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Christus, Elf Visionen.

Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen

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S 6<br />

<strong>Christus</strong> <strong>Elf</strong> <strong>Visionen</strong><br />

Auf diesem Bilde jetzt die fremden Lichte<br />

schien ein Geschenk zu sein von dem Gesichte<br />

des Mannes, den der Maler davor fand;<br />

in kalte Kanten krallte er die Hand,<br />

und hingehetzt von hundert Ängsten floh<br />

die Seele ihm mit feigem Flügelbreiten<br />

zu allen Hoffnungen und Heimlichkeiten<br />

und wähnt: sie wird bei einer die bereiten<br />

Fluchtfenster finden in das Nirgendwo.<br />

Doch eh sie noch zurückgefunden, - gleiten<br />

des Bleichen Blicke von dem Bild und leiten<br />

das leise Wort: "Warum malst du mich so?"<br />

"Bin ich denn so an deinem Bett gesessen,<br />

wenn deine Furcht aus Kinderfiebern schrie,<br />

und in dem Mahnen der Marienmessen -<br />

war das die Miene, die dir Mut verlieh?<br />

Und dann - am Grabe deiner Mutter - wie<br />

entstieg ich da den zitternden Zypressen?<br />

Hast du im Weiterschreiten mich vergessen,<br />

und meine Züge, warum malst du sie?"<br />

Sein Fragen senkte sich so frühlingsstill,<br />

wie eine frühe Blüte sinkt vom Baume<br />

die heil in Halmen harrt, ob tief im Traume<br />

ein lieber Wind sie spielend wählen will, -<br />

allein der Maler, scheu von Scham und Schuld,<br />

zertritt die zarte mit der Ungeduld<br />

des bangen Sklaven.

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