Christus, Elf Visionen.

Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen

23.06.2014 Aufrufe

S 4 Christus Elf Visionen 2 Der Maler Die alte Standuhr, von dem Zwölfuhrschlagen noch immer müde, rief das "Eins" so weh, daß er zusammenzuckte und den Kragen schnell um der Kleinen Schultern schmiegte: "Geh!" Sie sah erstaunt ihn an beim Abschiedsagen und bangte immer wieder mit der zagen versagten Stimme, kinderklug: "Wann seh ich dich denn wieder?" "Nun - in diesen Tagen, geh, du bist lästig mit dem vielen Fragen." Sie rief und fror und draußen fiel der Schnee. - Er aber trat zurück ins Atelier und ging mit stillen Schritten in dem kühlern vertrauten Raume her und hin. Das leise Licht, das wie mit feinen Fühlern ins stumme Dunkel suchte vom Kamin, erweckte da und dort ein Ding zum Leben, das seltsam fremd in heimlichem Erheben sich formte in der kurzen Gunst des Lichts.

S 5 Christus Elf Visionen In weichem Wechseln wogte Sein und Nichts rings um den Mann, der sinnenden Gesichts sich ganz verlor im scheuen Schattentreiben, bis er, wie hart vor einem Hindernis, den Fenstervorhang von den Riesenscheiben, fortzerrte, daß die Seide zischend riß. Und da im Mond - die Dinge durften bleiben - da blieb auch der , den er im Schatten schon mit allen Sinnen seines Seins erkannte, obwohl er nicht das Antlitz zu ihm wandte und reglos auf die große weitgespannte Bildleinwand schaute, drauf mit mattem Ton der Silbermond die Winterlichter streute. Sie sanken mitten in die Männermeute, die einen Mann umdrängte und umdräute, der blaß und ärmer wie die andern war. Er stand wie ein Verräter in der Schar, stand wie ein Leugner, den die Liebe reute, und ohne alle Hoheit war sein Haar. Und seine Würde war wie ein Talar von seiner Brust gesunken, und es scheute ein Kinderschwarm sich vor dem Proletar...

S 5<br />

<strong>Christus</strong> <strong>Elf</strong> <strong>Visionen</strong><br />

In weichem Wechseln wogte Sein und Nichts<br />

rings um den Mann, der sinnenden Gesichts<br />

sich ganz verlor im scheuen Schattentreiben,<br />

bis er, wie hart vor einem Hindernis,<br />

den Fenstervorhang von den Riesenscheiben,<br />

fortzerrte, daß die Seide zischend riß.<br />

Und da im Mond - die Dinge durften bleiben -<br />

da blieb auch der , den er im Schatten schon<br />

mit allen Sinnen seines Seins erkannte,<br />

obwohl er nicht das Antlitz zu ihm wandte<br />

und reglos auf die große weitgespannte<br />

Bildleinwand schaute, drauf mit mattem Ton<br />

der Silbermond die Winterlichter streute.<br />

Sie sanken mitten in die Männermeute,<br />

die einen Mann umdrängte und umdräute,<br />

der blaß und ärmer wie die andern war.<br />

Er stand wie ein Verräter in der Schar,<br />

stand wie ein Leugner, den die Liebe reute,<br />

und ohne alle Hoheit war sein Haar.<br />

Und seine Würde war wie ein Talar<br />

von seiner Brust gesunken, und es scheute<br />

ein Kinderschwarm sich vor dem Proletar...

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