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Christus, Elf Visionen.

Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen

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S 46<br />

<strong>Christus</strong> <strong>Elf</strong> <strong>Visionen</strong><br />

Kennst du kein Gift, das süß ist wie der Kuß<br />

der Mutter, das nach seligem Genuß<br />

den Ahnungslosen sicher töten muß.<br />

O Glück, die ganze Welt so zu vergiften.<br />

Weißt du kein Mittel, herben Haß zu stiften,<br />

der jeden Mann zum wilden Raubtier macht?<br />

Kannst du nicht ziehn in diese stillen Triften<br />

die Schauerschrecken einer Völkerschlacht.<br />

Kannst du nicht eine neue Lehre stiften,<br />

die Wahnsinnswut in jeder Brust entfacht.<br />

Ins Unbegrenzte steigre ihre Triebe<br />

und sende Pest und sende Seuchenschwärme,<br />

daß in des Lotterbettes feiler Wärme<br />

die ganze Welt zugrund geht an der Liebe!"<br />

Jach lacht er Hohn. Und in den stummen Steinen<br />

gellts wie des wunden Wildes Sterbeschrei.<br />

Es legt ein Reif sich auf den nächtgen Mai.<br />

Ein schwarzer Falter zieht im Flug vorbei<br />

und er sieht Christum einsam knien und weinen.<br />

Rainer Maria Rilke

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