Christus, Elf Visionen.

Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen

23.06.2014 Aufrufe

S 34 Christus Elf Visionen Das muß ein Schlaf dort sein - und erst ein Traum! Da sieht die Kleine aus dem Sinnen auf: Der Frühling wartet rings mit tausend Blüten, und wie in jenen tiefen Märchenmythen, drin braune Zwerge rote Schätze hüten, ist lauter eitel Gold der Kirchturmknauf. Nein, ist die Gotteswelt doch eine Pracht und neu, als hätt der Herr sie just gemacht; der Kleinen ists ein Jubel - und sie lacht. Da schaut sie: drüben an der Kirchhofmauer lehnt noch ein Mann so reglos und so müd; in seinem dunkelgroßen Auge glüht wie eine trübe Totenkerze - Trauer. Derb ist und bäuerisch sein grau Gewand; ins wirre Haar krallt er die irre Hand und starrt verloren nach der Berge Rand als ob zum Fluge in das fremde Land sich seiner Seele leise Schwinge breite. Die Kleine trippelt kindisch ihm zur Seite und staunt ihn groß mit Frageaugen an und dann klingts alltagsfremd und unverdorben: "Du, was bist du so traurig, fremder Mann, - ist dir vielleicht auch Mütterchen gestorben?" Er hört es nicht. Sein fremdes Auge sinnt noch immer Wunder, und er sagt nur leise ungern gestört wie der verlorne Weise dem sich ein Neues drängt in Kraft und Kreise: "Geh heim zu deiner Mutter, Kind."

S 35 Christus Elf Visionen Da schrickt das Kind zusammen: "Du, ich habe dir doch gesagt, ich hab nicht Mutter mehr." "So", nickt der Fremde dumpf, "ist sie im Grabe?" Er senkt die Hand aufs Haupt des Kindes schwer und träumt den Segen: Leicht sei ihr die Erde. Da ist der Kleinen wieder bang. Ihr nagts am Herzen wieder wie ein wildes Weh, sie schmiegt sich näher in des Grauen Näh: "Nichtwahr, du weißt es auch, im Himmel seh ich wieder sie - nichtwahr - der Pfarrer sagts?" Das Wort verweht, ein leises Heimchen geigt, die Kleine horcht, ein weißer Falter reigt, die Kleine horcht, aus fernen Hütten steigt ein Zitterrauch ... Der große Graue schweigt. Rainer Maria Rilke

S 35<br />

<strong>Christus</strong> <strong>Elf</strong> <strong>Visionen</strong><br />

Da schrickt das Kind zusammen: "Du, ich habe<br />

dir doch gesagt, ich hab nicht Mutter mehr."<br />

"So", nickt der Fremde dumpf, "ist sie im Grabe?"<br />

Er senkt die Hand aufs Haupt des Kindes schwer<br />

und träumt den Segen: Leicht sei ihr die Erde.<br />

Da ist der Kleinen wieder bang. Ihr nagts<br />

am Herzen wieder wie ein wildes Weh,<br />

sie schmiegt sich näher in des Grauen Näh:<br />

"Nichtwahr, du weißt es auch, im Himmel seh<br />

ich wieder sie - nichtwahr - der Pfarrer sagts?"<br />

Das Wort verweht, ein leises Heimchen geigt,<br />

die Kleine horcht, ein weißer Falter reigt,<br />

die Kleine horcht, aus fernen Hütten steigt<br />

ein Zitterrauch ... Der große Graue schweigt.<br />

Rainer Maria Rilke

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