Christus, Elf Visionen.

Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen Rainer Maria Rilke, Christus Elf Visionen

23.06.2014 Aufrufe

S 22 Christus Elf Visionen Und weiß nicht wie. Meine Leiden, die weißen Schwestern haben mich in die Mitte genommen... Jetzt weinen sie." Er schwieg. Und ich hörte sie wirklich weinen und sah, wie er zwischen steilen Steinen langsam zu seiner Kirche stieg. So war kein Sieg. Das war die Heimkehr eines Ermatteten, der viel geirrt, und niemehr Hirt und dunkel aller Beschatteten Bruder wird. Aber noch steht ihm das Haus, in welches ihr Beten lange alle die Armen gebracht; und wenn er es findet, wird es ihm Macht, und er wird wie im Traum im fürstlicher Tracht erwacht nach raschem Ruhn heraus aus Trümmern treten und Wunder tun.

S 23 Christus Elf Visionen Der Müde oben tritt tastend ein. Die Kirche ist schwarz, und das Dunkel ist klein und wird erst langsam den Blicken weit. Der Einsame bringt die Ewigkeit mit in die Mauern und breitet sie aus mit segnenden Händen - Da durchweht von den Wänden lebendige Wärme das Haus. Und jetzt erst erkennt er: die Kirche log. Wo der Altar war, da ist neu eine Krippe gezimmert: Scheu umdrängen drei Kühe den Trog, und heufeucht duftet die Streu. Und die Ewigkeit, die er ausgespannt, reicht nicht einmal von Wand zu Wand, wird eine ängstliche Ewigkeit: denn das Land ist breit. Und der Bleiche bleibt einsam an seinem Rand, bleibt knien. Und es weht wie aus einer Wiege warm um ihn. Und er ist wie ein König aus Morgenland - nur ganz arm. Rainer Maria Rilke Christus Elf Visionen (Zoppot, Juli 1898) {Eine der drei Versionen der Zweiten Folge} Die Kirche von Nago | Der Blinde Knabe | Die Nonne |

S 22<br />

<strong>Christus</strong> <strong>Elf</strong> <strong>Visionen</strong><br />

Und weiß nicht wie.<br />

Meine Leiden, die weißen Schwestern<br />

haben mich in die Mitte genommen...<br />

Jetzt weinen sie."<br />

Er schwieg.<br />

Und ich hörte sie wirklich weinen<br />

und sah, wie er zwischen steilen Steinen<br />

langsam zu seiner Kirche stieg.<br />

So war kein Sieg.<br />

Das war die Heimkehr eines Ermatteten,<br />

der viel geirrt,<br />

und niemehr Hirt<br />

und dunkel aller Beschatteten<br />

Bruder wird.<br />

Aber noch steht ihm das Haus,<br />

in welches ihr Beten<br />

lange alle die Armen gebracht;<br />

und wenn er es findet, wird es ihm Macht,<br />

und er wird wie im Traum im fürstlicher Tracht<br />

erwacht<br />

nach raschem Ruhn<br />

heraus<br />

aus Trümmern treten<br />

und Wunder tun.

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