Weiteren<br />

findet sich in letzterem Werk ebenfalls ein Passus aus Fritz Mauthners Erinnerungen,<br />

in welchem dieser über den Tschechischunterricht berichtet<br />

(PLETICHA 1995: 127f. = MAUTHNER 1918: 128–130).<br />

Pletichas Vorwort zum Sammelband ist recht knapp gehalten. Wirklich informativ<br />

ist es lediglich im Hinblick auf die Meyeriade, ansonsten sind die<br />

Ausführungen teilweise oberflächlich. Dies gilt namentlich für die Bemerkungen<br />

zu Mauthners Bericht. Pleticha beschränkt sich auf die Feststellung,<br />

dass dieser „voll ätzender Schärfe [ist], geprägt wohl von der sozialen Stellung<br />

des ehemaligen Schülers und sicher etwas zu einseitig; denn sonst hätten<br />

wohl kaum so viele angesehene Familien ihre Kinder an die Piaristen-<br />

Schulen geschickt“ (8). Dies mag stimmen, doch vermisst man hier weitergehende<br />

Informationen darüber, warum Mauthners Bericht so scharf ausfällt.<br />

Hier ist zunächst einmal hervorzuheben, dass es sich gerade bei<br />

Mauthners Ausführungen keineswegs um beiläufig hingeschriebene Erinnerungsfragmente<br />

handelt. Vielmehr wird gerade die Schulzeit in Mauthners<br />

erstem Teil seiner Erinnerungen – weitere Teile sind nicht erschienen – in<br />

aller Ausführlichkeit behandelt, was Mauthner auch im Vorwort gewissermaßen<br />

programmatisch begründet:<br />

Eines aber sollte jeder, so gut er es versteht, niederschreiben und veröffentlichen: seine eigenen<br />

Schulerinnerungen. Denn die Schule hat seit mehr als hundert Jahren, eigentlich langsam schon<br />

seit dem Aufkommen der mittelalterlichen Gelehrtenschule, eine solche Macht gewonnen, eine<br />

Macht über die Entwicklung des jungen Menschen, daß das Schicksal des künftigen Geschlechtes<br />

in hohem Grade davon abhängig ist, ob wir taugliche oder untaugliche Schuleinrichtungen<br />

besitzen. (MAUTHNER 1918: 8)<br />

Bereits hier kommen Mauthners reformpädagogische Interessen zum Ausdruck,<br />

noch deutlicher aber in folgendem Passus:<br />

Gerade in den letzten Jahren konnte das jeder vernehmen, der seine Ohren nicht verschloß für<br />

die zu einer Anklage angewachsenen Klagen gegen die alte Schule. In den sehr lesenswerten<br />

Neue Literatur<br />

Beratungen über die Einrichtung einer einheitlichen Zukunftsschule, einer Neuschule, die die<br />

Kinder aus den Fesseln einer rückständigen Pädagogik befreien soll, hörte man immer wieder<br />

in fast tragischen Tönen ein Verdammungsurteil über die Schulzeit der jetzt führenden Lehrer<br />

und gewiß über die Schulnot just der begabtesten Knaben. [...] Es soll mir recht sein, wenn sich<br />

die jungen Lehrer auch auf mich alten Herrn werden berufen können. (MAUTHNER 1918: 10)<br />

Derlei Bekundungen stehen in Mauthners Werk keineswegs vereinzelt da.<br />

Vor allem der Artikel „Schule“ seines Wörterbuchs der Philosophie<br />

(MAUTHNER 1911: 388–398 bzw. MAUTHNER 1924: 151–164) stellt<br />

ein leidenschaftliches Pamphlet gegen das traditionelle Schulsystem dar, in<br />

welchem u.a. die schablonenhafte Gleichbehandlung aller Schüler – auch<br />

der besonders Begabten –, der militärische Drill, das sture Auswendiglernen<br />

ohne eigenständiges Denken und die Korruption an den Schulen kritisiert<br />

werden. Und gerade Mauthners Erinnerungen können als Exemplifizierung<br />

dieser Ausführungen gelesen werden. Meines Erachtens wäre es angebracht<br />

gewesen, in der Einleitung zum Sammelband auf diesen Hintergrund hinzuweisen.<br />

Das Thema Schule interessierte Mauthner aber nicht nur in reformpädagogischer<br />

Hinsicht. Vielmehr war es für ihn – wie für viele Deutschböhmen<br />

jener Zeit – auch ein nationales ‚Reizthema‘. Mauthner selbst spricht von<br />

der „Erbitterung, mit welcher in Böhmen noch gegenwärtig um Sprache und<br />

Schule gekämpft wird“ (MAUTHNER 1918: 126). Dass gerade die Schulfrage<br />

in den nationalen Konflikten zwischen Deutschen und Tschechen ein<br />

besonders heikles Thema war, ist auch in der modernen Geschichtsschreibung<br />

unumstritten (vgl. SEIBT 1993: 279f.). Mauthner hat dieses Thema<br />

auch in seinen – deutlich antitschechisch geprägten – ‚böhmischen Novellen‘<br />

Der letzte Deutsche von Blatna (1887) und Die böhmische Handschrift<br />

(1897) aufgegriffen.<br />

Die Schule als Gegenstand deutsch-tschechischer Konflikte wird von Pleticha<br />

nicht behandelt. Sowohl Pletichas Ausführungen als auch seine Textauswahl<br />

wirken diesbezüglich vielmehr stark ‚geglättet‘. So ist es durchaus bezeichnend,<br />

dass der zitierte Bericht Mauthners nicht – wie behauptet (101) – das<br />

ganze Kapitel V aus Mauthners Erinnerungen bietet, sondern dass vielmehr<br />

der Schluss-Passus fehlt, in welchem Mauthner gegen die tschechische Ausrichtung<br />

des Piaristen-Gymnasiums polemisiert (MAUTHNER 1918: 47f.).<br />

Der weggelassene Passus beginnt folgendermaßen:<br />

Die tschechische Gesinnung der Lehrer, die sich von Jahr zu Jahr offener und gehässiger äußern<br />

durfte, hatte nun wieder üble Folgen für die Behandlung der Schüler. (MAUTHNER<br />

1918: 47)<br />

Weiter heißt es:<br />

Schlimmer war es schon, daß diese geistlichen Herren [d.h. die Lehrer] für alle nationalen<br />

Unternehmungen der Anhänger von Johannes Hus die wärmsten Gefühle äußerten und zu<br />

379


380<br />

Neue Literatur<br />

wecken suchten; am schlimmsten aber, daß die Knaben aus den rein deutsch gebliebenen Zipfeln<br />

Böhmens für ihre Unkenntnis der tschechischen Sprache bei jeder Gelegenheit gehänselt<br />

und zurückgesetzt wurden. Eine theatralische Begeisterung für die Hussitenkriege in einem<br />

katholischen Klostergymnasium, da stimmte etwas nicht. (MAUTHNER 1918: 47f.)<br />

Auch die im Sammelband zitierten Erinnerungen Kischs brechen recht<br />

abrupt ab. Unter anderem fehlt folgender Abschnitt:<br />

Vor dem Schulgebäude fingen oft Tschechen mit uns Streit an, es waren Buben aus der<br />

Übungsschule der Lehrerbildungsanstalt von nebenan [...] Sie griffen uns nur an, weil das nationale<br />

Pflicht war, dabei hatten sie wahrscheinlich mehr Angst als meine Mitschüler. (KISCH<br />

1968 [1920]: 363)<br />

Es muss verwundern, dass dieser Aspekt in Pletichas Sammelband unberücksichtigt<br />

geblieben ist. Das Schülerleben im alten Prag beschränkte sich<br />

keineswegs auf das Aushecken von Streichen und den Umgang mit Lehrer-<br />

Originalen.<br />

Des Weiteren ist es bedauerlich, dass Pleticha nicht auf weiter führende<br />

Literatur verweist. Gerade der – von Pleticha selbst herausgegebene – Beitrag<br />

von Böhm (1995) wäre hier durchaus der Erwähnung wert gewesen.<br />

Dennoch ist die Herausgabe dieses Sammelbandes durchaus verdienstvoll.<br />

Namentlich die Wiederveröffentlichung der Meyeriade ist zu begrüßen,<br />

handelt es sich doch hierbei nicht nur um eine sehr vergnügliche, sondern<br />

auch kulturhistorisch reizvolle Lektüre.<br />

Literatur<br />

BÖHM, Winfried (1995): Kindergarten, Volksschule, Schulreform und<br />

pädagogische Ideen. – In: H. Pleticha (Hg.), Die Kinderwelt der Donaumonarchie.<br />

Wien: Ueberreuter, 129–151.<br />

KISCH, Egon Erwin (1968 [1920]): Die Abenteuer in Prag. – In: Ders.,<br />

Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. II, 1: Aus Prager Gassen und<br />

Nächten / Prager Kinder / Die Abenteuer in Prag. Hg. v. Bodo Uhse & Gisela<br />

Kisch. Berlin, Weimar: Aufbau, 323–582. [Erstveröffentlichung 1920]<br />

MAUTHNER, Fritz (1887): Der letzte Deutsche von Blatna. Erzählung aus<br />

Böhmen. Dresden, Leipzig: Minden.<br />

MAUTHNER, Fritz (1897): Die böhmische Handschrift. Roman. Paris,<br />

Leipzig, München: Langen.<br />

MAUTHNER, Fritz (1911): Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu<br />

einer Kritik der Sprache. 2. Band. München, Leipzig: G. Müller.<br />

Neue Literatur<br />

MAUTHNER, Fritz (1918): Erinnerungen I. Prager Jugendjahre. München:<br />

Georg Müller.<br />

MAUTHNER, Fritz (1924): Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu<br />

einer Kritik der Sprache 3. Band. 2. vermehrte Auflage. Leipzig: Meiner.<br />

PLETICHA, Heinrich (1965): Ihnen ging es auch nicht besser. Schule und<br />

Schüler in vier Jahrtausenden. Würzburg: Arena.<br />

PLETICHA, Heinrich (Hg.) (1995): Die Kinderwelt der Donaumonarchie.<br />

Wien: Ueberreuter.<br />

SEIBT, Ferdinand (1993): Deutschland und die Tschechen. München, Zürich:<br />

Piper.<br />

381<br />

Karsten Rinas<br />

Dieter WILDE: Der Aspekt des Politischen in der frühen Lyrik Hugo Sonnenscheins.<br />

Frankfurt/Main, Berlin (Lang) 2002, 322 Seiten.<br />

Dieter Wilde legt eine Publikation vor (zugleich Dissertation, Wien 2002),<br />

deren überzeugendste Stärke auf den ersten Blick sichtbar ist: Akribie, Präzision,<br />

höchste Zuverlässigkeit angegebener Fakten, die in unermüdlicher<br />

Recherche aller möglichen zugänglichen Quellen zusammengetragen wurden.<br />

Man ist feuilletonistisch versucht zu kommentieren, dass jeder polizeiliche<br />

Meldezettel, jeder beschlagnahmte Koffer Sonnenscheins, jeder Erinnerungsblitz<br />

der Zeitgenossen und Nachkommen, jede Briefzeile<br />

ausgewertet wurde (und wenn Wilde konstatiert, dass er zu diesem und jenem<br />

Umstand in Sonnenscheins Leben keine Belege gefunden hätte, dann<br />

kann man getrost davon ausgehen, dass es sie endgültig nicht gibt), so dass<br />

das Bild des südmährischen Rebellen-Dichters plastisch und zugleich historisch<br />

verankert und wissenschaftlich zuverlässig vor den Augen des Lesers<br />

entsteht. Die minuziöse Akribie ist gerade um Hugo Sonnenschein nötig,<br />

denn selten wurde in der böhmisch-mährischen Literaturgeschichte ein Dichter<br />

mit einem so dichten Netz an ideologisierten Spekulationen, überstürzten<br />

politischen Zuweisungen, an schlichtweg falschen und unsinnigen Darlegungen<br />

überzogen wie Sonnenschein. Wilde fasst in seiner Studie die vielen literaturgeschichtlichen<br />

Mythen um Sonnenschein zusammen (wobei die einflussreichsten<br />

wohl von Serke stammen) und korrigiert sie überzeugend.<br />

Ob diesem archivarischen Aufwand (häufig ist der Umfang der erklärenden<br />

und belegenden Fußnoten viel größer als der des Fließtextes, wobei die Studie<br />

aber an Leserlichkeit und Spannung nichts einbüßt) ist man allerdings<br />

geneigt ein Bedauern auszusprechen, dass Wilde nicht dem kompletten


382<br />

Neue Literatur<br />

Werk und Lebenslauf Sonnenscheins sich zugewendet hat, sondern dezidiert<br />

nur den frühen Phasen vor dem 1. Weltkrieg. 1 Hätte er das Ganze umfasst,<br />

wäre zwar bei seiner Arbeitsweise eine Studie von wohl tausendseitigem<br />

Umfang entstanden, andererseits wäre das Thema Sonnenschein für die<br />

Literaturgeschichte ein für allemal ‚abgehakt‘. Es bleibt zu hoffen, daß Wilde<br />

einen zweiten Teil nachliefert.<br />

Neben dem hohen heuristischen Wert der Arbeit ist deren methodischer<br />

Ansatz hoch zu schätzen. Gemeint sind nicht etwa die theoretischen Ausführungen<br />

über Kontextualität, den „New Historism und Cultural Materialism“<br />

im Einführungskapitel Theoretische Prämissen/ Begrifflichkeit (38ff),<br />

denn dieses Kapitel hätte sich der Autor getrost sparen können: Die – zwar<br />

sehr richtigen – Resultate der theoretischen Überlegungen (S. 54f) gehören<br />

nämlich zum literaturtheoretischen Allgemeingut, zur technischen Grundausrüstung<br />

(„Wellek hat’s auch schon gewußt“) und hätten auch ohne die<br />

vorangehenden Theorie-Fanfaren und -Paukenschläge formuliert werden<br />

können, 2 zumal nach der Parade so mancher moderner und postmoderner<br />

theoretischer Denkansätze in den folgenden, Sonnenscheins Werk gewidmeten<br />

Kapiteln sowieso der alte gute interpretatorische Eklektizismus, der<br />

Motivanalyse, hermeneutische Techniken und intertextuelle Ansätze auf<br />

dem Hintergrund der kulturgeschichtlichen Methode vereint, angewendet<br />

wird – denn so ist es ja am Sinnvollsten.<br />

Gemeint ist vielmehr der methodische Ansatz Wildes – der als solcher zwar<br />

nicht explizit benannt, dafür umso dezidierter praktisch ausgeführt wird –<br />

die deutschbömhische/ deutschmährische Literatur auf der Grundlage des<br />

territorialen Prinzips zu untersuchen, d.h. vereinfacht, sie im Kontext der<br />

parallel existierenden tschechischen Literatur zu behandeln. Denn obwohl<br />

es in der Geschichte der deutschböhmischen Literatur nur noch wenige<br />

Dichter gibt, die in den tschechischen literarischen und politischen Kontext<br />

so stark eingebunden wären wie Sonnenschein, ist die territoriale Methode<br />

(die sich über Sprachgrenzen und Grenzen nationaler Gruppierungen hinwegsetzt)<br />

allgemein die einzig sinnvolle für diesen national und ethnisch<br />

durchmischten Raum. Freilich fordert die Anwendung dieser Methode vom<br />

Forscher eine nicht alltägliche Ausrüstung: Sprachkompetenz in beiden<br />

Idiomen, tiefen Einblick in historische, kultur- und literaturhistorische Zusammenhänge,<br />

Spürsinn für Mentalitätseigenheiten. Von allen diesen Fertigkeiten<br />

macht Wilde souverän Gebrauch, die Einbindung des Sonnen-<br />

1 Allerdings weist Wilde häufig auch auf spätere Texte und weitere Lebensschicksale<br />

Sonnenscheins.<br />

2 Andererseits ist mir bewusst, daß die Textsorte Dissertation ein solches theoretisches<br />

Kapitel wohl verlangt.<br />

Neue Literatur<br />

scheinschen Werkes in den tschechischen literarischen Kontext seiner Zeit<br />

stellt die größte Leistung der Studie dar und weist womöglich weiteren Forschern<br />

den Weg: Der Einfluss Březinas, Bezručs, der ‚buřiči‘ und weiterer<br />

tschechischer Dichter fand in der bisherigen Erforschung der deutschböhmischen<br />

Literatur nur vereinzelt Erwähnung.<br />

Ob der gelungenen intertextuellen Vergleiche der Lyrik Sonnenscheins und<br />

der tschechischen Dichter müsste eigentlich der kritische Einwand, dass<br />

nämlich der andere Kontext, der Kontext der deutschen (und österreichischen<br />

und Prager deutschen) präexpressionistischen Lyrik eher stiefmütterlich behandelt<br />

wird, unter etwas plakativer Anwendung einer wenig repräsentativen<br />

und wenig zutreffenden Textauswahl leidet und eher unbefriedigende<br />

Resultate zeitigt, verstummen – genauso wie gelegentliche andere kritische<br />

Bemerkungen. Doch seien einige hier – der Vollständigkeit halber und der<br />

Textsorte einer Rezension zu Ehren – angeführt:<br />

Im – stark subjektiven – interpretatorischen Bereich scheinen mir Wildes<br />

wiederholte Betonungen der „semantischen Widersprüche“ (94) und „miteinander<br />

konkurrierenden Konzepte“ (78) in Sonnenscheins Darstellung des<br />

dichterischen Ich etwas übertrieben zu sein: Beide Pole des Ich, das starke,<br />

revoltierende, führende, verachtende einerseits und das leidende, ausgestoßene,<br />

verhöhnte andererseits lassen sich genausogut als komplementäre Figuren<br />

einer in sich stimmigen, stilisierten lyrischen Rolle/Masche auffassen<br />

(zumal Sonnenschein – was Wilde weiss – zur Autostilisierung häufig neigte):<br />

Die größere Leidenschaftsfähigkeit, das bessere Leiden-Können berechtigt<br />

das stilisierte Dichter-Ich erst zum elitären Führer-Gehabe.<br />

Allgemein scheint mir, dass Wilde seinen Dichter, dessen Aussagen zum<br />

Politisch-Sozialen streckenweise „etwas zu ernst nimmt“. Häufig ist Sonnenscheins<br />

wilde Rebellen-Gebärde eben nur eine Geste, ein literarisches<br />

Programm, häufig auch nur eine Antwort auf ebenso wilde (aber ebenso<br />

wenig ernst gemeinte) Gebärden seiner tschechischen Anarchisten-Freunde.<br />

Das „Lumpenproletariat“ wird von Sonka so häufig auch wegen dessen exotischer<br />

und provozierender (also rein rezeptiv-literarischer) Qualitäten dargestellt.<br />

Ob des Einzielens auf „ernsthafte“ politische Inhalte in der Lyrik<br />

Sonnenscheins, überliest Wilde manchmal die Selbstironie der Gedichte, hat<br />

kein Ohr für deren urwüchsige Fröhlichkeit, für deren – am mährischen<br />

Volkslied geschulten – klangmalerischen, rhythmischen Qualitäten, die<br />

Sonnenschein häufig Grund genug sind, ein Gedicht zu verfassen, die politischen<br />

Inhalte gesellen sich sozusagen automatisch versatzstückartig hinzu.<br />

Auch aus diesem Grunde scheint mir das Messen der Sonnenscheinschen<br />

Dichtungen an anarchistischen Theorien seiner Zeit (Tolstoj, Landauer,<br />

Kropotkin, Stirner, 247ff) problematisch, obwohl die Werke dieser Denker<br />

geeint im beschlagnahmten Koffer Sonnenscheins aufgefunden wurden.<br />

383


384<br />

Neue Literatur<br />

Im Bereich des Jüdischen ist Wildes nachvollziehbare, faktenreiche und<br />

trotzdem übersichtliche Darstellung der problematischen Lage des Judentums<br />

zwischen den beiden nationalen Lagern zu loben, mit besonderem<br />

Nachdruck vor allem sein Versuch, auf die (sonst wenig beachteten) Unterschiede<br />

zwischen Böhmen und Mähren hinzuweisen. Nur eine kleine Korrektur<br />

sei mir erlaubt: Die mährischen Juden haben sich nicht etwa deshalb<br />

in einem viel geringerem Maße an das Tschechische assimiliert als die<br />

böhmischen Juden (Wilde gibt 15,34 % für Mähren und 54 % für Böhmen/Kolín<br />

um die Jahrhundertwende an), weil „der tschechische Antisemitismus<br />

zu Beginn des Jahrhunderts gerade in Mähren seine Hofburg“ hätte<br />

(197), sondern weil – historisch bedingt – die Siedlungsstruktur in Mähren<br />

anders war als in Böhmen. Hier nämlich geschlossene, intakte jüdische<br />

Stadtviertel mit deutschsprachiger Infrastruktur, dort zersprengte einzelne<br />

Niederlassungen im tschechischen Umfeld. (Diese Darstellung gilt freilich<br />

für das böhmische ‚flache Land‘, nicht für Prag.)<br />

Im Bereich der jüdischen Motivik wäre noch ein Kritikpunkt anzumelden,<br />

daß Wilde nämlich am Anfang seiner Studie etwas überstürzt die vielen<br />

Messias-Gestalten Sonnenscheins mit der Christus-Figur identifiziert (67,<br />

70), wobei gerade Gedichte wie Des Menschen Sohn und Der Heiland viel<br />

eher auf die jüdische, alttestamentliche Messiah-Tradition referieren – welches<br />

Zugeständnis der Leser aber erst nach hundert Seiten findet (172).<br />

Im Bereich der historisch-ethnographischen Darstellungen schließlich<br />

möchte ich meine Hochachtung vor Wildes Bemühung aussprechen, das<br />

‚Mährisch-Slowakische‘ (das in den Gedichten Sonnenscheins häufig verkürzt,<br />

nur als ‚slowakisch/Slowake‘ vorkommt) im Einflussbereich zwischen<br />

dem (Österreichisch-)Böhmisch-Mährischen und dem eigentlich (Ungarisch-)Slowakischen<br />

richtig zu orten. Trotzdem fürchte ich, daß eben die<br />

Heranziehung der ungarisch-slowakischen Problematik (die sich von der<br />

Situation in den österreichisch verwalteten Ländern der Böhmischen Krone<br />

doch gravierend unterschied) die Erklärung eher vernebelt und dass – besonders<br />

ein deutscher Leser – nicht ‚klug wird‘ aus dieser Darstellung.<br />

Wie jedes wissenschaftliche Buch wird auch Wildes Studie keinen sehr<br />

breiten Leserkreis finden, doch die Handvoll von Fachleuten, die sich entweder<br />

mit deutschböhmischer Literatur, mit dem Anarchismus um die Jahrhundertwende,<br />

oder mit jüdischen Lebenswelten beschäftigen, werden seine<br />

Leistung zu würdigen wissen.<br />

Ingeborg Fiala-Fürst<br />

Neue Literatur<br />

Germanistica Pragensia XVI. Acta Universitatis Carolinae. Philologica 3.<br />

Praha: Univerzita Karlova (Karolinum) 2002 [Sonderheft zu Christian Heinrich<br />

Spieß], 104 Seiten.<br />

Im November 1999 fand anlässlich des 200. Todestages im Prager Franz-<br />

Kafka-Zentrum eine vom Prager Germanisten Václav Maidl organisierte<br />

Konferenz zu Christian Heinrich Spieß und seiner Zeit statt, geleitet von<br />

dem Anspruch, die vielfältigen Aktivitäten dieses für seine Zeit nicht unbedeutenden<br />

‚Trivialautors‘ interdisziplinär zu beleuchten. Den nun vorliegenden<br />

Konferenzbeiträgen entnimmt man ein vielschichtiges Bild eines<br />

Künstlers, der zwar nicht zu den großen seiner Zeit zählt, der aber, wie Michael<br />

Titzmann zeigt, „durchaus an den zentralen ideologischen Diskursen<br />

der Epoche sich auf seine – bescheidene – Weise beteiligt hat.“ 1<br />

Der Autor Spieß wurde dabei schon von der folgenden Generation verworfen,<br />

wie Josef Kamarýts Einwände in einem Brief an František Ladislav<br />

Čelakovský belegen, seien doch die Leser durch die Lektüre von Spieß<br />

‚verdorben‘ und deshalb nicht imstande, ‚Schillers wahre Kunst‘ wahrzunehmen.<br />

2 Der Verdacht gegen das Populäre dürfe aber nicht die heutige<br />

Beschäftigung mit Spieß verbieten, der als „Bestseller-Autor seiner Zeit [...]<br />

zum einen konsequent die inhaltlichen und formalen Wege, die zum sicheren<br />

Erfolg bei seinem Lesepublikum führten“, nutzte und somit durchaus<br />

Modernität bewies, während er andererseits inhaltlich mit seinen Texten<br />

hinter die Positionen der Aufklärung zurückging, wenn er den „Menschen<br />

als Spielball nicht über die Ratio beherrschbarer Kräfte präsentiert.“ 3 Es ist<br />

gerade das Zwiespältige in den Texten von Spieß, welches einen Zugriff auf<br />

die Zeit ermöglicht:<br />

Die Analyse seines Werkes vermittelt nicht nur Erkenntnisse über den beim Leser erfolgreichsten<br />

Zweig der deutschsprachigen Literatur aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sie<br />

gewährt auch Einblicke in die Entwicklung und die bis heute wirkungsvollen Mechanismen der<br />

Unterhaltungskunst. (Hartje 2002: 31)<br />

Gerne hätte man allerdings etwas darüber erfahren, ob Spieß mit seinen<br />

Texten nicht schon Aspekte der romantischen Aufklärungskritik antizipierte.<br />

1 Titzmann, Michael: Die Erzähltexte von Christian Heinrich Spieß und ihr<br />

Beitrag zur Anthropologie der Goethezeit, 9–18, 17.<br />

2 Maidl, Václav: Die Rezeption von Christian Heinrich Spieß in den böhmischen<br />

Ländern, 43–53, 44.<br />

3 Hartje, Ulrich: Der Romanautor Christian Heinrich Spieß im Kontext populärer<br />

Unterhaltungsliteratur, 19–32, 30.<br />

385


386<br />

Neue Literatur<br />

Spieß und seine Zeit werden gemäß interdisziplinärem Ansatz der Konferenz<br />

in einem breiten kulturhistorischen Kontext betrachtet. Die Situation<br />

des Theaters und damit die Rolle des Schauspielers und Dramenautors<br />

Spieß finden genau so Berücksichtigung wie die Rolle der Prager Universität,<br />

die sich in der Folge der theresianischen Schulreformen aus der kirchlich-jesuitischen<br />

Aufsicht herauslöst und in eine staatliche überführt wird. 4<br />

Insofern ist es konsequent, dass ein weiterer Beitrag sich mit einem wichtigen<br />

Zeitgenossen von Spieß, mit Karl Heinrich Seibt, beschäftigt, der ja als<br />

erster Nichtjesuit und späterer Rektor eng mit der Reform der Prager Universität<br />

verbunden war. 5 Gerade die Schüler Seibts, u.a. Josef Dobrovský,<br />

Josef Jungmann und Bernard Bolzano, sollten in den Folgejahren das intellektuelle<br />

Leben in Prag maßgeblich beeinflussen.<br />

Die vorliegenden Beiträge schließen somit eine wichtige Lücke der germanistischen<br />

Forschung zum späten 18. Jahrhundert, ist doch das Wirken von<br />

Christian Heinrich Spieß lange Zeit in der Fachdiskussion unberücksichtigt<br />

geblieben.<br />

Steffen Höhne<br />

4 Jacubcová, Alena: Das Theater in Prag zur Zeit von Christian Heinrich Spieß,<br />

61–74; Čornejová, Ivana: Die Prager Universität in der zweiten Hälfte des 18.<br />

Jahrhunderts, 75–82.<br />

5 Seibt, Ferdinand: Karl Heinrich Seibt (1735–1806), 83–96.<br />

Adressen der Herausgeber<br />

Neue Literatur<br />

Prof. PhDr. Ivan Cvrkal, CSc. Univerzita Jana Ámosa Komenského<br />

Pedagogická fakulta<br />

Račianska 59<br />

SK-821 07 Bratislava<br />

ivan.cvrkal@fedu.uniba.sk<br />

Prof. Dr. Steffen Höhne Hochschule für Musik FRANZ LISZT<br />

Studiengang Kulturmanagement<br />

Platz der Demokratie 2/3<br />

D-99423 Weimar<br />

steffen.hoehne@hfm-weimar.de<br />

Prof. Dr. Marek Nekula Universität <strong>Regensburg</strong><br />

<strong>Bohemicum</strong> <strong>Regensburg</strong>-<strong>Passau</strong><br />

D-93040 <strong>Regensburg</strong><br />

marek.nekula@sprachlit.uni-regensburg.de<br />

Doc. PhDr. Milan Tvrdík, CSc. Univerzita Karlova<br />

Ústav germánských studií FF<br />

Nám. Jana Palacha 2<br />

CZ-116 38 Praha 1<br />

milan.tvrdik@ff.cuni.cz<br />

387


388<br />

Adressen der Autoren<br />

Adressen<br />

Doc. Dr. Hildegard Boková Katedra germanistiky PF JU<br />

Jeronýmova 10<br />

CZ-371 15 České Budějovice<br />

bokova@pf.jcu.cz<br />

Mgr. Renata Cornejo Univerzita J. E. Purkyně<br />

Katedra germanistiky PF<br />

Ul. České mládeže 8<br />

CZ-400 96 Ústí nad Labem<br />

cornejo@pf.ujep.cz<br />

Mgr. Miroslava Durajová Südböhmische Universität<br />

Pädagogische Fakultät<br />

Institut für Germanistik<br />

Jeronýmova 10<br />

CZ-371 15 České Budějovice<br />

PD Dr. Klaas-Hinrich Ehlers Danckelmannstr. 15<br />

D-14059 Berlin<br />

klaashinrich.ehlers@freenet.de<br />

Prof. Dr. Peter Ernst Institut für Germanistik der Universtät Wien<br />

Dr.-Karl-Lueger-Ring 1<br />

A-1010 Wien<br />

peter.ernst@univie.ac.at<br />

Prof. Dr. Ingeborg Fiala-Fürst Katedra germanistiky FF UP<br />

Křížkovského 10<br />

CZ-771 80 Olomouc<br />

ingeborg.fialova@centrum.cz<br />

Mgr. Johana Gallupová Glaszeile 53<br />

D-14165 Berlin<br />

jgallup@volny.cz<br />

Prof. Dr. Albrecht Greule Deutsche Sprachwissenschaft<br />

Universität <strong>Regensburg</strong><br />

D-93040 <strong>Regensburg</strong><br />

albrecht.greule@sprachlit.uni-regensburg.de<br />

Adressen<br />

Martin Humpál, Ph.D. Univerzita Karlova<br />

Ústav germánských studií<br />

Nám. Jana Palacha 2<br />

CZ-116 38 Praha 1<br />

humpal@ff.cuni.cz<br />

Prof. Dr. Walter Koschmal Universität <strong>Regensburg</strong><br />

Institut für Slavistik<br />

D-93040 <strong>Regensburg</strong><br />

walter.koschmal@sprachlit.uni-regensburg.de<br />

Prof. Dr. Kurt Krolop Na Hřebenkách 4a<br />

CZ-150 00 Praha 5<br />

krolop-fam@gmx.net<br />

Prof. Dr. Peter Hans Nelde K.U. Brussel<br />

Vrijheidslaan 17<br />

B-1081 Brussel, België<br />

peter.nelde@kubrussel.ac.be<br />

Mirek Němec, M.A. Univerzita J. E. Purkyně<br />

Ústav slovansko-germánských studií<br />

B rněnská 2<br />

CZ-400 96 Ústí nad Labem<br />

mireknemec@hotmail.com<br />

PhDr. Mária Papsonová, CSc. Prešovská Univerzita<br />

FF – Kat. Germanistiky<br />

Ul. 17. novembra 1<br />

SK-080 78 Prešov<br />

papsonova@stonline.sk<br />

PhDr. Karsten Rinas Slezská univerzita v Opavě<br />

Filozoficko-přírodovědecká fakulta<br />

Bezručovo náměstí 13<br />

CZ-746 01 Opava<br />

karsten.rinas@fpf.slu.cz<br />

Mgr. Kateřina Šichová Universität <strong>Regensburg</strong><br />

<strong>Bohemicum</strong> <strong>Regensburg</strong>-<strong>Passau</strong><br />

D-93040 <strong>Regensburg</strong><br />

389


390<br />

Adressen<br />

katerina.sichova@sprachlit.uni-regensburg.de<br />

Prof. Dr. Jiří Stromšík, CSc. Univerzita Karlova<br />

Ústav germánských studií FF<br />

Nám. Jana Palacha 2<br />

CZ-116 38 Praha 1<br />

jiristromsik@hotmail.com<br />

Michael Wögerbauer, M.A. Gottschalkgasse 1/19<br />

A-1110 Wien<br />

michael.woegerbauer@gmx.net<br />

PhDr. Dalibor Zeman, PhD. Vysoká škola ekonomická v Praze<br />

Fakulta mezinárodních vztahů<br />

Katedra nĕmeckého jazyka<br />

Nám. W. Churchilla 4<br />

CZ-130 67 Praha 3 – Žižkov<br />

masenb@seznam.cz<br />

Stylesheet<br />

Formale Gestaltung der Beiträge (Ausdruck + Word-Datei,<br />

*.doc; *.rtf)<br />

Seite<br />

Seiteneinrichtung: oben, links, rechts 2,5; unten 2<br />

Überschriften<br />

Titel Beitrag: 16er Times New Roman, danach ein Absatz<br />

Unter Beitragstitel: Vorname und Name des Verfassers in 14er Times New<br />

Roman (danach ein Absatz)<br />

Zwischentitel: 14er Times New Roman Fett, arabische Zahlen, ggf. Untergliederung,<br />

z. B. 1.2. (vorher ein Absatz, kein Absatz zum folgenden Text)<br />

Text<br />

Laufender Text ohne Einrückungen, 14er Times New Roman, Zeilenabstand:<br />

genau 18 pt.<br />

Kürzere Zitate im laufenden Text: doppelte Anführungszeichen.<br />

Längere Zitate als Block: kein Einzug (Ausnahme: Zitate von lyrischen und<br />

dramatischen Texten: Einzug links: 1,25).<br />

Abstand vor Zitatblock: 6pt; Abstand nach Zitatblock: 6pt; Zeilenabstand:<br />

einfach; 12er Times New Roman ohne Anführungszeichen.<br />

Kurzzitation im laufenden Text und in den Fußnoten: „Zeitungen und Zeitschriften“<br />

(LENGAUER 1989: 14f.). Keine Ebd.-Verweise.<br />

Übersetzungen tschechischer/slowakischer Zitate in eckigen Klammern hinter<br />

dem Zitat (kurze Zitate) oder unter dem Zitat (längere Zitate).<br />

Sonstige Markierungen im laufenden Text: Titel von Zeitschriften/Periodika:<br />

KAPITÄLCHEN; Bezeichnungen von Institutionen, Titel von<br />

Büchern etc.: Kursiv; Zitationen: „doppelte Anführungszeichen“; einfache<br />

Markierungen, Hervorhebung von Wörtern: ,einfache Anführungszeichen‘:<br />

Auslassungen in Zitaten in eckigen Klammern: „Kafkas Schreiben [...] war“<br />

Fußnoten<br />

Fußnoten, keine Endnoten. Nach Fußnotenzeichen: ein Tabulatur, nicht<br />

hängend; 12er Times New Roman; Abstand nach jeder Fußnote: 6pt.<br />

Bibliographie<br />

RIETRA, Madelaine (1980): Jung-Österreich. Dokumente und Materialien<br />

zur liberalen österreichischen Opposition 1835 – 1848. Amsterdam: Rodopi.<br />

391


392<br />

Stylesheet<br />

BUSSE, Dietrich/HERMANNS, Fritz/TEUBERT, Wolfgang (Hgg.) (1994):<br />

Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse<br />

der historischen Semantik. Opladen: Westdeutscher Verlag.<br />

SEIBT, Ferdinand (Hg.) (1983): Die Juden in den böhmischen Ländern.<br />

München: Oldenbourg.<br />

BROD, Max (1918a): Das große Wagnis. Leipzig, Wien: Kurt Wolff.<br />

LENGAUER, Hubert (1990): Literarisch-politische Opposition aus Prag.<br />

Ein Beitrag zur ,österreichischen‘ Vormärzliteratur. – In: Philologica Pragensia<br />

33, 28–42.<br />

LENGAUER, Hubert (1982): Kulturelle und nationale Identität. Die<br />

deutsch-österreichische Problematik im Spiegel von Literatur und Publizistik<br />

der liberalen Ära (1848 – 1873). – In: H. Lutz, H. Rumpler (Hgg.),<br />

Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert. München:<br />

Oldenbourg, 189–211.<br />

Zeilenabstand: einfach. Abstand nach jeder Angabe: 6pt.

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