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INHALT<br />
EDITORIAL. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />
Dr. Reiner Zilkenat<br />
DAS THEMA: GLOBALISIERUNG, WIRTSCHAFTSKRISE, RECHTSEXTREMISMUS<br />
Globalisierungskritik von rechts. Neofaschismus und die soziale Frage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Sevim Dagdelen, MdB<br />
Rassismus meint mehr <strong>als</strong> Rechtsextremismus.<br />
<strong>Die</strong> gesellschaftliche Normalität <strong>als</strong> Problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Bernd Winter<br />
Weltweite Finanzkrise und die extreme Rechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Roland Bach<br />
Finanzkrise und Antifaschismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Heinz Engelstädter<br />
Bankrott des Neoliberalismus – Aufgaben der LINKEN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Ralf Krämer<br />
AKTUELLES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS<br />
Konstruktion und Krise der Männlichkeit(en) in der »Neuen Rechten« –<br />
<strong>Die</strong> Wochenzeitung »Junge Freiheit«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Yves Müller<br />
Keine Nazis in Rosas Straße, gemeinsam gegen »Thor Steinar« –<br />
Ein Überblick zu den Aktivitäten der Initiative »Mitte gegen Rechts« in Berlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Roman Fröhlich<br />
HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS:<br />
Franz Mehring (1846–1919). Biographische Skizze anlässlich seines 90. Todestages. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Werner Ruch<br />
Berlin – das Zentrum der deutschen Revolution 1918/1919?<br />
Regionales und Biographisches zum 90. Jahrestag der Novemberrevolution.<br />
Mit einem biographischen Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Ingo Materna<br />
Historische Forschungen zur Revolution 1918/19 in Deutschland und ihre<br />
Rezeption in der Zeit der Außerparlamentarischen Opposition in der BRD und Westberlin. . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Reiner Zilkenat<br />
Der Arbeiterkinderklub »Nordost« in Berlin-Prenzlauer Berg1929 bis 1933. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Oliver Reschke<br />
Willi Scheinhardt. Ein sozialdemokratischer Funktionär des Fabrikarbeiter-Verbandes<br />
im antifaschistischen Widerstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Heide Kramer<br />
Der Bund der Freunde der Sowjetunion und der antifaschistische Widerstand:<br />
Neue Fakten aus den Akten des Bundesarchivs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Günter Wehner<br />
Leistungen und Fehlleistungen marxistischer Faschismustheorien aus heutiger Sicht.<br />
Einige Vorüberlegungen für eine neue materialistische allgemeine Theorie der Faschismen. . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Mathias Wörsching,<br />
Das antifaschistische Thema in der DDR-Literatur.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
<strong>Die</strong>ter Schiller<br />
1
BERICHTE UND INFORMATIONEN:<br />
2.Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Rechtsextremismus/<br />
Antifaschismus der LINKEN im Dezember 2008.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Roland Bach<br />
Bundestagsfraktion DIE LINKE, Kleine Anfrage zu den rechtsextremen<br />
Bestrebungen innerhalb der Partei »<strong>Die</strong> Republikaner«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
»Es brennt!« Eine Ausstellung zum antijüdischen Terror im November 1938. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Horst Helas<br />
»Stille Helden« – Noch eine Gedenkstätte in Berlin? Ja, und das ist gut so.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Horst Helas<br />
Bundestagsfraktion DIE LINKE, Kleine Anfrage zu den Kontakten zwischen<br />
Bundeswehr und Anzeigenkunden der im rechtsextremen<br />
Spektrum angesiedelten »Deutschen Militärzeitschrift« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
ZUR DISKUSSION:<br />
<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>n und ihre Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Professor Dr. Helmut Meier<br />
Anmerkungen zu einer strittigen Frage – Zu Horst Helas’ Artikel<br />
zum Antisemitismus im »Rundbrief« 4/2008. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Detlef Joseph<br />
LESERBRIEFE:<br />
<strong>Die</strong> Pogrome begannen am 7. November 1938. Zur Dokumentation<br />
von Horst Helas und Reiner Zilkenat im »Rundbrief« 4/2008.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Ulrich Schneider<br />
Kritisches und Zustimmendes zu mehreren Beiträgen im Heft 4/2008 des »Rundbriefs«.. . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Manfred Augustyniak<br />
Bemerkungen zum Heft 4/2008 des »Rundbriefs«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Gerhard Rohr<br />
LITERATURBERICHT:<br />
<strong>Die</strong> Aggressionen Hitlerdeutschlands gegen die Tschechoslowakei 1938/39. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Reiner Zilkenat,<br />
REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN:<br />
Der »Generalplan Ost« und die »Kollaboration« bildungsbürgerlicher Eliten mit dem Naziregime.. . . . . . . . . . . . 14<br />
Werner Röhr<br />
»Sie waren die Boys« – <strong>Die</strong> Geschichte von 732 jungen Holocaust-Überlebenden.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Horst Helas<br />
Karl Heinz Jahnke – Arbeiterbewegung und Antifaschismus: Bilanz eines Forscherlebens. . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Günter Wehner<br />
Reflexionen zum Rechtsextremismus in Ostdeutschland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Norbert Madloch,<br />
<strong>Die</strong> NPD in den Parlamenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Yves Müller<br />
<strong>Die</strong> NPD in Mecklenburg-Vorpommern.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Roland Bach<br />
2
EDITORIAL<br />
3
DAS THEMA-GLOBALISIERUNG,<br />
WIRTSCHAFTSKRISE, RECHTSEXTREMISMUS<br />
Globalisierungskritik von rechts.<br />
Neofaschismus und die soziale Frage<br />
Nach wie vor stellt der Rassismus, stellt<br />
die Hetze gegen Migrantinnen und Migranten,<br />
den Kern des Neofaschismus<br />
in Deutschland dar. Vor allem Menschen<br />
mit Migrationshintergrund sind<br />
es, die zu Opfern neofaschistischer Gewalt<br />
in Deutschland werden. Täglich finden<br />
solche Gewalttaten in Deutschland<br />
statt. Nach der Statistik, die die LINKE<br />
monatlich von der Bundesregierung abfragt,<br />
sind es drei rechtsextreme Gewalttaten,<br />
die Tag für Tag in diesem Land zu<br />
verzeichnen sind. 1.047 rechtsextremistische<br />
Gewalttaten gab es 2006 (die in<br />
der letzten Woche vom Innenministerium<br />
veröffentlichten Zahlen für 2007 liegen<br />
auf fast dem gleichen Niveau, sind aber<br />
noch nicht aufgeschlüsselt) und fast die<br />
Hälfte dieser Gewalt richtete sich gegen<br />
Menschen mit Migrationshintergrund,<br />
die andere Hälfte gegen <strong>Linke</strong>, Obdachlose,<br />
Juden und andere Opfergruppen.<br />
Rassismus und Hetze gegen<br />
MigrantInnen<br />
Rassistische Übergriffe und Propaganda<br />
gehören <strong>als</strong>o zum Alltag dieser Republik.<br />
<strong>Die</strong> Meldungen zu diesem alltäglichen<br />
und gewalttätigen Rassismus der extremen<br />
Rechten finden sich zumeist nur<br />
noch in Kurzmeldungen der regionalen<br />
Presse. Während einzelne Ereignisse,<br />
wie etwa die rassistische Hetzjagd im<br />
sächsischen Müggeln – acht Inder wurden<br />
nach einem Dorffest durch den Ort<br />
gehetzt wurden – große Empörung hervorrufen,<br />
bleibt diese alltägliche rassistische<br />
Gewalt fast ohne öffentliche Reaktion.<br />
Seit 1990 hat es in Deutschland<br />
mehr <strong>als</strong> 130 Todesopfer neofaschistischer<br />
Gewalt gegeben, eine unvorstellbare<br />
Zahl.<br />
Der Verein Opferperspektive in Brandenburg<br />
verleiht eine Ausstellung mit<br />
dem Titel »Opfer rechter Gewalt« in der<br />
es gerade darum geht, diesen Opfern<br />
Name und Gesicht zu geben).<br />
Dennoch herrscht eine Gleichgültigkeit<br />
und Ignoranz gegenüber diesen Opfern<br />
des Neofaschismus vor, die für die betroffenen<br />
Menschen eine zweite Demütigung<br />
ist. Häufig werden die Täter, wenn<br />
sie denn überhaupt angeklagt werden,<br />
zu skandalös geringen Strafen verurteilt.<br />
Rassistische Gewalt von rechts hat die<br />
4<br />
klare Funktion, Menschen mit Migrationshintergrund<br />
zu zeigen: Ihr gehört<br />
nicht hierher, ihr seid uns nicht willkommen,<br />
verschwindet! <strong>Die</strong> Nazis fühlen<br />
sich hier oft <strong>als</strong> diejenigen, die den Willen<br />
einer so genannten schweigenden<br />
Mehrheit in reale Handlungen umsetzen.<br />
Und hier liegt, wie ich glaube, der<br />
Kern des Problems: Rassismus ist eben<br />
nicht auf die extreme Rechte begrenzt,<br />
Rassismus ist eine verbreitete Einstellung<br />
in der Mitte der Gesellschaft. <strong>Die</strong><br />
Nazis stehen – mindestens mit ihrer rassistischen<br />
Ideologie – nicht am Rande<br />
der Gesellschaft, sondern sie drücken<br />
Stimmungen aus, die wir auch bei einer<br />
(relativen) Mehrheit finden.<br />
Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen<br />
haben in den letzten Jahren<br />
gezeigt, dass die klassischen Themen<br />
der extremen Rechten – Rassismus,<br />
Ausländerfeindlichkeit, Autoritarismus<br />
und Nationalismus – bis weit in die Mitte<br />
der Gesellschaft auf Zustimmung stoßen.<br />
<strong>Die</strong> unter dem Titel »Deutsche Zustände«<br />
von einer Forschergruppe um Wilhelm<br />
Heitmeyer seit fünf Jahren regelmäßig<br />
vorgelegten Ergebnisse 1 zeigen<br />
eine konstant hohe Zustimmung zu verschiedenen<br />
Formen von Ausgrenzung,<br />
wobei die fremdenfeindlichen Einstellungen<br />
die höchsten Zustimmungswerte<br />
verzeichnen. Knapp 60 Prozent der Befragten<br />
stimmen der Aussage zu, dass<br />
zu viele Ausländer in Deutschland leben<br />
und 35 Prozent sind der Ansicht,<br />
bei knapper werdenden Arbeitsplätzen<br />
sollten die Ausländer in ihre Heimatländer<br />
zurückgeschickt werden. 2 Auch<br />
Obdachlose und Muslime sind aggressiven<br />
Formen der Ablehnung von 30 bis<br />
40 Prozent der Befragten ausgesetzt,<br />
gleichzeitig fordern mehr <strong>als</strong> 40 Prozent<br />
der Befragten mehr Rechte für diejenigen,<br />
die in Deutschland etabliert sind. 3<br />
Für Heitmeyer ist unter anderem besonders<br />
die Tatsache beunruhigend, dass<br />
die hier festgestellten Ausgrenzungsideologien<br />
nicht auf den Rand der Gesellschaft<br />
beschränkt, sondern auch in<br />
der gesellschaftlichen Mitte anzutreffen<br />
sind. Damit werden diese Einstellungen<br />
normalitätsbildend und können immer<br />
weniger problematisiert werden. Von<br />
dieser Form der Normalisierung von Ausgrenzung<br />
und Rassismus kann auch die<br />
extreme Rechte mit ihren Politikangeboten<br />
profitieren. Für Heitmeyer und andere<br />
Sozialwissenschaftler ist der Zusammenhang<br />
dieser Einstellungsentwicklung<br />
mit zunehmenden sozialen Desintegrationsprozessen<br />
offensichtlich.<br />
<strong>Die</strong> mit der Verschärfung der sozialen<br />
Lage einhergehenden Unsicherheitserfahrungen<br />
führen zu verstärkter Orientierungslosigkeit<br />
und zur Suche nach<br />
Sicherheiten, die sich in Werten wie Nation,<br />
Heimat aber auch »Rasse« und ethnischer<br />
Zugehörigkeit finden lassen.<br />
<strong>Die</strong> Untersuchungen von Heitmeyers<br />
Bielfelder Forschergruppe zeigen hier einen<br />
deutlichen Zusammenhang mit dem<br />
Thema Fremdenfeindlichkeit.<br />
Im neuesten Band seiner Studie »Deutsche<br />
Zustände« zeigen die AutorInnen,<br />
dass vermehrt auch soziale Schwache<br />
von Ausgrenzungen und Abwertungen<br />
betroffen sind. Heitmeyer spricht in diesem<br />
Zusammenhang von einer »Ökonomisierung<br />
des Sozialen«, d. h. immer<br />
mehr werden Nützlichkeitskriterien zum<br />
Maßstab der Bewertung von Menschen.<br />
Arbeitslose, Hartz IV- und Sozialhilfe-<br />
Empfänger werden verstärkt abgewertet,<br />
sie gelten <strong>als</strong> unnütz, die Gemeinschaft<br />
belastend und <strong>als</strong> selbst schuldig<br />
an ihrer Situation. <strong>Die</strong> neoliberale Ideologie<br />
zeigt hier ihre Früchte und führt zu einer<br />
autoritären Abgrenzung von den sozial<br />
Schwachen, bei denen es sich eben<br />
nicht nur um MigrantInnen handelt.<br />
<strong>Die</strong> von Heitmeyer und seinen MitarbeiterInnen<br />
vorgelegten Ergebnisse finden<br />
ihre Bestätigung in der weithin beachteten<br />
empirischen Studie von Oliver<br />
Decker und Elmar Brähler mit dem Titel<br />
»Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme<br />
Einstellungen und ihre Einflussfaktoren<br />
in Deutschland«. 4 <strong>Die</strong> von ihnen zutage<br />
geförderten Ergebnisse verdeutlichen<br />
die starke Verbreitung von rassistischen,<br />
ausländerfeindlichen und<br />
autoritären Einstellungen in größeren<br />
Teilen der Bevölkerung.<br />
So stimmen 37 Prozent der Befragten<br />
(43,8 Prozent in Ostdeutschland) der<br />
Aussage zu »<strong>Die</strong> Ausländer kommen nur<br />
hierher, um unseren Sozi<strong>als</strong>taat auszunutzen«;<br />
15 Prozent sind der Ansicht,
das Land sollte »einen Führer haben,<br />
der Deutschland zum Wohle aller mit<br />
starker Hand regiert« und 26 Prozent<br />
stimmen der Aussage zu: »Was Deutschland<br />
jetzt braucht, ist eine einzige starke<br />
Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt<br />
verkörpert.«<br />
Ich will mit diesen Zahlen darauf hinweisen,<br />
dass das Problem über das wir<br />
reden leider weitaus größer ist, <strong>als</strong> die<br />
die NPD oder auch die gesamte rechtsextreme<br />
Szene. Es handelt sich um ein<br />
Problem in der Mitte der Gesellschaft<br />
und es wird auch von hier aus verschärft.<br />
Ich erinnere nur an den letzten<br />
Landtagswahlkampf von Roland Koch<br />
in Hessen 2008, der geradezu ein Paradebeispiel<br />
rassistischer Hetze aus der<br />
bürgerlichen Mitte war. Koch ging es darum,<br />
mit dem Thema »Ausländer« an vorhandene<br />
Emotionen und Abwehrreflexe<br />
anzuknüpfen und sie zu verstärken. Bedenklich<br />
ist, dass Koch die Wahlen <strong>als</strong><br />
Ministerpräsident zwar nicht gewann,<br />
aber immerhin die meisten Stimmen in<br />
Hessen auf sich vereinen konnte.<br />
<strong>Die</strong> Diskussion zum Thema »Ausländer«<br />
ist seit vielen Jahren in Deutschland verbunden<br />
mit »Bedrohung«, »Kriminalität«,<br />
»kulturelle Überfremdung«, »Ausnutzung<br />
des Sozi<strong>als</strong>taates«. <strong>Die</strong>se einseitige,<br />
negative Thematisierung ist natürlich<br />
Wasser auf die Mühlen der Nazis.<br />
Von Seiten der Politik wird dieser Diskurs<br />
immer wieder verschärft und für<br />
Wahlkampfzwecke und Stimmungsmache<br />
genutzt.<br />
Eine wichtige Funktion solcher Debatten<br />
ist offensichtlich: Es sollen Verantwortliche<br />
und Sündenböcke für reale soziale<br />
Probleme präsentiert werden und<br />
es soll ein »Angebot« an die Mehrheitsbevölkerung<br />
gemacht werden. Wenn<br />
die soziale Einbindung über die fortlaufenden<br />
sozialen Härten nicht mehr funktioniert,<br />
dann bietet man den Menschen<br />
Zugehörigkeit über ihre Abstammung,<br />
die Nation, die »Rasse« an.<br />
Weil man Deutscher/Deutsche ist, hat<br />
man Anspruch auf Teilhabe. Wer dieses<br />
Kriterium nicht erfüllt, hat auch keine<br />
Rechte in diesem Land. Das ist zugespitzt<br />
die Logik, die hinter dieser Debatte<br />
steht. Klarer und zugespitzter finden<br />
wir die Logik des Rassismus und der<br />
Ausgrenzung bei den Nazis.<br />
Besetzung der sozialen Frage<br />
durch Rechte: Ein neues Phänomen?<br />
Seit einigen Jahren sehen wir, dass die<br />
Nazis verstärkt versuchen, mit traditionell<br />
linken Themen Einfluss zu gewinnen.<br />
<strong>Die</strong> soziale Frage, <strong>als</strong> zentrales Element<br />
linker Politik, wird auch von den Nazis<br />
immer mehr besetzt. »Antikapitalismus«<br />
<strong>als</strong> Propagandafeld der extremen Rechten<br />
in der Bundesrepublik erscheint vielen<br />
<strong>als</strong> Neuerung des Neofaschismus.<br />
Verblüfft stellen manche Beobachter<br />
der rechten Szene fest, dass in der Propaganda<br />
und in den Aktionen der Nazis<br />
die soziale Frage, die Kritik an Globalisierung<br />
und »One World« zu einem<br />
immer wichtigeren Thema wird. Es wäre<br />
jedoch f<strong>als</strong>ch, diese thematische Bezugnahme<br />
auf die soziale Frage und die<br />
Folgen lediglich <strong>als</strong> »Modeerscheinung«<br />
zu betrachten.<br />
Denn die Besetzung dieser Frage durch<br />
die extreme Rechte ist so alt wie der<br />
Faschismus selbst. Nur für die Propaganda<br />
der NPD ist die offene Thematisierung<br />
dieser sozialen Frage und die<br />
teilweise vehemente Kritik am kapitalistischen<br />
Wirtschaftssystem und der<br />
Globalisierung, wie sie sich in den letzten<br />
Jahren beobachten lässt, tatsächlich<br />
eine neue Ausrichtung. <strong>Die</strong> NPD<br />
reagiert damit auf die zunehmenden sozialen<br />
Verwerfungen, die durch den ungebremsten<br />
Kapitalismus hervorgerufen<br />
werden und antwortet darauf mit einer<br />
Kapitalismuskritik, wie wir sie aus der<br />
Geschichte des Faschismus in Deutschland<br />
und Europa kennen.<br />
Es handelt sich dabei um eine völkisch<br />
grundierte Kritik, die für einen Teil der<br />
faschistischen Bewegung kennzeichnend<br />
ist. Dass die extreme Rechte und<br />
die NPD mit einer solchen Form des<br />
»Antikapitalismus« in einem ersten Anlauf<br />
Wähler durchaus erfolgreich ansprechen<br />
können, belegen die Landtagswahlergebnisse<br />
der NPD in Sachsen<br />
und Mecklenburg-Vorpommern, sowie<br />
die eben angeführten zahlreichen Untersuchungen<br />
zu rechtsextremen Einstellungsmustern<br />
in größeren Teilen der<br />
Bevölkerung.<br />
Zu den Inhalten der sozialen Frage von<br />
rechts:<br />
Wenn NPD und Kameradschaften gegen<br />
Sozialabbau, gegen die steigende Macht<br />
der internationalen Konzerne, gegen einen<br />
Raubtierkapitalismus protestieren,<br />
dann treffen sie damit die Gefühlslage<br />
von relevanten Teilen der Bevölkerung,<br />
gerade auch in vielen abgehängten Regionen<br />
Ostdeutschlands. <strong>Die</strong> von der<br />
extremen Rechten im Zusammenhang<br />
mit der sozialen Frage angeprangerten<br />
Zustände sind real und die Kritik daran<br />
ist berechtigt. Jürgen Gansel, Abgeordneter<br />
der NPD im Sächsischen Landtag<br />
und einer der wichtigsten Vordenker der<br />
Partei, schreibt hierzu im Juli 2006 unter<br />
der Überschrift »Mitteldeutschland<br />
<strong>als</strong> Testfeld der Globalisierer«:<br />
Viele dortige Regionen drohen zu einem<br />
sozialen Niemandsland zu werden, in<br />
dem äußere und innere Not, d. h. materielles<br />
und immaterielles Elend, eine<br />
tragische Einheit bilden. Es seien<br />
Landstriche entstanden, in denen wegen<br />
chronischer Massenarbeitslosigkeit<br />
selbst die Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen<br />
dem sozialen Siechtum verfielen.<br />
Es gebe ganze Familien, die in die Armut<br />
hineinwachsen, ohne jede Aussicht<br />
auf ein Leben in sozialer Sicherheit, in<br />
menschlicher Würde und in Zukunftsgewissheit.<br />
Der Verlust des Lebenswillens<br />
könne die Endkonsequenz dieses<br />
Höllentrips durch die neokapitalistische<br />
Wolfsgesellschaft sein, die den Menschen<br />
im Zeitalter globaler, volkswirtschaftlich<br />
entkoppelter Finanzströme<br />
selbst <strong>als</strong> ausbeutbare Profitquelle immer<br />
seltener braucht. Soweit Gansel.<br />
Entscheidend für den Kern des »Antikapitalismus«<br />
von rechts ist <strong>als</strong>o die Frage,<br />
worin die extreme Rechte die Gründe für<br />
die soziale Misere erkennt und wie ihre<br />
Lösungsvorschläge aussehen. Hier sind<br />
die Antworten recht eindeutig und altbekannt.<br />
»Antikapitalismus« und Kritik<br />
an den sozialen Zuständen erfolgen bei<br />
den Nazis immer aus einer völkischen,<br />
einer rassistischen Perspektive. Nicht<br />
der Kapitalismus <strong>als</strong> universales Ausbeutungsverhältnis<br />
wird kritisiert. Nicht<br />
die universelle Profitlogik, die die sozialen<br />
Bedürfnisse der Menschen hinter<br />
die Fragen nach Gewinn, Rendite und<br />
Wachstum zurückdrängt, wird in Frage<br />
gestellt. Kritisiert wird vor allem ein<br />
Kapitalismus, der sich von seinen nationalen<br />
Wurzeln entfernt hat, der ein<br />
globaler Kapitalismus ist und dessen<br />
negative Seiten auch die abhängig beschäftigten<br />
Deutschen treffen. <strong>Die</strong> dem<br />
kapitalistischen System immanente Konkurrenzlogik<br />
trifft sich dagegen genau<br />
mit dem Menschenbild der Nazis, für die<br />
es einen ständigen Kampf ums Dasein<br />
gibt, für die die Einteilung in Höher- und<br />
Minderwertige die Norm ist, die das alleinige<br />
Überleben des Stärkeren propagieren.<br />
Verändert werden soll der Kapitalismus<br />
nur da, wo er auch auf die<br />
vermeintlich höherwertigen arischen<br />
Deutschen negative Auswirkungen hat.<br />
So gilt den Nazis das Konkurrenzverhältnis<br />
dort <strong>als</strong> schlecht, wo es über<br />
die Konkurrenz mit billigen Arbeitskräften<br />
aus dem Osten auf deutsche Arbeiter<br />
und Arbeiterinnen zurückschlägt.<br />
Wenn dagegen das deutsche Kapital,<br />
geschützt vor ausländischer Konkurrenz,<br />
andere Länder durchdringt und<br />
den Menschen dort die Bedingungen<br />
diktiert, dann haben die Nazis nichts dagegen<br />
einzuwenden. <strong>Die</strong> von den Nazis,<br />
ganz in der Tradition des Faschismus<br />
propagierte »raumorientierte Volkswirt-<br />
5
schaft«, ist das Modell für einen solchen<br />
nationalen Kapitalismus.<br />
Auch in ihrer Globalisierungskritik adaptieren<br />
die heutigen Nazis in aller Offenheit<br />
ihr historisches Vorbild. Sie beziehen<br />
sich dabei auf die im NSDAP-Programm<br />
von 1920 gebrauchte Unterscheidung<br />
in »raffendes« und »schaffendes Kapital«<br />
sowie auf die dort propagierte Forderung<br />
nach einer »Brechung der Zinsknechtschaft«.<br />
5 Das nationale Kapital,<br />
die deutschen Kapitalisten, gelten in<br />
dieser Logik <strong>als</strong> »schaffende« Kapitalisten,<br />
während internationale Kapitalverbünde,<br />
Großbanken und Hedgefonds<br />
<strong>als</strong> »raffendes Kapital« definiert werden,<br />
die wiederum mit einer geographischen<br />
Herkunft (»Ostküsten-Kapital«) charakterisiert<br />
werden. In einem aktuellen<br />
Schulungsmaterial der NPD für Wahlkämpfe<br />
heißt es dazu wörtlich:<br />
»Der Kapitalismus ist aufgrund seines<br />
nomadischen Händlergeistes, seiner vagabundieren,<br />
grenzenlosen Profit- und<br />
Spekulationssucht, seiner Verachtung<br />
von Volk und Heimat sowie seiner Missachtung<br />
des Volkswohls ein vaterlandsloser<br />
Geselle und damit das antinationale<br />
Prinzip schlechthin.«<br />
In beiden Stichworten findet man bereits<br />
die Verbindungslinien zu einem<br />
Grundelement faschistischer Ideologie,<br />
den rassistischen Antisemitismus.<br />
Der »nomadische Händlergeist«, der »vagabundiert«,<br />
gilt in der faschistischen Ideologie<br />
<strong>als</strong> Synonym für Judentum. Auch<br />
der Begriff »Ostküste« – gemeint sind US-<br />
Banken in New York und anderen Metropolen<br />
des Ostens der USA – gilt <strong>als</strong> Code<br />
nicht nur für amerikanisches bzw. internationales<br />
Kapital, sondern für die angeblich<br />
jüdische Kontrolle über die globalen<br />
Finanzmärkte. Statt über Profitlogik und<br />
Kapitalinteressen zu sprechen, wird das<br />
Handeln von Investmentfonds <strong>als</strong> »von jüdischen<br />
Dunkelmännern bestimmt« charakterisiert,<br />
die ein Interesse am »Aussaugen«<br />
nationaler Ökonomien haben.<br />
Vor diesem Hintergrund ist auch die politische<br />
Antwort der extremen Rechten<br />
auf die Globalisierung in sich schlüssig.<br />
Sie fordern keine gerechte Weltwirtschaft,<br />
sondern propagieren: »National<br />
statt global!« Und da der »nomadisierende<br />
Kapitalismus« angeblich ein Interesse<br />
an der ungehemmten Zuwanderung<br />
von billigen Arbeitskräften in unser<br />
Land hat, verbindet sich Kapitalismus-<br />
und Globalisierungskritik ganz ungebrochen<br />
mit der rassistischen Propaganda<br />
von NPD und anderen Rechten.<br />
Das rassistische Gegeneinander von<br />
Deutschen und Nichtdeutschen ist der<br />
Kern bei der Thematisierung der sozialen<br />
Frage.<br />
6<br />
Jürgen Gansel macht das in zahlreichen<br />
Beiträgen immer wieder deutlich:<br />
<strong>Die</strong> Nationalisierung der sozialen Frage<br />
und die Vision eines solidarischen<br />
Volksstaates, in dem die soziale Teilhaberschaft<br />
eines jeden Deutschen garantiert<br />
sei, werde dem Nationalismus<br />
soviel Zulauf bescheren, so dass »die<br />
morschen Knochen der Volks- und Vaterlandsabwickler«<br />
noch gehörig zittern<br />
würden. <strong>Die</strong> Ethnisierung des Sozialen<br />
(wir Deutschen oder die Fremden)<br />
ist eine Aktualisierung und sozialpolitische<br />
Durchformung von Carl Schmitts<br />
Freund-Feind-Unterscheidung <strong>als</strong> Essenz<br />
des Politischen- und eben auch<br />
<strong>als</strong> Essenz des Sozi<strong>als</strong>taatsprinzips.<br />
In diesem Sinne seien die Gegensatzpaare:<br />
Sozi<strong>als</strong>taat oder Einwanderungsstaat,<br />
solidarische Wir-Gemeinschaft<br />
oder materialistische Ich-Gesellschaft,<br />
staatszentrierter Nationalverband oder<br />
marktzentrierte Weltzivilisation. Es dürfte<br />
nach Ansicht Gansels klar sein, wofür<br />
sich die meisten Deutschen <strong>als</strong> Abwehrreaktion<br />
gegen die Wohlstands-, Wert-<br />
und Gemeinschaftserosion in naher Zukunft<br />
entscheiden werden. 6<br />
Warum kann die extreme Rechte mit<br />
der sozialen Frage Erfolge erzielen?<br />
<strong>Die</strong> soziale Frage ist keine Erfindung<br />
der NPD – sie ist ein täglich drängendes<br />
Problem für Millionen Menschen hier<br />
und heute.<br />
Vereinfacht gesagt kann die extreme<br />
Rechte mit diesem Thema deshalb Einfluss<br />
gewinnen, weil eine größer werdende<br />
Zahl von Bürgerinnen und Bürgern<br />
der etablierten Politik und dem<br />
politisches System keine Lösung dieser<br />
Frage mehr zutraut. <strong>Die</strong> NPD findet ihre<br />
Anhänger sowohl bei den realen Verlierern<br />
der sozialökonomischen Entwicklung,<br />
aber auch bei solchen, die Sorge<br />
haben, demnächst zu diesen Verlierern<br />
gehören zu können. <strong>Die</strong>ses Phänomen<br />
konnte in den 80 er Jahren auch in der<br />
alten BRD beobachtet werden, <strong>als</strong> die<br />
Partei »<strong>Die</strong> Republikaner« und die Deutsche<br />
Volks-Union (DVU) mit vergleichbaren<br />
Parolen auf soziale Ängste und<br />
politische Verunsicherungen reagierten.<br />
<strong>Die</strong> extreme Rechte kann aber auch deshalb<br />
mit der sozialen Frage und mit ihrer<br />
Variante des »Antikapitalismus« erfolgreich<br />
sein, weil ihr diese Frage von größeren<br />
Teilen der <strong>Linke</strong>n überlassen wurde.<br />
Insbesondere die Sozialdemokratie<br />
hat die soziale Frage <strong>als</strong> zentrales Element<br />
ihrer Politik aufgegeben und sich<br />
der neoliberalen<br />
»Modernisierung« zugewandt. <strong>Die</strong>s ist<br />
im übrigen kein rein deutsches Phänomen,<br />
sondern in zahlreichen euro-<br />
päischen Ländern seit dem Ende der<br />
neunziger Jahre zu beobachten. Überall<br />
hat dies auch zu einem Aufschwung von<br />
Parteien der extremen Rechten geführt.<br />
In seinem Artikel unter der Überschrift<br />
»Der Abschied der <strong>Linke</strong>n von der sozialen<br />
Frage« schreibt Jürgen Gansel hierzu:<br />
»<strong>Die</strong> sozialen Interessen der Deutschen<br />
kommen in der Gedankenwelt von SPD<br />
und Grünen, WASG und PDS nicht mehr<br />
vor. <strong>Die</strong> soziale Frage, an der sich die <strong>Linke</strong><br />
historisch abarbeitete und die für sie<br />
einmal identitätsstiftend war, wird heute<br />
zugunsten eines inhaltsleeren Machtopportunismus<br />
und eines manischen Minderheitenkultes<br />
fallengelassen.<br />
Damit räumt die <strong>Linke</strong> das Themenfeld,<br />
auf dem die politischen Schlachten der<br />
Zukunft geschlagen werden.«<br />
Wie müsste die <strong>Linke</strong> mit dem »Antikapitalismus«<br />
von rechts umgehen?<br />
Muss man der extremen Rechten die soziale<br />
Frage von links streitig machen?<br />
Es ist heute unstrittig, dass der Kapitalismuskritik<br />
von rechts eine antifaschistische<br />
Antwort entgegengesetzt werden<br />
muss. In verschiedenen Analysen<br />
von Gewerkschaften und antifaschistischen<br />
Strukturen wird diese Frage<br />
behandelt, wobei die Antworten naturgemäß<br />
unterschiedlich sind. Zu Recht<br />
wird deutlich gemacht, dass der Anti-<br />
Kapitalismus von rechts keine wirkliche<br />
Systemopposition ist, da diese Kritik<br />
die kapitalistische Wirtschaftsordnung<br />
nicht aufheben will, sondern nur unter<br />
nationalistischen Vorzeichen zu gestalten<br />
plant. Daher wird in manchen Veröffentlichungen<br />
der Anti-Kapitalismus <strong>als</strong><br />
reine Propaganda bezeichnet.<br />
Daraus würde sich <strong>als</strong> antifaschistische<br />
Strategie ableiten, die Widersprüche in<br />
der Propaganda zu entlarven und den<br />
potenziellen Anhängern und Wählern<br />
deutlich zu machen, dass ihre antikapitalistischen<br />
Wünsche und Sehnsüchte<br />
von der extremen Rechten prinzipiell<br />
nicht umgesetzt werden können.<br />
In einigen – verkürzten – Argumentationen<br />
heißt es daher: Eine gute Sozialpolitik<br />
sei die beste antifaschistische<br />
Strategie. Bundes- und Landesregierungen<br />
haben daher schon einige Male<br />
verkündet, ihre Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit<br />
seien ein Beitrag<br />
gegen die extreme Rechte. Das »Ergebnis«<br />
sieht man in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern.<br />
Offenkundig reicht es nicht, kurzfristige<br />
Beschäftigungsformen zu organisieren,<br />
um die – tatsächliche oder empfundene<br />
– prekäre gesellschaftliche Lage<br />
aufzuheben. Zudem ist bekannt, dass
sich viele Anhänger der extremen Rechten<br />
in Ausbildung oder in gesicherten<br />
Beschäftigungsverhältnissen befinden.<br />
Offenkundig bedarf es anderer Antworten<br />
im Rahmen antifaschistischer Strategien<br />
in der sozialen Frage.<br />
Wenn die rassistische Durchdringung<br />
der Kapitalismuskritik und der sozialen<br />
Frage der ideologische Kern der extremen<br />
Rechten ist, dann muss eine linke<br />
Antwort darauf das rassistische Prinzip<br />
durchbrechen. Internationale Investmentfonds<br />
<strong>als</strong> »Heuschrecken« zu<br />
bezeichnen, die wie eine Plage über Betriebe<br />
in unserem Land herfallen, sie<br />
aussaugen und »verbrannte Erde« hinterlassen,<br />
mag zwar in populistischer<br />
Verkürzung hilfreich sein, die Globalisierungskritik<br />
darauf zu reduzieren, liefert<br />
jedoch Stichworte für rassistische<br />
Denkschemata. Auch wenn linke Kritik<br />
damit zu »kopflastig« erscheint, ohne<br />
Erkenntnis der Profitlogik des Kapit<strong>als</strong>ystems<br />
wird hieraus keine tatsächliche<br />
Systemalternative.<br />
Und ein zweites Element antifaschistischer<br />
Kapitalismuskritik grenzt extrem<br />
rechtes Denken aus: Es muss in<br />
sozialen Auseinandersetzungen immer<br />
wieder deutlich gemacht werden, dass<br />
es um Arbeit, soziale Sicherheit, Gesundheit<br />
und Versorgung aller hier lebenden<br />
Menschen geht, nicht nur derjenigen,<br />
die durch einen deutschen Pass<br />
privilegiert sind.<br />
Eben hatte ich gesagt, dass allein der<br />
Verweis auf eine gute linke Sozialpolitik<br />
<strong>als</strong> antifaschistische Strategie zu kurz<br />
greift. Aber natürlich ist die Thematisierung<br />
der sozialen Frage durch die <strong>Linke</strong><br />
ein zentraler Punkt. <strong>Die</strong> aktuellen<br />
Erfolge der LINKEN sind sicherlich ein<br />
Grund für die aktuellen Misserfolge der<br />
extremen Rechten. Wichtig für die <strong>Linke</strong><br />
ist es aber, die soziale Frage in einer<br />
Form zu thematisieren, die sich von<br />
den Nazis jederzeit klar und deutlich<br />
unterscheidet. Dass es hier manchmal<br />
Probleme gibt, haben die Montagsdemonstrationen<br />
gegen »Hartz IV« deutlich<br />
gemacht, wo nicht nur im Osten<br />
Nazis versucht (und manchmal auch<br />
geschafft) haben, die Proteste für sich<br />
zu vereinnahmen. In der Vergangenheit<br />
waren oftm<strong>als</strong> Kampagnen, Demonstrationen<br />
und Kundgebungen. die von<br />
der <strong>Linke</strong>n und Gewerkschaften ausgingen,<br />
deswegen von Neonazis so leicht<br />
zu besetzten, weil nicht genau genug<br />
darauf geachtet wurde, dass völkische<br />
und rassistische Interpretationen von<br />
vornherein unmöglich sind. Es ist ein<br />
Unterschied ob gefordert wird »Soziale<br />
Rechte für alle« oder nur »Verteidigt den<br />
Sozi<strong>als</strong>taat«/«Weg mit Hartz IV«.<br />
<strong>Die</strong> Verbindung eines universellen humanistischen<br />
Menschenbildes mit sozialer<br />
Teilhabe an den gesellschaftlichen<br />
Reichtümern für »Alle«, unabhängig von<br />
ihrer Hautfarbe und geographischen<br />
Herkunft, macht die Soziale Frage nicht<br />
anschlussunfähig für die, die nur Verbündete<br />
für ihren Rassismus suchen.<br />
Wenn die Kampagne dann auch noch<br />
einen internationalistischen Ansatz hat,<br />
im Sinne von: »<strong>Die</strong> Grenzen verlaufen<br />
zwischen oben und unten, und nicht zwischen<br />
den Völkern«, gruseln sich Neonazis<br />
und die Gefahr einer »feindlichen<br />
Übernahme« der betreffenden Veranstaltung<br />
ist gering.<br />
Aber neben dieser Thematisierung der<br />
sozialen Frage <strong>als</strong> Möglichkeit, den Nazis<br />
das Wasser abzugraben, gibt es eine<br />
ganze Reihe von Feldern, auf denen<br />
auch DIE LINKE konkret gegen rechts<br />
vorgeht. Ich will exemplarisch nur drei<br />
Bereiche nennen, die man vielleicht mit<br />
»Analyse, Prävention, Repression« überschreiben<br />
könnte.<br />
Analyse: Um die Alltagsgefahr des Neofaschismus<br />
überhaupt deutlich zu machen,<br />
ist es wichtig zu wissen, was auf<br />
Seiten der Nazis passiert. DIE LINKE<br />
fragt regelmäßig nach rechten Straf-<br />
und Gewalttaten, nach Konzerten und<br />
Musikveranstaltungen der Nazis die, wie<br />
viele sicher wissen, eine Art Einstiegsdroge<br />
für viele Jugendliche in die Szene<br />
sind und wir fragen nach rechten Aufmärschen<br />
und Demonstrationen – kurz,<br />
wir versuchen, öffentliche Aufmerksamkeit<br />
für das Thema zu schaffen.<br />
Prävention: DIE LINKE hat sich nachdrücklich<br />
für den Erhalt und den Ausbau<br />
der vom Bund finanzierten Projekte gegen<br />
Rechtextremismus eingesetzt. <strong>Die</strong>se<br />
Projekte standen vor etwas mehr <strong>als</strong><br />
einem Jahr auf der Kippe, weil die CDU/<br />
CSU sie nicht länger fördern wollte. Nur<br />
dem Druck von Opposition, Medien und<br />
der engagierten Öffentlichkeit ist es gelungen,<br />
die Projekte zu erhalten und ihre<br />
Finanzierung zu sichern. An der konkreten<br />
Ausgestaltung haben wir nach<br />
wie vor Kritik, dennoch ist ihr Erhalt ein<br />
wichtiger Erfolg.<br />
Ein Thema, zu dem ich selbst intensiv<br />
arbeite: <strong>Die</strong> Bundesrepublik hat einen<br />
Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus<br />
vorgelegt, der meines Erachtens<br />
am eigentlichen Problem vorbei geht.<br />
Rassismus und Ausgrenzung von MigrantInnen<br />
werden hier nur <strong>als</strong> ein Problem<br />
des rechten Randes beschrieben<br />
und nur hier sieht die Bundesregierung<br />
die Notwendigkeit, aktiv zu werden. Den<br />
strukturellen Rassismus in der Mitte der<br />
Gesellschaft, auf staatlicher Ebene, in<br />
den Behörden, nimmt dieser Plan noch<br />
nicht einmal in den Blick. Zusammen<br />
mit zahlreichen Nicht-Regierungsorganisationen<br />
(NGOs) kämpfen wir für eine<br />
grundlegende Überarbeitung dieses<br />
Plans.<br />
Repression: Hier steht von neuem die<br />
Frage des NPD-Verbots auf der Tagesordnung.<br />
<strong>Die</strong>se Debatte ist leider nur eine<br />
Scheindebatte, weil weder SPD noch<br />
CDU bereit sind, die vom Verfassungsgericht<br />
genannten Voraussetzungen für<br />
ein solches Verbot umzusetzen: <strong>Die</strong> Abschaltung<br />
aller V-Leute in der NPD. DIE<br />
LINKE hatte und hat jetzt erneut einen<br />
Antrag zur Abschaltung der V-Leute in<br />
den Bundestag eingebracht. Beim ersten<br />
Versuch haben alle anderen Parteien<br />
diesen Antrag abgelehnt, womit es<br />
für mich fraglich ist, ob man hier wirklich<br />
ein Verbot erreichen will.<br />
Aber natürlich ist der Bundestag nicht<br />
die zentrale Ebene der Auseinandersetzung<br />
mit der extremen Rechten. <strong>Die</strong> alltägliche<br />
Auseinandersetzung findet in<br />
den Städten und Gemeinden, in den Vereinen<br />
und Verbänden, in Schulen, Betrieben<br />
und anderen Institutionen statt.<br />
Aus meiner Sicht ist es dabei von besonderer<br />
Wichtigkeit, dass die Thematisierung<br />
des gesellschaftlichen Alltagsrassismus<br />
nicht aus dem Blick gerät.<br />
Residenzpflicht, Abschiebungen, Diskriminierung<br />
von MigrantInnen am Arbeitsplatz,<br />
in Behörden und bei der Polizei,<br />
um nur diese Beispiele zu nennen, sind<br />
für mich ein unabdingbarer Bestandteil<br />
des Kampfes gegen Rechts. Denn<br />
schließlich ist es dieser Alltagsrassismus,<br />
auf den die Nazis ihr Weltbild und<br />
ihre Ideologie aufbauen.<br />
Sevim Dagdelen MdB<br />
1 Vgl. die Rezensionen der von dieser Forschungsgruppe<br />
herausgegebenen Bände im »Rundbrief«:<br />
H.1–2/2005, S. 76 f. (Roland Bach); H. 1–2/2007,<br />
S. 89 ff. (Rolf Richter) u. H. 1–2/2008, S. 88 f.;<br />
(Rolf Richter).<br />
2 Interessanterweise hieß es im Punkt 7 des am<br />
24. Februar 1920 verabschiedeten Parteiprogramms<br />
der NSDAP: »Wir fordern, dass sich der<br />
Staat verpflichtet, in erster Linie für die Erwerbs-<br />
und Lebensmöglichkeit der Staatsbürger zu sorgen.<br />
Wenn es nicht möglich ist, die Gesamtbevölkerung<br />
des Staates zu ernähren, so sind die<br />
Angehörigen fremder Nationen (Nicht-Staatsbürger)<br />
aus dem Reiche auszuweisen.« Gottfried Feder,<br />
Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen<br />
Grundlagen, 41.–50. Aufl., München<br />
1931, S. 20.<br />
3 Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände 2007,<br />
Frankfurt a. M. 2008, S. 23 ff.<br />
4 Vgl. die Rezension im »Rundbrief«, H. 1–2/2007,<br />
S. 89 (Rolf Richter).<br />
5 Vgl. Gottfried Feder, Das Programm der NSDAP<br />
und seine weltanschaulichen Grundlagen, S. 20 f.,<br />
24 ff., 29 ff., 45 ff.<br />
6 Vgl. Jürgen Gansel MdL, Der Abschied der <strong>Linke</strong>n<br />
von der sozialen Frage, in: Deutsche Stimme,<br />
Nr. 12, Dezember 2006.<br />
7
Rassismus meint mehr <strong>als</strong> Rechtsextremismus:<br />
<strong>Die</strong> gesellschaftliche Normalität <strong>als</strong> Problem.<br />
Der Bielfelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer<br />
hat einmal sehr treffend das zentraler<br />
Ergebnis der sozialwissenschaftlichen<br />
Forschung zu Rechtsextremismus<br />
zusammengefasst. Er sagte: »Rechtsextreme<br />
sind keine Sonderfälle in einer intakten<br />
Gesellschaft«. Daraus abgeleitet<br />
lautet meine Grundthese, dass Rechtsextremismus<br />
kein Jugendphänomen und<br />
kein Randgruppenphänomen ist, sondern<br />
in der Mitte der Gesellschaft entsteht.<br />
So möchte ich die Aufmerksamkeit in<br />
meinen Ausführungen auf diese ganz<br />
normale Mitte lenken. Das zu beackernde<br />
Feld ist bekanntlich groß. Ich<br />
werde mich auf Rassismus in Bezug<br />
zur Migration beschäftigen, ein konstituierender<br />
politischer Bereich von Rassismus.<br />
Ich werde versuchen zu klären,<br />
was Rassismus überhaupt bedeutet, fragen,<br />
warum und wie er sich hartnäckig<br />
reproduziert und dabei das Wechselverhältnis<br />
von Rassismus und Rechtsextremismus<br />
ansprechen. Abschließend<br />
versuche ich politische Basisausgangspunkte<br />
zur Bekämpfung von Rassismus<br />
und damit langfristig auch von Rechtsextremismus<br />
aufzuzeigen.<br />
»Ich werd’ eh Hartz IV«<br />
Der Autor dieser Zeilen stammt aus<br />
Freiburg, einer liberalen Stadt im äußersten<br />
Südwesten der Republik mit einer<br />
Arbeitslosigkeit von nicht mehr <strong>als</strong> circa<br />
fünf Prozent. Es gibt vergleichsweise<br />
kaum Probleme mit rechtsradikalen<br />
Schlägern auf den Straßen aber sehr<br />
wohl und nachhaltig mit Rassismus.<br />
Seit zweieinhalb Jahren führe ich regelmäßig<br />
antirassistische Projekttage<br />
an Schulen durch, und zwar zumeist<br />
an Berufsschulen und dort mit Berufsvorbereitungsklassen.<br />
In diesen biografischen<br />
Warteschleifen werden jene<br />
jungen Leute untergebracht, die keinen<br />
Schulabschluss geschafft oder keinen<br />
Praktikums- oder Ausbildungsplatz bekommen.<br />
Es ist nun so, dass eigentlich<br />
immer gut zwei Drittel der betreffenden<br />
Schüler und Schülerinnen migrantischer<br />
Herkunft sind. Fragt man diese nun erstens,<br />
ob Sie Erfahrungen mit rassistischer<br />
Diskriminierungen kennen, bejahen<br />
einheitlich alle diese Frage und<br />
erzählen viele Bespiele aus ihrem Alltag:<br />
So erzählen sie, dass sie in bestimmte<br />
Clubs <strong>als</strong> »AusländerInnen« nicht hinein<br />
gelassen werden. Sie erzählen über Beschimpfungen<br />
auf der Straße, über Ungleichbehandlung<br />
bei der Polizei nach<br />
8<br />
dem Erwischtwerden beim <strong>Die</strong>bstahl<br />
oder über das Ausgeschlossensein bei<br />
der Vergabe von Praktikumsplätzen.<br />
Wenn man sie zweitens fragt, was sie<br />
denn gerne machen möchten und was<br />
sie denken, was sie wirklich werden, bekommt<br />
man klar und resigniert zur Antwort<br />
»Ich werde eh‘ Hartz IV«.<br />
<strong>Die</strong>se Klassen sind für mich die verschämten<br />
Abstellkammern unserer Gesellschaft,<br />
für vor allem ausgezählte migrantische<br />
Jugendliche, die kaum eine<br />
Chance auf einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz<br />
haben, da diese – ebenso wie<br />
die Praktika – über lokale Netzwerke der<br />
Alteingessenen vergeben werden. <strong>Die</strong>se<br />
Klassen sagen meiner Meinung nach<br />
wesentliches über unsere Gesellschaft<br />
und deren Rassismus aus.<br />
Was meint Rassismus?<br />
<strong>Die</strong> Bundesrepublik hinkt nicht nur integrationspolitisch<br />
anderen westlichen<br />
Einwanderungsländern weit hinter<br />
her, sondern auch in der Debatte über<br />
Rassismus. <strong>Die</strong>se Diskussion wird in<br />
Deutschland fast ausschließlich in Expertenkreisen<br />
geführt und erreicht nur<br />
selten das Gesichtsfeld der Öffentlichkeit<br />
oder gar der Politik. So wird in<br />
Deutschland der Begriff »Rassismus«<br />
sehr selten verwendet und verfügt in<br />
der öffentlichen Debatte über wenig<br />
analytische Tiefenschärfe und impliziert<br />
lediglich moralische Eindeutigkeit. Ganz<br />
im Gegensatz zu anderen Ländern wie<br />
beispielsweise in Großbritannien und in<br />
den USA, in denen Rassismus ein recht<br />
klar umrissenes Phänomen beschreibt,<br />
dass gesellschaftliche Auseinandersetzungen<br />
darüber erst fundiert und somit<br />
in der Breite ermöglicht.<br />
Rassismus wird in Deutschland häufig<br />
hinter Begriffe wie »Ausländerfeindlichkeit«<br />
und »Fremdenfeindlichkeit« versteckt.<br />
<strong>Die</strong>se Wörter geben zwar vor,<br />
dasselbe Phänomen zu beschreiben, gelangen<br />
aber durch ihre Suggestion oder<br />
Schwerpunktsetzung zu vollkommen<br />
unterschiedlichen Analysen.<br />
Nehmen wir <strong>als</strong> Beispiel eine schwarze<br />
Frau. Sie würde in Deutschland auf der<br />
Straße von vielen Menschen der deutschen<br />
Mehrheitsgesellschaft <strong>als</strong> Ausländerin<br />
wahrgenommen. Nehmen wir an,<br />
dass sie nun aber in Hamburg geboren<br />
und aufgewachsen ist und schon immer<br />
einen deutschen Pass besitzt. Obwohl<br />
sie Deutsche ist, würde sie – im Vergleich<br />
zu einem niederländischen hellhäutigen<br />
Mann – auf der Straße mit ho-<br />
her Wahrscheinlichkeit <strong>als</strong> Ausländerin<br />
stigmatisiert werden. Der hellhäutige<br />
Niederländer, solange er nicht redet,<br />
allerdings nicht. Es geht <strong>als</strong>o nicht um<br />
Ausländerfeindlichkeit, denn wem sieht<br />
man an, ob er oder sie deutsch ist oder<br />
nicht? Darüber hinaus wird die Tatsache<br />
verschleiert, dass auch Inländer zu<br />
Fremden gemacht werden können, so<br />
wie deutsche Juden, Punks, Homosexuelle<br />
und andere.<br />
Wenn diese Afrodeutsche angefeindet<br />
werden würde, spricht man allgemein<br />
auch von Fremdenfeindlichkeit, obwohl<br />
sie ja keine Fremde ist. Sie wird aber<br />
sehr wohl durch Diskurse der Mitte der<br />
Gesellschaft, durch ein von der Wirklichkeit<br />
vollkommen überholtes Bild,<br />
wer deutsch ist und wer nicht, zu einer<br />
Fremden gemacht. »Fremdenfeindlichkeit«<br />
beschreibt eher individuelle Verhaltensweisen<br />
und Einstellungen. <strong>Die</strong><br />
strukturelle Dimension von Rassismus<br />
tritt in den Hintergrund und wird nicht<br />
benannt und erkannt. Rassismus hingegen<br />
verweist über individuelle Einstellungen<br />
hinaus & betont die gesellschaftliche<br />
Dimension. Dabei verknüpft<br />
Rassismus gesellschaftliche Vorurteile<br />
immer mit Diskriminierungen z. b. auf<br />
dem Arbeitsmarkt oder im Bildungssystem.<br />
<strong>Die</strong> dafür verantwortlichen Ausgrenzungsmechanismen<br />
können individuell,<br />
strukturell und institutionell sein.<br />
Sie können intendiert – <strong>als</strong>o bewusst<br />
forciert, oder auch unbewusst und ungewollt<br />
sein. Unsere heutige Situation<br />
– vor allem in Westdeutschland und<br />
Berlin – ist geprägt von Einwanderung<br />
und historisch sich wandelnden rassistischen<br />
Diskriminierungen. Der Sozialwissenschaftler<br />
Georg Lutz hat das<br />
daraus resultierende Ergebnis einmal<br />
sehr treffend formuliert, indem er konstatierte:<br />
Wir leben in einer »multikulturellen<br />
Gesellschaft der besonderen<br />
Art«. 1<br />
Besonderheiten der multikulturellen<br />
Gesellschaft in der BRD<br />
<strong>Die</strong>se Besonderheit möchte ich vor<br />
allem für die alte BRD beschreiben. In<br />
der DDR gab es eine andere, in Bezug<br />
auf Stigmatisierungsprozesse gegenüber<br />
MigrantInnen ebenfalls sehr schlimme<br />
Geschichte, die es sich lohnt an anderer<br />
Stelle gesondert anzuschauen.<br />
In den 50 er und 60 er Jahren – der Zeit<br />
des Fordismus – kamen die meisten MigrantInnen<br />
aufgrund der wachsenden<br />
Arbeitskräftenachfrage in die rasant
wachsenden Industriezentren des Westens,<br />
so auch nach Westdeutschland.<br />
Gefragt waren überwiegend junge Männer.<br />
Ob diese eine Ausbildung hatten<br />
oder nicht, spielte keine so große Rolle,<br />
da die wenigen Handgriffe am Fließband<br />
in der Fabrik, die Arbeit in der Schwerindustrie<br />
oder bei der Müllabfuhr schnell<br />
zu lernen waren. Auf den Schultern dieser<br />
Menschen war es überhaupt für<br />
viele Eingesessene erst möglich, bessere<br />
Jobs zu bekommen. Der Sozialwissenschaftler<br />
Friedrich Heckmann<br />
spricht von ca. 2,3 Millionen Westdeutschen,<br />
die zwischen 1960 und 1970<br />
von Arbeiter- in Angestelltenpositionen<br />
aufgestiegen sind. <strong>Die</strong>ser Prozess der<br />
ethnischen Unterschichtung könnte in<br />
Bezug auf Frauen auch folgendermaßen<br />
illustriert werden: Aus einer deutschen<br />
Putzfrau ist eine türkische geworden.<br />
<strong>Die</strong>se durch Familiennachzug<br />
und Kinder zahlenmäßig stark gewordene<br />
Einwanderungsgruppe baute sich<br />
ein Leben in Deutschland auf und blieb,<br />
statt – wie von der Politik zunächst forciert<br />
– wieder zurück in ihre Herkunftsländer<br />
zu kehren. Daraus resultierte eine<br />
gesamteuropäische Situation der<br />
»inneren Ausschließung«: <strong>Die</strong> europäischen<br />
Gesellschaften stigmatisieren<br />
die EinwanderInnen rassistisch, obwohl<br />
sie in den gleichen Städten leben. So ist<br />
in allen westlichen Industrienationen eine<br />
multikulturelle Underclass entstanden,<br />
innerhalb deren die nationalen<br />
zusammen mit den ausländischen Arbeitern<br />
in Konkurrenz um Arbeitsplätze<br />
stehen. <strong>Die</strong>ses Strukturphänomen<br />
schürt die Spannungen, bei der soziale<br />
Unterschiede in zunehmendem Maße<br />
ethnisiert werden. Eingebettet ist diese<br />
Entwicklung in den Prozess steigender<br />
Arbeitslosigkeit seit Mitte der siebziger<br />
Jahre, in dessen Verlauf immer mehr<br />
Menschen in Konkurrenz um Arbeit und<br />
Anerkennung stehen.<br />
Seit den achtziger Jahren gewann zudem<br />
der Neoliberalismus an gesellschaftlicher<br />
Relevanz. <strong>Die</strong>se Idee des Marktradikalismus<br />
ist ja weit mehr <strong>als</strong> eine Wirtschaftstheorie.<br />
<strong>Die</strong>ses quasi religiöse<br />
Heilsversprechen wurde zur Handlungsmaxime<br />
einer Politik, die soziale Sicherungssysteme<br />
erst in Frage stellte, dann<br />
sukzessive abbaute und nicht zuletzt<br />
die Absicherungen gegen Lebensrisiken<br />
(zum Beispiel Krankheit, Invalidität, Altersarmut)<br />
zunehmend privatisierte. <strong>Die</strong><br />
Bewertung und damit auch die Wertigkeit<br />
eines Menschen reduzierte sich bei<br />
dieser Entwicklung vermehrt auf seinen<br />
ökonomischen Nutzen oder eben<br />
auf seinen volkswirtschaftlichen Schaden.<br />
In diesem Fahrwasser entbrannte<br />
eine Diskussion über den unterstellten<br />
Missbrauch von Sozialleitungen, die dezidiert<br />
gegen sozial Schwache gerichtet<br />
war. Soziale Empathie, Mitleid und daraus<br />
erwachsene Zustimmung für die<br />
Unterstützung von Kranken, Langzeitarbeitslosen,<br />
Alten usw. wurden unpopulär<br />
– nicht zuletzt war dies den massiven<br />
publizistischen Kampagnen geschuldet,<br />
die das neoliberale Gedankengut systematisch<br />
in der Mehrzahl der Medien verbreiteten<br />
.<br />
Durch den Zusammenbruch der Staaten<br />
des »realen Sozialismus« hatte die neoliberale<br />
Interpretation und der damit<br />
verbundene Umbau der Gesellschaften<br />
quasi historisch gesiegt. So wurden die<br />
neunziger Jahre zum Jahrzehnt der Ideologisierung<br />
von Konkurrenz. Kooperation<br />
<strong>als</strong> Gesellschaftsidee war weitgehend<br />
disqualifiziert. Nicht nur die Individuen<br />
wurden gegeneinander gesetzt, sondern<br />
auch Nationen. So hieß es, der Standort<br />
Deutschland müsse gegen den Rest<br />
de Welt verteidigt werden. Dafür müsse<br />
man den Gürtel enger schnallen. <strong>Die</strong>ser<br />
nunmehr nationale Wettbewerbsstaat<br />
etablierte einen Standortnationalismus,<br />
der nicht losgelöst vom ethnischen Nationalismus<br />
betrachtet werden kann.<br />
Auch die »rot-grüne Regierung« diskutierte<br />
beispielsweise Einwanderung<br />
fast ausschließlich unter der utlilitaristischen<br />
Doktrin, wer unter welchen Bedingungen<br />
einwandern dürfe. Rot-Grün<br />
hat die Einwanderungspolitik insofern<br />
modernisiert, indem sie halbwegs dem<br />
westlichen Niveau angepasst wurde, allerdings<br />
ohne dabei auch nur annähernd<br />
eine aktive Gleichstellungspolitik anzugehen.<br />
<strong>Die</strong> bei dieser gesellschaftlichen<br />
Abwärtsbewegung aufsteigende sozialdarwinistische<br />
Konkurrenzideologie erhöht<br />
nun ebenso die Marktchancen für<br />
rechtsradikale und autoritäre Gesellschaftsentwürfe.<br />
Dabei ist – wie der Politikwissenschaftler<br />
Christoph Butterwegge<br />
betont – zu beachten, dass die<br />
Verschärfung des Konkurrenzprinzips<br />
nicht unbedingt zu mehr fremdenfeindlichen<br />
Einstellungen führen müsste. Politische<br />
Traditionen entscheiden darüber,<br />
wie eine Krise interpretiert wird und<br />
auf welche Muster zurückgegriffen wird.<br />
In Deutschland ist diese politische Tradition<br />
von Autoritarismus und einem ungemein<br />
ethnischen Verständnis von Nation<br />
verbunden, sodass Rassismus hier<br />
verstärkt zu Tage tritt.<br />
Aus dieser skizzierten Entwicklung resultierte<br />
dann die »multikulturelle Gesellschaft<br />
der besonderen Art«. Besonders<br />
deshalb, weil Ausgrenzungsmechanismen<br />
Barrieren tief in unsere Gesellschaft<br />
verankert haben, die rassistisch<br />
organisiert sind. <strong>Die</strong> Rassimusexpertin<br />
Birgit Rommelspacher spricht dabei von<br />
einer Dominanzkultur der Bevölkerungsmehrheit,<br />
die vier unterschiedliche Segregationlinien<br />
aufrecht erhält: So die<br />
politische Segregation, das meint allen<br />
voran die gesetzliche Ungleichbehandlung<br />
durch das Ausländergesetz,<br />
den schweren Zugang zur deutschen<br />
Staatsbürgerschaft, das Inländerprimat<br />
bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, die<br />
Residenzpflicht von Flüchtlingen, die<br />
Nicht-Legalisierung von den 500.000<br />
bis 1 Millionen Illegalen in Deutschland<br />
sowie die endlosen Sonderfälle in den<br />
Ausländergesetzen.<br />
<strong>Die</strong> ökonomische Segregation zeigt sich<br />
durch die doppelt so hohe Arbeitslosigkeit<br />
und das damit einhergehende<br />
deutlich höhere Armutsrisiko für MigrantInnen<br />
gegenüber der deutschen<br />
Mehrheitsbevölkerung. <strong>Die</strong> Gesellschaft<br />
gibt zwar ein Gleichheitspostulat vor,<br />
nämlich das der Leistungsgerechtigkeit.<br />
<strong>Die</strong>s ist allerdings Unsinn. <strong>Die</strong> persönliche<br />
Leistung steht fast in gar keinem<br />
Bezug zum tatsächlich Erreichten. Erfolg<br />
und Misserfolg wird vielmehr sozial<br />
vererbt, sprich die soziale Herkunft bestimmt<br />
im Wesentlichen die Startbedingungen<br />
im Wettbewerb um Arbeit und<br />
Anerkennung in der Gesellschaft. Damit<br />
verbunden ist der Bildungsbereich.<br />
Der schulische Erfolg ist laut PISA- und<br />
OSZE-Studien besonders in Deutschland<br />
extrem stark von der sozialen Herkunft<br />
abhängig und forciert somit ethnische<br />
Ungleichheiten.<br />
Zur sozialen Segregation zählt der Umgang<br />
der Bevölkerung miteinander. So<br />
verwundert es nicht, dass der Anteil<br />
fremdenfeindlichen Einstellungen dort<br />
besonders hoch ist, wo der Anteil der MigrantInnen<br />
sehr gering ist, so vor allem<br />
ländlichen Raum. Man bleibt lieber unter<br />
sich. Wie wirkungsmächtig dies sein<br />
kann, sieht man an vor allem jungen Kindern,<br />
die sich ihrer ethnischen Herkunft<br />
schon bewusst sind. Sie wissen, das<br />
sie keine Ausländer sind. Umgekehrt<br />
wissen auch MigrantInnenkinder meist<br />
sehr früh, dass sie eine kollektive Signatur<br />
tragen und zwar die des Fremden.<br />
So gaben 80 Prozent der arabischen Jugendlichen<br />
2004 bei einer repräsentativen<br />
Umfrage an: »Egal was Du tust, nie<br />
wirst Du ganz dazu gehören«. Aber auch<br />
der Anteil der binationalen Ehen ist ein<br />
Indikator zur Messung der sozialen Segregation.<br />
<strong>Die</strong>ser Anteil ist in Deutschland<br />
im Vergleich zu anderen Ländern<br />
mit 12 Prozent erstaunlich hoch.<br />
<strong>Die</strong> letzte Segregationslinie ist die kulturelle:<br />
Hier geht es um die Organisierung<br />
von Prestige: Wer hat das sagen, wem<br />
9
wird überhaupt zugehört, wer wird ernst<br />
genommen, wer wird ignoriert, wer wird<br />
nie gefragt? <strong>Die</strong>ses Anerkennungsmanagement<br />
ist besonders hartnäckig und<br />
effektiv. Eine der wichtigsten Kategorien<br />
ist hierbei die ethnische Grenzziehung.<br />
Der Gegensatz vom außen und Innen,<br />
von Eigenem und Fremden wird hierbei<br />
ethnisch definiert. So wird verhandelt,<br />
wer dazugehört und wer nicht. So ist der<br />
zentrale Dreh und Angelpunkt bei rassistischen<br />
Diskursen fast immer die so<br />
genannte Ausländerfrage: Gesellschaftliche<br />
Konflikte um Anerkennung, um Arbeitsplätze<br />
und Arbeitsbedingungen,<br />
um Kriminalität und Drogen werden dabei<br />
durch eine ethnische Brille gesehen.<br />
So heißt es dann, »die Deutschen« stünden<br />
in Konkurrenz zu »den Ausländern«,<br />
die uns »unsere« Jobs wegnähmen. Von<br />
dieser Ethnisierung des Sozialen ist<br />
es nicht weit zur rassistischen Formel<br />
»Ausländer raus«, die im Alltag in den<br />
verschiedensten Ausformulierungen bis<br />
weit in die Mitte der Gesellschaft zu finden<br />
ist. Das Wort Ausländer meint in<br />
diesem Sinne alles was <strong>als</strong> Fremd angefeindet<br />
wird, auch unabhängig davon<br />
wie die Staatsangehörigkeit wirklich ist.<br />
Wie stark diese Abgrenzung gehen kann,<br />
zeigte sich im letzten Jahrzehnt, bei der<br />
Verschärfung der Asyldebatte und Asylpolitik.<br />
<strong>Die</strong> massiven Diskriminierungen<br />
von Flüchtlingen und deren sozialräumliche<br />
Segregation vor allem durch deren<br />
Unterbringung waren begleitet von<br />
einer beispiellosen Hetzkampagne der<br />
Massenmedien gegen AsylbewerberInnen<br />
– hier auch von der linksliberalen<br />
Presse und der Politik. <strong>Die</strong>se Politik inszenierte<br />
ein nationalistisches Untergangszenario<br />
unter den Parolen »Das<br />
Boot ist voll«, »<strong>Die</strong> Grenzen der Belastung<br />
sind erreicht« usw., und stilisierte<br />
die Flüchtlingspolitik zur Überlebensfrage<br />
der Deutschen hoch. Im Rauch der<br />
Brandsätze wurde diese Politik bewusst<br />
fortgeführt bis faktisch der Artikel 16<br />
des Grundgesetzes abgeschafft wurde.<br />
Der Name Rostock-Lichtenhagen wurde<br />
in diesem Zusammenhang zu einem erschreckenden<br />
und warnenden Synonym<br />
für Rassismus in Deutschland, dem ein<br />
mörderischer Mix aus politischem Kalkül,<br />
weit verbreiteten rassistischen Einstellungen<br />
in der Bevölkerung, hetzerischer<br />
Medienberichterstattung sowie<br />
struktureller Diskriminierung von Minderheiten<br />
zugrunde liegt. Wenn Rassismus<br />
gewalttätig eskaliert, dann trifft es<br />
alle potentiellen Opfer von Rassismus.<br />
So traf es nach Rostock beispielsweise<br />
auch schnell MigrantInnen die schon<br />
lange in Deutschland lebten, wie zum<br />
Beispiel in Mölln.<br />
10<br />
<strong>Die</strong> mediale und politische Aufmerksamkeit<br />
bei Rechtsextremismus und<br />
Rassismus ist dabei defensiv. Sie hechelt<br />
den rechtsextremen Gruppen und<br />
rechten Gewalttaten hinterher, da diese<br />
zumeist nur dann zum Thema werden,<br />
wenn eine besonders schlimme Grausamkeit<br />
passiert ist.<br />
Ich teile hier die Einschätzung von Christoph<br />
Butterwegge, dass diese Art der<br />
Aufmerksamkeit den Blick allein auf die<br />
sichtbare Phänomene reduziert. So werden<br />
analytische Erkenntnisse in Bezug<br />
auf das Ursache-Wirkungs-Verhältnis<br />
rechtsextremer Agitation verhindert.<br />
Rechtsextremismus ist die Spitze<br />
des Rassismus<br />
<strong>Die</strong> zu Tage tretende rechtsextreme Gewalt<br />
ist nämlich nur die Spitze dieses<br />
skizzierten recht gewöhnlichen Rassismus.<br />
Schlagwörter wie »Asylanten«,<br />
»Sozi<strong>als</strong>chmarotzer« und »Überfremdung«<br />
finden sich in vielen Köpfen,<br />
in den Medien und in Politikerreden<br />
weit über die <strong>als</strong> rechtsextrem Klassifizierten<br />
hinaus. Bei einer repräsentativen<br />
Umfrage im Jahr 2007 stimmten<br />
55 Prozent der befragten dem Satz »Es<br />
leben zu viele Ausländer in Deutschland«<br />
»eher« oder »voll und ganz« zu.<br />
<strong>Die</strong> Aussage »Wenn Arbeitsplätze knapp<br />
werden, sollte man die in Deutschland<br />
lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat<br />
zurückschicken«, stimmten wurde<br />
im selben Jahr von knapp 30 Prozent<br />
der Befragten »eher« oder »voll und<br />
ganz« geteilt.<br />
<strong>Die</strong> potenziellen Opfer von Rassisten<br />
sind darüber hinaus nicht ziellos ausgesucht.<br />
Sie stehen fast alle am unteren<br />
Ende der gesellschaftlichen Hierarchie.<br />
Sie sind faktisch die am meisten Ausgegrenzten:<br />
Obdachlose, Behinderte,<br />
MigrantInnen, denen man ihr Mirgant-<br />
Innendasein ansieht, Flüchtlinge und<br />
Punks. Rechtsextreme Agitation bezieht<br />
sich immer auf den normalen Rassismus<br />
der Mitte der Gesellschaft, deren<br />
inhaltliche Übergänge oft recht fließend<br />
sind. Aus dieser Mitte rekrutiert sich<br />
auch der rechtsextreme Nachwuchs.<br />
Rechtsextreme stehen folglich nicht außerhalb<br />
der Gesellschaft, sondern sind<br />
integraler Bestandteil von ihr. Rechtsextremismus<br />
kann man <strong>als</strong> die politisierte<br />
Form des Rassismus interpretieren. So<br />
kann es zwar Rassismus ohne Rechtsextremismus<br />
geben, aber keinen Rechtsextremismus<br />
ohne Rassismus. Der Ausländerdiskurs<br />
in Deutschland ist für<br />
mich eine gesellschaftsverträgliche Codierung<br />
von Rassismus.<br />
Überbewertung von Ideologie<br />
<strong>Die</strong> Bedeutung der rassistischen Ideologie<br />
wird meines Erachtens oft über-<br />
trieben. Darin steckt die sehr nachvollziehbare<br />
Hoffnung, Menschen würden<br />
vor allem nach einem geschlossenen,<br />
schlüssigen Weltbild handeln. Das<br />
meint: aus einem Gedanken folge eine<br />
Tat. Nach dieser Lesart muss man den<br />
rassistischen Gedanken nur erkennen,<br />
isolieren und schließlich widerlegen,<br />
damit man die Gesellschaft gegen rassistische<br />
Barbarei immunisiere. Dem<br />
ist nun leider nicht so. Rassismus ist<br />
unglaublich hartnäckig und gegen Aufklärung<br />
in gewisser Weise immun. Ich<br />
denke, exakt hier sind auch Grenzen der<br />
klassischen Aufklärung gezogen, ohne<br />
diese gering schätzen zu wollen. Rassismus<br />
leitet sich – wie der Sozialwissenschaftler<br />
Detlev Claussen argumentiert<br />
– eben nicht vorrangig aus einer<br />
Ideologie her, sondern aus einem politischen<br />
Bedürfnis, ein praktiziertes Programm<br />
von Diskriminierung, Unterdrückung<br />
und manchmal auch Gewalt <strong>als</strong><br />
Normalität durchzusetzen. <strong>Die</strong>s tut er<br />
in quasi religiöser Weise. Rassismus beginnt<br />
bei der Interpretation von Unterschieden<br />
und basiert auf einer tief verankerten<br />
Dominanzkultur. Es ist dabei<br />
bedeutungslos, ob die rassistischen Begründungen<br />
dabei aus der Biologie oder<br />
der Geisteswissenschaft kommen: Ein<br />
Rassist fragt nie nach argumentativer<br />
Stichhaltigkeit, sondern er fragt nach<br />
einer Autorität, die für diesen Unterschied<br />
zwischen ihm und dem Anderen<br />
bürgt. <strong>Die</strong> Autorität ist quasi immer die<br />
eigene »peer-group«, häufig das lokale<br />
Umfeld, es kann zudem die Politik oder<br />
die Massenmedien sein. Es ist aber immer<br />
die gesellschaftliche Sozi<strong>als</strong>truktur,<br />
die durch eine strukturelle Ungleichbehandlung<br />
die Unterschiede proklamiert.<br />
So ist Rassismus eine gesellschaftliche<br />
Praxis, von der eine rassistisch ausformulierte<br />
Theorie nur einen sehr kleinen<br />
Teil darstellt.<br />
Rassismus <strong>als</strong> gesellschaftliche Praxis<br />
in Deutschland<br />
Rassismus ist eine gesellschaftliche<br />
Praxis, die in Wort und Tat Menschen<br />
wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe<br />
diskriminiert. Er begründet sich in<br />
Deutschland auf vier Ebenen, die sich<br />
gegenseitig bedingen und ineinanderegreifen:<br />
Erstens sind die Menschen der Mehrheitsgesellschaft<br />
mit latenten oder<br />
dezidierten fremdenfeindlichen Einstellungen<br />
Basis und Träger der gesellschaftlichen<br />
rassistischen Praxis. Seit<br />
Anfang der neunziger Jahre steigen sowohl<br />
die Anzahl rassistischer Einstellungen<br />
und Übergriffe. Parallel dazu<br />
sinkt das demokratische Potential in der<br />
Gesellschaft.
<strong>Die</strong> zweite Ebene sind die staatlichen<br />
Strukturen der Diskriminierung. <strong>Die</strong>se<br />
stigmatisiert MigrantInnen <strong>als</strong> minderwertig<br />
durch spezielle Ausländergesetze<br />
und ganz besonders durch die Flüchtlingspolitik.<br />
Dadurch wird die Rechtsgleichstellung<br />
mit Deutschen verweigert.<br />
<strong>Die</strong> ethnische Schichtung auf dem Arbeitsmarkt<br />
und im Sozialgefüge ist <strong>als</strong><br />
dritte Ebene zu nennen: Sie normalisiert<br />
ebenfalls die Vorstellung der eigenen<br />
Überlegenheit und zementiert die<br />
vermeintliche Minderwertigkeit von MigrantInnen.<br />
Auch diese Entwicklung verschlechtert<br />
sich relativ parallel zum Anstieg<br />
von rassistischen Einstellungen in<br />
der deutschen Bevölkerung. Zum Teil<br />
wird ethnische Stigmatisierung auch<br />
staatlich institutionalisiert, wie zum<br />
Beispiel durch das dreigliedrige Schulsystem<br />
und dem Inländerprimat des<br />
deutschen Arbeitsmarktes. Selbst das<br />
Bundesfamilienministerium sprach zumindest<br />
im Jahr 2000 von einem sich<br />
selbst stabilisierendem System der Ungleichheit<br />
zwischen Einwanderer und<br />
Einheimischen.<br />
Der vierte wesentliche Aspekt ist die<br />
<strong>als</strong> Besonderheit zu bezeichnende politische<br />
Kultur in Deutschland: Aufgrund<br />
einen ethnischen Nationalismus<br />
tut sich speziell Deutschland schwer,<br />
mit kulturellen Differenzen umzugehen.<br />
MigrantInnen werden gerade in<br />
dieser Tradition nicht <strong>als</strong> gleichberechtigte<br />
Gesellschaftsmitglieder anerkannt,<br />
sondern ständig misstrauisch beäugt.<br />
<strong>Die</strong>ser Sichtweise fehlt es an demokratischer<br />
Gelassenheit und macht MigrantInnen<br />
entweder zu Fremden, die im<br />
konservativen Assimilierungsdiskurs angefeindet<br />
werden oder, wie im Bereich<br />
des Multikulturalismus, zu Fremden, die<br />
man paternalistisch tolerieren oder betreuen<br />
solle.<br />
So greifen <strong>als</strong>o für den heutigen Rassismus<br />
gegenüber MigrantInnen Normalitätsvorstellungen,Stigmatisierungsprozesse,<br />
die politische Kultur, das<br />
ökonomische System und das politischrechtliche<br />
System ineinander, um Ausgrenzungsprozesse<br />
zu legitimieren und<br />
durchzusetzen. <strong>Die</strong>ser Prozess stützt<br />
sich auf die Gesellschaftsmitglieder der<br />
Mehrheit und deren Dominanz, wie Birgit<br />
Rommelspacher dies pointiert zusammenfasst.<br />
<strong>Die</strong> geschilderte strukturelle<br />
Dimension von Rassismus macht<br />
MigrantInnen erst zu Minderheiten und<br />
zu Diskriminierungsobjekten, sodass<br />
die beschriebene gesellschaftliche Ungleichbehandlung<br />
und soziale Hierarchie<br />
entlang von zugeschriebenen ethnischen<br />
Grenzen wiederum im Wechsel<br />
Rassismus hervorbringt, legitimiert und<br />
schürt. <strong>Die</strong>se normale, weil viele Jahrzehnte<br />
andauernde Wechselbeziehung,<br />
ist die Folie, auf der sich seit Beginn der<br />
neunziger Jahre rassistische Gewalt ausgebreitet<br />
und stabilisiert hat. Der gesellschaftliche<br />
Rahmen war darüber hinaus<br />
von steigender Arbeitslosigkeit und<br />
einem chauvinistischen Dominanzschub<br />
seit der Vereinigung gesetzt.<br />
Ich stimme der Auffassung vom Politikwissenschaftler<br />
Christoph Butterwegge<br />
zu, der folgende soziale Formel aufgestellt<br />
hat: Je mehr sich durch die Politik<br />
des »nationalen Wettbewerbstaates«<br />
die soziale Ungleichheit verschärft und<br />
damit den Resonanzboden für Marginalisierungs-<br />
und Ethnisierungsprozesse<br />
vergrößern wird, desto stärker verbinden<br />
sich Kulturrassismus und Standortnationalismus.<br />
Wie verbreitet und<br />
wirkungsmächtig dies eine Entwicklungstendenz<br />
und Option in allen Industrienationen<br />
West- und Mitteleuropas<br />
ist, zeigen die großen Wahlerfolge der<br />
so genannten rechtspopulistischen Parteien,<br />
allen voran in Frankreich, Italien,<br />
Österreich und der Schweiz.<br />
Was ist zu tun in der Auseinandersetzung<br />
mit dem Rassismus?<br />
Daraus ergibt sich für mich folgende<br />
Handlungsmaxime: Um Rassismus<br />
grundlegend zu bekämpfen, muss<br />
ganz wesentlich die ethnische Schichtung<br />
und Segregation der bundesdeutschen<br />
Sozi<strong>als</strong>truktur durchbrochen<br />
werden. Erst dann könnten sich Normalitätsvorstellungen<br />
der Deutschen<br />
entwickeln, deren Bezugskoordinaten<br />
sich nicht mehr so leicht an ethnischen<br />
Ungleichheitsgefällen orientieren<br />
könnten. Deutschland ist noch<br />
weit davon entfernt eine aktive Gleichstellungspolitik<br />
in der Bildung und auf<br />
dem Arbeitsmarkt überhaupt zu diskutieren.<br />
<strong>Die</strong> vor allem von den Mobilen Beratungsteams<br />
propagierte Parole: »Mehr<br />
Demokratie hilft gegen Rassismus und<br />
Rechtsextremismus!« bringt es für mich<br />
sehr gut auf den Punkt: Gleiche Rechte<br />
für alle hier lebende Menschen sind<br />
somit die wichtigste Ausgangsbasis einer<br />
antirassistischen Politik. Wer macht<br />
wen unter welchen Umständen zu Fremden?<br />
<strong>Die</strong>s zu untersuchen und kritisch<br />
zu hinterfragen, wäre meiner Meinung<br />
nach Aufgabe einer kritischen Wissenschaft<br />
und einer kritischen Politik. <strong>Die</strong><br />
verschiedene Themenkomplexe wie Migration,<br />
Globalisierung, soziale Gerechtigkeit,<br />
multiethnische Gesellschaft<br />
müssten wieder vermehrt repolitisiert<br />
und vor allem mit der demokratischen<br />
statt der nationalen Option verknüpft<br />
werden. <strong>Die</strong> Betonung eines Oben-Unten-Gegensatz<br />
gegenüber eines Innen-<br />
Außen-Gegensatzes macht soziale Konflikte<br />
überhaupt wieder erkennbar und<br />
lösbar.<br />
Im Kern geht es um die Frage, wie das<br />
Zusammenleben der Menschen in der<br />
Gesellschaft organisiert werden soll:<br />
Wollen wir in einer Gesellschaft leben,<br />
die von Mehrheit und Dominanz geprägt<br />
ist? Oder streben wir eine an, die an<br />
Pluralität und Gleichheit der Menschen<br />
ausgerichtet ist?<br />
Bernd Winter<br />
1 Richard Gebhardt hat in der anschließenden<br />
Diskussion zu Recht darauf hingewiesen, dass hier<br />
eigentlich nicht von einer »multikulturellen Gesellschaft«<br />
geredet werden sollte, sondern vielmehr<br />
von einer »multiethnischen«: Kulturelle Milieus<br />
gibt es ja auch zwischen Frommen und Nicht-<br />
Frommen, Katholiken, Protestanten und Atheisten,<br />
Punks und Kegelclubs, Kaffeekränzchen und Dark<br />
Rooms. Hier geht es ja in der Tat um die Benennung<br />
der ethnische Schichtung.<br />
Weiterführende Literaturhinweise:<br />
Rassismus<br />
- Christoph Butterwegge, Christoph,<br />
Rechtsextremismus, Rassismus und<br />
Gewalt. Darmstadt 1996.<br />
- Etienne Balibar, Gibt es einen ‚neuen<br />
Rassismus, in: Das Argument, Heft<br />
175,.1989, S. 369–380<br />
- Detlev Claussen, Was heißt Rassismus?«,<br />
in: derselbe, Was heißt Rassismus?<br />
Darmstadt 1994, S. 1–24<br />
- Forschungsinstitut der Friedrich-<br />
Ebert-Stiftung, Abt. Arbeits- und Sozialforschung,<br />
Hrsg. Ethnisierung gesellschaftlicher<br />
Konflikte. Eine Tagung der<br />
Friedrich-Ebert-Stiftung am 11. Oktober<br />
1995 in Erfurt, Bonn 1996.<br />
- Kein Nghi Ha, Ethnizität und Migration.<br />
Münster 1999.<br />
- Wilhelm Heitmeyer, Hrsg. Deutsche<br />
Zustände – Folge 1 bis 7, Frankfurt am<br />
Main 2002 ff.<br />
- Birgit Rommelspacher, Dominanzkultur.<br />
Texte zu Fremdheit und Macht.<br />
Berlin 1995.<br />
- <strong>Die</strong>selbe, Anerkennung und Ausgrenzung.<br />
Deutschland <strong>als</strong> multikulturelle<br />
Gesellschaft. Frankfurt am Main, New<br />
York 2002.<br />
- Bernd Winter, Gefährlich fremd.<br />
Deutschland und seine Einwanderung.<br />
Freiburg 2004.<br />
Diskriminierung im Bildungswesen<br />
- Mechthild Gomolla u. Frank-Olaf/Radtke,<br />
Institutionelle Diskriminierung –<br />
<strong>Die</strong> Herstellung ethnischer Differenz in<br />
der Schule. Opladen 2002.<br />
11
- Werner Schiffauer u. a., Staat – Schule<br />
– Ethnizität. Politische Sozialisation<br />
von Immigrantenkindern in vier europäischen<br />
Ländern. Münster 2002.<br />
Rechtsextremismus<br />
- Renate Bitzan, Hrsg., Rechte Frauen.<br />
Berlin 1997<br />
- Thomas Grumke u. Thomas Wagner,<br />
Hrsg., Handbuch Rechtsextremismus.<br />
Opladen 2002.<br />
- Burkhard Schröder, Nazis sind pop.<br />
Berlin 2002.<br />
- Der Tagesspiegel (Berlin), Todesopfer<br />
rechter Gewalt seit der Vereinigung<br />
– eine Bilanz. Sonderdruck, Berlin<br />
2001.<br />
Mediendiskurse<br />
- Christoph Butterwegge u. Alexander/<br />
Häusler, Alexander, Themen der Rechten<br />
– Themen der Mitte. Rechtsex-<br />
12<br />
treme Einflüsse auf Debatten zu Migration,<br />
Integration und multikulturellem<br />
Zusammenleben, Köln 2001.<br />
- Christoph Butterwegge u. Gudrun<br />
Hentgens, Hrsg., Massenmedien, Migration<br />
und Integration, Wiesbaden<br />
2006.<br />
- DISS, SchlagZeilen – Rostock: Rassismus<br />
in den Medien. Duisburg 2001.<br />
- Siegfried Jäger, BrandSätze. Rassismus<br />
im Alltag, Duisburg 1993.<br />
Ausländerpolitik<br />
- Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik<br />
in Deutschland – Saisonarbeiter,<br />
Zwangsarbeiter, Gastarbeiter,<br />
Flüchtlinge, München 2001.<br />
- Christoph Butterwegge u. Christoph/<br />
Hentgens, Hrsg., Zuwanderung im Zeichen<br />
der Globalisierung – Migrations-,<br />
Integrations- und Minderheitenpolitik.<br />
Opladen 2000.<br />
Illegalität<br />
- Jörg Alt, Leben in der Schattenwelt.<br />
Problemkomplex »illegale« Migration,<br />
Karlsruhe 2003.<br />
Pädagogik/Bildung/Strukturarbeit<br />
- DGB-Bildungswerk Thüringen, Hrsg.,<br />
(2005) Baustein zur nicht-rassistischen<br />
Bildungsarbeit, Erfurt 2005.<br />
- Ulrike Hormel u. Albert Scherr, Bildung<br />
für die Einwanderungsgesellschaft,<br />
Wiesbaden 2005.<br />
- Lynen von Berg u. a., Interventionsfeld<br />
Gemeinwesen. Evaluation zivilgesellschaftlicher<br />
Strategien gegen Rechtsextremismus.<br />
Weinheim 2005.<br />
- Zentrum Demokratische Kultur, Hrsg.,<br />
Gegen Rechtsextremismus hilft mehr<br />
Demokratie. Community Coaching-<br />
Kommunalanalyse und Demokratieentwicklung<br />
im Gemeinwesen, Berlin<br />
2003.
Weltweite Finanzkrise und die extreme Rechte<br />
Kein Zweifel: die internationale Finanzkrise<br />
hat inzwischen alle Länder erfasst,<br />
in Nord und Süd, in West und Ost. Immer<br />
neue Hiobsbotschaften jagen um<br />
den Erdball, zeigen die Tiefe der Erschütterungen,<br />
die sich vor Jahresfrist noch<br />
kaum jemand vorzustellen vermochte.<br />
Spekulationsblasen riesigen Ausmaßes<br />
sind geplatzt, die Vernichtung Hunderter<br />
Millionen Vermögenswerte und Gewinne<br />
hat nicht nur einzelne Aktienbesitzer,<br />
Banken und Immobilienhändler<br />
erfasst, sondern ganze Volkswirtschaften<br />
in den Strudel gerissen. Island,<br />
Ungarn, Lettland und die Ukraine befanden<br />
sich kurz vor dem Staatsbankrott<br />
und mussten durch groß angelegte Stützungsaktionen<br />
des Internationalen Währungsfonds<br />
vor der Zahlungsunfähigkeit<br />
bewahrt werden.<br />
Kein Zweifel mehr: immer stärker<br />
schlägt die Finanzkrise auf die Produktionssphäre,<br />
auf die Rohstoffmärkte und<br />
Handelsströme durch, riesige Absatzhalden<br />
gibt es inzwischen zum Beispiel<br />
bei Kraftfahrzeugen. Millionen Werktätige<br />
sind zur Kurzarbeit gezwungen, werden<br />
in die Arbeitslosigkeit gedrängt, in<br />
den USA hat die Erwerbslosigkeit den<br />
höchsten Stand seit über vierzig Jahren<br />
erreicht. <strong>Die</strong> Auswirkungen für Familien,<br />
Sozialhilfeempfänger sind dramatisch.<br />
Kein Zweifel auch, dass es die Entwicklungsländer,<br />
die Ärmsten der Armen,<br />
wieder am härtesten trifft.<br />
Nichts kann mehr darüber hinwegtäuschen,<br />
dass all das nicht nur die Schuld<br />
einzelner Personen oder Firmenvorstände<br />
ist, dass die Verantwortung für das<br />
entstandene Chaos nicht nur bei einzelnen<br />
Banken, sondern auch bei Regierungen,<br />
Wirtschaftsverbänden und anderen<br />
politisch Zuständigen liegt, deren<br />
wirtschaftliche und gesellschaftliche<br />
Prognosen, deren Beruhigungspillen<br />
und verzweifelte Rettungsversuche sich<br />
<strong>als</strong> gigantische Fehleinschätzungen beziehungsweise<br />
untaugliche Konzepte erwiesen<br />
haben. <strong>Die</strong> in hektischer Eile in<br />
den USA und Europa geschnürten »Rettungspakete«<br />
in einem Gesamtumfang<br />
von mehreren Billionen Dollar müssen<br />
ihre Wirksamkeit erst noch beweisen.<br />
In welcher Weise reagiert nun die extreme<br />
Rechte auf diese tiefen Erschütterungen?<br />
Ist das die Stunde der schon immer<br />
grundsätzlich gegen »das System« hetzenden<br />
Neonazis? Ist es ihre Chance,<br />
endlich die immer wieder erhoffte und<br />
immer wieder verlorene Aufmerksamkeit<br />
bei den Massen zu erlangen, sich<br />
mit wirtschafts- und sozialpolitischen<br />
Kompetenzen »auf der politischen Bühne<br />
zurückmelden« zu können, wie es<br />
schon 1996 ein Autor in der NPD-Zeitung<br />
»Deutsche Stimme« erträumte? Ist<br />
es die Möglichkeit, eine im Lande »bisher<br />
richtungslose antikapitalistische<br />
Sehnsucht«, wie sie vor Jahresfrist Jürgen<br />
Gansel diagnostizierte, in »nationale<br />
Protestbahnen zu lenken«, »konsequent<br />
gegen Zuwanderung, EU-Fremdbestimmung<br />
und Globalisierung zu richten, wie<br />
es ihm vorschwebte? Wir wollen das im<br />
Folgenden etwas genauer untersuchen.<br />
Allgemein kann man feststellen, dass<br />
die Parteien und meinungsbildenden Organe<br />
der extremen Rechten in Deutschland<br />
(wie auch in anderen Ländern) von<br />
Tempo und Ausmaß der entstandenen<br />
Krisen in ähnlicher Weise wie andere gesellschaftliche<br />
Akteure überrascht wurden<br />
und sich auch jetzt mit Antworten<br />
auf die gewaltigen Veränderungen und<br />
ihren Folgen schwer tun. Aber selbstverständlich<br />
halten sie an ihrer prinzipiellen<br />
Ablehnung von »Globalisierung« fest,<br />
versuchen sie die neue Lage zur Rechtfertigung<br />
ihrer Anti-Globalisierungs-Propaganda,<br />
ihrer nationalistischen Tiraden<br />
und ihrer ausländerfeindlichen Hetze zu<br />
nutzen. Dass dies mit vehementem Antiamerikanismus<br />
und nicht zuletzt Antisemitismus<br />
einhergeht, verwundert<br />
nicht. Im übrigen sind es die bekannten<br />
Redner und Schreiber besonders aus<br />
der NPD, die sich äußern, neue theoretische<br />
Glanzlichter sind auch bei dieser<br />
Thematik nicht zu erkennen.<br />
Soweit es sich um die Beschreibung der<br />
Tatsachen handelt, haben es Rechtsextreme<br />
aller Couleur nicht schwer. Sie<br />
brauchen nicht zu frisieren. <strong>Die</strong> Zusammenbrüche<br />
der Banken in den USA im<br />
Gefolge der Immobilienkrise, die Folgen<br />
des Skand<strong>als</strong> um die Lehman Brothers<br />
Bank weltweit, die Krisen der Hypo Real<br />
Estate und mehrerer Landesbanken<br />
in Deutschland, der faktische Staatsbankrott<br />
in Island – alles Wahrheiten,<br />
die schlimmer sind, <strong>als</strong> es die Rechtsextremen<br />
hätten voraussagen können.<br />
Sie brauchen nur abzuschreiben, was<br />
andere veröffentlichen. Als Ausnahme<br />
darf sich der stellvertretende NPD-Vorsitzende<br />
Sascha Roßmüller anrechnen<br />
lassen, dass er noch vor vielen bürgerlichen<br />
Journalisten und Wissenschaftlern<br />
die bestürzenden Entwicklungen<br />
offenlegte. Bereits im April 2008 überschrieb<br />
er seinen Artikel in der »Deutschen<br />
Stimme« über die Auswirkungen<br />
der amerikanischen Hypothekenkrise<br />
auf Deutschland und hiesige Landesbanken<br />
mit »Weltweite Finanzkrise« und<br />
klagte die hochbezahlten Manager und<br />
die etablierte Politik gemeinsam an, die<br />
Rahmenbedingungen für die Finanzmarktkrise<br />
geschaffen zu haben.<br />
Im Herbst 2008 fanden sich abgeleitet<br />
von den offiziellen Verlautbarungen und<br />
Warnungen auch bei anderen rechtsextremen<br />
Politikern und Autoren dann<br />
zahlreiche weitere Beschreibungen und<br />
Anklagen, so von Jürgen Gansel, Per<br />
Lennart Aae, Holger Apfel und anderen<br />
Funktionären der NPD aus dem sächsischen<br />
Landtag. Mehr und mehr traten<br />
dabei Hinweise hinsichtlich der sozialpolitischen<br />
Auswirkungen auf die Bevölkerung<br />
in den Vordergrund. Es fehlten<br />
aber auch nicht die antisemitischen<br />
Töne, die Verweise auf die Ursachen in<br />
der Raffgier der »amerikanischen Ostküste«,<br />
dem bei den Neonazis gebräuchlichen<br />
Synonym für die international<br />
agierende jüdische Hochfinanz. Dass<br />
dabei immer auch der Rückgriff auf das<br />
direkte faschistische Vokabular mit der<br />
Unterscheidung von »schaffendem«<br />
(arischen) und »raffendem« (jüdischen)<br />
Kapital erfolgte, überrascht nicht.<br />
Jüngst beschäftigten sich NPD-Vertreter<br />
auch mit den sogenannten »Konjunkturpaketen«<br />
der Bundesregierung,<br />
die man <strong>als</strong> unzureichend und teilweise<br />
zusammengeschustert charakterisierte<br />
(auch dabei konnte man natürlich<br />
auf ähnliche Beschreibungen der Opposition<br />
im Bundestag zurückgreifen).<br />
Das vielfach kritisierte Versagen der<br />
Bundespolitik beim Gegensteuern gegen<br />
die wirtschaftlichen Einbrüche wurde<br />
am Beispiel der Gesundheitsreform<br />
von der sozialpolitischen Sprecherin<br />
der NPD, Antje Niekisch, <strong>als</strong> »politische<br />
Schaumschlägerei im Wahlkampf« und<br />
<strong>als</strong> Bestätigung der Aussagen der NPD<br />
gewertet. Auch Sascha Roßmüller meldete<br />
sich wieder zu Wort. Unter der<br />
Überschrift »Das dicke Ende kommt erst<br />
noch« analysierte er in der »Deutschen<br />
Stimme« (Nr. 1/2009) umfangreich die<br />
Entwicklung von der Finanzkrise über<br />
die Wirtschaftskrise zur Politikkrise, die<br />
verschärften Bedingungen für die Kreditvergabe,<br />
die »Zeitbombe Kreditkartenblase«,<br />
die Auftragsrückgänge in der<br />
deutschen Exportwirtschaft und f<strong>als</strong>che<br />
Strategien der Bundesregierung in der<br />
Bankenwelt.<br />
In altgewohnter Manier bleibt man<br />
Rechtsaußen aber nicht einfach bei der<br />
Beschreibung der Tatsachen stehen, sondern<br />
versucht diese zu überspitzen und<br />
13
mit den entsprechenden Vokabeln zu<br />
Horrormeldungen umzugestalten. Beispiele<br />
dafür finden sich zuhauf. Holger<br />
Apfel glaubte mit seiner Rede im sächsischen<br />
Landtag im Oktober 2008 zum<br />
»Finanzmarktstabilisierungsgesetz« der<br />
Bundesregierung mit dem Umfang von<br />
einer halben Billion Euro ins Schwarze<br />
zu treffen, in dem er dieses zum »Finanzmarktermächtigungsgesetz«<br />
erhob<br />
und den Vorgang <strong>als</strong> »finanzpolitischen<br />
Reichstagsbrand« auflodern ließ. Aber er<br />
zeigte damit doch wieder nur, in welchen<br />
der Nazizeit verhafteten Bahnen sich<br />
sein Denken vollzieht (Vgl. dazu die vom<br />
Pressesprecher der NPD-Fraktion am<br />
16. 10. 2008 herausgegebene Mitteilung).<br />
Im November 2008, noch zu Zeiten des<br />
jetzt abgedankten DVU-Vorsitzenden<br />
Frey, titelte seine »Nationalzeitung«:<br />
»Weltwirtschaftskrise: Deutschlands<br />
Untergang?« und beklagte das »Unheil<br />
der systematischen Verarmung des<br />
deutschen Volkes«. Der NPD-Stadtverordnete<br />
in Cottbus, Ronny Zasowk, wies<br />
im Internet die Schuld den »Finanzhaien«,<br />
»gierigen Bankmanagern« und »abgebrühten<br />
Wertpapier-Zockern«, dem<br />
»globalistischen Teufelssystem«, den<br />
»Spielkasinos der internationalen Hochfinanz«,<br />
besonders der »US-Heuschrecke<br />
Lone Star« zu und folgerte, dass<br />
»Kapitalismus in seiner Endkonsequenz<br />
Völkermord bedeutet«. Jürgen Gansel<br />
wollte sich nicht zurückhalten und attackierte<br />
die »Blutsauger der Nation«.<br />
Kersten Radzimanowski, früherer CDU-<br />
Funktionär und jetzt begeisterter Kommentator<br />
bei der NPD, verlautbarte angesichts<br />
möglicher Kaufzurückhaltung<br />
der Bürger beim Weihnachtseinkauf:<br />
»Wir spüren den Untergang«.<br />
Welche Schlussfolgerungen aus den<br />
Lagebeschreibungen ziehen nun die extremen<br />
Rechten, welche Auswege bieten<br />
sie an bzw. welche Forderungen erheben<br />
sie?<br />
Erstens: Es ist nicht überraschend, dass<br />
die Politiker aus den Reihen von NPD,<br />
DVU oder Republikanern, da generell<br />
staatsfixiert, einen ganzen Katalog formulieren,<br />
was der Staat, was Bundesregierung<br />
und Landesregierungen tun<br />
müssten, um der Probleme Herr zu werden.<br />
Auffällig aber ist, auf welch’ unterschiedliche<br />
Art und Weise und wie konzeptionslos<br />
sie das tun. Während sie wie<br />
Holger Apfel in seinen Landtagsreden<br />
immer wieder tönen: »Das System hat<br />
keine Fehler, das System ist der Fehler!«<br />
überbieten sie sich mit Vorschlägen,<br />
was in diesem System verbessert oder<br />
verändert werden sollte und liegen dabei<br />
oft auf einer Linie mit den Vertretern<br />
eben dieses Systems.<br />
14<br />
Mit einem Paukenschlag versuchte sich<br />
Jürgen Gansel <strong>als</strong> Vorreiter der Kapitalismuskritik<br />
in Szene zu setzen. Auf der<br />
Internetseite des NPD-Parteivorstandes<br />
verlangte er am 20. 11. 2008, »die eiserne<br />
Faust des Staates statt der unsichtbaren<br />
Hand des Marktes« in Anwendung<br />
zu bringen. Man sah förmlich<br />
die zarte Schlaghand der Bundeskanzlerin<br />
auf die mächtigen Konferenztische<br />
der Spitzen von Banken, Konzernen<br />
und Handelsriesen niedersausen, wo<br />
sie doch sonst eher die smarten Töne<br />
bevorzugte und in Hinterzimmern einträchtig<br />
mit den Ackermann, Hundt, Piech,<br />
Wedeking und von Pierer ihre Talkrunden<br />
drehte.<br />
Zweitens: Das schnell herbeigeholte<br />
Zauberwort in der neuen Situation war<br />
für die NPD: »Banken verstaatlichen!«<br />
Damit aber sprang sie nur auf ein Pferd<br />
auf, das zuvor andere längst gesattelt<br />
hatten. Auf diesen Rettungsanker in<br />
höchster Not war man in den USA, Frankreich<br />
und weiteren Ländern schon zuvor<br />
gekommen, aber auch in Deutschland<br />
hatte die Debatte längst begonnen.<br />
Ganz zu schweigen davon, dass die <strong>Linke</strong>n<br />
hier die Überführung des Banken-<br />
und Kreditgewerbes in die öffentliche<br />
Hand mit weitgehender demokratischer<br />
Kontrolle schon längst im Programm<br />
hatten. NPD-Vorsitzender Udo Voigt<br />
brauchte sich auch keine große Mühe<br />
machen, eine Liste von Forderungen<br />
aufzureihen, die Treiben und Skrupellosigkeit<br />
von Bankern und Fondsmanagern<br />
begrenzen sollten. Forderungen<br />
nach Haftung der Bankmanager im Falle<br />
der Insolvenz auch mit privatem Vermögen,<br />
nach Begrenzung der Managergehälter,<br />
Forderungen, die »Zockerinstitute«<br />
in die Insolvenz zu schicken und<br />
wertlose Papiere in einem ordentlichen<br />
Bankrottverfahren abzuschreiben, konnte<br />
er auch schon bei der SPD ablesen.<br />
Mit einer »breit angelegten Kampagne«<br />
wollte die NPD dann über die Hintergründe<br />
und »Alternativen« aufklären. Angesichts<br />
ihrer eigenen Schwäche und Krise<br />
reichte es aber gerade für ein Themenflugblatt<br />
unter der Überschrift »Banken<br />
verstaatlichen!« und zu einem »Aktionstag«<br />
mit Infoständen und einigen Reden<br />
in mehreren Städten am 10. November<br />
2008. Das dürftige Flugblatt, das ein<br />
paar NPD-bekannte Phrasen, wiederholte<br />
Schmähungen der Linkspartei und eine<br />
Werbung für die NPD enthielt, brachte<br />
<strong>als</strong> »Alternative« lediglich die Parole<br />
»Wir wollen unser Geld Zurück«, um die<br />
Bürger aufzustacheln. Darunter wurde<br />
aber lediglich die alte NPD- Losung verstanden,<br />
den Euro abzuschaffen und die<br />
D-Mark wieder einzuführen.<br />
Der »Neuigkeitswert« der NPD-Parole<br />
zur Bankenverstaatlichung war endgültig<br />
verflogen, <strong>als</strong> die Bundesregierung<br />
nun selber, wenn auch in kleinen Schritten,<br />
begann, Anteile von Banken zu<br />
übernehmen (jüngst schließlich bei der<br />
Hypo Real Estate mehr <strong>als</strong> 50 Prozent)<br />
und sich selbst <strong>als</strong> Retter darzustellen.<br />
Insgesamt blieb so die NPD weit von ihrem<br />
Ziel entfernt, aus der Finanzkrise<br />
Kapital für die Erhöhung ihres gesellschaftlichen<br />
Einflusses zu schlagen und<br />
die kapitalismuskritischen Stimmungen<br />
in der Bevölkerung zu nutzen. Ein Beweis<br />
dafür war die hessische Landtagswahl<br />
am 18. Januar 2009, wo die NPD<br />
auf dem gleichen Anteil von 0,9 Prozent<br />
der Stimmen hängenblieb wie ein Jahr<br />
zuvor.<br />
Drittens: Als weiteres Thema lag für die<br />
»nationalen Erretter« das Thema Steuern<br />
auf der Propagandastraße. <strong>Die</strong> unglaublichen<br />
Fälle von Steuerkriminalität<br />
aus Kreisen der bundesdeutschen »Elite«<br />
(etwa eintausend Prominente wie<br />
der Postchef Zumwinkel hatten durch<br />
Transaktionen nach Liechtenstein den<br />
deutschen Fiskus um etwa 3,4 Milliarden<br />
Euro geprellt) wurden im Frühjahr<br />
2008 aufgedeckt und natürlich sofort<br />
von den rechtsextremen Parteien aufgegriffen<br />
und angeprangert. Sascha<br />
Roßmüller fand, dass angesichts der<br />
neuen zugespitzten Situation die NPD<br />
sich nun »<strong>als</strong> Anwalt« des Steuerzahlers<br />
profilieren müsse. Denn die Tatsachen,<br />
dass die Millionen einfacher Steuerzahler<br />
jetzt all die verzockten Milliarden von<br />
den Landesbanken bis zur Autoindustrie<br />
bezahlen sollen, indem der Staat sie <strong>als</strong><br />
so genannte Rettungspakete den Verantwortlichen<br />
hinterherwirft, liegen auf<br />
dem Tisch. Und eine Reihe Fragen, die<br />
in diesem Zusammenhang in der Öffentlichkeit<br />
gestellt werden, formulieren<br />
auch die NPD-Publizisten richtig, so zum<br />
Beispiel, wieso nur der Steuerzahler in<br />
die Pflicht genommen werden soll und<br />
nicht die Privatbanken, oder weshalb<br />
die Frage nach der Haftung der Verantwortlichen<br />
mit ihrem umfangreichen<br />
Privatvermögen weitgehend ausgespart<br />
bleibt.<br />
Da man auch in NPD-Kreisen weiß, dass<br />
mit solchen Forderungen zur Zeit nicht<br />
durchzukommen ist, schloss man sich<br />
im November den die Massen der Bevölkerung<br />
eher interessierenden Forderungen<br />
aus Wirtschaftskreisen nach<br />
einer Senkung der Mehrwertsteuer an,<br />
die unter anderem der Chef des Handelskonzerns<br />
Metro, Cordes, in der gegenwärtigen<br />
Situation <strong>als</strong> »wirksamen<br />
Schritt« bezeichnete, weil damit die Binnennachfrage<br />
und indirekt das Investi-
tionsklima angekurbelt werde. Mit der<br />
Forderung nach Steuersenkungen befanden<br />
sich nun aber die Rechtsextremen<br />
plötzlich auf gleicher Straße mit<br />
der »Steuersenkungspartei« FDP und<br />
mit der CSU. <strong>Die</strong>se hatte mit dem Thema<br />
monatelang ihre Schwesterpartei<br />
CDU genervt, bis schließlich Frau Merkel<br />
auch in dieser Frage umfiel, wobei<br />
sie sich dennoch weiter sträubt, vor<br />
allem von der Mehrwertsteuer etwas<br />
abzurücken.<br />
Damit noch etwas Profil erkennbar bleiben<br />
sollte, stieg der wirtschaftspolitische<br />
Berater der sächsischen NPD-<br />
Landtagsfraktion Per Lennart Aae in die<br />
Debatte und rief »Steuersenkung jetzt,<br />
aber selektiv!« (Internetseite der NPD,<br />
28. 11. 2008). Unter selektiver Auswahl<br />
bei der Steuersenkung versteht Aae<br />
den Kampf gegen die massenhafte Einfuhr<br />
von Importwaren, die deutsche Produkte<br />
aus den Regalen der Supermärkte<br />
verdrängen, eine deutliche Senkung der<br />
Mehrwertsteuer, um damit heimische<br />
Hersteller und <strong>Die</strong>nstleister zu begünstigen.<br />
<strong>Die</strong> Kritik der EU-Wettbewerbshüter<br />
wegen des Verstoßes gegen da<br />
EU-Wettbewerbsrecht will Aae in Kauf<br />
nehmen. <strong>Die</strong>ses werde angesichts der<br />
Krise ohnehin bald auf der Müllhalde<br />
der Geschichte landen. Ergänzend erwägt<br />
er, die generelle Mehrwertsteuersenkung<br />
durch eine zusätzliche Senkung<br />
für Produkte und <strong>Die</strong>nstleistungen,<br />
die in einer Region in Deutschland hergestellt<br />
beziehungsweise von einheimischen<br />
Unternehmen angeboten und in<br />
derselben Region angeboten werden,<br />
noch zu erweitern. Hinter den Befürwortern<br />
einer umfangreichen Steuerentlastung<br />
der Bürger sind inzwischen auch<br />
die Spitzen der anderen rechtsextremen<br />
Partei, der DVU, zu finden, die vor allem<br />
das Zögern der Kanzlerin in dieser Frage<br />
kritisieren, wie zum Beispiel der Abgeordnete<br />
Wetzel aus Potsdam. Sie stellen<br />
sich an die Seite von Prof. Hans-Werner<br />
Sinn, dem Präsidenten des Münchener<br />
Ifo-Instituts, der den Solidaritätszuschlag<br />
abgeschafft haben will und fordern,<br />
die Effekte der Progression des<br />
Einkommensteuertarifs zu neutralisieren.<br />
Und hinsichtlich des »Konjunkturpakets<br />
II« der Bundesregierung schließt<br />
sich die NPD natürlich der Kritik an,<br />
dass auch mit diesem Programm keine<br />
wirkliche Entlastung für den Mittelstand<br />
und die Bürger erfolgt. Vor allem<br />
die mit dem Paket verbundene Zumutung<br />
für den Steuerzahler, nun auch die<br />
marode Commerzbank mit Milliarden zu<br />
sanieren, fordert die Empörung heraus.<br />
<strong>Die</strong> Erklärung, eine »wirkliche Steuer-<br />
reform« beziehungsweise die Absenkung<br />
der Mehrwertsteuer zurück auf 16<br />
Prozent wären sinnvoller gewesen, die<br />
derzeitige Unternehmensbesteuerung<br />
vor allem zugunsten des Mittelstandes<br />
hätte nachgebessert werden müssen<br />
(Wirtschaftsredaktion der »Deutschen<br />
Stimme« in der Januar-Ausgabe 2009),<br />
erscheint jedenfalls wiederum nicht <strong>als</strong><br />
originelles NPD-Produkt und verfehlt<br />
auch dieses Mal die beabsichtigte Wirkung.<br />
Spagat zwischen der Forderung nach<br />
Systemveränderung und dem Mühen<br />
um einen verstärkten sozialen Touch<br />
<strong>Die</strong> wiederholte Feststellung, so könne<br />
es nicht bleiben und so könne es nicht<br />
weitergehen, wie sie seit Ausbruch der<br />
weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise<br />
überall bei der NPD zu finden ist,<br />
zwingt natürlich die Partei, ihr Vokabular<br />
zu durchforsten und nach der zugkräftigen<br />
Parole für den Ausweg zu suchen.<br />
Dabei zeigt sich, dass es gar nicht<br />
so leicht ist, ausgehend von der Formel<br />
»Systemwechsel« <strong>als</strong> Phrase jetzt konkreteren<br />
Inhalt hineinzubringen und dabei<br />
noch den Anschein einer Partei für<br />
die kleinen Leute zu wahren. <strong>Die</strong> Suche<br />
gerät unversehens in die erbitterte<br />
Schlammschlacht, die gegenwärtig<br />
um Kurs und Führungspersonen in<br />
der NPD ausgetragen wird. Roßmüller<br />
sucht weiter nach der »nationalen Alternative«,<br />
nach einem NPD-Finanzkonzept,<br />
das die Finanzmärkte regulieren<br />
könnte, Aae belässt es beim Wunsch<br />
nach einem »Paradigmenwechsel« und<br />
der Brandenburger NPD-Landesparteitag<br />
folgte den Floskeln vom Cottbuser<br />
Zasowk, hat von ihm die Parole »Dritter<br />
Weg – raumorientierte Volkswirtschaft<br />
jetzt!« in eine Resolution geschrieben.<br />
Grundsätzlich ist bekannt, dass Udo<br />
Voigt und andere unter dem »dritten<br />
Weg« einen zwischen Kapitalismus und<br />
»internationalen Sozialismus« verstehen<br />
– dass ihnen <strong>als</strong>o ein »nationaler<br />
Sozialismus« vorschwebt. Freilich ist<br />
die Naziforderung nicht nur strafbewehrt,<br />
sondern gegenwärtig auch nicht<br />
massenwirksam an den Mann/die Frau<br />
zu bringen, deshalb braucht man <strong>als</strong>o<br />
diverse Umschreibungen. <strong>Die</strong> NPD<br />
Brandenburg mochte auch aus diesem<br />
Grund nicht zu deutlich werden, beschränkte<br />
sich auf die Erweiterung der<br />
Forderungen nach Verstaatlichung der<br />
Banken, indem sie zusätzlich die Versicherungsgesellschaften<br />
verstaatlichen<br />
will. Außerdem verlangte sie eine nationale<br />
Prüfungskommission, die sich<br />
mit dem Aufbau einer mittelfristigen<br />
(!) Volkswirtschaft zu befassen habe,<br />
über eine Neuorientierung der Zinspoli-<br />
tik bzw. deren Abschaffung und »Ersatz<br />
durch menschenfreundlichere Finanzinstrumente«<br />
nachdenken solle. Den<br />
Widerspruch zwischen »mittelfristig«<br />
und »jetzt« nahm sie dabei nicht sonderlich<br />
ernst.<br />
Jürgen Gansel beobachtet richtig, dass<br />
die politische Klasse in der Bundesrepublik<br />
erkannt hat: »Es muss sich (politisch)<br />
etwas ändern, damit (wirtschaftlich)<br />
alles beim Alten bleibt. Weil die<br />
Deutschen wegen einer Wirtschaftskrise<br />
nie wieder die Systemfrage stellen<br />
sollen, überschlägt sich die etablierte<br />
Politik mit Vorschlägen zu einer<br />
Re-Regulierung des Kapitalmarktes<br />
und zur besseren Kontrolle von Bankvorständen«<br />
(Deutsche Stimme, Dezember<br />
2008). Daraus möchte er den<br />
Spielraum gewinnen, die Forderung der<br />
NPD nach Unterordnung des Finanzkapit<strong>als</strong><br />
unter die Wirtschaftsautorität des<br />
Staates wieder in die Debatte zu bringen<br />
und zwar damit, dass über unterschiedlichste<br />
Eigentumsformen zwischen Privat-<br />
und Gemeinwirtschaft im Rahmen<br />
einer »gemischten Wirtschaftsordnung«<br />
nachgedacht wird, der Begriff des Volksvermögens<br />
eingeworfen und eine neue<br />
»Bankenphilosophie« angestrebt wird.<br />
Man sieht, zu scharf möchte auch er<br />
nicht gleich den »Haien« und »Bossen«<br />
ans Leder. Aber dieses Zögern eben verträgt<br />
sich nicht mit dem radikalen Krawallflügel<br />
in der Neonaziszene, der lieber<br />
mit superrevolutionären Parolen auf<br />
die Straßen zieht, »Nationaler Sozialismus<br />
jetzt!« schreit und Bürgerschreck<br />
mit schwarzen Kapuzen treibt. Oder solche<br />
»autonome Nationalisten«, die auf<br />
ihren Websites wie »Media pro Patria«<br />
fordern: »Steh endlich auf gegen dieses<br />
System, das das Elend unseres Volkes<br />
verwaltet!« Davon grenzt sich Gansel ab<br />
und warnt davor, die Chancen zu verspielen,<br />
die sich jetzt auftun, die bisher<br />
richtungslose antikapitalistische<br />
Sehnsucht breiter Massen in »nationale<br />
Protestbahnen« zu lenken. <strong>Die</strong>se Vereinnahmung<br />
gelinge nur, » wenn die nationale<br />
Solidar- und Gerechtigkeitsbewegung<br />
vernünftig im Ton und zivil im<br />
Auftreten ist und jedes sektiererhafte<br />
oder pubertäre Bürgerschreck-Gehabe<br />
unterlässt. ‚Autonome Nationalisten‘<br />
mit ihrem antifaschistischen Krawall –<br />
Habitus schwächen dabei nur die Position<br />
des nationalen Antikapitalismus, weil<br />
dessen normaldeutsche Adressaten<br />
massiv verschreckt werden.« (Internetseite<br />
der NPD, 3. 1. 2008)<br />
<strong>Die</strong> Bemühungen der Rechtsextremen,<br />
ihre Kapitalismus- und Globalisierungskritik<br />
mit mehr sozialem Touch zu versehen,<br />
sind nicht neu. Sie erlebten<br />
15
mit den Anti-Hartz-Kampagnen einen<br />
deutlichen Aufschwung und zeitweise<br />
konnten sie auch auf diesen Zug aufspringen.<br />
Bestimmte Erfolge bei den<br />
Kommunalwahlen waren aber nur teilweise<br />
dem Image <strong>als</strong> soziale Protestparteien<br />
zuzurechnen. Ähnlich ist es<br />
in der Gegenwart. Natürlich setzt die<br />
NPD weiter auf »Hartz IV muss weg!«,<br />
aber es gelingt ihr nicht, im allgemeinen<br />
Strom der Anklagen gegen die Finanzmarktkrisen<br />
ihr soziales Profil zu<br />
schärfen. So bleibt es beim deklamatorischen<br />
»Stoppt die Finanzhaie –<br />
Schützt die Sparer!« Welche minimalen<br />
Forderungen für die kleinen Leute daraus<br />
erwachsen, haben wir weiter oben<br />
am Beispiel der Losungen zur Verstaatlichung<br />
der Banken gezeigt. Seither ist<br />
nicht viel dazu gekommen, sieht man<br />
von Forderungen nach Preiskontrollen,<br />
Krediten der öffentlichen Hand für<br />
die Versorgung der Haushalte und Hilfe<br />
für einkommensschwache Personen<br />
ab, die inzwischen auch zum Vokabular<br />
in der Regierung und der Fraktionen<br />
im Bundestag gehören. Dass auch der<br />
neue DVU-Vorsitzende Faust die Losung<br />
der Abschaffung von Hartz IV im<br />
Munde führt, macht ihn ebenfalls nicht<br />
interessanter. Kommt doch dahinter<br />
auch nur die Leerformel, man müsse<br />
ein neues Konzept zur Bekämpfung der<br />
Arbeitslosigkeit verlangen.<br />
So bleibt die NPD bei ihrer ebenso stereotypen<br />
wie f<strong>als</strong>chen Formel »Sozial geht<br />
nur national!« Gerade das trifft nicht zu,<br />
wie Dutzende Beispiele jeden Tag bestätigen,<br />
ob es sich um den Zusammenbruch<br />
in der Automobilindustrie oder<br />
beim Chiphersteller Quimonda, um die<br />
Entlassungen bei BASF oder in der Hafenwirtschaft<br />
handelt. In unserer Welt<br />
können soziale Problemlagen von Größenordnungen<br />
nur auf allen Ebenen, lokal,<br />
regional, national und international<br />
angegangen werden. <strong>Die</strong> NPD kommt<br />
nicht aus der Gefangenschaft ihres Nationalismus<br />
und Rassismus heraus. Ihr<br />
einziges »soziales« Rezept bleibt wieder<br />
die Forderung nach »Ausländerstop«<br />
und »Ausländerrückführung«. Aus einer<br />
fremdenfeindlichen Politik der Abschiebung<br />
und ethnischen Segregation soll<br />
die Rettung kommen.<br />
16<br />
Perspektiven und Alternativen<br />
Gerät die extreme Rechte so immer wieder<br />
an den Rand des Geschehens und<br />
nicht wie erhofft ins Zentrum der Aufmerksamkeit,<br />
erfasst sie in ihrer Enttäuschung<br />
und in ihrem eigenen krisengeschüttelten<br />
Dasein dann schließlich<br />
aufs Neue die Lust an der Provokation.<br />
Denn die Auseinandersetzung um Finanz-<br />
und Wirtschaftskrise bedeutet<br />
nicht, dass sie auf die Themen verzichten<br />
würde, mit denen sie es dann doch<br />
in die Spalten der Presse und in die Fernsehbilder<br />
schafft. Und entgegen Gansels<br />
Wünschen sind es eben doch die Krawallnazis,<br />
die mobil machen und Aufmerksamkeit<br />
erheischen. Sie bedienen<br />
den dumpfen Volkszorn mit ihren Rufen<br />
nach der Todesstrafe bei jedem Verbrechen<br />
von Kinderschändern, sie schreiten<br />
zum »Heldengedenken«, provozieren bei<br />
Veranstaltungen zu Ehren der Opfer faschistischer<br />
Judenvernichtung. Nazi Axel<br />
Reitz, ehem<strong>als</strong> selbsternannter Nazi-<br />
Gauführer von Köln, holte schon mal die<br />
Zuchtrute <strong>als</strong> Weihnachtsmann heraus,<br />
um am Heiligabend gegen die Verbote<br />
seiner Hetzveranstaltungen zu protestieren.<br />
Und dass JLO, JN, NPD und die anderen<br />
Gruppierungen der extremen Rechten<br />
aus dem In- und Ausland alljährlich<br />
wieder zum »Trauermarsch« anlässlich<br />
des Tages der Bombardierung Dresdens<br />
1945 rufen, hat schon rituellen Charakter.<br />
Oft genug zeigt sich dabei auch, dass<br />
die »Freien« und »Autonomen«, die sogenannten<br />
»Aktionsbüros« der Neonaziszene,<br />
die zu »biederen« NPD-Leute abhängen,<br />
selber die Führung an sich reißen.<br />
Noch hofft die extreme Rechte auf die<br />
»ganz große« Krise und noch tiefere gesellschaftliche<br />
Erschütterungen. Während<br />
Sascha Roßmüller das ganz dicke<br />
Ende herankommen sieht, rechnet Per<br />
Lennart Aae in der Januar-Ausgabe der<br />
»Deutschen Stimme« schon mal vor,<br />
wann nach dieser Krise die nächste kapitalistische<br />
Krise fällig wird, da diese<br />
Krisen jetzt in immer kürzeren Zeitabständen<br />
ausbrechen. Nach seiner Rechnung<br />
werde das jeweils etwa sieben Jahre<br />
dauern, weshalb er plant, jetzt erst<br />
einmal <strong>als</strong> Wahlkämpfer für die NPD in<br />
die krisengeschüttelte Region Oberlausitz<br />
zu gehen.<br />
Offen bleibt, ob das ganz »dicke Ende«<br />
erst einmal für die NPD <strong>als</strong> Partei<br />
kommt, die jetzt in ihrer eigenen Finanzkrise<br />
nicht nur mit dem Sammeln von<br />
Geldern für die zahlreichen Wahlkämpfe<br />
dieses Jahres sondern auch zur Begleichung<br />
von Strafen beschäftigt ist,<br />
die ihr die finanziellen »Vergehen« ihres<br />
ehemaligen Schatzmeisters Kemna eingebracht<br />
haben. <strong>Die</strong>ser »Experte«, der<br />
wohl bedeutende Summen aus NPD-<br />
Kassen »umgeleitet« hat, kann zumindest<br />
vorläufig die weltweiten Krisen von<br />
seinem Gefängnisfenster aus studieren.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> wird allerdings in der<br />
schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise<br />
seit achtzig Jahren nicht »auf dem<br />
Berg sitzend den Kampf der Tiger im<br />
Tal« – sprich den Streit der verschiedenen<br />
Flügel der extremen Rechten –<br />
teilnahmslos betrachten können. <strong>Die</strong><br />
<strong>Linke</strong> steht nicht nur wegen der bevorstehenden<br />
Wahlen vor gewaltigen Herausforderungen.<br />
Sie sieht nicht nur die<br />
Zahlen und die Unbeholfenheit von Regierungen.<br />
Sie erkennt auch die großen<br />
Gefahren für die Demokratie. Bereits<br />
jetzt geht sie über die Zustandsbeschreibung<br />
und die Analyse von Ursachen<br />
hinaus. Sie zeichnet gleich am<br />
Jahresanfang 2009 Grundlinien für einen<br />
»wirtschaftspolitischen Neuanfang«<br />
vor. Zu diesen gehören Aussagen<br />
zur Stärkung der Binnenwirtschaft, die<br />
mit dem Vorschlag eines Zukunftsinvestitionsprogramms<br />
weit über die Vorstellungen<br />
der Regierung hinausreichen,<br />
die Forderungen nach höheren<br />
Einkommen, mehr Arbeitslosengeld<br />
und höheren Renten. Zu den Forderungen<br />
gehören auch eine Millionärssteuer<br />
und unabdingbar die Übernahme<br />
der Banken in öffentliche Kontrolle und<br />
die Organisierung des Bankgeschäfts<br />
<strong>als</strong> Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge.<br />
Und all das, so beschreibt es der<br />
Bundesausschuss der Partei »<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>«<br />
in seinem Beschluss vom 11. Januar<br />
2009, erfordert eben mehr Demokratie,<br />
auch mehr Wirtschaftsdemokratie, Ausweitung<br />
von Elementen direkter Beteiligung<br />
der Bevölkerung und demokratische<br />
Kontrolle.<br />
Dr. sc. Roland Bach
Finanzkrise und Antifaschismus<br />
Seit einigen Monaten hält die Finanz-<br />
und Wirtschaftskrise die Welt in Atem.<br />
Konferenzen der politisch und ökonomisch<br />
Herrschenden sollen die Krise<br />
einer Lösung zuführen, oder aber einer<br />
solchen Lösung nahe kommen. Jeder<br />
Vernünftige hofft, dass dies gelingt,<br />
denn unübersehbar entstehen mit<br />
der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise<br />
qualitativ neue Gefahren<br />
für die Menschheit, zugleich aber auch<br />
verantwortungsvolle Aufgaben für alle<br />
Antifaschisten: Es muss verhindert<br />
werden, dass – es wäre dies nicht das<br />
erste Mal in der Geschichte – Auswege<br />
aus der Krise in Richtung Krieg und<br />
Faschisierung beschritten werden.<br />
Finanziell-strukturelle Maßnahmen allein<br />
genügen nicht, um das zu bewirken.<br />
Entscheidend sind veränderte<br />
Inhalte des Handelns von Menschen<br />
und Gemeinschaften in der Welt. Unterschiedliche<br />
Wertsetzungen erweisen<br />
erst dann ihren wahren humanen<br />
Wert.<br />
Aus diesem Grunde sind komplexe<br />
Strategien vonnöten, die Politik, Wirtschaft<br />
und Banken gemeinsam verfolgen.<br />
Im Ergebnis der Finanzkrise<br />
scheint diese schwierige Aufgabe in<br />
den Staaten und Regionen differenziert<br />
und ein Stück weit lösbar. Dazu<br />
können die Europäische Union und<br />
Deutschland dank ihres wirtschaftlichen,<br />
politischen und kulturellen Potenti<strong>als</strong><br />
maßgeblich beitragen. Was<br />
folgt daraus für die Überlegungen von<br />
Antifaschisten?<br />
Aristoteles hielt es für vernünftig,<br />
»künstliche« Finanzwirtschaft wieder<br />
durch »natürliches« Wirtschaften<br />
zu ersetzen, aber wahrscheinlich, so<br />
schrieb er, sei es schon zu spät. Heute<br />
zwingt die globale Krise des Finanzsystems,<br />
dies neu zu bedenken und langfristige<br />
Entscheidungen und Strategien<br />
zu finden, die möglichst jeder Person<br />
Sicherheit gewähren und ihr Leben<br />
menschenwürdig wandeln.<br />
Dabei erfüllen Märkte, auch der Finanzmarkt,<br />
eine lebenswichtige Funktion.<br />
Sie zirkulieren das gesellschaftliche<br />
Gesamtprodukt und ermöglichen<br />
dessen erweiterte Reproduktion. Löst<br />
sich finanzieller Gewinn jedoch davon,<br />
wird dieser normale Zyklus in Ländern<br />
und Regionen der Welt empfindlich<br />
gestört. Denn die erweiterte ökonomische<br />
und soziale Reproduktion ist<br />
das Fundament jeder Kulturentwicklung.<br />
Ihre Konflikte erscheinen dann<br />
<strong>als</strong> »Kampf der Kulturen«.<br />
<strong>Die</strong> gegenwärtige Finanzkrise in der<br />
Welt war folglich vorherzusehen. <strong>Die</strong><br />
Freiheit hemmungsloser Hochfinanz<br />
begann die demokratische Ordnung zu<br />
untergraben. Sicherheit und Existenz<br />
offener Gesellschaften wurden leichtfertig<br />
aufs Spiel gesetzt, unverantwortlichen<br />
politischen Folgen zum Trotz.<br />
Deswegen bedürfen Unternehmen der<br />
Realwirtschaft dringend Kredite. Es<br />
geht dabei weniger um das Schicksal<br />
kapitalistischer Unternehmen <strong>als</strong> um<br />
die millionenfachen Schicksale der<br />
dort Arbeitenden. Staatliche Maßnahmen<br />
sollen diesen Geldfluss fördern.<br />
Aber das Verhältnis von Realproduktion,<br />
Banken und Staat muss in der<br />
Welt generell neu geordnet werden.<br />
Veränderte Rechtsbestimmungen und<br />
Finanzstrukturen gewährleisten das<br />
noch nicht, jedenfalls nicht auf Dauer;<br />
auch keine Realproduktion, die lediglich<br />
gewinnorientiert bleibt.<br />
Nötig ist ein inhaltlicher Wandel aller<br />
Strukturen der Geldwirtschaft, die auf<br />
eine menschenwürdige ökonomische<br />
und soziale Reproduktion konzentriert<br />
werden müssten. Banken erfüllen dann<br />
ihren Zweck, wenn sie Investitionen für<br />
die arbeitsteilige Produktion von Gebrauchsgütern<br />
fördern und nicht mehr<br />
offene und strukturelle Gewalt über<br />
Menschen finanzieren. Erst auf diesem<br />
Weg werden Krisen des Weltfinanzsystems<br />
lösbar und neofaschistischen<br />
Gefahren begegnet.<br />
Denn das vielstimmige Rufen nach<br />
dem Staat ist janusköpfig. Starke Banken<br />
treiben Zentralisierung voran, vereinnahmen<br />
Unternehmen und wollen<br />
dafür staatliche Mittel, ohne sich größerem<br />
demokratischen Einfluss auszusetzen.<br />
So geschehen zum Beispiel in<br />
Großbritannien, wo staatliche Beteiligungen<br />
an maroden Kreditinstituten in<br />
Form von stimmrechtslosen Vorzugsaktien<br />
organisiert wurden. Dabei handelt<br />
es sich um Aktien, die dem Eigentümer<br />
zwar bevorzugte Rechte bei der<br />
Verteilung des Gewinns, der Dividende,<br />
gewähren, aber keinen Einfluss auf den<br />
Hauptversammlungen der Aktionäre<br />
ermöglichen. Auf solche Weise ist keine<br />
durchgreifende Initiative der Weltfinanz<br />
zu erkennen, ihre eigene Krise<br />
auch mit eigenen Mitteln zu beheben.<br />
Ferner besteht in der Bevölkerung berechtigter<br />
Vorbehalt gegen zu starke<br />
Eingriffe des Staates in persönliche<br />
Belange. <strong>Die</strong> Menschenschicksale des<br />
20. Jahrhunderts zwingen dazu. Für<br />
eine sichere Zukunft müssen sie neu<br />
durchdacht werden, dann offenbart<br />
sich die Janusköpfigkeit jedes staatsmonopolistischen<br />
Dirigismus. den die<br />
Hochfinanz seit eh und je anstrebt. Sie<br />
erlangte erstm<strong>als</strong> um 1900 volle wirtschaftliche<br />
Souveränität, aber nun benötigte<br />
sie politische und geistig-kulturelle<br />
Macht. Geeignete Personen<br />
und Institutionen fanden sich. <strong>Die</strong> soziale<br />
Evolution erreichte weltweit ihre<br />
staatsmonopolistische Dimension.<br />
Im Ergebnis gelangen sprunghafte wissenschaftlich-technische<br />
Fortschritte.<br />
Unternehmerische Rekordgewinne<br />
wurden erreicht. Dafür stehen Weltkriege,<br />
der rassistische Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
und der Kalte Krieg gegen die<br />
andere Form von Staatsmonopolismus,<br />
den stalinistischen Kommunismus.<br />
Es besteht eine historische Eigendynamik<br />
von Staatsmonopolismen.<br />
Sie verdeutlicht, wie sehr ihnen sowohl<br />
Verbrechen, <strong>als</strong> auch eine gewisse Tendenz<br />
zu Sozialismus innewohnen.<br />
Damit ist die Gefahr staatsmonopolistischer<br />
»Experimente« generell gekennzeichnet.<br />
Ohne demokratische<br />
Selbstkontrolle gebiert jedes Gesellschaftssystem<br />
früher oder später Unmenschliches,<br />
schon durch Betrug<br />
und Administration über Menschenschicksale<br />
hinweg. Finanz-staatliche<br />
Monopolisierung bewirkt deshalb eine<br />
Selbstgefährdung jeder offenen<br />
Gesellschaft. Weiterblickende soziale<br />
Kräfte, auch konservative oder religiöse,<br />
erstreben daher seit Jahrzehnten<br />
ein immer wieder neu ausgewogenes<br />
Verhältnis von Freiheit, Gerechtigkeit<br />
und Solidarität in der Welt.<br />
So ist die aktuelle Krise des Weltfinanzsystems<br />
janusköpfig. Sie birgt Existenzgefährliches<br />
für Menschen und<br />
Gemeinschaften, aber zugleich eine unvergleichliche<br />
historische Chance: Sie<br />
öffnet Wege zu einer kulturellen, friedlichen<br />
Gestaltung der globalen Wirklichkeit<br />
des Menschen, ohne schrankenlose<br />
Herrschaft der Hochfinanz.<br />
Darin besteht der in der Welt heute realisierbare<br />
Schritt zu einer humanen<br />
Balance von Politik, Wirtschaft und<br />
Finanzsystem. Er bedarf der strategisch<br />
lenkenden Hand demokratischer<br />
Staaten und Gemeinschaften. Es liegt<br />
daher im Interesse eines jeden Antifaschismus<br />
im 21. Jahrhundert, nicht nur<br />
früheren Formen finanzoligarchischer<br />
Vorherrschaft zu widerstehen, sondern<br />
auch neue zu vereiteln, die internationale<br />
staatsmonopolistische Kooperation<br />
anstreben.<br />
17
Konkret bedeutet das:<br />
1. Handeln gegen alle faschistoiden Bestrebungen<br />
vor Ort, in Gemeinschaften<br />
und Staaten, besonders wenn sie persönliche<br />
Sicherheit gefährden.<br />
2. Einlenken aller sozialen Kräfte und<br />
Staaten auf die humanen Ziele der<br />
UNO.<br />
3. Gemeinsamer Kurs auf ökonomischökologische<br />
und soziale<br />
18<br />
Reproduktion der Nationen und Nationalitäten.<br />
4. Entsprechende Investitionen der nationalen<br />
und transnationalen<br />
Finanzinstitutionen.<br />
5. Gemeinschaftliche soziale Effektivität<br />
von Wissenschaften und Technologien.<br />
5. Selbstbewusste Identität humaner<br />
Bildung und Kultur in allen Gruppen der<br />
Bevölkerung.<br />
<strong>Die</strong>s sind Brennpunkte globaler<br />
menschlicher Existenz. In ihnen werden<br />
sich die antifaschistischen Initiativen<br />
des 21. Jahrhunderts entwickeln<br />
und den Weg zu einer Ethik des freiwilligen<br />
Handelns für den Anderen bahnen.<br />
Professor Dr. Heinz Engelstädter
Ralf Krämer, Mitglied des BundessprecherInnenrates des Sozialistischen <strong>Linke</strong>n und<br />
der Programmkommission der Partei DIE LINKE, Dezember 2008.Diskussions the se n:<br />
Bankrott des Neoliberalismus – Aufgaben<br />
der LINKEN<br />
1. Krise des Kapitalismus<br />
In der aktuellen Krise verbinden sich<br />
eine Konjunkturkrise und eine Krise<br />
der internationalen Finanzmärkte zur<br />
schwersten kapitalistischen Weltwirtschaftskrise<br />
seit den Jahren ab 1929.<br />
Hintergrund ist der gewaltige Überschuss<br />
an Anlage suchendem Kapital,<br />
der zur Entwicklung gigantischer Spekulationsblasen<br />
führt, die irgendwann<br />
platzen müssen. Gleichzeitig spitzt sich<br />
die weltweite Klimakrise zu. Hunger und<br />
Armut nehmen zu. Das kapitalistische<br />
Wachstumsmodell insgesamt ist der<br />
Krise. Immer mehr Menschen sind skeptisch<br />
und stellen sich die Frage nach Alternativen<br />
zu dem zerstörerischen System<br />
des Kapitalismus, das sie in den<br />
letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt<br />
haben.<br />
Dennoch: <strong>Die</strong> Grundlagen der kapitalistischen<br />
Welt sind stabil und keine<br />
Entwicklungen erkennbar, sie zu überwinden:<br />
das Privateigentum an Produktionsmitteln,<br />
die ökonomischen<br />
Freiheiten des Kapit<strong>als</strong> in seinen verschiedenen<br />
Formen, der bürgerlichdemokratische<br />
Staat, die internationalen<br />
Institutionen des kapitalistischen Weltmarktes<br />
sowie die Europäische Union.<br />
Es verschieben sich Kräfteverhältnisse<br />
und es vollzieht sich ein Übergang zu einer<br />
neue Phase der Entwicklung der kapitalistischen<br />
Welt.<br />
2. Neoliberalismus in der Krise:<br />
Herrschaft ohne Hegemonie<br />
Der ideologische und politische Bankrott<br />
des Neoliberalismus ist offenkundig.<br />
Doch der Neoliberalismus hat sich<br />
tief in den staatlichen Strukturen eingeschrieben<br />
und die kapitalorientierten<br />
Kräfte sitzen weiterhin fest im Sattel<br />
und an den Schalthebeln der Politik.<br />
Der Staat <strong>als</strong> »ideeller Gesamtkapitalist«<br />
wird für die Notrettung des Finanzsystems<br />
eingesetzt.<br />
<strong>Die</strong> Bundesregierung unternimmt weder<br />
auf der internationalen noch auf der nationalen<br />
Ebene ernsthafte Versuche einer<br />
demokratischen Neuordnung der Finanzmärkte.<br />
Auch das vorgelegte so genannten<br />
»Maßnahmenpaket Beschäftigungssicherung<br />
durch Wachstumsstärkung« ist<br />
völlig unzureichend dimensioniert und<br />
soll überwiegend mit Steuer- und Kreditvergünstigungen<br />
Unternehmen fördern<br />
soll. Es ist nur zum kleinen Teil ein wirkliches<br />
Konjunkturprogramm, das drängende<br />
Defizite beseitigt, die Binnennachfrage<br />
und öffentliche Investitionen<br />
ausweitet und Arbeitsplätze schafft.<br />
Stattdessen wird mit der Politik der<br />
Staatsintervention die neoliberale Umverteilungspolitik<br />
von unten nach oben<br />
fortgesetzt.<br />
Dennoch: <strong>Die</strong> Bewusstseinslage weiter<br />
Teile der Bevölkerung und das Klima in<br />
den öffentlichen Diskussionen, die ideologischen<br />
und insoweit auch die politischen<br />
Kräfteverhältnisse sind heute<br />
wesentlich günstiger <strong>als</strong> Anfang des<br />
Jahrzehnts. Auch die neue Partei DIE<br />
LINKE hat die Bedingungen wesentlich<br />
verbessert. Es wird vorherrschend über<br />
Konjunkturprogramme, eine neue Weltfinanzordnung<br />
und einen internationalen<br />
»Green New Deal« diskutiert statt<br />
über Lohnkostensenkung und Sozialabbau.<br />
Jedenfalls bis zur Bundestagswahl<br />
2009.<br />
3. Perspektiven der Krise – autoritäre<br />
Krisenbewältigung<br />
oder sozialer und ökologischer<br />
zweiter »New Deal«?<br />
Wie es weitergeht, ist offen. Mit Schärfe<br />
und Dauer der ökonomischen Krise<br />
werden Arbeitslosigkeit und soziale<br />
Krise sich zuspitzen. <strong>Die</strong> Auseinandersetzungen<br />
werden sich verschärfen,<br />
ein Rückfall in autoritäre Krisenbewältigung<br />
zu Lasten der breiten Schichten<br />
der Bevölkerung ist möglich, aber keineswegs<br />
ausgemacht. Entscheidend ist<br />
der Druck aus den Gewerkschaften und<br />
sozialen Bewegungen sowie den öffentlichen<br />
Diskursen und von der LINKEN.<br />
<strong>Die</strong> Möglichkeiten, demokratische<br />
und soziale und ökologische Alternativen<br />
wirksam einzubringen und<br />
Schritte in diese Richtung durchzusetzen,<br />
sind durch die gegenwärtige Krise<br />
gewachsen. Es geht zunächst um<br />
die ideologische und materielle Auseinandersetzung<br />
für um eine neue, sozial<br />
kontrollierte Regulation des Kapitalismus<br />
der kommenden Zeit. <strong>Die</strong><br />
ökonomischen Spielräume und sogar<br />
Notwendigkeiten für einen anderen<br />
Entwicklungspfad sind gegeben, auch<br />
aus Sicht von Teilen des Kapit<strong>als</strong>. <strong>Die</strong> in<br />
den letzten 25 Jahren wieder deutlich<br />
erhöhten Profitraten ermöglichen eine<br />
neue Phase lohngetriebener Akkumulation,<br />
bei der sinkende Rate durch steigende<br />
Masse des Profits kompensiert<br />
wird. In den USA wird der bisherige<br />
Pfad durch private Verschuldung getriebenen<br />
Wachstums so nicht dauerhaft<br />
fortgeführt werden können. Wenn<br />
die USA aber künftig nicht mehr wie<br />
bisher die weltweiten Waren- und Kapitalüberschüsse<br />
absorbieren können,<br />
müssen die gigantischen Überschüsse<br />
Deutschlands, Japans und Chinas reduziert<br />
werden. <strong>Die</strong>s geht nur mit einer<br />
stärker binnenwirtschaftlich orientierten<br />
Entwicklung, und dies erfordert<br />
eine stärkere Entwicklung der Masseneinkommen<br />
und der öffentlichen Nachfrage<br />
<strong>als</strong> in den vergangenen Dekaden.<br />
Auch die Notwendigkeit einer Umgestaltung<br />
der Energiebasis erkennen<br />
angesichts tendenziell steigender Energiepreise,<br />
problematischer Abhängigkeiten<br />
von ölexportierenden Ländern<br />
und des Klimawandels auch Teile<br />
der herrschenden Klassen in den kapitalistischen<br />
Zentren.<br />
<strong>Die</strong> Chiffre, auf die sich breite Kräfte<br />
für eine Umorientierung der Politik<br />
und einen neuen Entwicklungspfad<br />
beziehen, ist die eines zweiten, sozial-ökologischen<br />
oder grünen »New Deal«.<br />
Also eine neue Phase verstärkter<br />
staatlicher Investitionen, Regulierung<br />
und Mobilisierung von Ressourcen zur<br />
Überwindung der Wirtschaftskrise und<br />
Umsetzung öffentlicher Entwicklungsprojekte<br />
– konkret einer ökologischen<br />
Modernisierung der Infrastruktur und<br />
Produktionstechnologien und der Begrenzung<br />
und Minderung sozialer Spaltungen<br />
und Katastrophen.<br />
Bei einer solchen Entwicklung wären<br />
stärker <strong>als</strong> in der neoliberal geprägten<br />
Phase der letzten Jahrzehnte auch Interessen<br />
der Lohnabhängigen und ihre Organisationen<br />
in die Politik einbezogen.<br />
Aber der Kompromiss bliebe asymmetrisch,<br />
das Kapital bliebe dominant.<br />
Eine solche Perspektive wäre eine neue<br />
Entwicklungsphase des Kapitalismus,<br />
gezeichnet durch die entsprechenden<br />
Widersprüche und Kämpfe, Krisen und<br />
Probleme.<br />
19
<strong>Die</strong> SozialistInnen und DIE LINKE hätten<br />
ein kritisches Verhältnis zu dieser neuen<br />
Entwicklungsphase, hätten unter neuen<br />
Bedingungen die Kämpfe für soziale Interessen<br />
und die sozialistische Überwindung<br />
dieser Gesellschaft zu führen.<br />
Es ist eine Frage der Kräfteverhältnisse,<br />
wie die Reaktion auf die Krise<br />
letztlich aussieht. Und zwar nicht nur in<br />
Deutschland, sondern weltweit. Es wird<br />
dafür eine entscheidende Rolle spielen,<br />
welchen Kurs die neuen Obama-Administration<br />
in den USA einschlagen wird.<br />
In Europa geht die Durchsetzung einer<br />
anderen Politik nur auf dem Wege der<br />
Durchsetzung einer anderen politischen<br />
Orientierung in Deutschland und möglichst<br />
vielen anderen Nation<strong>als</strong>taaten<br />
in Europa. Und das erfordert, die Verantwortung<br />
und Veränderungsmöglichkeiten<br />
der nationalen Politik in den Mittelpunkt<br />
zu stellen.<br />
So lässt sich am wirksamsten Druck<br />
entwickeln, auch für eine andere Politik<br />
im internationalen Rahmen.<br />
4. DIE LINKE: Reformismus und Antikapitalismus<br />
– realistisch und radikal<br />
<strong>Linke</strong>, sozialistische Strategie und Politik,<br />
jedenfalls wenn sie zugleich realistisch<br />
und radikal sein sollen, geht nicht darum,<br />
was man sich gerne wünschen würde,<br />
sondern wie in einer internationalen, gesellschaftlichen<br />
und politischen Situation<br />
möglichst viel an Veränderung im Sinne<br />
linker, sozialistischer Ziele durchgesetzt<br />
und zugleich die Bedingungen für weitergehende<br />
Veränderungen verbessert werden<br />
können. <strong>Die</strong> sozialistische <strong>Linke</strong> und<br />
die Partei DIE LINKE haben dabei besondere<br />
Aufgaben. Immer weiter zu drängen,<br />
aber sich dabei nicht von den realen<br />
Kämpfen zu entfernen, sondern die eigenen<br />
Kräfte darin positiv wirksam zu machen,<br />
auch wenn das, um was es dabei<br />
geht, hinter dem, was letztlich nötig wäre,<br />
weit zurück bleibt.<br />
Marx und Engels haben im Kommunistischen<br />
Manifest die Aufgabe beschrieben:<br />
»Sie stellen keine besonderen Prinzipien<br />
auf, wonach sie die proletarische<br />
Bewegung modeln wollen. … [Sie] unterscheiden<br />
sich … dadurch, dass sie in<br />
den verschiedenen Entwicklungsstufen,<br />
welche der Kampf zwischen Proletariat<br />
und Bourgeoisie durchläuft, stets das<br />
Interesse der Gesamtbewegung vertreten.<br />
[Sie] sind <strong>als</strong>o praktisch der entschiedenste,<br />
immer weiter treibende<br />
Teil der Arbeiterparteien aller Länder.«<br />
»Sie kämpfen für die Erreichung der unmittelbar<br />
vorliegenden Zwecke und Interessen<br />
der Arbeiterklasse, aber sie vertreten<br />
in der gegenwärtigen Bewegung<br />
zugleich die Zukunft der Bewegung.«<br />
20<br />
Eine Haltung, die sich orientierte auf eine<br />
Zuspitzung der Krise des Kapitalismus<br />
und einen daraus resultierenden<br />
unmittelbaren Übergang zum Sozialismus,<br />
wäre illusionär, würde diese Aufgabe<br />
verfehlen und die LINKE isolieren.<br />
Genauso f<strong>als</strong>ch wäre eine Haltung, die<br />
auf die weiter treibende Kritik und die<br />
kämpferische Vertretung der Interessen<br />
der ArbeiterInnenklasse verzichtete und<br />
sich nur noch <strong>als</strong> Teil eines breiten vermeintlichen<br />
rot-rot-grünen Reformlagers<br />
verstünde.<br />
DIE LINKE ist die Partei einer neuen<br />
Entwicklungsstufe der Arbeiterbewegung,<br />
in der die Spaltung nicht verläuft<br />
zwischen Reformismus und Antikapitalismus.<br />
Sondern zwischen eigenständiger<br />
kämpferischer Vertretung der Interessen<br />
der Mehrheit der Bevölkerung<br />
und sozialistischer Ziele oder der Ein-<br />
und Unterordnung dieser Interessen<br />
und Kämpfe unter ein illusorisches klassenübergreifendes<br />
Allgemeininteresse,<br />
dessen Inhalt letztlich im Kern dominiert<br />
wird durch die herrschenden gesellschaftlichen<br />
Verhältnisse und Interessen<br />
des Kapit<strong>als</strong>.<br />
DIE LINKE muss zugleich reformistisch<br />
und antikapitalistisch sein. Reformistisch<br />
nicht im Sinne einer Beschränkung<br />
der Forderungen und Perspektiven<br />
auf den Rahmen des kapitalistischen Systems<br />
und der Vermeidung des Kampfes<br />
gegen die Herrschaft des Kapit<strong>als</strong>. <strong>Die</strong>se<br />
Art von Reformismus hat in der Unterordnung<br />
der sozialdemokratischen<br />
Parteien unter den Neoliberalismus ein<br />
unrühmliches Ende gefunden. Sondern<br />
im Sinne eines entschiedenen Kampfes<br />
für soziale Reformen und gegen Herrschaftspositionen<br />
des Kapit<strong>als</strong> hier und<br />
jetzt und der Verbindung und Ausrichtung<br />
dieses Kampfes auf die Überwindung<br />
des Kapitalismus und den Aufbau<br />
einer demokratischsozialistischen Gesellschaft.<br />
DIE LINKE muss Menschen zusammenfassen,<br />
die sich <strong>als</strong> links-reformistisch<br />
und die sich <strong>als</strong> revolutionär-sozialistisch<br />
verstehen. Sie muss zugleich Opposition<br />
gegen die Herrschaft und Politik<br />
des Kapit<strong>als</strong> sein und die Fähigkeit<br />
haben, <strong>als</strong> linker Flügel eines zu entwickelnden<br />
gesellschaftlich-politischen<br />
Blocks für einen sozial-ökologischen<br />
Umbau zu wirken. Also die Kräfte der<br />
<strong>Linke</strong>n wirksam zu machen und mit einzubringen<br />
für die Überwindung des Neoliberalismus<br />
und die Durchsetzung<br />
und Linksverschiebung eines »New Deal«.<br />
Es geht darum, die Bedingungen zu<br />
schaffen für einen echten Politikwechsel,<br />
das ist etwas ganz anderes <strong>als</strong> jetzt<br />
auf Rot-Rot-Grün zu setzen. Es geht da-<br />
rum, real-politisch die Macht und Bewegungsmöglichkeiten<br />
des Kapit<strong>als</strong> einzuschränken<br />
– und zugleich die Mängel<br />
und Begrenztheiten einer solchen Politik<br />
zu kritisieren, für eine sozialistische<br />
Perspektive zu argumentieren und Kräfte<br />
und Druck für weitergehende Veränderungen<br />
zu mobilisieren.<br />
<strong>Die</strong> strategischen Aufgaben der <strong>Linke</strong>n<br />
bestehen darin, in den konkreten Kämpfen<br />
zugleich den Kampf um die politischkulturelle<br />
Hegemonie zu führen und zur<br />
Bildung sozialer und politischer Bündnisse<br />
in diesem Sinne beizutragen.<br />
5. Klassenformierung, soziale und<br />
politische Bündnisse bilden<br />
Bei der Betrachtung der Bedingungen<br />
und Möglichkeiten radikaler Reformpolitik<br />
geht es zentral um die Frage der Formierung<br />
der sozialen und politischen<br />
Kräfte gegen den Neoliberalismus und<br />
für Alternativen. Im Kern ist das die Frage<br />
der Klassenformierung und der Einschreibung<br />
politischer Orientierungen<br />
in diesen ständigen Prozess. Da geht es<br />
etwa um massenwirksame ideologische<br />
Auseinandersetzung und um Fragen der<br />
gewerkschaftlichen und politischen<br />
und anderen zivilgesellschaftlichen Organisation<br />
und die realen Kämpfe und<br />
politischen Prozesse und ihre Wirkung<br />
auf die Beteiligten und die gesellschaftlichen<br />
Gruppen und Milieus. Das ist ein<br />
zentraler Punkt, weil er den Kern der politischen<br />
Handlungsmöglichkeiten der<br />
LINKEN betrifft. Auch politische Bildung<br />
und Theorieaneignung und -produktion<br />
ist dabei bedeutsam. Auch die Frage,<br />
was Projekte und Forderungen sind, die<br />
sinnvollerweise mit sozialistischer Perspektive<br />
jetzt betrieben werden sollten,<br />
erschließt sich dann erst wirklich. Weil<br />
ein entscheidendes Kriterium ist dabei<br />
immer, wie sich das auswirkt auf die<br />
Entwicklung von Hegemonie und Kräfteverhältnissen<br />
inkl. Organisationen<br />
und ihre Stärke und Kampfkraft.<br />
Dabei muss DIE LINKE eine aktive Rolle<br />
spielen und sich <strong>als</strong> möglichst starke<br />
Partei breiter, tendenziell klassenbewusster<br />
Teile der Lohnabhängigen und<br />
der gesellschaftlichen <strong>Linke</strong>n entwickeln.<br />
Dabei sind insbesondere bestimmte<br />
Widersprüche in Richtung von<br />
Bündnisbildung zu bearbeiten und programmatisch<br />
wie in der Praxis zu berücksichtigen:<br />
- die sozialen und habituellen und einstellungsmäßigen<br />
Widersprüche zwischen<br />
verschiedenen Teilen der<br />
Arbeiterklasse (im weiten Sinne), insbesondere<br />
zwischen der Masse der abhängig<br />
Beschäftigten und den prekär<br />
Beschäftigten und den Erwerbslosen,
sowie gegenüber prekären oder von<br />
Prekarität bedrohten Selbstständige<br />
und Kleinunternehmern, insbesondere<br />
im Osten;<br />
- die Widersprüche zwischen der »sozialen«<br />
<strong>Linke</strong>n, deren gesellschaftliche<br />
Hauptstruktur die Gewerkschaften<br />
sind, und der sogenannten »kulturellen«<br />
<strong>Linke</strong>n. Oder allgemeiner formuliert<br />
den Teilen der <strong>Linke</strong>n, bei deren<br />
politischer Orientierung nicht die<br />
sozialen Fragen und Interessen der<br />
Lohnabhängigen (ausdrücklich einschließlich<br />
der sozialen Interessen der<br />
großen Mehrheit der Frauen) im Mittelpunkt<br />
stehen, sondern andere politische<br />
Anliegen und kulturelle Einstellungen.<br />
6. Profil und Positionen der LINKEN<br />
Dabei sind ausschlaggebend für die<br />
Stärke der <strong>Linke</strong>n (und speziell der<br />
LINKEN) und die realen kräftemäßigen<br />
Möglichkeiten radikaler Reformen und<br />
sozialistischer Umgestaltungen das soziale<br />
Profil und die Stärke der »sozialen<br />
<strong>Linke</strong>n«. Also dass die soziale Frage klar<br />
und auch populär von links besetzt und<br />
dominiert wird und damit kein Raum für<br />
Rechte gelassen wird. <strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> muss<br />
mithelfen mit kollektiven Kämpfen einen<br />
Pol der Hoffnung und der Solidarität gegen<br />
Verzweiflung, Rassismus und rechte<br />
Ideologien zu schaffen. Das Bewusstsein<br />
der Menschen ist widersprüchlich<br />
und es ist gut und notwendig, wenn dabei<br />
auch viele Menschen auf DIE LINKE<br />
orientiert werden und sie wählen, die dies<br />
trotz und nicht wegen unserer linken<br />
Positionen in anderen Feldern tun.<br />
<strong>Die</strong> weitergehende Aufgabe besteht hier<br />
dann darin, darauf aufbauend auch darüber<br />
hinausgehende linke Orientierungen<br />
zu vermitteln und verankern.<br />
Das linke soziale Profil muss daher immer<br />
im Mittelpunkt der gesellschaftpolitischen<br />
Position und der Wahlkämpfe<br />
der LINKEN stehen. Gesellschaftliche<br />
Emanzipation und sozialistische Perspektive<br />
gibt es nur mit und nie ohne<br />
die Unterstützung der Massen der Lohnabhängigen<br />
und ihrer sozialen Organisa-<br />
tionen, und die gibt es nur auf der Basis<br />
der Vertretung ihrer sozialen Interessen<br />
durch die <strong>Linke</strong>. Dazu gehört neben<br />
sozialpolitischen Alternativen verstärkt<br />
auch eine klare wirtschafts- und finanzpolitische<br />
Alternativposition.<br />
Dazu müssen selbstverständlich klare<br />
Positionen in anderen wichtigen Politi<strong>kb</strong>ereichen<br />
kommen.<br />
Aktuell muss DIE LINKE klare Forderungen<br />
für eine soziale Antikrisenpolitik<br />
formulieren und dafür mobilisieren:<br />
Ein massives Konjunktur- und<br />
Zukunftsinvestitionsprogramm, Millionärssteuer,<br />
Mindestlohn und Kampf<br />
gegen Lohndumping, Rücknahme von<br />
Hartz IV, von Rente mit 67 und Rentenkürzungen,<br />
demokratische Neuordnung<br />
der Finanzmärkte und der Weltwirtschafts-<br />
und Währungsordnung, öffentliche<br />
Kontrolle und Entmachtung der<br />
Banken und Konzerne, öffentliche Hilfen<br />
nur für Eigentumsanteile und mit sozialen<br />
und Beschäftigungsbedingungen,<br />
Stärkung des Sozi<strong>als</strong>taats und des öffentlichen<br />
Sektors statt Privatisierung.<br />
Dafür ist eine andere EU notwendig.<br />
Gleichzeitig sollte DIE LINKE ihre Kritik<br />
des Kapitalismus betonen und ihre<br />
Vorstellung einer demokratisch- sozialistischen<br />
Gesellschaft konkretisieren<br />
und Wege in die Diskussion bringen,<br />
wie eine solche Gesellschaft erreicht<br />
werden kann.<br />
7. Politisches Handeln und<br />
Aktionsorientierung im Super-<br />
Wahlkampfjahr 2009<br />
<strong>Die</strong> LINKE muss sich entwickelnde Abwehrkämpfe<br />
gegen die Auswirkungen<br />
der Krise das Abwälzen der Folgen auf<br />
die Bevölkerung unterstützen. <strong>Die</strong> regierenden<br />
Parteien, insbesondere die SPD,<br />
haben kein Interesse an Abwehrkämpfen<br />
während der Wahlkämpfe.<br />
Es ist zu befürchten, dass die SPD versuchen<br />
wird, gewerkschaftliche Mobili6<br />
sierungen vor den Wahlen zu verhindern<br />
oder klein zu halten. Umso wichtiger ist<br />
es und bietet Chancen, dass DIE LINKE<br />
hier mit klaren Positionen und Forderungen<br />
aktiv ist.<br />
1. DIE LINKE sollte sich dafür einsetzen,<br />
dass gemeinsam mit anderen dezentrale<br />
Aktivitäten und Aktionstage für<br />
eine soziale Politik gegen die Krise<br />
und für einen grundlegenden Politikwechsel<br />
durchgeführt werden. Dazu<br />
gehört eine Aufklärungs-, Schulungs-<br />
und Argumentationskampagne der<br />
LINKEN zur kapitalistischen Krise und<br />
unseren Alternativen, dazu ist geeignetes<br />
Material zu erstellen. <strong>Die</strong> Sozialistische<br />
<strong>Linke</strong> wird ihren Beitrag dazu<br />
leisten. Insbesondere werden wir die<br />
Sommerakademie der Sozialistischen<br />
<strong>Linke</strong>n 2009 zu einem »Krisengipfel«<br />
machen.<br />
2. Weitere gemeinsame Aktivitäten bis<br />
hin zu einer bundesweiten Demonstration,<br />
möglichst in Abstimmung<br />
mit Aktivitäten in anderen europäischen<br />
Ländern oder europäisch gemeinsame<br />
Aktionen, sind mit außerparlamentarischen<br />
Kräften zu<br />
diskutieren und dann umzusetzen.<br />
DIE LINKE sollte sich dafür einsetzen,<br />
dass dazu eine breit angelegte<br />
bundesweite Aktionskonferenz mit<br />
VertreterInnen von Gewerkschaften<br />
und anderen sozialen Bewegungen<br />
und Organisationen sowie kritischen<br />
Wissenschaftlern durchgeführt wird<br />
bzw. sich an entsprechenden Bestrebungen<br />
und Konferenzen aktiv beteiligen.<br />
3. Das bereits bestehende Bündnis gegen<br />
den Nato-Gipfel im April 2009 ist<br />
inhaltlich und in der Mobilisierung zu<br />
unterstützen.<br />
4. Ebenso sind die Bildungsstreiks der<br />
Schülerinnen und Schüler und Studierenden<br />
im Mai/Juni zu unterstützen.<br />
Notwendig sind Bemühungen<br />
um die Bildung breiter Bündnisse und<br />
gemeinsam getragener Aktionen mit<br />
Gewerkschaften, Sozialverbänden,<br />
aktiven Schülerinnen und Schülern<br />
sowie Studierenden und andere Kräften<br />
der sozialen Bewegungen.<br />
5. Fortführung und Einbringen dieser<br />
Aktivitäten in die Wahlkämpfe, deren<br />
wichtigstes Resultat die Stärkung der<br />
LINKEN sein muss.<br />
21
AKTUELLES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND<br />
ANTIFASCHISMUS<br />
Konstruktion und Krise der Männlichkeit(en)<br />
in der »Neuen Rechten« – <strong>Die</strong> Wochenzeitung<br />
»Junge Freiheit« der extremen Rechten <strong>als</strong> selbstver-<br />
Obwohl derzeit keine rechtsextreme<br />
Partei Wahlerfolge auf Bundesebene<br />
erringen kann oder gar mehrheitsfähig<br />
wäre, ist Rechtsextremismus ein gesellschaftlich<br />
ernst zu nehmendes Problem.<br />
Insbesondere die so genannte »Neue<br />
Rechte« ist keineswegs so isoliert, wie<br />
es oft erscheint. So sammeln sich hier<br />
neben Rechtsextremen auch Rechtskonservative<br />
und Nationalliberale aus<br />
den großen, etablierten Parteien. <strong>Die</strong><br />
»Neue Rechte« fällt weniger durch rassistisch<br />
oder antisemitisch motivierte<br />
Straftaten auf, sondern findet sich in<br />
intellektuellen Organisationen wie dem<br />
»Institut für Staatspolitik‘«(IfS), in Burschenschaften<br />
zusammen oder gruppiert<br />
sich um ihre zahlreichen Publikationen.<br />
<strong>Die</strong> Wochenzeitung »Junge Freiheit« ist<br />
ohne Zweifel eine der bedeutendsten<br />
Publikationen der »Neuen Rechten« in<br />
Deutschland. Ihre Gefahr für ein auf<br />
Menschenrechte und Gleichheit orientiertes<br />
Zusammenleben von Menschen<br />
in einer pluralistischen Gesellschaft erwächst<br />
aus dem Versuch, Einfluss in der<br />
»Mitte der Gesellschaft« zu erlangen. So<br />
verfolgt die »Junge Freiheit« das Ziel, die<br />
»kulturelle Hegemonie« – gemäß der<br />
Konzeption des italienischen Marxisten<br />
Antonio Gramsci – und innerhalb gesellschaftlicher<br />
Diskurse die Deutungshoheit<br />
zu erobern. »Erst durch die Eroberung<br />
des kulturellen Überbaus, der die<br />
Mentalität und Wertewelt eines Volkes<br />
bestimmt, wird die Basis für den Angriff<br />
auf die eigentlich politische Sphäre geschaffen.«<br />
1 , so Winfrid Knörzer in der<br />
»Jungen Freiheit«.<br />
Während die Rechtsextremismusforschung<br />
etliche Studien hervorbringt,<br />
die sowohl einzelne Organisationen <strong>als</strong><br />
auch grundsätzliche Einstellungsmuster<br />
untersucht, gerät das Geschlecht in<br />
diesem Zusammenhang meist aus dem<br />
Blick. Erst seit den neunziger Jahren beleuchten<br />
feministisch orientierte Rechtsextremismusforscherinnen<br />
wie Birgit<br />
Rommelspacher oder Michaela Köttig<br />
Rolle und Einstellungen von Frauen im<br />
organisierten Rechtsextremismus. Hingegen<br />
gilt die Existenz von Männern in<br />
22<br />
ständlich und wird daher selten diskutiert.<br />
Eine der wenigen Untersuchungen,<br />
die sich mit Männlichkeit im Kontext von<br />
Rechtsextremismus befassen, ist die<br />
Arbeit von Oliver Geden zu »Männlichkeitskonstruktionen<br />
in der Freiheitlichen<br />
Partei Österreichs«. 2 So sind Männlichkeitskonstruktionen<br />
ein wichtiger und<br />
doch oft vergessener konstitutiver Ideologiestrang.<br />
Männlichkeit(en) werden<br />
im Rechtsextremismus – und nicht nur<br />
dort – stets interdependent mit anderen<br />
Kategorien wie Klasse und Ethnizität verknüpft.<br />
Dementsprechend möchte ich<br />
im Folgenden die verschiedenen Stränge<br />
der Männlichkeitskonstruktion sowie<br />
die Inszenierung von Männlichkeit(en)<br />
in der »Neuen Rechten« zunächst allgemein<br />
und im folgenden am Beispiel der<br />
‚Jungen Freiheit‘ analysieren. Es stellt<br />
sich die Frage: Wie wird Männlichkeit<br />
diskursiviert?<br />
Trotzdem kann nicht von einer »rechtsextremen<br />
Männlichkeit« gesprochen<br />
werden. Sowohl Konstruktion <strong>als</strong> auch<br />
»Krise der Männlichkeit« sind gesellschaftlich<br />
relevant. Sie konstituieren<br />
das soziale Leben und vergeschlechtlichen<br />
es. <strong>Die</strong> Thematisierung von<br />
Männlichkeit durch die »Neue Rechte«<br />
in der »Jungen Freiheit« ist daher nicht<br />
<strong>als</strong> isoliert, sondern im Kontext der gesellschaftlichen<br />
Verhältnisse, in denen<br />
sich immer neue Männlichkeiten ausformen<br />
und männliche Dominanz zunehmend<br />
delegitimiert wird, zu betrachten.<br />
<strong>Die</strong> Wochenzeitung »Junge Freiheit«<br />
<strong>als</strong> Organ der »Neuen Rechten«<br />
<strong>Die</strong> Geschichte der »Jungen Freiheit«<br />
Als im Juni 1986 die erste Ausgabe der<br />
»Jungen Freiheit« mit einer Auflage von<br />
400 Exemplaren <strong>als</strong> Publikation der Jugendorganisation<br />
der »Freiheitlichen<br />
Volkspartei« erscheint, weiß noch niemand,<br />
welche Bedeutung die Zeitung<br />
für die »Neue Rechte« in der Bundesrepublik<br />
Deutschland erlangen soll. Seit<br />
1990 im gesamten Bundesgebiet im<br />
Zeitschriftenhandel erhältlich, erreicht<br />
sie eine Auflage von bis zu 35.000 Exemplaren<br />
im Jahr 1991.<br />
<strong>Die</strong> im Sommer 1990 gegründete »Junge<br />
Freiheit Verlag GmbH« wird 1994 in<br />
eine Kommanditgesellschaft umgewandelt,<br />
an der Chefredakteur <strong>Die</strong>ter Stein<br />
bald 71 Prozent der Anteile hält. Neben<br />
der »Junge Freiheit Verlag GmbH<br />
& Co.« schart sich in dem bereits 1988<br />
gegründeten und 1991 umbenannten<br />
gemeinnützigen »Verein zur Förderung<br />
der Toleranz auf dem Gebiet des Völkerverständigungsgedankens<br />
bei allen<br />
Deutschen Unitas Germanica e.V.« ein<br />
Kreis von Unterstützer/innen. Der Verein<br />
macht 1991 unter anderem mit einer<br />
Kampagne »Freiheit für Königsberg‘« auf<br />
sich aufmerksam.<br />
Nach einem geschichtsrevisionistischen<br />
Artikel von Armin Mohler entbrennt ein<br />
Richtungsstreit in der ‚Jungen Freiheit‘,<br />
in dessen Folge der heutige NPD-Politiker<br />
und ehemalige Gymnasiallehrer Andreas<br />
Molau sowie Götz Meidinger, bis<br />
dahin Geschäftsführer des Fördervereins,<br />
aus der Redaktion geworfen werden.<br />
Während die ‚Junge Freiheit‘ ihren Redaktionssitz<br />
1995 in das wiedervereinigte<br />
Berlin verlegt, erscheint »in Österreich<br />
(…) eine eigene Ausgabe der JF unter<br />
Leitung des FPÖ-Politikers und Publizisten<br />
Andreas Mölzer« 3 .<br />
Im Jahr 1996 sucht die »Junge Freiheit«<br />
erstmalig die juristische Auseinandersetzung<br />
mit der Verfassungsschutzbehörde<br />
des Bundeslandes Nordrhein-<br />
Westfalen. <strong>Die</strong> Verfassungsschutzämter<br />
von Nordrhein-Westfalen und Baden-<br />
Württemberg erwähnen zu dieser Zeit<br />
die Wochenzeitung in ihren jährlichen<br />
Verfassungsschutzberichten und attestieren<br />
ihr eine Nähe zum Rechtsextremismus.<br />
Nachdem die »Junge Freiheit«<br />
vor Gericht zunächst scheitert, gibt das<br />
Bundesverfassungsgericht der Klage im<br />
Mai 2005 statt. Seitdem darf die Zeitung<br />
nicht mehr in den Verfassungsschutzberichten<br />
genannt werden. Trotzdem fühlt<br />
sie sich stetig diskriminiert: So wendet<br />
sie sich 2001 mit einem »Appell für die<br />
Pressefreiheit« gegen die Kündigung ihrer<br />
Konten bei der Postbank und opponiert<br />
2006 gegen ihren Ausschluss von<br />
der Leipziger Buchmesse. Heute hat die
wöchentlich erscheinende »Junge Freiheit«<br />
nach eigenen Angaben eine Auflage<br />
von 18.500 Exemplaren. Nach realistischen<br />
Einschätzungen liegt die<br />
Auflage aber sehr viel niedriger, nämlich<br />
bei 10.000 bis 12.000. 4<br />
<strong>Die</strong> Ideologie der »Jungen Freiheit«<br />
Als eines der bedeutendsten Blätter der<br />
intellektuellen »Neuen Rechten« bewegt<br />
sich die »Junge Freiheit« in »Grauzonen<br />
zwischen klar verfassungsfeindlichem<br />
Rechtsextremismus und im Sinne der<br />
freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung<br />
(FDGO) grenzwertigem Rechtsradikalismus«<br />
5 . So wird der Zeitung<br />
die Aufgabe der Vermittlerin zwischen<br />
einem demokratischen Konservativismus<br />
und einem anti-demokratischen<br />
Rechtsextremismus zuteil. Bei dieser<br />
Gegenüberstellung ist jedoch anzumerken,<br />
dass die Grenzen zwischen einem<br />
sich demokratisch gebenden Konservativismus<br />
und dem Rechtsextremismus<br />
durchaus fließend sind. 6<br />
<strong>Die</strong> »Junge Freiheit« sieht sich in der Tradition<br />
der so genannten Konservativen<br />
Revolution, die sich in den zwanziger<br />
Jahren des letzten Jahrhunderts aus der<br />
strikten Ablehnung der Weimarer Republik<br />
manifestierte. Aufgrund der Delegitimierung<br />
des Nation<strong>als</strong>ozialismus nach<br />
1945 wurde ein Rekurs auf die weniger<br />
NS-belastet scheinende »Konservative<br />
Revolution« nötig.<br />
So arbeitet die »Junge Freiheit« an der<br />
»Wiederbelebung der konservativ-revolutionären<br />
Ideen (…), denen (…) nicht<br />
das Stigma des Nation<strong>als</strong>ozialismus anhaftete«<br />
7 . Nichtsdestotrotz gelten die<br />
Vertreter/innen der »Konservativen Revolution«<br />
heute <strong>als</strong> »ideologische Wegbereiter<br />
des Nation<strong>als</strong>ozialismus« 8 . Hier<br />
wird deutlich, dass die Bezeichnung<br />
»Neue Rechte« zu kurz greift: »Einerseits<br />
distanziert sich auch die JF von<br />
der Alten Rechten, sofern diese einer<br />
Rehabilitation des Hitlerfaschismus huldigt,<br />
andererseits begibt die sich jung<br />
und modern gebende Wochenzeitung<br />
für Politik und Kultur, mit ihrem Rekurs<br />
auf die so genannte ›Konservative Revolution‹,<br />
eine heterogene ideologische<br />
Strömung der Weimarer Republik von<br />
rechtsintellektuellen, präfaschistischen<br />
Zirkeln und Denkern, in eine 200 Jahre<br />
alte völkisch-nationalistische Tradition.<br />
In diesem Sinne ist die JF eher ein Projekt<br />
einer ›jungen Alten Rechten‹«. 9<br />
<strong>Die</strong> Vertreter/innen der »Konservativen<br />
Revolution« unterteilen sich in zwei Flügel:<br />
Dabei beruft sich der in der »Jungen<br />
Freiheit« hegemoniale jungkonservative<br />
Flügel unter anderem auf die Theoretiker<br />
Arthur Moeller van den Bruck und<br />
Edgar Julius Jung. Jung forderte eine hierarchische<br />
Gesellschaft mit einem Führer<br />
statt demokratischer Wahlen. Liberalismus<br />
und Menschenrechte lehnte er<br />
ab, da diese angeblich »zum Kampfe aller<br />
gegen alle, zum Zerfall des Ganzen« 10<br />
führen würden. Als weniger anschlussfähig<br />
ins bürgerliche Lager gilt die nationalrevolutionäre<br />
Strömung der »Konservativen<br />
Revolution«. Begründet unter<br />
anderem durch das Grundsatzpapier<br />
der »Aktion Neue Rechte« (ANR), von<br />
Henning Eichberg 1972 verfasst, verbindet<br />
der nationalrevolutionäre Flügel<br />
antiegalitäre mit sozialistisch-revolutionären<br />
Ideen. Heute beruft sich die »Nationaldemokratische<br />
Partei Deutschlands«<br />
(NPD) auf diese Strömung. Durch<br />
das Aufgreifen der »Sozialen Frage« sowie<br />
originär von links besetzter Themen<br />
verfolgt besonders dieser nationalrevolutionäre<br />
Flügel eine »Querfront‘-Strategie«<br />
11 und versucht somit eine intellektuelle<br />
»nationale <strong>Linke</strong>« zu etablieren.<br />
So konnte die »Junge Freiheit« mehrfach<br />
Personen <strong>als</strong> Interviewpartner/innen<br />
oder Autor/innen für sich gewinnen, die<br />
sich eigentlich <strong>als</strong> links verstehen oder<br />
aus der <strong>Linke</strong>n kommen. Eines der bekanntesten<br />
Beispiele hierfür ist der Politiker<br />
der Grünen und ehemalige Anführer<br />
der Studentenrevolte in Paris 1968,<br />
Daniel Cohn-Bendit.<br />
<strong>Die</strong> »Neue Rechte« fordert die Abkehr<br />
von Postmaterialismus, Liberalismus,<br />
Parlamentarismus und demokratischem<br />
Pluralismus. Stattdessen wird eine völkisch<br />
homogene Nation mit einem<br />
starken Staat propagiert. So habe jedes<br />
Volk Anspruch auf ein eigenes Territorium.<br />
Gleichzeitig sei Expansion, <strong>als</strong>o<br />
die Eroberung fremder Gebiete durch<br />
Kriege, völlig natürlich. Eine Naturalisierung<br />
des Volkes findet auch durch die<br />
Einführung des Begriffes »Volkskörper«<br />
statt. In der »Jungen Freiheit« vertreten<br />
einzelne Autor/innen ebenso einen Bio-<br />
Regionalismus, mit dem völkische Ideologeme<br />
in ökologische Diskurse aus der<br />
Alternativ-Bewegung und esoterischen<br />
Kreisen eingebettet werden sollen.<br />
Eines der wichtigsten rechtsextremen<br />
Ideologieelemente, das in der »Jungen<br />
Freiheit« Publizität findet, ist der Rassismus.<br />
<strong>Die</strong> Autor/innen der ‚Jungen<br />
Freiheit‘ bevorzugen das völkische Abstammungsrecht<br />
»ius sanguinis« (lat.:<br />
Recht des Blutes) und lehnen die Idee<br />
der »multikulturellen Gesellschaft« <strong>als</strong><br />
widernatürlich ab. Einen offen biologistisch<br />
argumentierenden Rassismus<br />
wird man in der »Jungen Freiheit« dennoch<br />
nur selten finden. So tarnt er sich<br />
gelegentlich <strong>als</strong> Wohlstandschauvinismus,<br />
der Glauben macht, es drohe eine<br />
»Einwanderungsflut« aus den Ländern<br />
der so genannten »Dritten Welt«, die den<br />
eigenen Reichtum gefährde. Statt eines<br />
biologisierenden Rassismus favorisiert<br />
die »Junge Freiheit« eine kulturalisierende<br />
Variante, die sich nicht mehr auf angebliche<br />
»Rassen« beruft, sondern die<br />
Kultur <strong>als</strong> das Ethnien trennende Element<br />
benennt.<br />
Einer der bedeutendsten Theoretiker<br />
dieses Ethnopluralismus ist der französische<br />
Rechtsextremist Alain de Benoist,<br />
der selbst regelmäßiger Autor der<br />
»Jungen Freiheit« ist. De Benoist geht<br />
zwar durchaus davon aus, dass es »Rassen«<br />
gebe, spricht ihnen aber das hierachisierende<br />
Element ab. Vielmehr beruft<br />
er sich auf die »natürliche Differenz der<br />
Identitäten« 12 . Anders <strong>als</strong> viele Vertreter/innen<br />
der »Neuen Rechten« erkennt<br />
de Benoist die Realität »multikultureller<br />
Gesellschaften« an, fordert jedoch die<br />
strikte Trennung der Kulturen und Identitäten<br />
und strebt somit ein segregierendes<br />
Apartheidsmodell an. Ein anderer<br />
»Junge Freiheit‘«-Autor erklärt: »Weit<br />
entfernt davon, tolerant zu sein, ist die<br />
Forderung einer multikulturellen Gesellschaft<br />
vielmehr eine Herabwürdigung<br />
des Menschen <strong>als</strong> Ideenträger, denn die<br />
Kultur ist kein Gemischtwarenladen.« 13<br />
Ein ungebrochen positiver Bezug auf die<br />
deutsche Geschichte ist aufgrund der<br />
Verbrechen des Nation<strong>als</strong>ozialismus unmöglich<br />
und so gilt: »Wer, wie die JF, von<br />
einem starken (totalen) Staat, der neuen<br />
Volksgemeinschaft, einer expansiven<br />
Außenpolitik, einer schlagkräftigen Armee<br />
und einer glorreichen Vergangenheit<br />
träumt, wer gleichzeitig Liberalismus, Pazifismus<br />
und multikulturelle Gesellschaft<br />
verdammt, der wird zwangsläufig von<br />
der jüngeren deutschen Geschichte eingeholt.«<br />
14 So ist der ‚Neuen Rechten‘<br />
ein Geschichtsrevisionismus immanent,<br />
der in der Relativierung und Negierung<br />
der nation<strong>als</strong>ozialistischen Verbrechen<br />
bis hin zur Holocaust-Leugnung mündet.<br />
<strong>Die</strong> Kriegsschuld des NS-Regimes<br />
wird in Frage gestellt. Folglich wird die<br />
Niederlage des NS-Regimes auch nicht<br />
<strong>als</strong> Befreiung, sondern <strong>als</strong> »Untergang«<br />
gesehen. Logischer Schluss dieses .Geschichtsbildes<br />
und des völkischen Nationalismus<br />
ist die revanchistische Forderung<br />
nach Rückgabe der ehemaligen<br />
deutschen Gebiete. Gerade hier bieten<br />
sich Anknüpfungspunkte zwischen<br />
rechtsextremem und konservativem Lager<br />
und so äußern sich auch Vertreter/<br />
innen der beiden christdemokratischen<br />
Parteien zu der Thematik in der »Jungen<br />
Freiheit«.<br />
Mit der Rückforderung ehem<strong>als</strong> deutscher<br />
Territorien geht ein Bild von einem<br />
23
Deutschland <strong>als</strong> Zentrum Mitteleuropas<br />
einher, mit dem man sich vom Westen<br />
abgrenzen will. Man strebt eine eigenständige<br />
Außenpolitik unabhängig von<br />
NATO und »Europäischer Union‘« an<br />
und wünscht sich letztlich eine völlige<br />
Neuordnung Europas. Es solle ein »pangermanisches<br />
Reich« entstehen, das<br />
sich über ganz Mitteleuropa erstreckt.<br />
So erfüllen die revanchistischen Bestrebungen<br />
in der Hauptsache den Zweck,<br />
die Staaten, über deren Gebiete man Ansprüche<br />
erhebt, beispielsweise Tschechien<br />
und Polen, zu destabilisieren.<br />
Jahrelang wurde die »Neue Rechte« und<br />
damit auch ihr wichtigstes Mitteilungsorgan<br />
»Junge Freiheit« von Politik, Medien<br />
und der demokratisch orientierten<br />
Zivilgesellschaft ignoriert beziehungsweise<br />
unterschätzt. Der »Jungen Freiheit«<br />
wurden intellektuelle Fähigkeiten<br />
abgesprochen. Man zweifelte ihre Anschlussfähigkeit<br />
an die »Mitte der Gesellschaft«<br />
an. Dabei gelingt es dem<br />
Blatt trotz oft eindeutig rechtsextremer<br />
Inhalte beispielsweise »durch Interviews<br />
mit Prominenten Reputierlichkeiten herzustellen<br />
und damit auch von Christdemokraten<br />
akzeptiert zu werden« 15 . So<br />
konnte die neurechte Wochenzeitung<br />
mehrfach Personen für Interviews gewinnen,<br />
die eine Nähe zu Rechtsextremismus<br />
oder der »Neuen Rechten« weit<br />
von sich weisen würden. Während <strong>als</strong>o<br />
andere Publikationen wie »Nation & Europa«<br />
oder »Criticón« vornehmlich innerhalb<br />
der »Neuen Rechten« wirken und<br />
ihr ein theoretisches Fundament bieten,<br />
versucht die »Junge Freiheit« Breitenwirkung<br />
weit über den Kreis dieser »Neuen<br />
Rechten« hinaus zu erlangen und auch<br />
das christlich-konservative sowie nationalliberale<br />
Umfeld zu erreichen.<br />
Protagonist/innen und<br />
Leser/innen der »Jungen Freiheit«<br />
In der rechtsextremen Publizistik schart<br />
sich ein Autor/innenstamm, der verhältnismäßig<br />
wenig fluktuiert. Trotz einer<br />
ansehnlichen Anzahl von Zeitschriften<br />
finden sich immer die selben Namen<br />
wieder. »Ultrarechte Publizisten nutzen<br />
die ›Zentralorgane‹ gern, um ihre eigene<br />
Bekanntnheit und damit auch ihren<br />
Einfluss zu erhöhen.« 16 Nicht so in der<br />
»Jungen Freiheit«: Zum Einen versucht<br />
die Zeitung, »ein eigenes Redaktionsteam<br />
aus noch unbekannten, in der Regel<br />
sehr jungen Mitarbeitern aufzubauen«<br />
17 Zum Anderen wird eine allzu große<br />
Nähe zu »vorbelasteten« Autor/innen<br />
vermieden.<br />
In der »Jungen Freiheit« finden sich<br />
kaum weibliche Redakteure. <strong>Die</strong> meisten<br />
der Redakteur/innen sind jung<br />
24<br />
und in den 60er Jahren des vorangegangenen<br />
Jahrhunderts geboren. Einige<br />
Redakteur/innen sind beziehungsweise<br />
waren Mitglieder in rechtsextremen<br />
Parteien wie zum Beispiel der derzeit<br />
in der Bedeutungslosigkeit versinkenden<br />
Partei »<strong>Die</strong> Republikaner« (REP).<br />
Andere lassen sich im rechten Flügel<br />
der »Christlich-Demokratischen Union<br />
Deutschlands« (CDU) verorten. Ein nicht<br />
geringer Teil der männlichen Redakteure<br />
war früher in einer Studentenverbindung<br />
aktiv. Besonderes Augenmerk gilt<br />
hier den oft rechtsextremen Burschenschaften<br />
des Dachverbandes »Deutsche<br />
Burschenschaft« (DB). Einige Redaktionsmitglieder<br />
wiederum fühlen sich<br />
den Vertriebenenverbänden verbunden<br />
oder sind dem nationalrevolutionären<br />
Spektrum zuzuordnen. Michael Paulwitz,<br />
seit einigen Jahren regelmäßiger<br />
Autor der «Jungen Freiheit«, gehörte in<br />
der Vergangenheit dem rechtsextremen<br />
»Witikobund« an und war Mitglied in der<br />
Burschenschaft »Danubia« in München.<br />
Es ist davon auszugehen, dass die Leser/innenschaft<br />
<strong>als</strong> ebenso heterogen<br />
eingeschätzt werden kann. Nach Felix<br />
Krebs liegt das Durchschnittsalter der<br />
Leser/innenschaft der »Jungen Freiheit«<br />
bei 33 Jahren.<br />
»Der durchschnittliche JF-Leser ist jung,<br />
männlich, verheiratet und studiert.« 18<br />
Essentieller Bestandteil der Strukturen<br />
der »Jungen Freiheit« sind die JF-Leserkreise,<br />
die in mehr oder weniger regelmäßigen<br />
Abständen Diskussionsabende<br />
mit bekannten Rechtsextremen abhalten.<br />
Aufgrund der teilweise allzu offensichtlichen<br />
Nähe dieser Leserkreise<br />
zum Rechtsextremismus musste sich<br />
die »Junge Freiheit« vor kurzem von diesen<br />
distanzieren.<br />
Männlichkeit(en) in der Forschung<br />
Hegemoniale Männlichkeit<br />
Nach Raewyn Connell, einer transsexuellen<br />
australischen Soziologin, die zuvor<br />
Robert W. Connell hieß, existieren in<br />
menschlichen Gesellschaften verschiedene<br />
Formen von Männlichkeit. Es gäbe<br />
keine »männliche Uniformität« 19 , wie<br />
Michael Meuser im Rückgriff auf Connell<br />
feststellt. Vielmehr kann von »einer<br />
Hierarchie von Autoritäten innerhalb<br />
der dominanten Genusgruppe« 20<br />
ausgegangen werden. Erneut Meuser:<br />
»<strong>Die</strong> homosoziale Männergemeinschaft<br />
agiert gleichsam <strong>als</strong> Konstruktion<br />
der hierarchisch strukturierten<br />
Geschlechterdifferenz und produziert<br />
im gleichen Zuge Hierarchien der Männer<br />
untereinander.« 21 Einer so genannten<br />
hegemonialen Männlichkeit werden<br />
untergeordnete – <strong>als</strong>o homosexuelle –,<br />
marginalisierte – beispielsweise migrantische<br />
oder »schwarze« – sowie komplizenhafte<br />
Männlichkeiten gegenübergestellt.<br />
So konstituiert sich hegemoniale<br />
Männlichkeit nicht nur in Relation zu<br />
Frauen, sondern gleichermaßen im Verhältnis<br />
zu anderen Formen von Männlichkeit:<br />
»Hegemonic Masculinity is always<br />
constructed in relation to various<br />
subordinated masculinities as well as in<br />
relation to women.«. 22<br />
Dabei wird das Konzept der hegemonialen<br />
Männlichkeit nicht <strong>als</strong> individuelle<br />
Eigenschaft, sondern <strong>als</strong> Resultat sozialen<br />
Handelns, des »Doing Masculinity«,<br />
verstanden. <strong>Die</strong> hegemoniale Männlichkeit<br />
dient der Aufrechterhaltung der<br />
gegebenen Geschlechterordnung sowie<br />
der Reproduktion der Machtrelationen.<br />
»Hegemoniale Praxis wird durch die soziale<br />
Praxis der gesellschaftlichen Elite<br />
bzw. gesellschaftlicher Eliten definiert,<br />
<strong>als</strong>o durch die Praxis einer zahlenmäßigen<br />
Minderheit der Bevölkerung(…).« 23<br />
Hierbei wird der Hegemonie-Begriff des<br />
italienischen Marxisten Antonio Gramsci<br />
angewandt: Demnach sei Hegemonie<br />
die Fähigkeit, eigene Interessen <strong>als</strong> gesellschaftliche<br />
Allgemeininteressen zu<br />
definieren und umzusetzen. Ohne politische<br />
und kulturelle Macht sowie ökonomische<br />
Teilhabe, erlangt man auch keine<br />
Hegemonie: »Hegemoniale Männlichkeit<br />
ist an gesellschaftliche Macht und Herrschaft<br />
gebunden.« 24 Zwar kann die hegemoniale<br />
Männlichkeit nur von wenigen<br />
verkörpert werden; trotzdem hat sie<br />
normativen Charakter und findet so etliche<br />
Unterstützer. <strong>Die</strong> komplizenhafte<br />
Männlichkeit strebt so nach einer Teilhabe<br />
an der hegemonialen Männlichkeit.<br />
Auch »die ernsten Spiele des Wettbewerbs«<br />
25 , die Männer untereinander austragen,<br />
dienen keineswegs der Trennung<br />
der Männer, sondern vielmehr der Vergemeinschaftung:<br />
»Wettbewerb und Solidarität<br />
gehören untrennbar zusammen.« 26<br />
<strong>Die</strong> Kategorien Ethnizität und Männlichkeit<br />
sind vielfältig verschränkt, zum Beispiel<br />
im Verhältnis zwischen marginalisierter<br />
und hegemonialer Männlichkeit.<br />
Obwohl marginalisierte Männlichkeiten<br />
in ihrem Habitus nach Hegemonie streben,<br />
werden sie den »Standards der Perfomanz<br />
hegemonialer Männlichkeit« 27<br />
der so genannten Mehrheitsgesellschaft<br />
nicht gerecht. Das »generative Prinzip«<br />
ist beiden jedoch gleich. 28 So kann<br />
ein Mann gleichzeitig innerhalb der eigenen<br />
Statusgruppe – zum Beispiel<br />
die türkischsprachige »Community« in<br />
Deutschland – die hegemoniale Männlichkeit<br />
verkörpern, während außerhalb<br />
dieser Gruppe eine subordinierte Position<br />
einnimmt.
Connell geht davon aus, dass hegemoniale<br />
Männlichkeit nicht statisch, sondern<br />
veränderbar sei, da sie sich durch soziales<br />
Handeln manifestiert. Von einer<br />
»Pluralisierung hegemonialer Männlichkeiten«<br />
29 in modernen Gesellschaften<br />
spricht gar Meuser. Trotzdem gebe es<br />
keine beliebige Anzahl solcher hegemonialen<br />
Männlichkeiten und nicht jede soziale<br />
Gruppe bildet eine entsprechende<br />
Männlichkeit aus.<br />
Mithilfe des Konzepts der hegemonialen<br />
Männlichkeit von Connell kann gezeigt<br />
werden, dass die »Neue Rechte« einer<br />
hegemonialen Männlichkeit zugerechnet<br />
werden muss beziehungsweise nach<br />
einer solchen strebt.<br />
»Krise der Männlichkeit«<br />
<strong>Die</strong> »Neue Rechte« bemängelt, Männlichkeit<br />
sei in der postmodernen Demokratie<br />
von Dekadenz und Überfluss<br />
bedroht. Egoismus und Drang zu<br />
Selbstverwirklichung würden zu Geschichtsvergessenheit<br />
führen und jegliches<br />
nationale Zusammengehörigkeitsgefühl<br />
zerstören: »Selbstverwirklichung<br />
<strong>als</strong> Chiffre für Konsum, Spaß und Geschichtsvergessenheit<br />
wird darin zum<br />
antinationalen Prinzip.« 30 Soldatische<br />
Tugenden wie Selbstbeherrschung, Disziplin,<br />
Kontrolle und Härte seien durch<br />
Pflichtvergessenheit und Nachgiebigkeit<br />
bedroht. Es scheint, <strong>als</strong> befände sich<br />
Männlichkeit in der »Neuen Rechten« in<br />
einer permanenten Krise.<br />
<strong>Die</strong> plakative Umschreibung »Krise der<br />
Männlichkeit« trifft Connell zufolge gar<br />
nicht zu, schließlich ist Männlichkeit<br />
kein System, sondern eine Konfiguration,<br />
die durch soziale Praxis hergestellt<br />
wird. Männlichkeit wird jedoch stetig<br />
erschüttert und transformiert. Statt von<br />
einer »Krise der Männlichkeit« kann von<br />
einer Krise der modernen Geschlechterordnung<br />
geredet werden. »Eine solche<br />
Krisentendenz wird immer auch Auswirkungen<br />
auf die Männlichkeiten haben.«<br />
31<br />
<strong>Die</strong> Geschlechterordnung konstituiert<br />
sich auf verschiedenen strukturellen<br />
Ebenen, die untersucht werden müssen,<br />
will man die Krisenanfälligkeit näher<br />
beleuchten: Auf der Ebene der<br />
Machtbeziehungen entstehen »Konflikte<br />
um Legitmationsstrategien« 32 zwischen<br />
Männern, infolge des Zusammenbruchs<br />
der »Legitimation der patriarchalischen<br />
Macht« 33 . Auch die Produktionsbeziehungen<br />
sind bis heute patriarchalisch<br />
organisiert. Connell spricht an anderer<br />
Stelle auch von der »Logik des vergeschlechtlichtenAkkumulationsprozesses<br />
im industriellen Kapitalismus« 34 .<br />
Als »Alternaive innerhalb des heterose-<br />
xuellen Systems« 35 etabliert sich zunehmend<br />
Homosexualität auf der Ebene der<br />
emotionalen Bindungsstrukturen:<br />
»<strong>Die</strong> enorme Zunahme tatsächlicher<br />
Macht von Männern in den Industrienationen<br />
brachte(…)auch eine zunehmende<br />
Krisenanfälligkeit der Geschlechterordnung<br />
mit sich.« 36 <strong>Die</strong> Krisenanfälligkeit<br />
des Geschlechterarrangements findet<br />
inzwischen bei mehr und mehr Männern<br />
in den westlichen Industrienationen<br />
Aufmerksamkeit, so Connell. Viele<br />
Männer hätten »das offensichtlich weit<br />
verbreitete Gefühl unkontrollierter Veränderungen<br />
und Erschütterungen des<br />
Geschlechterverhältnisses« 37 Eine stabile<br />
legitimierte Männlichkeit wird nicht<br />
oder nur implizit benannt. Sobald sich<br />
die Geschlechterordnung aber in der<br />
Krise befindet, findet eine Thematisierung<br />
von Männlichkeit(en) statt. Bisher<br />
allerdings bildeten Männer keine Interessengemeinschaft,<br />
um bestimmte<br />
Ziele durchzusetzen, so Connell, der<br />
gleichzeitig konstatiert: »Aber soweit diese<br />
Männer ein gemeinsames Interesse<br />
teilen, <strong>als</strong> Folge der ungerechten Verteilung<br />
der Ressourcen in der Welt, aber<br />
auch innerhalb der wohlhabenden Nationen,<br />
werden sie sich utopischen Veränderungen<br />
widersetzen und den Status<br />
Quo verteidigen.« 38<br />
Dass sich die Geschlechterordnung wandelt,<br />
hat man auch in der neurechten<br />
»Jungen Freiheit‘« festgestellt: »<strong>Die</strong> Rolle<br />
des Mannes in der westlichen Welt<br />
verändert sich rapide, und Eingeweihte<br />
Fragen sich: Hat das weibliche Zeitalter<br />
nicht schon längst begonnen?« 39 Hier<br />
beklagt man die zunehmende Unterdrückung<br />
von Männern durch Frauen und<br />
führt Beispiele an, in denen Männer Opfer<br />
häuslicher Gewalt werden. Trotzdem<br />
gäbe es in der Bundesrepublik keine Einrichtungen,<br />
in denen solche Männer Hilfe<br />
suchen könnten. Als positives Gegenbeispiel<br />
wird die von der zwischen 2000<br />
und 2002 regierenden »Freiheitlichen<br />
Partei Österreichs« (FPÖ) eingeführte<br />
und im »Ministerium für soziale Sicherheit«<br />
angesiedelte »Männerpolitische<br />
Grundsatzabteilung« angeführt. 40 . Auch<br />
in Bildung und Arbeitsleben seien Jungen<br />
und Männer zunehmend benachteiligt,<br />
so die »Junge Freiheit«: Mädchen<br />
und Frauen hätten oft die besseren Abschlüsse<br />
und Frauen würden in »männliche«<br />
Berufe drängen, während Männer<br />
in ursprünglich »weibliche« Sparten verdrängt<br />
würden. Nicht zuletzt könnten<br />
Männer die in sie gestellten und angeblich<br />
überzogenen Erwartungen nicht<br />
mehr erfüllen: Der Mann solle ein umsorgender<br />
Vater sein, der gleichzeitig<br />
viel verdiene. So schlussfolgert man in<br />
der neurechten Wochenzeitung, dass<br />
der Mann ein »Auslaufmodell der Evolution«<br />
41 sei.<br />
<strong>Die</strong> ‚Neue Rechte‘ und die<br />
Konstruktion von Männlichkeit(en)<br />
Der Mann <strong>als</strong> Soldat und »Held«<br />
In der Darstellung des Mannes <strong>als</strong> soldatischer<br />
Held tritt die dichotome Einteilung<br />
der Geschlechter und die geschlechtsspezifische<br />
Zuschreibung<br />
bestimmter Charaktereigenschaften<br />
besonders zu Tage. »Dem Mann kommt<br />
die kriegerisch und wehrhaft definierte<br />
Staatsmoral zu, der Frau die schützende<br />
und sorgende Familienmoral« 42 ,<br />
schreibt Gabriele Kämper in ihrer kritischen<br />
Analyse des neurechten Sammelbands<br />
»<strong>Die</strong> selbstbewusste Nation«.<br />
Während das Weibliche nach »innen«,<br />
ins Private, gerichtet ist, kehrt sich das<br />
Männliche nach »außen«. Da sich diese<br />
Symbolik auch in den Geschlechtsorganen<br />
widerspiegele, scheint die Einteilung<br />
natürlich. Während dem Mann das<br />
Soldatische zuerkannt wird, gilt der Pazifismus<br />
<strong>als</strong> weiblich.<br />
<strong>Die</strong> Inszenierung von Männlichkeit <strong>als</strong><br />
soldatisch und heldenhaft ist der Ideologie<br />
des Rechtsextremismus im Algemeinen<br />
sowie der »Neuen Rechten« im Besonderen<br />
immanent und zeigt sich unter<br />
anderem in der Realität von Burschenschaften<br />
und ähnlichen Männerbünden:<br />
Das Soldatische steht im Vordergrund<br />
und wird neben unzähligen Ritualen, Initiationsriten<br />
und Duellierungen durch<br />
die Unifomierung dargestellt. Trotzdem<br />
kann von einer von anderen Männlichkeiten<br />
abgetrennten und devianten<br />
rechtsextremen Männlichkeit keine Rede<br />
sein. Seit Jahrhunderten sind Armeen<br />
Bestandteil von Männlichkeiten. Erst die<br />
»Maschine Truppe« 43 verleiht »dem einzelnen<br />
Soldaten einen neuen Körperzusammenhang«<br />
44 , mit dem Ganzheit,<br />
Geschlossenheit, Stärke und Exaktheit<br />
symbolisiert werden kann. In den USA<br />
oder Australien ist das Tragen von Waffen<br />
ein von der Verfassung verbrieftes<br />
Recht. <strong>Die</strong> Beschneidung dieses Rechts<br />
stellt einen Angriff auf die hegemoniale<br />
Männlichkeit dar. <strong>Die</strong> Figur des männlichen<br />
Helden ist aus Literatur und Film<br />
kaum wegzudenken: »<strong>Die</strong> Figur des Helden<br />
nimmt in der westlichen Bilderwelt<br />
der Männlichkeit eine zentrale Stellung<br />
ein.« 45<br />
So lassen sich am soldatischen Mann<br />
»die ernsten Spiele des Wettbewerbs« 46<br />
aufzeigen, in denen der männliche Habitus<br />
geformt wird.<br />
Der Mann und die Nation<br />
<strong>Die</strong> Verteidigung des Vaterlandes ge-<br />
25
hört untrennbar zu Männlichkeit(en) im<br />
Rechtsextremismus. So ist die Stärke<br />
von Männlichkeit(en) im Rechtsextremismus<br />
stets abhängig von der Stärke<br />
und Souveränität der Nation.<br />
Ähnlich wie das Volk im so genannten<br />
»Volkskörper« biologisiert wird, findet<br />
auch mit der Nation eine Naturalisierung<br />
und Vergeschlechtlichung statt. Begriffe<br />
wie Potenz und Kraft werden demzufolge<br />
regelmäßig in rechtsextremen Texten<br />
in Zusammenhang mit der Nation genannt.<br />
<strong>Die</strong> vermeintliche Bedrohung der<br />
Nation durch andere Nationen, durch<br />
Globalisierungseffekte, durch Einwanderung<br />
et cetera wird von rechtsextremen<br />
Männern <strong>als</strong> unmittelbare Gefährdung<br />
der »eigenen Männlichkeit sowie<br />
deren Dominanz wahrgenommen. Nur<br />
wenn er sich auf seine eigene »Rasse«,<br />
seine kulturellen Werte und Traditionen<br />
zurück besinne, sei der Mann und damit<br />
die Nation zu retten. Der Mann wird in<br />
einem »Kampf der Kulturen« – hier wird<br />
wiederum mit dem Begriff »Kampf«‚<br />
Rückgriff auf militärische Metaphorik<br />
genommen – zum Schlüssel bei der Bewahrung<br />
des »Abendlandes« vor dem<br />
Untergang. Tragende Säule sind hierbei<br />
insbesondere junge Männer, die <strong>als</strong><br />
»Söhne« des Vaterlandes, die Zukunft<br />
gestalten sollen: »Dass die jungen Männer<br />
die Zukunfts-Macher einer Nation<br />
sind, schlicht die Anzahl der Söhne etwas<br />
über die Dynamik eines Volkes aussagt,<br />
ist eine im kinderarmen Deutschland<br />
verdrängte Wahrheit.« 47 Letztlich<br />
bedarf es – wie bereits beschrieben –<br />
des männlichen Helden. Während die<br />
Söhne aktiv sind und Zukunft »machen«,<br />
spielen die Töchter keinerlei Rolle. Sie<br />
gelten <strong>als</strong> passiv und könnten trotz ihrer<br />
Funktion <strong>als</strong> Gebärerinnen weiterer<br />
Söhne die Zukunft nicht beeinflussen.<br />
Derartige, auf die Nation fixierte, Männlichkeiten<br />
speisen sich neben ihrem Nationalismus<br />
und Rassismus aus einem<br />
Antisemitismus, der das Judentum <strong>als</strong><br />
heimatlos ansieht und es somit efeminisiert.<br />
Der Mann und die Triebe<br />
Der völkische Mann widersteht der<br />
Triebhaftigkeit, wodurch er sich grundlegend<br />
von den »Anderen«, <strong>als</strong>o Frauen,<br />
Homosexuellen, »Ausländern«, »Schwarzen«,<br />
jüdischen Menschen und Kindern,<br />
unterscheide. Gerade der imaginierte<br />
»schwarze Mann« wird der Vergewaltigung<br />
an der »weißen Frau« bezichtigt.<br />
So bekommt die Thematisierung sexualisierter<br />
Gewalt im Rechtsextremismus<br />
stets eine ethnisierende Komponente.<br />
Dabei will »weiße« Männlichkeit beziehungsweise<br />
Männlichkeit im Rechtsex-<br />
26<br />
tremismus nur von der Täterperspektive<br />
ablenken und sich entschulden,<br />
denn: »Das Kokettieren mit dem Bösen<br />
<strong>als</strong> menschliches Potenzial gehört zu<br />
den grundlegenden Komponenten von<br />
Männlichkeitsentwürfen der Neuen intellektuellen<br />
Rechten, die darin eine anthropologische<br />
Fundierung männlicher<br />
Aggressivität sehen.« 48<br />
Das oder der »Andere« gilt <strong>als</strong> hypermaskulin,<br />
<strong>als</strong>o stark, und gleichzeitig <strong>als</strong><br />
triebhaft, <strong>als</strong>o schwach. <strong>Die</strong>ser Ambivalenz<br />
könne nur mit Hilfe eigener Potenz<br />
begegnet werden.<br />
Der Mann und die Elite<br />
Hegemoniale Männlichkeit ist zwar normativ,<br />
insofern viele Männer nach ihr<br />
streben. Gleichzeitig jedoch ist sie für<br />
die meisten Männer unerreichbar und<br />
wird immer einer elitären Minderheit<br />
vorbehalten bleiben. Auch neurechte<br />
Männer wollen sich von der Masse, die<br />
<strong>als</strong> ihr Gegenpol konstitutiver Bestandteil<br />
der Elite ist, abgrenzen. <strong>Die</strong> Masse<br />
sei undifferenziert und wankelmütig,<br />
dumpf, dumm und tot. Stetig ändere<br />
sie ihre Ansichten. Darauf könne keine<br />
Herrschaft fußen, schlussfolgert die<br />
»Neue Rechte« und lehnt die verhasste<br />
»Massendemokratie« ab. Im Wissen um<br />
die Wankelmütigkeit der Masse, hebt<br />
sich die neurechte Elite von eben jener<br />
ab und erlangt automatisch die Legitimität<br />
über die Herrschaft: »Legitimiert<br />
wird sie (gemeint: die Elite-Y.M.) durch<br />
das schmeichelhafte Bild männlicher<br />
Führung, die von der Masse nicht nur<br />
gebraucht, sondern auch gefordert, geradezu<br />
ersehnt wird.« 49 <strong>Die</strong> Masse sei<br />
hilflos ohne Führung und schwanke passiv<br />
umher: Sie ist weiblich konnotiert,<br />
was die Elite fast automatisch männlich<br />
»macht«. »Der Selbststilisierung <strong>als</strong> Elite<br />
im Zeichen individualisierter Männlichkeit<br />
korrespondiert das Konstrukt einer<br />
Masse, die <strong>als</strong> weiblicher Gegenpol zur<br />
Elite fungiert und kontinuierlich abgewertet<br />
wird.« 50 Frauen könnten demzufolge<br />
nie Teil der Elite sein.<br />
Um die Nation zu retten bedarf es (wieder)<br />
einer Elite – aber nicht irgendeiner:<br />
»Es braucht <strong>als</strong>o neue Eliten, die bereit<br />
sind zum rücksichtslosen Machen, die<br />
weder bürgerliche Harmonie noch linke<br />
Empfindlichkeit berücksichtigen und<br />
die auch keinen Wert darauf legen, dass<br />
es glimpflich abgeht. Unverhohlen wird<br />
hier ein martialischer Menschentyp verlangt,<br />
der…von männlicher Selbstbildlichkeit<br />
strotzt.« 51<br />
Solch rücksichtsloser, heldenhafter<br />
Männlichkeit wird auch in der »Jungen<br />
Freiheit« gehuldigt. Hier trauert man<br />
den osteuropäischen Politikern, die<br />
nach dem Fall des »Eisernen Vorhangs«<br />
wirkten, nach. <strong>Die</strong>se seien »Helden der<br />
ersten Stunde« 52 gewesen, »die so gar<br />
nicht in das übliche westliche Klischee<br />
vom ›Berufspolitiker‹ passen wollten« 53<br />
Den Politikern, die verehrt werden, weil<br />
sie sagen, was sie denken, Tabus brechen<br />
und, wie der ehemalige kroatische<br />
Staatschef Franjo Tuđmdan nationalistisch<br />
eingestellt sind 54 , nicht anpassungsfähig<br />
sind, dafür aber heroisch,<br />
und geschmäht werden, wird der westliche<br />
»Typ von Politikern« 55 gegenübergestellt.<br />
Bei diesem wiederum handele<br />
es sich um »stromlinienförmige, zumeist<br />
jüngere Herren (und Damen), die sehr<br />
schnell die politisch korrekten Vokabeln<br />
gelernt haben und die verstehen,<br />
dass man sich den großmächtigen Apparaturen<br />
anpassen (und unterwerfen)<br />
muss.« 56 <strong>Die</strong>ser Politiker-Typus ist unmännlich,<br />
wäre die logische Schlussfolgerung,<br />
zumal sich darunter auch<br />
Frauen befänden.<br />
<strong>Die</strong> in der »Neuen Rechten« favorisierte<br />
Elite muss sich keineswegs auf ihre soziale<br />
Herkunft berufen. Es wird vielmehr<br />
eine Bildungs- und Leistungselite propagiert,<br />
die aber ebenso eindeutig männlich<br />
besetzt ist. Denn dem Gedanken<br />
des Emporkömmlings geht ein Hauch<br />
von Abenteuer und Draufgängertum voraus,<br />
dem nur der bereits beschriebene<br />
heldenhafte Mann entsprechen kann.<br />
Männerbünde<br />
»Homosexualität meint zunächst die<br />
räumliche Separierung exklusiv-männlicher<br />
Sphären« 57 , so Meuser. Neben<br />
der räumlichen wird eine symbolische<br />
Dimension benannt, die die »Ausbildung<br />
moralischer Orientierung, politischer<br />
Einstellungen sowie von Wertsystemen<br />
primär im wechselseitigen Austausch<br />
der Geschlechtsgenossen untereinander«<br />
58 gewährleistet. Nach »außen«‚<br />
wird das Trennende gegenüber den<br />
Frauen akzentuiert, während nach »innen«<br />
das verbindende Element im Vordergrund<br />
steht. Beispiele für derartige<br />
homosoziale Männergemeinschaften<br />
sind das Militär, der katholische Klerus<br />
sowie Fußballmannschaften. Ihre<br />
Bedeutung ist eminent: »Homosexuelle<br />
Männergemeinschaften haben einen<br />
entscheidenden Anteil daran, dass sich<br />
trotz der Transformation der Geschlechterordnung<br />
und der wachsenden Kritik<br />
an männlichen Hegemonieansprüchen<br />
bislang keine generelle Krise des<br />
Mannes entwickelt hat.« 59<br />
Auch in der »Neuen Rechten« finden<br />
sich homosoziale Männergemeinschaften<br />
beziehungsweise Männerbünde:<br />
Neben den Burschenschaften, in
denen der Ausschluss von Frauen institutionalisiert<br />
ist, ließen sich unzählige<br />
weitere rechtsextreme Organisationen<br />
aufzählen, in denen der Frauenanteil<br />
marginal ist. Hier werden Frauen nicht<br />
durch ein Reglement, sondern durch<br />
symbolische Handlungen und Kodizes<br />
ausgeschlossen. Beispielsweise sind lediglich<br />
zwanzig Prozent der Mitglieder<br />
in rechtsextremen Parteien Frauen. 60<br />
Gerade Führungspositionen werden in<br />
rechtsextremen Organisationen zumeist<br />
von Männern besetzt.<br />
Kampf gegen »Political Correctness«<br />
Seit den 90er Jahren verwendet die extreme<br />
und konservative Rechte den Begriff<br />
»Political Correctness«, mit dem<br />
angebliche Denkverbote und Tabus beschrieben<br />
werden. Der Kampf gegen<br />
»Political Correctness« ist immanenter<br />
Teil der hegemonialen Männlichkeit in<br />
der »Neuen Rechten« und richtet sich damit<br />
stets auch gegen die Bestrebungen<br />
der Frauenbewegung(en). Hier müssten<br />
Tabus gebrochen werden, suggeriert die<br />
»Neue Rechte«: <strong>Die</strong>ses Sagen-Dürfen<br />
betrifft zu weiten Teilen die männliche<br />
Rede über Frauen.« 61 <strong>Die</strong> »Neue Rechte«<br />
möchte die Definitionsmacht behalten<br />
und sich nicht von denen, über die man<br />
diese Definitionsmacht ausübt, gemaßregelt<br />
werden: Sie (die Polemik gegen<br />
»Political Correctness«-Y.M.) motiviert<br />
jedoch männliche Subjekt- und Freiheitsvorstellungen<br />
sowie den erklärten<br />
Unwillen, Beschränkungen sprachlicher<br />
oder humoresker Manifestationen von<br />
Macht durch deren potenzielle Objekte<br />
hinzunehmen.« 62<br />
<strong>Die</strong> »Junge Freiheit«<br />
im Geschlechter-Diskurs<br />
Kritische Diskursanalyse<br />
Mit der Diskursanalyse werden nicht<br />
einzelne Texte untersucht. Vielmehr sollen<br />
Diskurse <strong>als</strong> »Flüsse von Wissensvorräten<br />
durch die Zeit« 63 rekonstruiert<br />
werden. Nach Siegfried Jäger geben Diskursw<br />
nicht einfach die Wirklichkeit wieder,<br />
sondern konstruieren sie wesentlich<br />
mit. rekonstruiert werden. Nach<br />
Siegfried Jäger geben Diskurse nicht<br />
einfach die Wirklichkeit wieder, sondern<br />
konstruieren sie wesentlich mit.<br />
Einzelne Texte – in diesem Fall die Artikel<br />
der »Jungen Freiheit« – gelten <strong>als</strong><br />
Diskursfragmente, während mehrere<br />
Texte zu einem Thema – hier Männlichkeit<br />
– <strong>als</strong> Diskursstrang bezeichnet<br />
werden. Wirken mehrere Diskusstränge<br />
aufeinander ein, liegt eine Diskursverschränkung<br />
vor. »Als diskursive Ereignisse<br />
werden solche Begebenheiten<br />
bezeichnet, die Richtung und Quali-<br />
tät des Diskursstrangs, (…), durch eine<br />
breite mediale Rezeption erheblich beeinflussen.«<br />
64 <strong>Die</strong> Diskussion um Eva<br />
Hermanns relativierende Äußerungen<br />
unter anderem zur Rolle der Frau im Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
kann <strong>als</strong> ein solches<br />
diskursives Ereignis bezeichnet werden.<br />
Von welchem sozialen Ort aus gesprochen<br />
wird, erklärt die Diskursebene. Im<br />
Falle der ‚Jungen Freiheit‘ können die<br />
Medien <strong>als</strong> Diskursebene benannt werden.<br />
Durch die Einbettung der Zeitung in<br />
die ‚Neue Rechte‘ sind hier ebenso Politik<br />
und Wissenschaft zu nennen. Durch<br />
die Diskursposition kann der inhaltliche<br />
Standpunkt des Akteurs verifiziert werden.<br />
Zeitungsanalyse: Vorüberlegungen<br />
und Herangehensweise<br />
Unter www.jf-archiv.de findet sich das<br />
ab dem Jahrgang 1997 gespeiste Online-Archiv<br />
der »Jungen Freiheit«. Über<br />
die Suchmaschine wurden verschiedene<br />
Begriffe eingegeben, mit denen<br />
sich Artikel, die für die Männlichkeitsdiskurse<br />
in der »Jungen Freiheit«<br />
relevant erscheinen, finden ließen.<br />
<strong>Die</strong>se Begriffe sind »Feminismus«, »Gender<br />
Mainstreaming«, »Geschlecht«,<br />
»schwul«(»Homosexualität« war nicht ergiebig),<br />
»Sexualität« und »Männer«. Der<br />
Begriff »Männlichkeit« hingegen erwies<br />
sich <strong>als</strong> wenig ergiebig, da Männlichkeit<br />
in der Regel nur implizit verhandelt<br />
wird. Einige der gefundenen Texte wurden<br />
ausgewählt und im folgenden analysiert.<br />
<strong>Die</strong> Auswahl ganz bestimmter<br />
Begriffe und Texte birgt die Gefahr der<br />
Vorstrukturierung der Ergebnisse. Allerdings<br />
erlaubt der gegebene Rahmen<br />
dieser Arbeit keine repräsentative Untersuchung<br />
des Männlichkeitsdiskurses<br />
in der »Jungen Freiheit«. Es werden allerdings<br />
Anhaltspunkte für eine tief greifende<br />
Analyse geboten.<br />
Mithilfe der Analyse einiger Artikel soll<br />
gezeigt werden, dass die »Junge Freiheit«<br />
sowohl das Konstrukt der hegemonialen<br />
Männlichkeit anstrebt <strong>als</strong><br />
auch ein damit verknüpftes rechtsextremes<br />
beziehungsweise neurechtes<br />
Weltbild verfolgt. Dabei stehen kollektive<br />
Akteure und nicht einzelne Autor/<br />
innen der »Jungen Freiheit« im Interesse<br />
der Untersuchung, da »Männlichkeit (…)<br />
<strong>als</strong> sozial verfasst und nicht etwa <strong>als</strong> individuell<br />
ausgeprägt verstanden wird.« 65<br />
<strong>Die</strong> »Junge Freiheit«<br />
gegen den Feminismus<br />
Der Feminismus, oder was die »Neue<br />
Rechte« darunter versteht, wird rundweg<br />
abgelehnt. Er rufe zum »Krieg zwischen<br />
den Geschlechtern« 66 auf und ver-<br />
gifte <strong>als</strong> »Geschlechterklassenkampf« 67<br />
»die Beziehungen zwischen Mann und<br />
Frau« 68 »die Beziehungen zwischen<br />
Mann und Frau« 69 . Er wird <strong>als</strong> totalitäre<br />
Ideologie dargestellt, die den demokratischen<br />
Staat gefährde, und gleichzeitig<br />
<strong>als</strong> »weiblich« verharmlost. Zudem wird<br />
er stets mit linken Ansichten in Verbindung<br />
gebracht. So wolle der Feminismus<br />
– ähnlich wie der Marxismus – den<br />
»neuen Menschen« erschaffen. Angeblich<br />
würde der Feminismus Männer und<br />
Heterosexualität grundsätzlich in Frage<br />
stellen. Zum Beweis werden lesbische<br />
oder radikale Feministinnen wie Simone<br />
de Beauvoir angeführt.<br />
Profeministische Männer gelten der<br />
»Jungen Freiheit« <strong>als</strong> Speerspitze des<br />
Feminismus, weil ihnen <strong>als</strong> Männer<br />
mehr zugetraut wird. Zugleich aber würdigt<br />
man sie aufgrund ihrer profeministischen<br />
Einstellung in ihrem Mann-<br />
Sein herab. »Wie einstm<strong>als</strong> bürgerliche<br />
Intellektuelle maßgeblich und führend<br />
in der ›Arbeiterbewegung‹ wirkten, so<br />
sind auch heute Männer oftm<strong>als</strong> die radik<strong>als</strong>ten<br />
FeministInnen.(…)so ist heute<br />
die besonders radikale Parteinahme<br />
für ›die Frauen‹ ein Mittel, um das Manko<br />
auszugleichen, mit dem f<strong>als</strong>chen Geschlecht<br />
zur Welt gekommen zu sein« 70 ,<br />
so Rainer Zitelmann in »<strong>Die</strong> Selbstbewusste<br />
Nation«.<br />
Doch auch hier wird deutlich, dass die<br />
Angst vor dem Feminismus keine Exklusivität<br />
neurechter Männlichkeit ist.<br />
Nach Connell »erleben westliche Mittelschichtsmänner<br />
den Feminismus <strong>als</strong><br />
eine Anklage« 71 und fühlen sich »zu Unrecht<br />
vom Feminismus angeklagt« 72 .<br />
<strong>Die</strong> »Junge Freiheit«<br />
gegen die »Sexuelle Revolution«<br />
<strong>Die</strong> »Junge Freiheit« sieht seit der »Sexuellen<br />
Revolution« einen Bruch der Gesellschaft<br />
im Umgang mit Sexualität.<br />
Verantwortlich für diese »Sexuelle Revolution«<br />
seien die »68er«, worunter die<br />
»Junge Freiheit« sämtliche soziale Bewegungen<br />
der 60er und 70er Jahre subsumiert.<br />
<strong>Die</strong>ser Personenzusammenhang<br />
»psychisch und moralisch gescheiterter<br />
Existenzen« 73 sei verantwortlich dafür,<br />
dass Mädchen und Jungen immer früher<br />
Geschlechtsverkehr hätten. Sex würde<br />
mehr und mehr zur »Triebbefriedigung<br />
und gleichsam Leistungssport« 74 .<br />
Auch würden Sex und Gewalt heutzutage<br />
mehr und mehr verquickt. Laut ‚«Junger<br />
Freiheit« gäbe es eine »Spirale der<br />
Gewaltverherrlichung« 75. So seien die<br />
»68er« letztlich auch für die steigende<br />
Zahl der Vergewaltigungen verantwortlich<br />
zu machen. Indirekt treffe sie auch<br />
die Verantwortung für die gestiegene<br />
27
Zahl der Fälle von Kindesmissbrauch:<br />
»<strong>Die</strong> 68er trifft an der Verharmlosung<br />
des Kindesmissbrauchs im übrigen ein<br />
gerütteltes Maß an Mitschuld.« 76<br />
Nicht zuletzt sei der Mann durch Viagra<br />
nicht mehr natürlich, sondern künstlich.<br />
Letztlich ist er »entmännlicht«: »Der<br />
Mann gerät dabei zur Kunstfigur: chemisch<br />
präpariert und artifiziell aufgepumpt<br />
vollzieht er im Schlafzimmer seinen<br />
<strong>Die</strong>nst.« 77<br />
Vor allem aber bedrohe die »Sexuelle Revolution«<br />
die bürgerliche Familie. Dabei<br />
seien Ehe und Familie <strong>als</strong> »Chiffren einer<br />
beglückenden patriarchalen Ordnung« 78<br />
nicht verhandelbar. Sie sind quasi natürlich<br />
vorbestimmt, wie man in der »Jungen<br />
Freiheit« zu wissen glaubt: »<strong>Die</strong>se<br />
Institutionen sind weniger Gegenstand<br />
politischer Optionen <strong>als</strong> vielmehr bildliche<br />
Garanten für zeitlose, durch Tradition,<br />
Natur oder Religion sanktionierte<br />
Gesellschaftszustände.« 79 So wird die<br />
Bedrohung durch Feminismus, »68er«<br />
und »Sexuelle Revolution« durchaus<br />
<strong>als</strong> real und allumfassend gesehen, wie<br />
Kämper feststellt: »Eine Abschaffung<br />
dieser Ordnung bedeutet für ihn die Infragestellung<br />
gemeinschaftlicher, familialer<br />
und nationaler Ordnung überhaupt.«<br />
80 Schnell wird deutlich, dass<br />
es keineswegs nur um die Familie geht.<br />
Vielmehr fühlt sich der neurechte beziehungsweise<br />
der rechtsextreme Mann<br />
<strong>als</strong> Bollwerk gegen die Auflösungstendenzen<br />
traditioneller Strukturen in postmodernen<br />
Gesellschaften. Schließlich<br />
sind traditionelle Geschlechtervorstellungen<br />
eng mit paternalistischen Herrschaftsmodellen<br />
verknüpft. Versagt die<br />
Familie <strong>als</strong> kleinstes Glied der (Volks-)<br />
Gemeinschaft beziehungsweise wird sie<br />
in Frage gestellt, ist die Nation unmittelbar<br />
in Gefahr. »Mithilfe der Bedrohungsformel<br />
Zersetzung (Hervorhebung im<br />
Original-Y.M.) wird diese Gemeinschaft<br />
militärisch und völkisch aufgeladen und<br />
das entsprechende antimoderne, antiindividualistische<br />
und anti-emanzipatorische<br />
Potenzial mobilisiert.« 81 Als absolutes<br />
Horrorszenario einer zerfallenden<br />
Gesellschaft gelten der »Neuen Rechten«<br />
die USA: Hier handele es sich um<br />
eine multikulturelle und multiethnische<br />
Gesellschaft, die in der Kriminalität versinke.<br />
Und die neurechte Männlichkeit<br />
braucht diesen Gegenpol: »<strong>Die</strong> beständige<br />
Beschwörung heiler Ehen und Familien,<br />
die in einer hohen Zeit des noch<br />
unerschütterten Patriarchalismus angesiedelt<br />
sind, kontrastiert mit dem apokalyptischen<br />
Bild der Moderne.« 82<br />
Seit der »Sexuellen Revolution« würden<br />
immer weniger Kinder geboren, weil Sex<br />
und Fortpflanzung nunmehr separiert<br />
28<br />
seien. <strong>Die</strong> »Junge Freiheit‘« sucht hiermit<br />
Anschluss an den Diskurs um den vermeintlichen<br />
demographischen Wandel<br />
in der BRD: »Was wird in zwanzig, dreißig<br />
Jahren sein, wenn die zahlreichen<br />
›Singles‹ ins Rentenalter kommen?« 83<br />
Dabei wird versucht, den Diskurs zu<br />
ethnisieren, indem das »Aussterben«<br />
der Familie in den westlichen Industrienationen<br />
prognostiziert wird, während<br />
sich die Menschen in der so genannten<br />
‚Dritten Welt‘ praktisch ungehemmt vermehren<br />
würden: »Dagegen steigen die<br />
Bevölkerungszahlen in den armen Regionen<br />
Asiens und Afrikas mit atemberaubender<br />
Geschwindigkeit.« 84 Es soll klar<br />
werden, dass einfach die »F<strong>als</strong>chen« die<br />
Kinder kriegen.<br />
Auch gelten Schwangerschaftsabbrüche<br />
in der extremen Rechten <strong>als</strong> verwerflicher<br />
und amoralischer Massenmord.<br />
Hegemoniale Männlichkeit kann<br />
nicht zulassen, dass Frauen selbst über<br />
ihren Körper und das Gebären von Kindern<br />
entscheiden. Realpolitische Diskussionen<br />
über Abtreibungen erübrigen<br />
sich damit. Ebenso bedroht der Staat<br />
<strong>als</strong> Wohlfahrtsstaat die Vorherrschaft<br />
des Mannes über die Familie. Staatliche<br />
Eingriffe in Ehe und Familie werden<br />
<strong>als</strong> Angriff auf Autorität und Gewaltmonopol<br />
des Mannes interpretiert: »<strong>Die</strong><br />
öffentliche Diskussion innerfamiliärer<br />
Gewaltverhältnisse ist aus dieser Perspektive<br />
ein Angriff auf eine Privatheit,<br />
die dem Mann einen vor staatlichen Eingriffen<br />
geschützten familiären Raum garantiert.«<br />
85<br />
<strong>Die</strong> »Junge Freiheit«<br />
gegen Gender Mainstreaming<br />
Wenn sich Autor/innen in der »Jungen<br />
Freiheit« mit dem Thema Geschlecht<br />
auseinander setzen, befasst sich ein<br />
Großteil der Artikel mit Gender Mainstreaming<br />
und Gleichstellungspolitik.<br />
Da das Konzept Gender Mainstreaming<br />
<strong>als</strong> Institutionalisierung des Feminismus<br />
angesehen wird, sind auch<br />
die Kritikpunkte ähnlich gelagert: Angeblich<br />
würden Frauen bevorzugt und<br />
Gender Mainstreaming diene der Abschaffung<br />
des Mannes. So sei Gender<br />
Mainstreaming nur ein anderes Wort für<br />
Frauenförderung. Letztlich sei Gender<br />
Mainstreaming gar noch bedrohlicher<br />
<strong>als</strong> der verhasste Feminismus, wie der<br />
neurechte Wirtschaftswissenschaftler<br />
Felix Stern in »<strong>Die</strong> Selbstbewußte Nation«<br />
moniert: »Sicher, der Feminismus<br />
ist längst nicht mehr so spektakulär wie<br />
in den 70er und 80er Jahren.(…)Aber<br />
genau das macht die zum ›Salonfeminismus‹<br />
gewandelte ›Frauenbefreiung‹<br />
viel unberechenbarer <strong>als</strong> beispielswei-<br />
se eine ›Autonomen-Demo‹, bei der die<br />
Fronten klar sind. Denn in dieser Etablierung<br />
und Normalisierung des meist<br />
gar nicht mehr <strong>als</strong> Sexismus empfundenen<br />
Geschlechter-Rassismus und in<br />
der Verfügbarkeit, hieraus politisches,<br />
berufliches und wirtschaftliches Kapital<br />
zu schlagen, liegt ja die eigentliche Gefahr<br />
dieser Bewegung.« 86<br />
Durch die Institutionalisierung des Feminismus<br />
und den »Vormarsch« von<br />
Frauen in originär »männliche« Sphären<br />
fühlt sich die männliche Herrschaft<br />
in ihrer Legitimität angegriffen. <strong>Die</strong>ser<br />
Angriff muss zurückgeschlagen werden:<br />
»<strong>Die</strong> Verletzung der männlichen Sphäre<br />
staatlicher Gewalt verlangt nach Genugtuung<br />
so wie die Schwächung des von<br />
einem Virus befallenen Körpers nach<br />
Heilung verlangt.« 87<br />
<strong>Die</strong> Autor/innen der »Jungen Freiheit«<br />
haben sich dem Kampf gegen Gender<br />
Mainstreaming verschrieben: Hämisch<br />
registrieren sie, dass der Begriff kaum<br />
inhaltlich gefüllt werden kann und wenig<br />
in der Praxis erprobt sei. <strong>Die</strong> meisten<br />
Menschen könnten mit dem Begriff<br />
nichts anfangen. Trotzdem sei<br />
durch das Konzept Gender Mainstreaming<br />
ein bürokratischer Apparat mit<br />
einer unüberschaubaren Zahl von Projekten<br />
entstanden, der etliche Millionen<br />
Euro Steuergelder verschlinge.<br />
»Gender Mainstreaming ist ein milliardenschweres<br />
Programm … mit dem vermessenen<br />
Ziel, einen ›neuen Menschen‹<br />
zu schaffen.« 88 Wie absurd das Konzept<br />
angeblich ist, will man mit Hilfe unwirklich<br />
erscheinender Beispiele wie der<br />
Einführung des »Ampelfrauchens« aufzeigen.<br />
Auch das Studienfach Gender<br />
Studies sei lediglich ein Trend, dem keine<br />
Zukunft beschieden ist. »An den Universitäten<br />
und Fachhochschulen sind<br />
die ›Gender Studies‹ groß in Mode, sogar<br />
in den Rang eines Magisterstudiengangs<br />
haben sie es geschafft.« 89 <strong>Die</strong><br />
Verwendung des Binnen-I in der Schriftsprache<br />
wird gleichfalls abgelehnt. Angeblich<br />
würden die Menschen dadurch<br />
unnötig verwirrt. Zudem konstruiere<br />
man so die Geschlechterdifferenz erst<br />
recht. <strong>Die</strong>ses Argument scheint vorgeschoben,<br />
wird doch in der »Neuen Rechten«<br />
die Geschlechterdifferenz <strong>als</strong> natürlich<br />
gegeben betrachtet.<br />
Dass das biologische Geschlecht – ähnlich<br />
wie das soziale Geschlecht – konstruiert<br />
sein könnte, wird in der »Jungen<br />
Freiheit« verneint. Und hier wähnt man<br />
die Wissenschaft auf seiner Seite: »Dass<br />
sie (die »Gender«-Theorie – Y.M.) in Widerspruch<br />
zu allen gängigen anthropologischen<br />
und naturwissenschaftlichen<br />
Erkenntnissen steht, von der Hirn- und
Verhaltensforschung bis zur Biologie<br />
und Evolutionstheorie, stört eingefleischte<br />
Ideologen nicht wirklich.« 90<br />
Dekonstruktivistische Ansätze, so heißt<br />
es, würden biologische »Erkenntnisse«<br />
ignorieren.<br />
<strong>Die</strong> meisten einschlägigen Artikel in<br />
der »Jungen Freiheit« Artikel zunächst<br />
sachlich: So werden Gleichstellung und<br />
Emanzipation befürwortet, um später<br />
um so besser die Kritik zu platzieren.<br />
Es ginge nun zu weit, suggeriert man in<br />
der »Jungen Freiheit«: Während sich die<br />
Frauen inzwischen eine lautstarke und<br />
einflussreiche Lobby aufgebaut hätten,<br />
seien Männer angeblich stimmlos. Der<br />
Gedanke, Männer hätten Privilegien,<br />
wird in der »Jungen Freiheit‘« abgelehnt.<br />
Um der Opposition gegen Gender Mainstreaming<br />
Ausdruck zu verleihen, verwenden<br />
die Autor/innen der »Jungen<br />
Freiheit« Begrifflichkeiten, die ganz bewusst<br />
Assoziationen mit dem Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
hervorrufen sollen. Man<br />
stilisiert sich <strong>als</strong> Opfer: Kritisiere man<br />
zum Beispiel offen Gender Mainstreaming,<br />
riskiere man die, zugegebenermaßen<br />
nicht physische, »Vernichtung« 91 ,<br />
so JF-Autor und Publizist Michael Paulwitz.<br />
Bei Gender Mainstreaming handele<br />
es sich um eine »gigantische(n)<br />
ideologische(n) Umerziehung« 92 Der<br />
Begriff »Umerziehung« ist im Zusammenhang<br />
mit den Ent-Nazifizierungen<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur<br />
in der extremen Rechten negativ besetzt.<br />
Nicht selten wird Gender Mainstreaming<br />
<strong>als</strong> »totalitäre Ideologie, die<br />
nach dem Kaderprinzip durch eine auserwählte<br />
Truppe Linientreuer von oben<br />
nach unten durchgesetzt werden soll« 93 ,<br />
diffamiert. Wiederum ist der Formel »totalitär«<br />
im deutschen Kontext eine ganz<br />
eigene Wirkung beschieden. Bezeichnet<br />
<strong>als</strong> »Genderismus« 94 wird Gender Mainstreaming<br />
dann schnell zur Ideologie<br />
und der Vergleich von Ursula von der<br />
Leyen mit Mao Zedong und Wladimir I.<br />
Lenin fällt nicht mehr schwer. 95 Gleichstellungsbeauftragte<br />
werden <strong>als</strong> »linientreue<br />
Kader« 96 tituliert und angeblich<br />
habe man es mit einer »Kulturrevolution«<br />
97 zu tun. Hier werden mittels Wortwahl<br />
Antifeminismus und Antikommunismus<br />
verknüpft.<br />
Besonders in die Kritik geraten sind<br />
die CDU und ihre Familienministerin<br />
von der Leyen, die die Politik des Gender<br />
Mainstreaming unterstütze. <strong>Die</strong><br />
CDU verfolge linksradikale Ziele, wettert<br />
man in der »Jungen Freiheit«. <strong>Die</strong><br />
neurechte Wochenzeitung verfolgt mit<br />
diesen Angriffen ein einfaches Ziel: Sie<br />
will die CDU beziehungsweise Teile ihrer<br />
Mitgliedschaft nach rechts rücken.<br />
<strong>Die</strong>se müssen sich gegen die Angriffe<br />
wehren, um sich gegen diese zu immunisieren.<br />
Gleichzeitig will man die CDU<br />
spalten: So würde Kritik innerhalb der<br />
Partei unterbunden, mutmaßt man in<br />
der »Jungen Freiheit«. Wer sich trotzdem<br />
äußere, würde »von feministischen<br />
Lobbygruppen unter Beschuss genommen«<br />
98 und »muss Sanktionen befürchten«<br />
99 .<br />
Letztlich kann sich die «Junge Freiheit«<br />
sogar kapitalismuskritisch gerieren: »<strong>Die</strong><br />
fatale Dynamik dieses Konzapts steckt<br />
dabei in der Interessenkoalition mit<br />
dem vorherrschenden platten Ökonomismus.<br />
<strong>Die</strong> schon von Alice Schwarzer<br />
geforderte und von ›Gender Mainstreaming‹<br />
in letzter Konsequenz anvisierte<br />
völlige Abschaffung der Hausfrau<br />
und Mutter <strong>als</strong> akzeptierter Lebensform<br />
trifft sich mit dem technokratischen Interesse<br />
an der totalen Mobilmachung<br />
aller ›menschlichen Ressourcen‹ zur abhängigen<br />
Vollzeit-Erwerbstätigkeit.« 100<br />
So wähnt sich die hegemoniale Männlichkeit<br />
der »Neuen Rechten« <strong>als</strong> Opfer<br />
eines Komplotts, mit dem Männer aus<br />
dem öffentlichen und privaten Leben<br />
verdrängt werden sollen.<br />
<strong>Die</strong> »Junge Freiheit‘«<br />
gegen Homosexualität<br />
Sucht man im Online-Archiv der »Jungen<br />
Freiheit« nach der Thematisierung von<br />
Homosexualität, wird man in der Regel<br />
enttäuscht. Einzig über die Suche nach<br />
dem Begriff »schwul« finden sich einige<br />
Artikel.<br />
Obwohl (männliche) Homosexualität <strong>als</strong><br />
randständig und anormal gesehen wird,<br />
sei sie laut »Junge Freiheit« heute gesellschaftlicher<br />
Maßstab. 101 <strong>Die</strong> heterosexuelle<br />
Familie würde <strong>als</strong> Norm negiert.<br />
In der Zeitung wird offen ausgesprochen,<br />
dass der »normale« Hetero-Mann<br />
von den »tuntigen« Schwulen abgestoßen<br />
ist. So berichtet »Junge Freiheit«-<br />
Autor Frank Liebermann über eine Sendung<br />
mit vier homosexuellen Männern<br />
auf einem Privatsender folgendes: »<strong>Die</strong><br />
Anfänge der Sendung sind strapaziös.<br />
In den ersten paar Minuten präsentieren<br />
sich die vier Hauptpersonen dermaßen<br />
tuntig, dass es große Überwindung<br />
verlangt, nicht abzuschalten.« 102<br />
Den vier Homosexuellen wird vorgeworfen,<br />
»einen Kauderwelsch aus Deutsch<br />
und Englisch« 103 zu sprechen. Aufgrund<br />
ihrer Homosexualität sind sie keine<br />
»richtigen« Männer; durch ihr »Kauderwelsch«<br />
sind sie keine »richtigen« Deutschen.<br />
Schwul-Sein schade <strong>als</strong>o der<br />
deutschen (Volks-)Gemeinschaft und<br />
dem gesunden Volkskörper, so der Tenor.<br />
Liebermann meint, dass Schwul-Sein<br />
im Trend liege und sich gut vermarkten<br />
lasse. Ebenso darf der obligatorische<br />
homophob angehauchte Verweis auf<br />
die Homosexualität des Berliner Regierenden<br />
Bürgermeisters Klaus Wowereit<br />
nicht fehlen: »Inzwischen sind wir ja allerhand<br />
gewohnt. Nach schwulen Rappern,<br />
Schwulen gegen Rechts, schwulen<br />
Ärzten und schwulen für Stoiber<br />
schockt uns nicht einmal mehr die Regenbogenfahne<br />
vor dem Berliner Rathaus.«<br />
104 In einem anderen Artikel wird<br />
gewarnt, Homosexuelle würden Jugendlichen<br />
ihre Sexualität aufdrängen, »da<br />
viele Homosexuelle ihre Lebensweise<br />
<strong>als</strong> ›die Normalere‹ betrachten« 105 . Homosexuellen<br />
wird vorgeworfen, sie würden<br />
sich lediglich »um die Rekrutierung<br />
von Nachwuchs bemühen« 106 .<br />
In ihrer Homophobie steht die »Junge<br />
Freiheit« keineswegs alleine da. Bereits<br />
in den 80er Jahren sorgte die Homosexualität<br />
des Neonazikaders Michael<br />
Kühnen für viel Verwirrung und homophobe<br />
Ausbrüche im bundesdeutschen<br />
Rechtsextremismus. Mit seiner Schrift<br />
»Nation<strong>als</strong>ozialismus und Homosexualität«<br />
brach Kühnen ein Tabu, indem er<br />
Homosexualität verteidigte. 107<br />
Fazit<br />
Das Beispiel »Junge Freiheit« zeigt, dass<br />
Männlichkeit in der »Neuen Rechten«<br />
durchaus diskursiviert wird. Dabei findet<br />
meist nur eine implizite Thematisierung<br />
über die Diffamierung von Feminismus,<br />
anderen Sozialen Bewegungen,<br />
Homosexuellen und nicht zuletzt allem<br />
»Fremden«, <strong>als</strong>o Migrant/innen sowie<br />
Jüdinnen und Juden, statt. Männlichkeit<br />
in der »Neuen Rechten« befindet sich in<br />
einem ständigen »Kampf« für die Nation,<br />
die heterosexuelle Familie und sich<br />
selbst. Eine gewisse Krisentendenz ist<br />
somit keineswegs ein Anzeichen für Zerfallsprozesse<br />
oder eine tatsächliche Bedrohung<br />
dieser Männlichkeit, sondern<br />
vielmehr konstitutives Element. Allerdings<br />
werden Transformations- und Modernisierungsprozesse<br />
im Geschlechterverhältnis<br />
bewusst aufgegriffen, um<br />
eigene Positionen entsprechend im Diskurs<br />
zu platzieren. Und die »Neue Rechte«<br />
ist mit ihrem Bild der hegemonialen<br />
Männlichkeit durchaus gesellschaftlich<br />
anschlussfähig. Aus Sicht einer transdisziplinärengeschlechterreflektierenden<br />
Rechtsextremismusforschung<br />
bietet der Versuch der Resouveränisierung<br />
von Männlichkeit durch die »Neue<br />
Rechte« ein enormes Gefährdungspotential.<br />
Yves Müller<br />
29
1 Winfried Knörzer, Eine kulturelle Hegemonie von<br />
recht, in: Junge Freiheit, 19. 8. 1994, S. 1; zit. nach:<br />
Michael Puttkamer, »Jedes Abo eine Konservative<br />
Revolution«. Strategie und Leitlinien der »Jungen<br />
Freiheit, in: Wolfgang Gessenharter u. Thomas Pfeiffer,<br />
Hrsg., <strong>Die</strong> Neue Rechte – eine Gefahr für Demokratie?,<br />
Wiesbaden 2004, S. 213.<br />
2 Vgl. Oliver Geden, Männlichkeitskonstruktionen in<br />
der Freiheitlichen Partei Österreichs. Eine qualitativ-empirische<br />
Untersuchung, Opladen 2004.<br />
3 Helmut Kellershohn, Kurzchronologie der »Jungen<br />
Freiheit« 1986 bis 2006, in: Stephan Braun u. Ute<br />
Vogt, Hrsg., <strong>Die</strong> Wochenzeitung »Junge Freiheit«.<br />
Kritische An<strong>als</strong>ysen, Autoren und Kunden, Wiesbaden<br />
2007, S. 48.<br />
4 Vgl. Stephan Braun, Alexander Geisler u. Martin<br />
Gerster, <strong>Die</strong> »Junge Freiheit« der »Neuen Rechten«.<br />
Bundes- und landespolitische Perspektiven<br />
zur »Jungen Freiheit« und den Medien der »Neuen<br />
Rechten«, in: Stephan Braun u. Utte Vogt, Hrsg.,<br />
<strong>Die</strong> Wochenzeitung »Junge Freiheit«, S. 18.<br />
5 Ebenda, S. 19.<br />
6 Vgl. Felix Krebs, Mit der konservativen Revolution<br />
die kulturelle Hegemonie erobern. Das Zeitungsprojekt<br />
»Junge Freiheit«, in: Jean Cremet, Felix<br />
Krebs u. Andreas Speit, Jenseits des Nationalismus.<br />
Ideologische Grenzgänger der »Neuen Rechten«<br />
– ein Zwischenbericht, Hamburg u. Münster<br />
1999, S. 54.<br />
7 Stephan Braun u. a., »<strong>Die</strong> »Junge Freiheit« der<br />
»Neuen Rechten«, S. 25.<br />
8 Felix Krebs, Mit der konservativen Revolution die<br />
kulturelle Hegemonie erobern, S. 72.<br />
9 Ebenda, S. 53 f.<br />
10 Edgar Julius Jung, <strong>Die</strong> Herrschaft der Minderwertigen.<br />
Nachdruck der 2. Aufl. von 1930, Struckrum<br />
1991. Zit. nach: Michael Putkammer, »Jedes Abo<br />
eine konservative Revolution«, S. 215.<br />
11 Hiermit ist die Bestrebung einer gemeinsamen Politik<br />
zwischen linkem und rechtem Spektrum auf<br />
der Basis vermeintlicher oder tatsächlicher gemeinsamer<br />
Ideologiefragmente gemeint.<br />
12 Peter Krebs, Mit der konservativen Revolution die<br />
kulturelle Hegemonie erobern, S. 79.<br />
13 Walter Hoeres, <strong>Die</strong> Herstellung der Heimatlosigkeit,<br />
in: Junge Freiheit, Nr. 43/1996, zit. nach: Jean<br />
Cremet u. a., Jenseits des Nationalismus.<br />
14 Ebenda.<br />
15 Hans Sarkowcz, Publizistik in der Grau- und Braunzone,<br />
in: Wolfgang Benz, Hrsg., Rechtsextremismus<br />
in Deutschland. Voraussetzungen, Zusammenhänge,<br />
Wirkungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 69.<br />
16 Ebenda, S. 72.<br />
17 Ebenda, S. 77<br />
18 Peter Krebs, Mit der konservativen Revolution die<br />
kulturelle Hegemonie erobern, S. 59.<br />
19 Michael Mauser, Wettbewerb und Solidarität. Zur<br />
Konstruktion von Männlichkeit in Männergemeinschaften,<br />
in: Silvia von Arx u. a., Hrsg., Koordinaten<br />
der Männlichkeit. Orientierungsversuche, Tübingen<br />
2003, S. 83.<br />
20 Derselbe, Hegemoniale Männlichkeit – Überlegungen<br />
zur Leitkategorie der Men’s Studies, in:<br />
Brigitte Aulenbacher u. a., Hrsg., FrauenMänner<br />
Geschlechterforschung. State of the Art, Münster<br />
2006, S. 162.<br />
21 Ebenda, S. 168.<br />
22 Robert W. Connell, Gender and Power. Society,<br />
the Person and Sexual Politics, Cambirdge 1987,<br />
S. 183, zit. nach: Michael Meuser, Wettbewerb und<br />
Solidarität, S. 183.<br />
30<br />
23 Ebenda, S. 169, Hervorhebung im Original.<br />
24 Ebenda, Hervorhebung im Original.<br />
25 Paul Bourdieu, <strong>Die</strong> männliche Herrschaft, in: Irene<br />
Dölling u. Beate Krais, Hrsg., Ein alltägliches Spiel.<br />
Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis,<br />
Frankfurt a. M. 1997, S. 203.<br />
26 Michael Meuser, Hegemoniale Männlichkeit,<br />
S. 163.<br />
27 Ebenda, S. 166.<br />
28 Vgl. ebenda, S. 164 ff.<br />
29 Ebenda, S. 169.<br />
30 Gabriele Kämper, <strong>Die</strong> männliche Nation. Politische<br />
Rhetorik der neuen intellektuellen Rechten, Köln<br />
2005, S. 205.<br />
31 Robert W. Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion<br />
und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden<br />
2006, S. 105.<br />
32 Ebenda. S. 106.<br />
33 Ebenda.<br />
34 Ebenda, S. 211.<br />
35 Ebenda, S. 107.<br />
36 Ebenda, S. 222.<br />
37 Ebenda.<br />
38 Ebenda, S. 223.<br />
39 Curd-Torsten Weick, Das verunsicherte »starke Geschlecht«.<br />
Auslaufmodell der Evoluiton? Männer<br />
können einpacken, in: Junge Freiheit, 14. 1. 2005.<br />
40 Vgl. ebenda.<br />
41 Ebenda.<br />
42 Gabriele Kämper. <strong>Die</strong> männliche Nation, S. 154.<br />
43 Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. II: Männerkörper<br />
– zur Psychoanalyse des weißen Terrors,<br />
Frankfurt a.M. u. Basel 2005, S. 155.<br />
44 Ebenda.<br />
45 Robert W. Connell, Der gemachte Macht, S. 235.<br />
46 Paul Bourdieu, <strong>Die</strong> männliche Herrschaft, S. 203.<br />
47 Götz Kubitschek, Es wird ernst. Kampf der Kulturen:<br />
Deutschland muss seine Zukunft <strong>als</strong><br />
selbstbewusste Nation wollen, in: Junge Freiheit,<br />
24. 2. 2006.<br />
48 Gabriele Kämper, <strong>Die</strong> männliche Nation, S. 159.<br />
49 Ebenda, S. 180.<br />
50 Ebenda, S. 179.<br />
51 Ebenda, S. 188.<br />
52 Carl Gustav Ströhm, Sag mir, wo die Männer sind.,<br />
in: Junge Freiheit, 23. 1. 2004.<br />
53 Ebenda.<br />
54 Dabei war Franio Tudman (1922–1999) nicht nur<br />
ein glühender Nationalist. Er äußerte sich auch zutiefst<br />
antisemitisch und verharmloste die Verbrechen<br />
der faschistischen Ustascha während des<br />
Zweiten Weltkrieges.<br />
55 Ebenda.<br />
56 Ebenda.<br />
57 Michael Meuser, Wettbewerb und Solidarität,<br />
S. 84.<br />
58 Ebenda.<br />
59 Ebenda, S. 88.<br />
60 Vgl. Birgit Rommelspacher, Geschlechterverhältnis<br />
im Rechtsextremismus, in: Wilfried Schubarth<br />
u. Richard Stöss, Hrsg., Rechtsextremismus in der<br />
Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn<br />
2000, S. 207.<br />
61 Gabriele Kämper, <strong>Die</strong> männliche Nation, S. 166.<br />
62 Ebenda, S. 170.<br />
63 Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung,<br />
Duisburg 1999, S. 158.<br />
64 Ebenda, S. 55. Hervorhebung im Original-Y.M.<br />
65 Ebenda, S. 62.<br />
66 Felix Stern, Feminismus und Apartheid. Über den<br />
Krieg der Geschlechter, in: Heimo Schwilk u. Ulrich<br />
Schacht, Hrsg., <strong>Die</strong> Selbstbewusste Nation. »Anschwellender<br />
Bocksgesang« und weitere Beiträge<br />
zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. u. Berlin<br />
1994, S. 291. Zit. nach: Gabriele Kämper, <strong>Die</strong><br />
männliche Nation, S. 136.<br />
67 Johannes Rogalla von Bieberstein, Erbe des Klassenkampfes,<br />
in: Junge Freiheit, 20. 6. 2008.<br />
68 Ebenda.<br />
69 Ebenda.<br />
70 Rainer Zitelmann, Position und Begriff. Über eine<br />
neue demokratische Rechte, in: Heimo Schwilk u.<br />
Ulrich Schacht, Hrsg., <strong>Die</strong> Selbstbewusste Nation,<br />
S. 178. Zit. nach: Gabriele Kämper, <strong>Die</strong> männliche<br />
Nation, S. 138.<br />
71 Robert W. Connell, Der gemachte Mann, S. 231.<br />
72 Ebenda.<br />
73 Götz Eberbach, <strong>Die</strong> sexuelle Revolution und ihre<br />
Folgen, in: Junge Freiheit, 8. 5. 1998,<br />
74 Ebenda.<br />
75 Mathias von Gersdorff, Das Tabu der Sexuellen<br />
Freizügigkeit, in: Junge Freiheit, 24. 7. 1998.<br />
76 Ebenda.<br />
77 Oliver Geldszus, Gesellschaft: Liebe und Sexualität<br />
in den Zeiten der späten Kohl-Ära, in: Junge Freiheit,<br />
5. 6. 1998.<br />
78 Gabriele Kämper, S. 122.<br />
79 Ebenda, S. 121 f.<br />
80 Ebenda, S. 124.<br />
81 Ebenda, S. 128.<br />
82 Ebenda, S. 131.<br />
83 Götz Eberbach, <strong>Die</strong> sexuelle Revolution und ihre<br />
Folgen.<br />
84 Oliver Geldszus, Gesellschaft: Liebe und Sexualität<br />
in den Zeiten der späten Kohl-Ära.<br />
85 Gabriele Kämper, <strong>Die</strong> männliche Nation, S. 133.<br />
86 Zit. nach: ebenda, S. 148.<br />
87 Ebenda.<br />
88 »Geschlecht ist pure Einbildung«. Interview von<br />
Moritz Schwarz mit Arne Hoffmann, in: Junge Freiheit,<br />
12. 1. 2007.<br />
89 Christian Rudolf, Kampf den Knackpunkten, in:<br />
Junge Freiheit, 15. 12. 2006.<br />
90 Michael Paulwitz, Im Labor der Menschenzüchter,<br />
in: Junge Freiheit, 12. 1. 2007.<br />
91 Ebenda.<br />
92 Geschlecht ist pure Einbildung.<br />
93 Michael Paulwitz, Im Labor der Menschenzüchter.<br />
94 Ebenda.<br />
95 Ebenda.<br />
96 Geschlecht ist pure Einbildung.<br />
97 Johannes Rogalla von Bieberstein, Erbe des Klassenkampfes.<br />
98 Geschlecht ist pure Erfindung.<br />
99 Ebenda.<br />
100 Michael Paulwitz, Im Labor der Menschenzüchter.<br />
101 Vgl. ebenda.<br />
102 Frank Liebermann, RTL 2 und »Schwul macht<br />
cool«: Alle Klischees werden bedient. <strong>Die</strong> neue<br />
Langeweile, in: Junge Freiheit, 2. 1. 2004.<br />
103 Ebenda.<br />
104 Ebenda.<br />
105 Alexander Schmidt, In erster Linie zählt der Spaß.<br />
Bildung: In Nordrhein-Westfalen sollen Jugendliche<br />
ihre »typische männliche oder weibliche<br />
Verhaltensweise überdenken«, in: Junge Freiheit,<br />
12. 1. 2001.<br />
106 Ebenda.<br />
107 Vgl. Markus Bernhardt, Keine gemeinsame Linie.<br />
Neonazis und Homosexualität, in: LOTTA. Antifaschistische<br />
zeitung aus nrw, Winter 2007/2008,<br />
Ausgabe 29, S. 12 ff.
Keine Nazis in Rosas Straße, gemeinsam gegen<br />
»Thor Steinar« – Ein kurzer Überblick zu den<br />
Aktivitäten der Initiative »Mitte gegen Rechts«<br />
in Berlin<br />
<strong>Die</strong> Rosa-Luxemburg-Straße liegt im<br />
Zentrum Berlins. Der Namen der Straße<br />
und auch die BewohnerInnenklientel<br />
unterliegen einem steten Wandel.<br />
Über Jahrhunderte hinweg endete an<br />
dieser Straße die Berliner Pracht. 1 Es<br />
ließen sich vor allem jene hier nieder,<br />
die in der Stadt keinen Platz fanden. Es<br />
entstand eine große jüdische Gemeinde.<br />
Aus Scheunen, die an der Straße<br />
standen, wurden mit der Zeit ärmliche<br />
Wohnhäuser. Als die Stadt längst über<br />
das so genannte Scheunenviertel hinaus<br />
gewachsen war, begann Anfang<br />
des 20. Jahrhunderts die Umgestaltung<br />
des Viertels und eine erste Verdrängung<br />
der Bevölkerung setzte ein. <strong>Die</strong> BewohnerInnen<br />
des Scheunenviertels zogen<br />
zumeist in die anliegenden Straßen.<br />
Noch 1925 wohnten fast 18 Prozent der<br />
in Berlin lebenden JüdInnen in unserem<br />
Kiez. Ihre Zahl stieg weiter an, <strong>als</strong> sich<br />
ihre soziale Lage durch die antisemitische<br />
Politik der NSDAP in den 1930er<br />
Jahren verschärfte und JüdInnen aus<br />
anderen Stadtteilen verdrängte. Ihre Lebensverhältnisse<br />
erreichten im »Dritten<br />
Reich« ein unerträgliches Ausmaß. Israel<br />
Loewenstein, der bis zu seiner Deportation<br />
im Scheunenviertel wohnte und<br />
heute im Kibuz Yad Hannah in Israel<br />
lebt, berichtet zum Beispiel:<br />
»Dann kamen die Gesetze, dass man alles<br />
abgeben musste: Radio, Grammophon,<br />
Schallplatten, Schmuck. Meine<br />
Mutter hatte einen goldenen Ehering –<br />
musste man abgeben; eine Perlenkette<br />
– musste man abgeben. Aber das ist<br />
so eine Sache, die langsam kam. So gewöhnt<br />
man sich daran. (…)Irgendwann<br />
ist man nicht mehr aus dem Haus rausgekommen,<br />
es war alles für Juden verboten.«<br />
Am 18. Oktober 1941 begann die Deportation<br />
der jüdischen Bevölkerung<br />
Berlins. Rund zwanzig Monate später<br />
galt Berlin offiziell <strong>als</strong> »judenrein«. Das<br />
Scheunenviertel und ein Teil seiner BewohnerInnen<br />
waren ausgelöscht.<br />
In der DDR lag die Straße in einem Sanierungsgebiet.<br />
Dennoch wurden die<br />
Häuser bis zur Wende dem Verfall preisgegeben.<br />
Nahe am Alexanderplatz und<br />
Hackeschen Markt gelegen, entdecken<br />
seit den 1990er immer mehr Neu-BerlinerInnen<br />
die Attraktivität der Straße.<br />
In den letzten zwanzig Jahren wandelte<br />
sich die Bevölkerung so ein weiteres<br />
mal. <strong>Die</strong> Mieten steigen und junge Menschen<br />
aus dem In- und Ausland siedeln<br />
sich an. Exquisite Gastronomie, Galerien<br />
und DesignerInnen-Shops bestimmen<br />
heute das Bild der Straße. Am<br />
1. Februar 2008 eröffnete in der Rosa-<br />
Luxemburg-Straße 18 ein weiteres Modegeschäft:<br />
»TØNSBERG« ist über dem<br />
Eingang zu lesen. Es werden vor allem<br />
Kleider der Marke »Thor Steinar« angeboten.<br />
»Thor Steinar« ist ein Label, das vor<br />
allem von Rechtsextremen getragen<br />
wird. 2 Seit sechs Jahren vertreibt Uwe<br />
Meusel und die von ihm gegründete<br />
Protex GmbH die Textilien an bundesweit<br />
rund 170 HändlerInnen. Zweideutige<br />
Motive ermöglichen den TrägerInnen<br />
ihre neofaschistische Gesinnung<br />
offen darzustellen, ohne in Konflikt mit<br />
dem Gesetz und dessen HüterInnen zu<br />
geraten. In Magdeburg, Dresden, Leipzig<br />
und Berlin hat Uwe Meusel eigene<br />
Läden eröffnet. Drei Jahre befand sich<br />
die Berliner Filiale in einem Einkaufzentrum<br />
unweit des heutigen Standorts.<br />
Als die Vermieterin erkannte, wes (Un-)<br />
Geistes Kind ihre Mieter waren, wurde<br />
dem braunen Klamottenladen gekündigt.<br />
Ein neues Domizil fand sich schnell.<br />
Bereits bei der Eröffnung des Ladens<br />
regte sich erster Widerstand. Vor dem<br />
Laden wurde eine Kundgebung abgehalten.<br />
Einige LadenbesitzerInnen äußerten<br />
offen ihren Protest über den neuen<br />
Nachbarn. Sie dekorierten ihre Schaufenster<br />
mit Informationen über »Thor<br />
Steinar« und mit antifaschistischen<br />
Plakaten. Ein Anwohner klebte in der<br />
Straße Zettel gegen Nazis. Regelmäßig<br />
schaute die Antifa vorbei und gestaltete<br />
die Außenfassade des Geschäfts mit<br />
Farbbeuteln und Pflastersteinen neu.<br />
MieterInnen aus einem Nachbarhaus<br />
schrieben einen Beschwerdebrief an ihre<br />
Hausverwaltung und machten sich<br />
daran, den Eigentümer des Hauses ausfindig<br />
zu machen, der an das rechte Mode-Label<br />
vermietet hat.<br />
Viele der heutigen AktivistInnen waren<br />
schockiert darüber, ausgerechnet<br />
in ihrem Wohn- und Arbeitsumfeld ein<br />
Bekleidungsgeschäft zu finden, dessen<br />
Kundenstamm vorwiegend aus Neona-<br />
zis besteht. Schnell wurde deutlich, das<br />
dem Versuch rechte Meinungen und Gesinnungen<br />
in der Mitte der Gesellschaft<br />
zu etablieren, etwas entgegen gesetzt<br />
werden muss. Das »TØNSBERG« ausgerechnet<br />
im ehemaligen Scheunenviertel<br />
seine die NS-Zeit verherrlichenden<br />
Kleider anbietet, einem Stadtteil dessen<br />
Bevölkerung besonders stark unter dem<br />
menschenverachtenden Regime gelitten<br />
hatte, ist unerträglich. Kurz nach der<br />
Eröffnung begann sich die Stimmung in<br />
der Straße zu ändern. <strong>Die</strong> Bedrohung<br />
durch Rechtsextreme war plötzlich klar<br />
spürbar. AnwohnerInnen, die ihren Protest<br />
offen geäußert hatten, erhielten Besuch<br />
von dubiosen Gestalten oder bekamen<br />
Drohbriefe. Jeden Tag mehrere<br />
Male an einem Ladenlokal vorbei zugehen,<br />
dass für eine prinzipiell abzulehnende,<br />
menschenverachtende Ideologie<br />
steht, ist auf die Dauer anstrengend.<br />
Zudem führten die militanten Aktionen<br />
gegen den Laden zu täglicher Polizeipräsenz<br />
in der Straße.<br />
Kaum verwunderlich, dass sich die<br />
gleichgesinnten AnrainerInnen zu einer<br />
Initiative zusammenschlossen. Sie trägt<br />
mittlerweile den Namen »MITTE GEGEN<br />
RECHTS«. Gewerbetreibende, FreiberuflerInnen,<br />
Angestellte und StudentInnen<br />
haben sich in ihr zusammengefunden.<br />
<strong>Die</strong> Beweggründe für unser Engagement<br />
sind vielschichtig. Für alle ist klar, dass<br />
im Kiez kein Platz für Nazis ist, weder für<br />
Alte noch für Junge. Weltoffenheit und<br />
Toleranz prägen die Rosa-Luxemburg-<br />
Straße. <strong>Die</strong>ses internationale Flair ist<br />
für Berlin nicht überall selbstverständlich.<br />
Wir wollen klarstellen, dass es sich<br />
hier um etwas Besonderes, Schützens-<br />
und Erhaltenswertes handelt und dafür<br />
ein Bewusstsein schaffen. Wir wollen<br />
verdeutlichen, wohin Intoleranz und<br />
Menschenverachtung führen. <strong>Die</strong> Erinnerung<br />
an den Holocaust trägt dazu bei,<br />
eine tolerante und für alle offene Gesellschaft<br />
einzufordern und alles dafür<br />
zu tun, dass eine solche nicht nur in der<br />
Rosa-Luxemburg-Straße auf Dauer Bestand<br />
hat.<br />
Es gilt jenen entgegenzutreten, die genau<br />
das verhindern wollen, und das<br />
schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte<br />
glorifizieren. Uwe Meusel und<br />
die Protex GmbH gehen aber noch wei-<br />
31
ter. Sie instrumentalisieren das »Dritte<br />
Reich«, um kommerziell erfolgreich zu<br />
sein. Das Label »Thor Steinar« nutzt diese<br />
Kommerzialisierung <strong>als</strong> »banale und<br />
teuflische Strategie« um »Geschichtsklitterung<br />
und Revisionimsus« Tür und<br />
Tor zu öffnen, wie eine Aktivistin treffend<br />
feststellte. Der »TØNSBERG«-Shop<br />
fungiert hierbei <strong>als</strong> Rattenfänger, indem<br />
er einen niederschwelligen Einstieg in<br />
die rechte Szene anbietet und deren<br />
politische Inhalte verharmlost. Denn<br />
in einem Kiez, der weit über die Grenzen<br />
Deutschlands hinaus <strong>als</strong> liberal gilt,<br />
rechnet eigentlich niemand damit, auf<br />
ein Geschäft zu treffen, das menschenverachtendes<br />
Gedankengut in trendige<br />
Klamotten verpackt. So ging manch ahnungslose<br />
Laufkundschaft »TØNSBERG«<br />
ins Netz, dies war bereits Mitte Februar<br />
klar. Es war <strong>als</strong>o höchste Zeit, selbst<br />
aktiv zu werden, sich zu informieren, eine<br />
eigene Meinung zu bilden und diese<br />
Kund zu tun.<br />
»MITTE GEGEN RECHTS« wurde gegründet,<br />
um die Schließung des<br />
»TØNSBERG«-Ladens zu ereichen. Dabei<br />
profitierten wir von Anfang an von<br />
einer breiten Medienresonanz im In–<br />
und Ausland. Wir konnten seit Beginn<br />
des Protests auf ein breites Netzwerk<br />
von UnterstützerInnen zurückgreifen.<br />
<strong>Die</strong> Projektleiterin des nicht-kommerziellen<br />
Kunstraumes »:emyt« wurde von<br />
ihren Förderern (einer Hausverwaltung<br />
und einem Kunstverein) gebeten, einen<br />
Teil ihrer Arbeitszeit und die Räumlichkeiten<br />
der Galerie für die Initiative zur<br />
Verfügung zu stellen. In fachlichen und<br />
inhaltlichen Fragen steht der Initiative<br />
die »Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus«<br />
(MBR) zur Seite. Ihre Mitarbeiterinnen<br />
empfahlen uns Kontakt zum<br />
Integrationsbeauftragten des Landes<br />
Berlin aufzunehmen, um finanzielle Unterstützung<br />
zu bitten. Zeitgleich rief die<br />
Amedeo-Antonio-Stiftung zu Spenden<br />
auf und richtete dafür ein Konto ein.<br />
Innerhalb kürzester Zeit kamen rund<br />
12.000 Euro zusammen. <strong>Die</strong> finanzielle<br />
Basis des Protests war somit gesichert.<br />
Auch von bezirkspolitischer Seite wird<br />
der Protest gegen »TØNSBERG« unterstützt.<br />
Der Bürgermeister von Mitte, Dr.<br />
Christian Handke (SPD), ist Schirmherr<br />
der Initiative. Gemeinsam mit VertreterInnen<br />
der MBR und Sprechern von<br />
»MITTE GEGEN RECHTS« veranstaltete<br />
der Bezirk 19 Tage nach Eröffnung<br />
der »Thor Steinar«- Filiale einen Runden<br />
Tisch zu dem alle AnwohnerInnen eingeladen<br />
wurden. Bei dieser Versammlung<br />
meldete sich erstm<strong>als</strong> ein Vertreter der<br />
Hauseigentümer der Rosa-Luxemburg-<br />
Straße 18 zu Wort und stellte fest, dass<br />
32<br />
dem zwielichtigen Bekleidungsgeschäft<br />
bereits gekündigt worden sei. Drei Tage<br />
später einigte sich die Bezirksverordnetenversammlung<br />
Mitte auf einen<br />
Beschluss, der diese Kündigung begrüßte<br />
und zu weiteren friedlichen Protesten<br />
aufrief. Kurz darauf versammelten<br />
sich nach einem Aufruf mehrerer<br />
Berliner Antifa-Gruppen Hunderte, um<br />
ihrem Unmut gegen Herrn Uwe Meusel,<br />
seiner Marke »Thor Steinar« und seine<br />
KundInnen im Rahmen einer Demonstration<br />
lautstark Luft zu machen. Innerhalb<br />
eines Monats war es gelungen, eine<br />
breite Öffentlichkeit auf das Problem<br />
»TØNSBERG« in der Rosa-Luxemburg-<br />
Straße hinzuweisen. Auch die Norwegische<br />
Botschaft strengte eine Klage gegen<br />
Uwe Meusel und die Protex GmbH<br />
an, da auf der Kleidung der Marke »Thor<br />
Steinar« oft die norwegische Flagge zu<br />
finden war.<br />
Nach dem sich der erste Trubel gelegt<br />
hatte, ging es einerseits darum, eine<br />
angemessene Form des dauerhaften<br />
Protestes zu finden und anderseits das<br />
Thema weiter in der Öffentlichkeit zu<br />
halten. Ein Ideenfindungsprozess wurde<br />
eingeleitet, der aufgrund unterschiedlicher<br />
beruflicher Ausrichtungen der Initiativmitglieder<br />
sehr kreativ und produktiv<br />
war. Erst entstand erstens ein Blog<br />
im Internet, der über die Initiative und<br />
den Stand des Protestes informiert. Hier<br />
können kostengünstig und mit wenig<br />
Aufwand Informationen dezentral angeboten<br />
werden. Neben Informationsmaterialen<br />
zu »Thor Steinar«, der Protex<br />
GmbH und Uwe Meusel wird regelmäßig<br />
über den Protest gegen das Label in anderen<br />
Städten berichtet. Zudem findet<br />
sich ein Spendenaufruf und eine Kontaktadresse<br />
auf der Seite.<br />
Zweitens wurde ein Logo entworfen.<br />
Der Designer ist selbst bei »MITTE GE-<br />
GEN RECHTS« aktiv. Das Logo wurde<br />
ebenfalls von AktivistInnen die im Textilbereich<br />
tätig sind, auf Taschen gedruckt,<br />
die in mehreren Shops im Kiez zum Kauf<br />
ausliegen. <strong>Die</strong> daraus erzielten Einnahmen<br />
stehen der Initiative zur Verfügung.<br />
KundInnen sehen die Taschen und fragen<br />
oft, worum es sich bei »MITTE GE-<br />
GEN RECHTS« genau handle. Nicht nur<br />
dann kommt der dreisprachige Infoflyer<br />
zum Einsatz der kurz über »Thor Steinar«,<br />
die neue Rechte und unserer Initiative<br />
informiert. <strong>Die</strong> Vorderseite, die<br />
das Logo ziert, kann <strong>als</strong> kleines Protestplakat<br />
verwendet werden. Einige Läden<br />
haben den Flyer <strong>als</strong> Zeichen des Widerstands<br />
und der Solidarität in ihr Schaufenster<br />
gehängt. Auf den Flyern befinden<br />
sich ebenfalls die Kontaktadresse<br />
der Initiative und ein Spendenaufruf.<br />
Das Logo prangte auch übergroß auf<br />
einem weiteren Bestandteil des Protestkonzepts:<br />
den Protest-Containern. Am<br />
Beginn, in der Mitte und am Ende der<br />
Straße wurden drittens diese Transportcontainer<br />
aufgestellt.<br />
<strong>Die</strong>se »Eyecatcher« griffen massiv in<br />
den öffentlichen Raum ein und machen<br />
so auf unser Problem aufmerksam.<br />
Durch eine Verkleidung mit Holzplatten<br />
entstanden an den Containern Flächen,<br />
die für Informationstexte im Stile<br />
einer Wandzeitung genutzt werden. Auf<br />
einem Container wurde über die Geschichte<br />
der Rosa-Luxemburg-Straße<br />
berichtet und ein weiterer informierte<br />
über der »Rechten neue Kleider« sowie<br />
die rechtsextreme Szene. Alle Texte waren<br />
in deutscher und englischer Sprache<br />
abgefasst. Ein dritter Container<br />
stand direkt vor dem »TØNSBERG«-Laden<br />
auf der dortigen Parkfläche. JedeR<br />
war eingeladen, dort Protestplakate anzubringen.<br />
Bis Ende November 2008 erwiesen<br />
sich die drei schwarzen Quader<br />
<strong>als</strong> äußerst wetter- und beschädigungsresistente<br />
Protestform. Sie stellten ein<br />
effektives Medium zur Aufklärung dar.<br />
Täglich blieben viele BesucherInnen der<br />
Straße vor den Containern stehen und<br />
informierten sich. Wenn die Plakate auf<br />
ihnen ausgetauscht werden, kommen<br />
wir oft mit Interessierten ins Gespräch.<br />
Regelmäßig fanden Führungen zu den<br />
Containern statt, die von Mitgliedern<br />
der Initiative geleitet wurden. Wenn die<br />
Plakate auf den Informationsträgern<br />
ausgetauscht wurden, kamen wir oft mit<br />
Interessierten ins Gespräch.<br />
Am 31. Mai 2008 wurden die Container<br />
im Rahmen eines Straßenfestes eingeweiht.<br />
Wiederum stieß die Initiative<br />
auf ein breites Medienecho und nutzte<br />
die Chance, sich in der Öffentlichkeit zu<br />
präsentieren. Der bereits erwähnte Israel<br />
Löwenstein, dessen Zeitzeugenaussagen<br />
auf einem der Protestcontainer zu<br />
finden sind, äußerte sich anschließend<br />
sehr positiv zu unserer Aktion und begrüßte<br />
das Engagement der Initiative.<br />
An einem Wochenende im August 2008,<br />
und zur »<strong>Linke</strong>n Kinonacht« am 19. September<br />
2008, wurden zwei der bisher<br />
verschlossenen Container kurzzeitig<br />
Geöffnet, um die Kurzfilmreihe »Filme<br />
gegen Rechts« durchzuführen. Zu sehen<br />
waren verschiedene Dokumentationen,<br />
Kurzfilme, Animationen, Reportagen<br />
und Clips, die sich mit der Geschichte<br />
des Kiezes sowie mit dem Rassismus,<br />
Antisemitismus und rechtsextremismus<br />
beschäftigten. Ende November 2008 lief<br />
die Genehmigung für die Container<br />
aus. Zudem war die Holzverschalung<br />
der Container witterungsbedingt be-
schädigt. Wir bauten sie ab. <strong>Die</strong> Holzflächen<br />
wurden einem Jugendzentrum in<br />
Berlin-Karlshorst zur Verfügung gestellt,<br />
um sie beim Protest gegen eine Neonazidemonstration<br />
einzusetzen. Das Konzept<br />
»Protestcontainer« findet eventuell<br />
in Zossen erste NachahmerInnen. Dort<br />
wehrt sich die Initiative »Jüdisches Leben<br />
in Zossen« gegen das Internet-Café<br />
Medienkombin@t zum Link«, das vom<br />
Holocaustleugner Rainer Link betrieben<br />
wird.<br />
Dass Uwe Meusel wegen eines Containers<br />
vor seinem Laden nicht aufgibt,<br />
war allen AktivistInnen klar. So erhielt<br />
die »:emyt«-Galerie einige Male ungebetenen<br />
Besuch. Zuletzt kam Herr Meusel<br />
höchst persönlich. Er bedankte sich für<br />
die gute Werbung die »MITTE GEGEN<br />
RECHTS« für ihn mache, beleidigte die<br />
Anwesenden und riet der Pressesprecherin<br />
der Initiative, auf ihre Gesundheit<br />
zu achten. <strong>Die</strong> Betroffenen haben<br />
Herrn Meusel angezeigt. <strong>Die</strong>se Kurzschlusshandlung<br />
zeigt, dass dem Geschäftsführer<br />
das Wasser mittlerweile<br />
bis zum H<strong>als</strong>e steht. <strong>Die</strong> Laufkundschaft<br />
hat deutlich abgenommen. Ein erster Erfolg<br />
für uns.<br />
Rund eine Woche vor dem eben geschilderten<br />
Vorfall konnte ein weiteres<br />
Zeichen gesetzt werden, um zu verdeutlichen<br />
dass für die Verherrlichung<br />
des »Dritten Reiches« in unserer Gesellschaft<br />
kein Platz ist. Verschiedene<br />
Privatpersonen und Organisationen<br />
hatten Geld gesammelt, um Stolpersteine<br />
zu setzen. Jenny Glück, Jacob Joelsohn,<br />
Minna Joelsohn, Adolf Rosentreter,<br />
Klara Rosentreter, Hans Rosentreter<br />
und Jutta Ruth Rosentreter wohnten bis<br />
zu ihrer Deportation in den Wohnungen<br />
über dem »TØNSBERG«-Geschäft in<br />
der Rosa-Luxemburg-Straße 18. Mit<br />
den Stolpersteinen wird an ihr Schicksal<br />
erinnert und ihrer gedacht. Um einen<br />
kleinen Einblick über die verbrecherische<br />
NS-Politik zu geben, wollten<br />
wir im leerstehenden Ladengeschäft neben<br />
dem »Thor Steinar«-Store eine Ausstellung<br />
präsentieren, die sich intensiver<br />
mit dem Schicksal der Ermordeten<br />
auseinandersetzt. Der Hauseigentümer<br />
stellte uns die Location trotz mehrfacher<br />
Bitten nicht zur Verfügung, da er<br />
»unpolitisch« sei. Hat er deshalb an Uwe<br />
Meusel vermietet? Kurzentschlossene<br />
schufen temporär aufstellbare Schautafeln,<br />
die nun vor dem Haus stehen.<br />
Zur Segnung der Stolpersteine kamen<br />
über 80 Personen. Einen Tag nach Uwe<br />
Meusels provokantem Auftreten gegenüber<br />
einigen Initiativmitgliedern wurde<br />
deutlich, dass sich weit mehr BerlinerInnen<br />
an »TØNSBERG« stoßen, <strong>als</strong> nur<br />
die AnrainerInnen. Neben dem Bezirksbürgermeister<br />
Dr. Handke, der eine kurze<br />
Rede hielt, waren VerterInnen verschiedener<br />
Parteien und Institutionen,<br />
wie der Amadeu-Antonio-Stiftung, der<br />
Jüdischen Gemeinde Berlins und des<br />
Zentralrats der Juden in Deutschland<br />
anwesend. Das musikalische Rahmenprogramm<br />
wurde von dem bekannten<br />
Klezmersänger Mark Aizikovitsch gestaltet.<br />
Verschiedene SpenderInnen der<br />
Stolpersteine stellten anschließend kurz<br />
die Biographien der sieben ermordeten<br />
AnwohnerInnen vor. <strong>Die</strong> hierfür notwendigen<br />
Recherchen wurden von »STOL-<br />
PERSTEINE« durchgeführt und uns zur<br />
Verfügung gestellt. Das singen von je<br />
einem Psalm und des Kaddisch, dem jüdischen<br />
Totengebet, durch den Kantor<br />
der jüdischen Gemeinde Simon Zkorenblut,<br />
beschloss die Gedenkfeier.<br />
Einen weiteren Höhepunkt fand der<br />
Protest am 19. September 2008. Zusammen<br />
mit dem Bezirksverband von<br />
»<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>« in Berlin-Mitte veranstaltete<br />
»MITTE GEGEN RECHTS« die »<strong>Linke</strong><br />
Kinonacht« unter dem Motto »Schöner<br />
leben ohne Nazis« im »Babylon«, direkt<br />
am Rosa-Luxemburg-Platz gelegen.<br />
Mehrere hundert, meist junge Menschen<br />
kamen, um sich das antifaschistische<br />
Programm aus Musik, Film und<br />
Kabarett anzusehen. Unsere Initiative<br />
war mit einem Infostand vertreten und<br />
hielt einen kurzen Redebeitrag.<br />
Etwa zehn Tage später begann eine<br />
neue Runde des Widerstandes gegen<br />
Uwe Meusel, »TÖNSBERG« und seine<br />
Mediatex GmbH: Am Landgericht Berlin<br />
wurde die Räumungsklage des Eigentümers<br />
der Rosa-Luxemburg-Straße 18,<br />
der Impala GmbH, verhandelt. Nachdem<br />
ein vom Richter angestrebter Vergleich<br />
scheiterte, beschloss das Gericht, bis<br />
Mitte Oktober 2008 den Rechtsstreit zu<br />
entscheiden. Am 14. Oktober 2008 hat<br />
das Berliner Landgericht der Räumungsklage<br />
des Vermieters des »TONSBERG«-<br />
Ladens in der Rosa-Luxemburg-Straße<br />
stattgegeben. Nach Ansicht der Richter<br />
hätte der Betreiber dem Vermieter<br />
vor der Eröffnung darüber informieren<br />
müssen, welche Ware in dem Geschäft<br />
angeboten werde. Wie zu erwarten war,<br />
hat die Mediatex GmbH, die mittlerweile<br />
offiziell nach Dubai verkauft wurde,<br />
zum 29. November 2008 Berufung gegen<br />
dieses Urteil eingelegt. Im Frühjahr<br />
2009 soll der Fall dann vor dem Kammergericht<br />
Berlin erneut verhandelt werden.<br />
<strong>Die</strong> Chancen für eine Räumung des<br />
Ladenlok<strong>als</strong> stehen gut, doch kann es zu<br />
weiteren Verzögerungen kommen. <strong>Die</strong><br />
Mediatex GmbH wird in einem ähnlich<br />
gelagerten Fall in Magdeburg voraussichtlich<br />
bis zur letzten Instanz gehen:<br />
Dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe.<br />
Trotz all der verschiedenen Protestformen<br />
und zahlreicher Bemühungen von<br />
vielen Seiten besteht der »TØNSBERG«-<br />
Store weiter. Er ist sogar bekannter<br />
denn je. Allerdings nicht <strong>als</strong> ganz normales<br />
Bekleidungsgeschäft, sondern<br />
<strong>als</strong> mit rechtem Gedankengut symphatisierender<br />
»Nazi-Laden«. Es ist uns in<br />
den letzten Monaten gelungen, die Verknüpfung<br />
»Thor Steinar« – »TØNSBERG«-<br />
Rechtsextremismus deutlich zu machen.<br />
JedeR Interessierte kann sich beteiligen.<br />
Zum Beispiel bei den monatlichen Treffen<br />
oder <strong>als</strong> UnterstützerIn der verschiedenen<br />
Protestformen. Viele unterstützen<br />
»MITTE GEGEN RECHTS« im Rahmen ihrer<br />
Möglichkeiten; sie stellen kostenlos<br />
ihre Kopierer zur Verfügung, erledigen<br />
und finanzieren großformatige Drucke<br />
oder helfen mit Werkzeug aus. Seit Februar<br />
2008 ist rund um die Rosa-Luxemburg-Straße<br />
ein gut funktionierendes<br />
Netzwerk entstanden, das Uwe Meusel,<br />
der Protex GmbH und »TØNSBERG«<br />
so lange auf die Nerven gehen wird, bis<br />
er mit samt seinem braunen Laden verschwindet.<br />
Roman Fröhlich<br />
1 Vgl. zur Geschichte des Kiezes um die Rosa-Luxemburg-Straße:<br />
Eike Geisel, Im Scheunenviertel. Bilder,<br />
Texte und Dokumente, Berlin 1981; Horst<br />
Helas u. <strong>Die</strong>ter Weigert, Scheunenviertel Berlin.<br />
Stadtteilführer, Berlin 1993 u. ö.; Reiner Zilkenat,<br />
»Ostjuden« <strong>als</strong> Objekte gewalttätiger Aktionen<br />
im Berlin der Weimarer Republik. Der Pogrom im<br />
Scheunenviertel am 5. und 6. November 1923, in:<br />
Mario Kessler, Hrsg., Antisemitismus und Arbeiterbewegung.<br />
Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert,<br />
Bonn 1993, S. 29 ff.; Verein Stiftung Scheunenviertel,<br />
Hrsg., Das Scheunenviertel. Spuren eines verlorenen<br />
Berlins, Berlin 1994 u. ö.; Horst Helas, Juden<br />
in Berlin-Mitte. Biografien-Orte-Begegnungen,<br />
2. Aufl., Berlin 2001 (mit weiter führenden Quellen-<br />
und Literaturangaben).<br />
2 Vgl. Peter Conrady, Neonazistische Alltagsmode –<br />
die Bekleidungsmarke Thor Steinar, in: Rundbrief,<br />
Heft 3/2008, S. 43 f.<br />
33
HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS<br />
UND ANTIFASCHISMUS<br />
Vor 90 Jahren starb Franz Mehring<br />
Geboren am 27. Februar 1846 in Schlawe,<br />
dem heutigen Slawno in Polen,<br />
verstarb Franz Mehring am 28. Januar<br />
1919 in einem Krankenhaus im Berliner<br />
Grunewald. Bislang wird vom 29. Januar<br />
<strong>als</strong> dem Datum seines Todes ausgegangen.<br />
Der Mehring- Forscher Waldemar<br />
Schupp schrieb bereits am 27. Februar<br />
1996 im »Neuen Deutschland«, Mehring<br />
sei in der Nacht vom 28. zum 29. Januar<br />
1919 verstorben. Aus einer mir in der<br />
ständigen Ausstellung über Leben und<br />
Wirken Franz Mehrings von einem Besucher<br />
übergegebenen Urkunde des Standesamtes<br />
Steglitz vom 29. Januar 1919<br />
wird der 28. Januar 1919 <strong>als</strong> Todestag<br />
ausgewiesen.<br />
Seine Kindheit und frühe Jugendzeit<br />
verlebte Mehring im preußischen Hinterpommern,<br />
in der Kreisstadt Sclawno<br />
zwischen Köslin, (Koszalin) und Stolp<br />
(Slupsk), wenige Kilometer von der Ostsee<br />
entfernt. <strong>Die</strong>se hinterpommersche<br />
Kleinstadt zählte dam<strong>als</strong> circa 5.000<br />
Einwohner. Einige kleinere Industriebetriebe<br />
und das landwirtschaftliche<br />
Umfeld mit Gutsbesitzern, Großbauern<br />
mit dem dazu gehörenden Heer von Tagelöhnern<br />
sowie eine Vielzahl kleiner<br />
Landwirte gaben dem Landkreis ihr Gepräge.<br />
Der Vater, Wilhelm Mehring, ein ehemaliger<br />
preußischer Offizier, war nach<br />
seiner Militärzeit Steuereinnehmer<br />
des Kreissteueramtes seines Heimatortes.<br />
Aus Untersuchungen Waldemar<br />
Schupps ergibt sich eine weitere Korrektur<br />
der biographischen Angaben zur<br />
Mutter Mehrings. Sie ist nicht wie angenommen,<br />
eine geborene Henriette von<br />
Zitsewitz, sondern eine geborene Schulz<br />
aus dem hinterpommerschen Lauenburg.<br />
Bislang wurde auf eine adlige<br />
Herkunft geschlossen. Streng im Preußengeist<br />
und evangelisch-lutherischen<br />
Glaubens, wollten die Eltern, dass ihr<br />
Sohn in die Fußstapfen der Vorfahren <strong>als</strong><br />
Prediger treten sollte. Im Leben kommt<br />
es aber häufig anders <strong>als</strong> vorher gedacht.<br />
Niemand konnte dam<strong>als</strong> ahnen,<br />
dass Franz Erdmann Mehring schließlich<br />
in seinem zweiten Leben nach 1890<br />
in die sozialdemokratische Partei eintreten,<br />
und nach dem Tod von Friedrich<br />
Engels zu deren bedeutendsten Historiker,<br />
Journalisten und Literaturkritiker<br />
wird und <strong>als</strong> unbeugsamer sozialdemo-<br />
34<br />
kratischer <strong>Linke</strong>r zum Mitbegründer der<br />
Kommunistischen Partei Deutschlands<br />
werden sollte.<br />
Mehring verbrachte seine Schulzeit in<br />
Schlawe und den nahe gelegenen Kreisstädten<br />
Greifenberg und Stolp. Zum Erlangen<br />
der Hochschulreife schickten<br />
Mehrings Eltern ihren Sohn zunächst<br />
auf das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium<br />
in die benachbarte Kreisstadt Greifenberg<br />
(Gryhice). Mit dem Abitur und dem<br />
häufig erwähnten Schulaufsatz »Preußens<br />
Verdienste für Deutschland« in der<br />
Tasche, führte Mehrings Weg 1866 zum<br />
Studium in das Königreich Sachsen. an<br />
die altehrwürdige, 1409 gegründete Alma<br />
Mater zu Leipzig. Er besuchte Vorlesungen<br />
bei dem klassischen Philologen<br />
Georg Curtius. Ebenso gehören griechischen<br />
Grammatik und die vergleichende<br />
Grammatik altitalischer Sprachen<br />
zu seinen Hauptfächern. Auf sein<br />
zuweilen wohl auch lustiges Studentenleben<br />
blieben das Wirken demokratischer<br />
Persönlichkeiten, die den revolutionären<br />
Geist der Menschenrechte<br />
der 1848er Revolution vertraten und<br />
das Bürgertum zur Besinnung auf diese<br />
Werte aufriefen, wie zum Beispiel<br />
Johann Jacoby (1805–1875) und Guido<br />
Weiß (1822–1<strong>899</strong>) sowie die aufwärts<br />
strebenden sozialistischen Kräfte<br />
(Eisenacher) um August Bebel (1840–<br />
1913) und Wilhelm Liebknecht, nicht ohne<br />
Einfluss. In Leipzig begann Mehrings<br />
kritische Beschäftigung mit dem Preußentum,<br />
hier entzündete sich auch sein<br />
journalistisches Interesse. 1<br />
Mehrings langer Weg vom<br />
bürgerlichen Demokraten zum<br />
demokratischen Sozialisten<br />
Von Leipzig kommend, trug sich Mehring<br />
<strong>als</strong> Zweiundzwanzigjähriger in Berlin,<br />
am 28. November 1868, unter der<br />
Nummer 757 in die Matrikel der Kaiser<br />
Wilhelm-Universität ein und besuchte<br />
Vorlesungen in drei Seminaren. Erst 11<br />
Jahre später promovierte Mehring, wiederum<br />
an der Leipziger Universität, extern<br />
zum Doktor der Philosophie. 2 Noch<br />
<strong>als</strong> Student wurde Mehring 1869 in die<br />
Redaktion der Tageszeitung »<strong>Die</strong> Zukunft«<br />
und später die der »Waage«, von<br />
den radikalen Demokraten Johann Jacoby<br />
und Guido Weiß herausgegeben, aufgenommen.<br />
In seiner »Rechtfertigungsschrift; ein<br />
nachträgliches Wort zum Dresdner Parteitag«<br />
3 von 1903, geht Mehring auf seinen<br />
Lebensabschnitt zwischen 1868<br />
und 1876 ein und schreibt, er sei mit<br />
Bebel »durch seinen alten Lehrer Guido<br />
Weiß bekannt geworden … wie das<br />
Bebel in Dresden geschildert hat. An<br />
Guido Weiß, der meines Erachtens zu<br />
den feinsten Stilisten in der Literatur<br />
des 19. Jahrhunderts gehört, war ich<br />
von den ästhetisch-literarischen Seite<br />
gekommen; <strong>als</strong> Mitredakteur bin ich<br />
an seiner ›Zukunft‹ von 1869 bis 1971<br />
und <strong>als</strong> Mitarbeiter seiner ›Waage‹ von<br />
1873–1876 tätig gewesen; in der Zwischenzeit<br />
war ich mit Leopold Jacobi,<br />
nicht zu verwechseln mit Johann Jacobi,<br />
Mitarbeiter des Oldenburgischen<br />
Reichs- und Landtagsberichts.«<br />
Bebel erwähnt in seien »Lebenserinnerungen«<br />
gemütliche Treffen, an denen<br />
auch Mehring am Ende der sechziger<br />
Jahre des 19. Jahrhunderts teilnahm.<br />
»Es war in Berlin eine ziemlich starke<br />
Gruppe meist gut gestellter Bürger, die<br />
in Johann Jacobi ihr Idol sahen und mit<br />
uns sympathisierten. Sie gruppierten<br />
sich um Dr. Guido Weiß, den Redakteur<br />
der von ihm vorzüglich geleiteten »Zukunft«,<br />
eines großen demokratischen<br />
Tageblattes, das die vermögenden Jakobyten<br />
– wie wir die speziellen Anhänger<br />
Jacobys kurz nannten – im Jahr<br />
1867 gegründet hatten … Zugehörige<br />
dieser Gruppe waren William Spindler,<br />
der Sohn des Gründers des großen<br />
Färbereigeschäfts W. Spindler, van der<br />
Leeden, Dr. G. Friedländer, Morten Levy,<br />
Dr. Meierstein, Boas, Dr. Stephan, später<br />
Chefredakteur der »Vossischen Zeitung«<br />
und andere. Auch der dam<strong>als</strong> sehr<br />
junge Mehring den ich dam<strong>als</strong> durch Robert<br />
Schweichel hatte kennengelernt,<br />
gehörte zu diesem Kreis. Blieben Liebknecht<br />
und ich über Sonntag in Berlin,<br />
so trafen wir in der Regel mit mehreren<br />
der Genannten, unter denen sich auch<br />
öfter Paul Singer befand, in einer Weinstube<br />
zusammen.« 4<br />
Mehring gegen die Annexion<br />
Elsass-Lothringens<br />
1870/71 fand der von Bismarck provozierte<br />
Deutsch-Französische Krieg statt.<br />
Zeitweilig eingenommene national liberale<br />
Positionen, beeinflusst von den mi-
litärischen Siegen Preußens, man denke<br />
an die Schlacht bei Sedan, dürfen im<br />
Rüc<strong>kb</strong>lick nicht unberücksichtigt lassen,<br />
dass der junge Mehring im Oktober 1870<br />
zu den 100 Aufrechten gehörte, die den<br />
von August Bebel, Wilhelm Liebknecht<br />
und Guido Weiß formulierten Aufruf gegen<br />
die Annexion von Elsass-Lothringen<br />
durch Preußen unterzeichneten. Es war<br />
die Tageszeitung »<strong>Die</strong> Zukunft«, die diesen<br />
Protest veröffentlichte.<br />
<strong>Die</strong> von Mehring angeregte Auseinandersetzung<br />
mit dem an der Berliner Universität<br />
lehrenden Historiker Heinrich<br />
von Treitschke (1834–1896) und seinen<br />
Verleumdungen des Sozialismus,<br />
wurde von Guido Weiß aufgegriffen. Daraufhin<br />
veröffentlichte Mehring im Sommer<br />
1875 in der »Waage« mehrere Artikel<br />
gegen Treitschke, den Apologeten<br />
des preußischen Militarismus und der<br />
Hohenzollernmonarchie. Sie erschienen<br />
kurze Zeit später <strong>als</strong> Broschüre. 5<br />
Nach den auf dem Dresdner Parteitag<br />
1903 gegen Mehring erhobenen Vorwurf<br />
er habe sich vor zwanzig Jahren in<br />
den Artikeln <strong>als</strong> Sozialdemokrat ausgegeben,<br />
sie aber später gnadenlos angegriffen<br />
schrieb dieser: »Ich habe sie<br />
neulich (die Broschüre, W.R.), seit ein<br />
paar Jahrzehnten wieder durchgesehen<br />
und finde, dass sie der wissenschaftlichen<br />
Gedankenwelt des Sozialismus<br />
noch vollkommen fern steht. Sie trumpft<br />
eben nur, gleichviel mit welchem Maße<br />
von Witz, die ordinären Philistervorurteile<br />
gegen die moderne Arbeiterbewegung<br />
auf, zu deren Echo sich Treitschke<br />
gemacht hatte.«<br />
Seine damalige, sehr gefühlsmäßige<br />
Befürwortung der Sozialdemokratie<br />
darf nicht übersehen lassen, sie belegt,<br />
dass Mehring noch im bürgerlichradikalen<br />
Lager stand. Ihm bedeutete<br />
der Lassallsche Nachlass mehr <strong>als</strong> Forschungsergebnisse<br />
von Karl Marx und<br />
Friedrich Engels. So war sein Verhältnis<br />
zur modernen Arbeiterbewegung<br />
sehr pragmatisch von seinem ausgeprägten<br />
Gerechtigkeitsempfinden bestimmt.<br />
Später wurden auch antisemitische<br />
Äußerungen des Widerparts von<br />
Franz Mehring, Heinrich von Treitschke,<br />
bekannt: Er diffamierte Juden <strong>als</strong> »das<br />
fremde Element« im deutschen Volk<br />
und schrieb unter anderem: »<strong>Die</strong> Juden<br />
sind unser Unglück«; Anlass genug für<br />
die Nazis, ihn in die Galerie der »großen<br />
Deutschen« aufzunehmen. 7<br />
Enthüllungsjournalismus gegen<br />
Korruption und Geldgier mit<br />
unübersehbaren Folgen<br />
1876 geschah etwas, das Mehrings Hinwendung<br />
zur jungen deutschen Sozi-<br />
aldemokratie jäh unterbrach und ihn<br />
zeitweilig zu ihrem enttäuschten und<br />
verbitterten Gegner machte. Mehring<br />
veröffentlichte, gestützt auf ihm vorliegende<br />
Beweisstücke, am 21. Mai 1976 in<br />
der »Staatsbürger-Zeitung« seine Anklage<br />
gegen Leopold Sonnemann, Herausgeber<br />
und Chefredakteur der bekannten<br />
»Frankfurter Zeitung« und Reichstagsabgeordneter.<br />
Mehring schrieb:<br />
»Somit erheben wir Anklage gegen den<br />
Reichstagsabgeordneten zu Frankfurt<br />
a.M., Herrn Leopold Sonnemann, dass<br />
er während der Schwindelperiode (auch<br />
Gründerzeit genannt, W. Ruch) seine öffentliche<br />
Vertrauensstellung <strong>als</strong> Besitzer<br />
und Leiter der ›Frankfurter Zeitung‹ benutzt<br />
hat zu heimlichen Gewinnsten aus<br />
Gründungen, über welche sein Publikum<br />
in seinem Blatte ein unbestochenes und<br />
unparteiisches Urteil zu erwarten berechtigt<br />
war.« 8<br />
In der Sozialdemokratie löste diese<br />
Anklage ein Für und Wider aus. Bebel<br />
und Liebknecht zeigten sich besonders<br />
schockiert. Sie sahen in Mehrings Vorgehen<br />
einen unverzeihlichen politischen<br />
Fehler. Für sie war Herr Sonnemann<br />
zwar nicht »unbefleckt«, aber dessen<br />
Offerten und Neigungen zur Sozialdemokratie<br />
ließen sie über manches hinwegsehen.<br />
So sah man es auch 1876<br />
auf dem Gothaer Vereinigungsparteitag.<br />
Zeit seines Lebens ließ er nichts<br />
auf sich sitzen. Seinen steter Einsatz<br />
für den Schwächeren sah er angegriffen;<br />
enttäuscht und verbittert bezichtigte<br />
Mehring jetzt führende Sozialdemokraten<br />
des Wortbruchs. Sie würden<br />
»Wasser predigen und selbst heimlich<br />
Wein trinken.« Von einem »einrenken«<br />
war von beiden Seiten keine Seite Rede.<br />
Im Januar 1877 erschien von Mehring,<br />
kurz vor den Reichstagswahlen, seine<br />
gegen die Sozialdemokratie gerichtete<br />
Schrift: »Zur Geschichte der deutschen<br />
Sozialdemokratie; ein historischer Versuch.«<br />
Ein gefundenes Fressen für die<br />
knservative Presse. Dem folgte dann<br />
noch das Buch: »<strong>Die</strong> deutsche Sozialdemokratie,<br />
ihre Geschichte und ihre<br />
Lehre; eine historisch-kritische Darstellung«.<br />
Mit Letzterem promovierte<br />
Mehring schließlich am 9. August 1882<br />
an der Leipziger Universität.<br />
Zu dieser Zeit beginnt Mehring sich mit<br />
dem »Sozialistengesetzes« und seiner<br />
Anwendung auseinanderzusetzen. Er<br />
durchschaute Bismarcks »Sozialgesetzgebung«<br />
<strong>als</strong> Politik »mit Zuckerbrot und<br />
Peitsche«. Man hört von Mehring wieder<br />
anerkennende Worte für den mutigen<br />
Kampf der Sozialdemokraten, gemischt<br />
mit Bemerkungen über die SPD, die das<br />
Verhältnis zu ihr weiterhin belasteten.<br />
<strong>Die</strong> erlittenen Wunden waren noch nicht<br />
verheilt. Das bescherte Mehring nicht<br />
gerade angenehme Entgegnungen von<br />
Karl Marx und Friedrich Engels. Engels<br />
schrieb am 24. Juli 1885 an Bebel:<br />
»<strong>Die</strong> Artikel der »Berliner Volkszeitung«<br />
sind sicher von Mehring, wenigstens<br />
weiß ich keinen anderen in Berlin, der<br />
so gut schreiben kann. Der Kerl hat viel<br />
Talent und einen offenen Kopf, ist aber<br />
ein berechnender Lump und von Natur<br />
ein Verräter …«<br />
Wie so oft führen Klassenkämpfe zu<br />
besseren Einsichten. Während Mehring<br />
immer energischer das »Sozialistengesetz«<br />
bekämpfte und seine Aufhebung<br />
forderte, beschäftigte er sich intensiv<br />
mit dem wissenschaftlichen Werk von<br />
Marx und Engels. Mehring selbst gibt<br />
zwanzig Jahre später das Jahr 1883 <strong>als</strong><br />
Zeitpunkt seines »Gesinnungswandels«<br />
an. In der zweiten Hälfte der 80 er Jahre<br />
gewinnt er in der Sozialdemokratie<br />
wieder Achtung. Es kommt zu Gesprächen<br />
zwischen Mehring, Bebel und<br />
Liebknecht und anderen. 1888 erscheinen<br />
von Mehring erste Artikel in der seit<br />
1882 unter der Regie von Karl Kautsky<br />
monatlich erscheinenden theoretischen<br />
Zeitung der Sozialdemokratie »<strong>Die</strong> Neue<br />
Zeit«. Umgekehrt übernahmen Sozialdemokratische<br />
Blätter Artikel aus der<br />
»Volkszeitung«, deren Chefredakteur<br />
Mehring von 1885 bis 1890 war.<br />
Franz Mehring wird Mitglied der SPD<br />
1891 kommt es zum endgültigen Bruch<br />
mit dem bürgerlichen Lager. Franz<br />
Mehring wird jetzt, immerhin schon 45<br />
Jahre alt, Mitglied der Sozialdemokratischen<br />
Partei. Fortan stellt er ihr sein<br />
umfangreiches Wissen und das in zwei<br />
Jahrzehnten erworbene journalistische<br />
Können zur Verfügung. Mehring wird<br />
in die Redaktion der von Karl Kautsky<br />
geleiteten Zeitschrift »<strong>Die</strong> Neue Zeit« 10<br />
geholt und bekommt die Verantwortung<br />
für das Feuilleton übertragen, wird<br />
bald ihr Leitartikler und Mitherausgeber.<br />
Ab 1892 erscheint sein Name erstmalig<br />
auf dem Titelblatt neben August Bebel,<br />
Eduard Bernstein, Friedrich Engels,<br />
Paul Lafargue, Wilhelm Liebknecht, Max<br />
Schippel, F.R. Sorge u. a. <strong>als</strong> ständiger<br />
Mitarbeiter. Seine verdienstvolle Tätigkeit<br />
für die deutsche Sozialdemokratie<br />
<strong>als</strong> marxistischer Historiker, Literaturkritiker,<br />
Publizist und führender Kopf der<br />
<strong>Linke</strong>n hatte begonnen.<br />
Eine bibliographische<br />
Zwischenbemerkung<br />
Aus der kaum zu überblickenden Zahl<br />
von Publikationen, Artikeln, Broschüren<br />
und Büchern. erfuhr zunächst »<strong>Die</strong><br />
35
Lessing-Legende, eine Rettung, nebst<br />
einem Anhang über den historischen<br />
Materialismus« große Beachtung. Als<br />
Buch erschien sie 1893 erstmalig im<br />
Verlag J.H.W. <strong>Die</strong>tz, in der Internationalen<br />
Bibliothek, Band 17. Vom gleichen<br />
Verlag wurde sie neunmal herausgegeben,<br />
zuletzt 1926. 11 1897/98 gab der<br />
<strong>Die</strong>tz Verlag die von Heinrich <strong>Die</strong>tz in<br />
Auftrag gegebene mehrbändige Ausgabe<br />
»Geschichte der Sozialdemokratie<br />
Deutschlands«.<br />
In einem zum 125 Jahrestag des <strong>Die</strong>tz<br />
Verlages von der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />
herausgegebenen Buch liest man<br />
im Beitrag von Rüdiger Zimmermann:<br />
»Mehring war <strong>als</strong> Autor nicht immer<br />
unumstritten. Er genoss keine großen<br />
Sympathien.« Wer wollte wohl ausschließen,<br />
dass es zwischen zwei so<br />
starken Persönlichkeiten, zumal sie sich<br />
<strong>als</strong> Autoren und Verleger gegenüber traten,<br />
keine Reibereien gegeben haben<br />
sollte. Fast alle Buchtitel von Mehring<br />
erschienen noch zu Lebzeiten beider,<br />
im J.H.W. <strong>Die</strong>tz-Verlag, außer die 1918<br />
verlegte Karl-Marx-Biographie. Was<br />
den Menschen Franz Mehring anging,<br />
schrieb Clara Zetkin in ihrem Nachruf<br />
am 21. Februar 1919 in der Frauenbeilage<br />
der Leipziger Volkszeitung«:<br />
»Der Mensch Franz Mehring ist oft und<br />
scharf bekrittelt worden. Erklärlich ge-<br />
36<br />
nug, doch zu Unrecht. Gewiss: dieser<br />
allzeit gerüstete, rauflustige Degen war<br />
sowenig wie Marx. ›ein langweiliger Musterknabe‹<br />
Er war stark in seniem Groll,<br />
wie in seiner Überzeugung, in seinem<br />
ritterlicher Mitgefühl für Verkannte und<br />
Geächtete, in seiner Freundschaft«. <strong>Die</strong><br />
Größe dieser beiden Männer bestand<br />
wohl darin, dass beide immer wieder<br />
zusammen fanden. Zum 70. Geburtstag<br />
am 2. Oktober 1913, unmittelbar nach<br />
dem Tode August Bebels, übermittelte<br />
Mehring Heinrich <strong>Die</strong>tz herzliche Grüße<br />
und Glückwünsche. Tags zuvor waren<br />
sie in der »Leipziger Volkszeitung«<br />
zu lesen:« Sein Tagwerk steht in der<br />
Geschichte des proletarischen Emanzipationskampfes<br />
so groß da, wie das<br />
Tagwerk irgendeines von denen, die<br />
jahrzehntelang Schulter an Schulter<br />
mit ihm gearbeitet und gekämpft haben;<br />
ja, wenn er allzeit seinen Mann gestanden<br />
hat, wo immer die Parteipflicht<br />
heischend, an ihn herantrat, <strong>als</strong> Agitator,<br />
<strong>als</strong> Organisator, <strong>als</strong> Gewerkschafter,<br />
<strong>als</strong> Parlamentarier, so hat er doch<br />
einen großen und wichtigen Teil unseres<br />
Schlachtfeldes aus ureigenster Kraft<br />
verwaltet, lange Zeit allein und dann immer<br />
noch <strong>als</strong> Vorbild der jüngeren Kräfte,<br />
die ihm nacheiferten und die ihm nur<br />
nacheifern konnten, weil sie ihr Bestes<br />
von ihm gelernt hatten. Heinrich <strong>Die</strong>tz<br />
ist der Schöpfer der wissenschaftlichen<br />
Literatur, die die deutsche Arbeiterpartei<br />
zu ihren schönsten Ehren- und Ruhmestiteln<br />
zählen darf.«<br />
Eduard Fuchs (Universum–Bücherei Berlin)<br />
gab von Mehring eine sieben bändige<br />
Auswahl »Gesammelter Schriften<br />
und Aufsätze« in den Jahren von 1929<br />
bis 1933 heraus. Eine Werkauswahl in<br />
drei Bänden, herausgegeben von Fritz J.<br />
Raddatz, wurde von Luchterhand Darmstadt<br />
von 1974/1975 verlegt. Schließlich<br />
wurden die bisherigen Ausgaben<br />
gekrönt von der ersten umfassenden<br />
Ausgabe »Gesammelte Schriften« in<br />
der DDR; herausgegeben wurde sie von<br />
Thomas Höhle, Hans Koch und Josef<br />
Schleifstein, Band 1–15, <strong>Die</strong>tz Verlag<br />
Berlin, 1960 bis 1984. Einzelne Bände<br />
erschienen außerdem in mehreren Auflagen.<br />
Im Ausland erschienen Bücher von<br />
Mehring zum Teil in hohen Auflagen,<br />
in chinesischer, deutscher, englischer,<br />
französischer, japanischer, polnischer,<br />
rumänischer, serbischer, slowenischer,<br />
slowakischer, spanischer, tschechischer<br />
und ungarischer Sprache. Jüngst erhielt<br />
ich Kenntnis von einer indischen Ausgabe<br />
gesammelter Schriften in englischer<br />
Sprache. Herausgegeben 1998 erschien<br />
in Indiens Hauptstadt Delhi erneut eine<br />
Sammelausgabe.
Mehring im letzten Jahrzehnt des<br />
19. Jahrhunderts.<br />
Der Weltkapitalismus vollzieht an unterschiedlichen<br />
Fronten und mit unterschiedlichem<br />
Tempo den Übergang in<br />
sein imperialistisches Stadium. 1898<br />
beschließt der Reichstag das erste Programm<br />
zur Hochrüstung der Flotte. Sie<br />
sei notwendig, so der Kaiser, um in die<br />
Lage zu kommen den noch nicht erreichten<br />
Platz in der Welt zu erreichen.<br />
Der Rüstungskonzern versicherte dem<br />
Kaiser seine Überzeugung, dass seine<br />
Exellence sich dafür einsetzen werde für<br />
Deutschlands einen »Platz an der Sonne«<br />
zu sichern. 1898 vereinbarte der<br />
Kaiser Wilhelm II .mit dem türkischen<br />
Sultan den Bau der Bagdadbahn. Bereits<br />
1897 wurde Kiautschou am Gelben<br />
Meer annektiert. Deutschland nahm<br />
Teil am Wettlauf der Großmächte gegen<br />
China und beteiligt sich 1900 an der<br />
Niederschlagung des Boxeraufstandes.<br />
In dieser Zeit gelang es den deutschen<br />
Sozialisten ihren Einfluss nachhaltig zu<br />
erweitern und sich <strong>als</strong> Teil der internationalen<br />
Arbeiterbewegung zu definieren.<br />
Mehrings Herz schlug für die Idee des<br />
Internationalismus und das solidarische<br />
Zusammenstehen. Zahlreiche Beiträge<br />
Mehrings nach 1890 sind daher dem<br />
1. Mai und der internationalen Revolutionsgeschichte<br />
gewidmet.<br />
Von Mehrings Leistungen <strong>als</strong> Historiker<br />
und Literaturwissenschaftler im<br />
neunten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts<br />
sollen auf Anhieb drei genannt<br />
werden, erstens 1892/93 die Herausgabe<br />
der »Lessing-Legende«, zweitens<br />
die Wahl zum Vorsitzenden des Berliner<br />
Freien Volksbühne Vereins und drittens<br />
1887/88 die Fertigstellung jenes<br />
Werkes, das zu seinen bedeutsamsten<br />
gehört: »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie«.<br />
Zur »Lessing-Legende«<br />
Zunächst veröffentlicht »<strong>Die</strong> Neue Zeit«<br />
von Januar bis Juni 1892 »<strong>Die</strong> Lessing-<br />
Legende.« <strong>Die</strong>se Artikelfolge erscheint<br />
noch im gleichen Jahr. seiner Frau Eva<br />
gewidmet, <strong>als</strong> Buch im <strong>Die</strong>tz Verlag. Das<br />
war jenes Jahr, in dem am 22. September<br />
Friedrich Engels in den »Concordia<br />
Festsälen« im Berliner Bezirk Friedrichshain<br />
von 4 000 Besuchern stürmisch<br />
gefeiert wird. Neben den Mitgliedern<br />
des Parteivorstandes waren, wie aus<br />
Polizeiberichten hervorging, auch Bruno<br />
Schoenlank, Arthur Stadthagen und<br />
Franz Mehring anwesend. Ein Jahr später<br />
schrieb Engels an Mehring über die<br />
»Lessing-Legende«:<br />
»Es ist bei weitem die beste Darstellung<br />
der Genesis des preußischen Staates,<br />
die existiert, ja, ich kann wohl sagen, die<br />
einzig gute, in den meisten Dingen bis zu<br />
den Einzelheiten richtig die Zusammenhänge<br />
entwickelnd. Man bedauert nur,<br />
das sie nicht auch gleich die ganze Weiterentwicklung<br />
bis auf Bismarck haben<br />
hinein nehmen können, und hofft unwillkürlich,<br />
dass Sie dies ein andermal tun<br />
und das Gesamtbild im Zusammenhang<br />
darstellen werden vom Kurfürsten Friedrich<br />
Wilhelm bis zum alten Wilhelm.«<br />
Damit wird auch die gelegentliche Frage<br />
beantwortet, ob sich das Buch gegen<br />
Lessing richte. Das Gegenteil ist<br />
der Fall. Tatsächlich entlarvt es die Legende<br />
vom »aufgeklärten« Despotismus<br />
des »Alten Fritz«. Mehring sah in Lessing<br />
einen bedeutenden Aufklärer, der<br />
<strong>als</strong> Dichter und Literaturkritiker zum Begründer<br />
der bürgerlichen deutschen Nationalkultur<br />
wurde. Mehring ging es um<br />
eine Analyse der Geschichte Preußens<br />
und den Missbrauch Lessings für die reaktionäre<br />
Idealisierung des preußischen<br />
Despotismus. Mehring hat nie einen<br />
Zweifel daran gelassen, dass er Preußen<br />
<strong>als</strong> Teil der deutschen Geschichte<br />
sah, aber er sah Preußen nie nur aus der<br />
Sicht seiner Legenden und <strong>als</strong> Historiker<br />
ließ er sich nicht in die Grenzpfähle<br />
Preußens zwängen.<br />
<strong>Die</strong> »Lessing-Legende« und das<br />
Hohenzollern-Schloss in Berlin<br />
Ließt man die »Lessing-Legende«, stößt<br />
man sehr schnell auf die in den letzten<br />
Jahren geführte Debatten um das Berliner<br />
Hohenzollern-Schloss. So wenig<br />
wie es beim Abriss des Palastes des<br />
Volkes um Architekturauffassungen<br />
mit oder ohne Asbest ging, so wenig<br />
geht es beim Wiederaufbau des Stadtschlosses<br />
um die von den Protagonisten,<br />
teils blauäugig vertretene Auffassung,<br />
der Wideraufbau diene der<br />
Pflege deutschen Architekturerbes.<br />
Man sollte sich daran erinnern, dass es<br />
der Alliierte Kontrollrat war der es für<br />
nötig hielt per Gesetz 46 vom 25. Februar<br />
1947 den Staat Preußen mit der<br />
Begründung aufzulösen: »Der Staat<br />
Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus<br />
und der Reaktion in Deutschland<br />
gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu<br />
bestehen aufgehört. Geleitet vom Interesse<br />
der Aufrechterhaltung des Friedens<br />
und der Sicherheit der Völker<br />
und erfüllt von dem Wunsche, die weitere<br />
Widerherstellung des politischen<br />
Lebens in Deutschland auf demokratischer<br />
Grundlage zu sichern, erlässt<br />
der Kontrollrat das folgende Gesetz:«<br />
zur Auflösung des Staates Preußens. Eine<br />
geschichtsträchtige Debatte zur Rolle<br />
der Hohenzollernmonarchie in der<br />
deutschen Geschichte fand nicht statt.<br />
Das heutige konservative Preußenbild<br />
gab ihr keine Chance. Andere Lösungsvorschläge<br />
<strong>als</strong> Abriss des Palastes verfielen<br />
der Ablehnung. Der Preußengeist<br />
feiert neue Urständ. Einen Tag vor Sylvester,<br />
am 30. Dezember 2008 benutzt<br />
Bernhard Schulz 12 , der Preußensachverständige<br />
und Kolumnist des »Tagesspiegel«,<br />
die vorgelegte Jahresbilanz der<br />
»Stiftung Preußischer Kulturbesitz um<br />
seine geschichtsphilosophischen Dogmen<br />
an den Leser zu bringen: »Der Bundespräsident<br />
hielt die Festrede (2007 d.<br />
Verf.), aber man staunt auch im Nachhinein<br />
wie vorsichtig sich Horst Köhler<br />
der kulturellen Bedeutung Preußens näherte,<br />
<strong>als</strong> müsste man heute noch rituell<br />
Abbitte leisten für den Militärstaat,<br />
der Preußen zweifellos auch war. >Den<br />
Sonderweg der gradlinig in die Nazidiktatur<br />
mit ihren unsäglichen Verbrechen<br />
.führteWiderstand gegen Hitler«. Empfiehlt<br />
sich da nicht wieder, in Mehrings<br />
»Lessing-Legende« zu schauen?<br />
1910 schloss Mehring den Kreis seiner<br />
Untersuchungen zur deutsch-preußischen<br />
Geschichte mit dem Buch:<br />
»Deutsche Geschichte vom Ausgange<br />
des Mittelalters« bis zum Sturz Bismarcks.<br />
<strong>Die</strong>se Schrift, so Mehring in<br />
seinem Vorwort sei entstanden aus den<br />
Vorträgen die er seit vier Jahren an der<br />
Parteischule der SPD gehalten habe.<br />
<strong>Die</strong> erste Neuauflage dieses Werkes erfolgte<br />
1946, unmittelbar nach dem Vereinigungsparteitag<br />
von SPD und KPD in<br />
Berlin durch den <strong>Die</strong>tz Verlag der Sozialistischen<br />
Einheitspartei Deutschlands.<br />
Begründet wurde diese Veröffentlichung<br />
mit der Notwendigkeit die deutsche Geschichte<br />
zu bewältigen.<br />
Vorsitzender des Vereins der Freien<br />
Volksbühne<br />
Mehring zog es zu dem 1890 im Böhmischen<br />
Brauhaus in Friedrichshain<br />
gegründeten Theaterverein Freie<br />
Volksbühne Berlin. An der Gründungsversammlung<br />
hatten etwa 2000 Berliner<br />
teilgenommen von denen viele<br />
ihren Beitritt zu einem monatlichen<br />
Beitrag von 50 Pfennig erklärt hatten.<br />
»Kunst dem Volke« 14 war das im Gründungsaufruf<br />
verkündete Ziel dieser ersten<br />
selbstständigen Theaterorganisation<br />
der Arbeiterbewegung. In der,<br />
sofort nach Gründung des Vereins einsetzenden<br />
Debatte über die Konzeption<br />
des Spielplanes und über seine künst-<br />
37
lerische Umsetzung konnte sich Bruno<br />
Wille, dem Initiator aus dem Friedrichshagener<br />
Kulturkreis, im Vorstand<br />
nicht durchsetzen. Er wurde »gestürzt«.<br />
Am 11. September 1892 wählte die Mitgliederversammlung<br />
Franz Mehring<br />
zum neuen Vorsitzenden des Vereins.<br />
Sie sah in seiner Wahl die Möglichkeit,<br />
aus der konzeptionellen Krise<br />
der jungen Theatergemeinschaft heraus<br />
zu kommen. Der Verein verfügte<br />
über keine eigene Bühne. Das Gebäude<br />
der »Volksbühne« am heutigen Rosa-<br />
Luxemburg-Platz konnte erst 1914 fertig<br />
gestellt werden. Das Ostend-Theater<br />
in der Großen Frankfurter Straße 132<br />
Ecke Koppenstraße wurde gemietet.<br />
Henrik Ibsens Drama »Stützen der Gesellschaft«<br />
gehörte zu den Erstaufführungen..<br />
Unter dem Vorsitz von Mehring<br />
gelangte 1893 das mehrfach verbotene<br />
Schauspiel »<strong>Die</strong> Weber« von Gerhart<br />
Hauptmann zur Aufführung. 15 Mit regelmäßigen<br />
Beiträgen im Mitteilungsblatt<br />
des Vereins trug Mehring auch zu seiner<br />
geistigen Gestaltung bei. Im Dezember<br />
1893 schrieb Mehring: (…) <strong>Die</strong> »Weber«<br />
von Gerhart Hauptmann ist das einzige<br />
Bühnenstück der Gegenwart, das auf<br />
der Höhe des modernen Lebens steht<br />
und für das Ende des neunzehnten Jahrhunderts<br />
eine ähnliche Bedeutung in<br />
der deutschen Literatur beanspruchen<br />
kann wie Schillers Räuber Ausgangs<br />
des achtzehnten Jahrhunderts. (…) 16<br />
<strong>Die</strong> »Geschichte der deutschen<br />
Sozialdemokratie«<br />
Heinrich <strong>Die</strong>tz, Verlagschef des gleichnamigen,<br />
der SPD nahe stehenden<br />
Verlages, hatte Franz Mehring mit der<br />
Abfassung der Geschichte der Sozialdemokratischen<br />
Partei Deutschlands<br />
»beauftragt«. 17 Von 1893, dem Jahr des<br />
Erscheinens seines ersten literatur-historischen<br />
Werkes die »Lessing-Legende«,<br />
begann Mehring an der Parteigeschichte<br />
zu arbeiten. 1897/98 erschienen, war<br />
sie die erste umfassende Darstellung der<br />
Geschichte der deutzschen Sozialdemokratie<br />
und der Grundlagen des modernen<br />
wissenschaftlichen Kommunismus.<br />
<strong>Die</strong> Kenntnis der eigenen Wurzeln, der<br />
geistigen Ahnen von Marx und Engels,<br />
der internationalen Geschichte der sozialen<br />
Bewegungen des 19. Jahrhunderts,<br />
insbesondere der der Sozialdemokratie,<br />
halfen der Partei, sich selbst <strong>als</strong> die die<br />
Geschichte bewegende und verändernde<br />
Kraft zu erkennen. Mehring erwies sich<br />
nach dem Tode von Friedrich Engels<br />
<strong>als</strong> bedeutendster Historiker der sozialdemokratischen<br />
Partei. <strong>Die</strong> Schönfärber<br />
des Preußentums und Verehrer der<br />
Bourgeoisie verschiedener Couleurs tra-<br />
38<br />
ten sofort gegen Mehring auf den Plan.<br />
In Erwartung solcher Anwürfe schrieb<br />
Mehring 1897: » <strong>Die</strong> alte Erfahrung, dass<br />
jedes Buch sich selbst das Recht seines<br />
Daseins erkämpfen muss, trifft dreimal<br />
zu auf die Geschichte der Sozialdemokratie,<br />
die wissenschaftlichen Ansprüchen<br />
gerecht zu werden sucht.« 18 Heute<br />
lässt sich sagen: die drei Hauptwerke<br />
Mehring die »Lessing-Legende« die »Geschichte<br />
der deutschern Sozialdemokratie«<br />
und die im Mai 1918 erschienene<br />
Marx-Biographie haben ihr Daseinsrecht<br />
bewahrt.<br />
Franz Mehring und die<br />
»<strong>Die</strong> Leipziger Volkszeitung«<br />
Von Ostern 1902 bis 1907 währte die<br />
»Ära Mehring« <strong>als</strong> Chefredakteur der am<br />
1. Oktober 1894 gegründeten »Leipziger<br />
Volkszeitung« (LVZ).Er wurde zum Pendler<br />
zwischen Leipzig und seinem Hauptwohnsitz<br />
Berlin. Mehring setzte seine<br />
verantwortliche Tätigkeit in der Zeitschrift<br />
»<strong>Die</strong> Neue Zeit« und <strong>als</strong> Historiker<br />
und Literaturwissenschaftler fort. So<br />
spannte sich der Bogen seiner journalistischen<br />
Tätigkeit von der »Zukunft« bis<br />
zur »Roten Fahne«. Dazwischen liegen<br />
»<strong>Die</strong> Neue Zeit«, »<strong>Die</strong> Leipziger Volkszeitung«,<br />
der »Vorwärts«, Spartakusbriefe<br />
Bekanntheitsgrad wie dem Bremer und<br />
Stuttgarter Sozialdemokrat und der von<br />
Eugen Prager (1876–1942) redigierten<br />
Thüringer Zeitung »Zukunft«. und Veröffentlichungen<br />
in sozialdemokratischen<br />
Zeitungen mit einem reichsweiten<br />
1902 erschienen von Mehring im <strong>Die</strong>tz<br />
Verlag drei Bände aus dem literarischen<br />
Nachlass von »Karl Marx und Friedrich<br />
Engels und <strong>als</strong> vierter Band die Briefe<br />
Ferdinand Lassalles. In Leipzig war der<br />
Journalist Mehring kein Unbekannter.<br />
Schon im April 1897 hatte er sich in der<br />
LVZ mit Eduard Bernstein 19 auseinandergesetzt:<br />
Mehring schrieb: »Wollte die<br />
Sozialdemokratie ihren Klassenkampf<br />
führen, ohne unausgesetzt ihr Endziel<br />
im Auge zu behalten, so würde sie<br />
einem Schiffer gleichen, der sich ohne<br />
Kompass und Steuer auf einem klippenreichen<br />
und stürmischen Meere zu recht<br />
finden wollte. Wenn solch ein Schiffer<br />
sagen wollte >das Ziel ist mir gar nichts,<br />
die Bewegung alles< so könnte er verteufelt<br />
schlechte Erfahrungen machen.«<br />
Mehring fügte hinzu, die Erfolge und<br />
Fortschritte der Sozialdemokratie wurden<br />
erreicht, weil sie immer das Endziel<br />
im Auge behielt: »Dabei mag sie im Einzelnen<br />
geirrt haben oder im einzelnen<br />
wieder irren können, aber was sie bei<br />
Strafe ihres Untergangs nie aus dem Auge<br />
verlieren darf, ist das sozialistische<br />
Endziel selbst«<br />
Auf dem Stuttgarter Parteitag, (3.–<br />
8. 10. 1898), kommt es zu erregten Auseinandersetzungen<br />
über Fragen der<br />
Taktik, zum Verhältnis von Tageskampf<br />
und Endziel der Partei. Gegen Eduard<br />
Bernstein, Wolfgang Heine, H. Peus,<br />
K. Schmidt wenden sich August Bebel,<br />
Karl Kautsky, Wilhelm Liebknecht, Rosa<br />
Luxemburg, A. Parvus, B. Schoenlank, P.<br />
Singer, A. Stadthagen und Clara Zetkin.<br />
In der Presse hatte F. Mehring vor der<br />
Gefahr einer Umwandlung der SPD in<br />
eine kleinbürgerliche Reformpartei gewarnt.<br />
Er hielt aber auch noch, eine Verständigung<br />
mit Bernstein für vorstellbar.<br />
Gestützt auf die, von seinem 1901 verstorbenen<br />
Vorgänger Bruno Schoenlank<br />
geschaffenen Voraussetzungen, entwickelte<br />
Mehring die »Leipziger Volkszeitung«<br />
zu einem Zentrum des Kampfes<br />
gegen das Vordringen opportunistischer<br />
Strömungen in der SPD, wie dies Rosa<br />
Luxemburg gelegentlich einschätzte, E.<br />
Bernstein die theoretische Grundlagen<br />
geliefert hatte.<br />
Der Dresdner Parteitag: Höhepunkt<br />
der Auseinandersetzungen mit dem<br />
Revisionismus<br />
Mehring wurde zur Zielscheibe der Revisionisten.<br />
Angesichts ihrer Erfolglosigkeit<br />
holten sie auf dem Dresdner Parteitag<br />
1903 zu einem heimtückischen<br />
Schlag aus um Mehring »los zu werden.«<br />
<strong>Die</strong> Parteitagsdelegierten Heinrich<br />
Braun, Bernhard und weitere versuchen<br />
mit scheinheiliger Gebärde frühere Irrungen<br />
und Wirrungen, sich nicht vor Fälschungen<br />
scheuend hervor zu kramen um<br />
Mehring zu diskreditieren und zu Fall zu<br />
bringen. Mehring widersetzte sich diesen<br />
Attacken. Von dieser Niedertracht tief erschüttert,<br />
pochte er auf dem Parteitag,<br />
auf eine ehrenwerte Klärung durch die<br />
Partei erwarte. <strong>Die</strong> Verleumdungen werde<br />
er schriftlich entkräften und bis zur<br />
Klärung durch die zuständigen Parteiinstanzen<br />
seine Tätigkeit in »<strong>Die</strong> Neue Zeit«<br />
und der »Leipziger Volkszeitung« einstellen.<br />
Mehring erfuhr noch auf dem Parteitag<br />
nachhaltige Unterstützung von A. Bebel,<br />
P. Singer und C. Zetkin. Bebels sah<br />
aber auch im Entwicklungsweg Mehring<br />
ein »psychologischen Rätsel«. Von den<br />
Gegnern Mehrings dann allzu häufig kolportiert<br />
sah sich Clara Zetkin auch in ihrem<br />
Artikelnachruf zu äußern: »Der viel<br />
angeführte Ausruf ist jedoch nicht für<br />
Mehrings Charakter kennzeichnend,<br />
wohl aber für Bebels mangelnde Fähigkeit<br />
Menschen richtig einzuschätzen, deren<br />
wesen nicht in einer gewissen nüchternen<br />
Alltäglichkeit an der Oberfläche<br />
lag und von kräftig sich durchsetzenden<br />
Gegensätzen bewegt wurde.«
Schließlich verurteilte die überwältigende<br />
Mehrheit der Delegierten, was<br />
in Stuttgart noch nicht möglich schien,<br />
den Revisionismus. In bürgerlichen Zeitungen<br />
labten sich an dem unwürdigen<br />
Schauspiel auf dem Dresdner Parteitag<br />
und sprachen von Selbstzerfleischung<br />
Mit dem Schlag gegen Mehring wollten<br />
die Revisionisten auch das großartige<br />
Ergebnis der voran gegangenen Reichstagswahlen<br />
und entstandener Illusionen<br />
zur Veränderung der Mehrheit i der Partei<br />
für ihren Rechtsdrall nutzen. Sie wurden<br />
gestoppt, die SPD ging erneut gestärkt<br />
aus dieser Auseinandersetzung<br />
hervor, aber die Revisionisten blieben in<br />
ihren Reihen, sie gaben nicht auf bis zur<br />
Entwaffnung der Partei in ihrem Kampf<br />
gegen Militarismus und Krieg.<br />
Am 22. Oktober 1903 erschien dann<br />
im Verlag der »Leipziger Volkszeitung«<br />
Mehrings Schrift: »Meine Rechtfertigung«<br />
in der er alle Anwürfe entkräftete.<br />
Kautsky würdigte Mehring in der<br />
»Neuen Zeit«: In der Leipziger Volkszeitung<br />
hat Mehring das Muster der theoretisch-konsequenten<br />
Leitung einer sozialistischen<br />
Tageszeitung geliefert. <strong>Die</strong><br />
Partei hat alles Interesse daran, dass<br />
dieses Muster erhalten bleibe.«<br />
Am 24. November teilte dann die »Leipziger<br />
Volkszeitung« mit:<br />
Auf Grund der Rechtfertigungsschrift<br />
des Genossen Mehring hat die<br />
Presskommission der Leipziger Volkszeitung<br />
in Verbindung mit dem Agitationskomitee<br />
und nach Rücksprache<br />
mit den Vertretern der Parteigenossenschaft<br />
des 12.und 13. Reichstagswahlkreises<br />
einstimmig beschlossen, den<br />
Genossen Mehring aufzufordern, seine<br />
frühere Tätigkeit für die Leipziger Volkszeitung<br />
wieder aufzunehmen.«<br />
Einen Tag später drückte der Parteivorstand<br />
in einer Erklärung den Wunsch<br />
aus, Franz Mehring möge seine Tätigkeit<br />
in »<strong>Die</strong> Neue Zeit« fortsetzen. <strong>Die</strong> Opportunisten<br />
gaben sicht nicht geschlagen<br />
behielten Mehring weiterhin im Visier.<br />
Schon zum Jenaer Parteitag, zwei<br />
Jahr später, begründeten sozialdemokratische<br />
Redakteure aus Breslau, zwar<br />
vergeblich, einen Ausschlussantrag gegen<br />
Mehring wegen »unparteigenössischer«<br />
Leitung der LVZ.<br />
Mit Mehring profilierte sich die LVZ zur<br />
bedeutenden revolutionären Massenzeitung<br />
zum Sprachrohr der deutschen<br />
<strong>Linke</strong>n mit deren internationalistischer<br />
Haltung zu den drei russischen Revolutionen<br />
in den ersten beiden Jahrzehnten<br />
des 20. Jahrhunderts.<br />
Zur bürgerlich-demokratischen Revolution<br />
1905/1906 in Russland befanden<br />
sich Mehring und seine Redaktion weit-<br />
gehend in solidarischer Übereinstimmung<br />
mit der Führung der SPD. In der<br />
Mitgliedschaft wuchs die Befürwortung<br />
des politischen Massenstreiks.<br />
Franz Mehring und die<br />
sozialdemokratische Bildungsarbeit<br />
Am 7. November 1906 wählte der Parteivorstand<br />
und Kontrollkommission erstmalig<br />
den Zentralbildungsausschuss der<br />
Sozialdemokratischen Partei. Ihm gehörten<br />
an August Bebel, Parteivorsitzender<br />
und H. Heimann, Vorsitzender des<br />
Ausschusses, E. David, K. Korn, Franz<br />
Mehring, H, Schulz (Geschäftsführer), G.<br />
von Vollmar und Clara Zetkin. Der Zusammen-setzung<br />
nach zu urteilen, war<br />
der Parteivorstand darauf bedacht, gegensätzliche<br />
Richtungen in diesem Gremium<br />
zu vereinen. <strong>Die</strong> Parteibasis blieb<br />
außen vor. Nach den vom Mannheimer<br />
Parteitag (23.–29. September 1906) beschlossenen<br />
Leitsätzen »Volkserziehung<br />
und Sozialdemokratie« 20 , vorgelegt von<br />
Heinrich Schulz und Clara Zetkin, soll<br />
der zentrale Bildungsausschuss auch einen<br />
besoldeten Geschäftsführer haben<br />
und von Berlin aus wirken. In den »Leitsätzen«<br />
wird zu seinen Aufgaben erklärt.<br />
»Er stellt organisch aufgebaute Programme<br />
für Vorträge und Vortragskurse<br />
und die dazu gehörigen Literaturnachweise<br />
zusammen, erteilt Ratschläge für<br />
belehrende und künstlerische Veranstaltungen,<br />
vermittelt rednerische und<br />
künstlerische Kräfte und sucht auf andere<br />
geeignete Weise seiner Aufgabe<br />
gerecht zu werden. Der Ausschuss wird<br />
alljährlich von dem Parteivorstand und<br />
der Kontrollkommission gewählt.«<br />
Eine Woche später wurde die Parteischule<br />
der SPD in der Lindenstraße 3,<br />
Berlin Kreuzberg, nahe am Spittelmarkt,<br />
feierlich eröffnet. Wie aus einer Veröffentlichung<br />
der Friedrich-Ebert-Stiftung:<br />
Archiv der sozialen Demokratie vom<br />
4. September 2008 hervorgeht, waren<br />
Vertreter des Parteivorstandes, der sozialdemokratischen<br />
Wahlvereine Groß-<br />
Berlins, der Redaktionen der Zeitschrift<br />
»Neue Zeit« und des »Vorwärts« sowie<br />
das Lehrerkollegium und die Teilnehmer<br />
des ersten Kurses anwesend. August<br />
Bebel, im Parteivorstand zuständig für<br />
die Schule, hielt die Begrüßungsansprache.<br />
Von 64 Bewerbern für den fiel die<br />
Auswahl auf 31 Kursusteilnehmer, darunter<br />
eine Frau.<br />
Das Mitglied des Bildungsausschusses<br />
und Historiker Franz Mehring wurde<br />
in das Lehrerkollegium dieser bedeutenden<br />
Bildungsstätte der SPD berufen<br />
und gehörte ihm bis zu seiner Erkrankung<br />
1911 an. Im Fach »Deutsche Geschichte<br />
seit dem Mittelalter« gab er fast<br />
400 Stunden Unterricht. 21 Zu den Lehrern<br />
gehörten außer Mehring bekannte<br />
Theoretiker wie Rosa Luxemburg, Rudolf<br />
Hilferding und Hermann Duncker, Parlamentarier<br />
wie Arthur Stadthagen und<br />
Bernhard Wurm, oder Juristen wie Hugo<br />
Heinemann und Kurt Rosenfeld. <strong>Die</strong>se<br />
hatten bereits international einen<br />
Namen und bekannten sich zur revolutionären<br />
Taktik des Erfurter Programms.<br />
Für Kurt Beck, zeitweiliger Parteivorsitzende<br />
der heutigen SPD, sagte bei einer<br />
Ausstellungseröffnung, »die Dogmatiker<br />
hatten dam<strong>als</strong> in der SPD die Oberhand«.<br />
<strong>Die</strong> Parteivorsitzenden der Sozialdemokratie<br />
hießen »dam<strong>als</strong>« August<br />
Bebel und Paul Singer.<br />
Über den eigentliche Unterrichtsbetrieb<br />
ist wenig dokumentiert. Der Hermann<br />
Duncker-Forscher Heinz Deutschland<br />
veröffentlichte anlässlich des 100.<br />
Jahrestages der sozialdemokratischen<br />
Parteischule in Berlin, einen Brief des<br />
Lehrgangsteilnehmers Alfred Keimling,<br />
den dieser am 21. November 1906 an<br />
Hermann Duncker gerichtet hatte. 22<br />
Da die Parteischüler privat bei sozialdemokratischen<br />
Gastgebern wohnten,<br />
konnten sie auch während ihrer Schulzeit,<br />
hatten sie auch außerhalb der Lehrgangszeit<br />
Zugang zu den Kämpfen der<br />
Sozialdemokratie. Es kann davon ausgegangen<br />
werden, dass die Lehrer für einen<br />
lebensnahen Unterricht sorgten. Noch<br />
bewegte die russische Revolution die sozialdemokratischen<br />
Gemüter. <strong>Die</strong> Auseinandersetzungen<br />
um den politischen<br />
Massenstreik waren nach der verhängnisvollen<br />
Entscheidung auf dem Mannheimer<br />
Parteitag 1906 nicht verstummt.<br />
<strong>Die</strong> Kämpfe gegen das Klassenwahlrecht<br />
und für die Gleichberechtigung der Frau<br />
gewannen an Bedeutung. Während dessen<br />
forcierte der deutsche Imperialismus<br />
und Militarismus seinen Kampf um den<br />
»Platz an der Sonne« Von 1906 bis 1914<br />
203 Schüler, davon 20 Frauen die Parteischule.<br />
Unter den Schülern befanden<br />
sich u. a. Wilhelm Kaisen der nach 1945<br />
die Regierungsgeschäfte in Bremen in<br />
die Hand nahm, Gewerkschaftsfunktionäre<br />
wie Fritz Tarnow, Theoretiker des<br />
Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes,<br />
der einen führenden Platz beim<br />
Neuaufbau der Gewerkschaften einnahm,<br />
Funktionäre wie der Thüringer Widerstandskämpfer<br />
Richard <strong>Die</strong>trich, der<br />
1946 die Zeitzer SPD in die Vereinigung<br />
von KPD und SPD zur SED führte oder<br />
Wilhelm Pieck, der Bremer Parteisekretär<br />
der SPD, der nach dem Besuch der<br />
Schule bei Hermann Schulz, Leiter der<br />
Parteischule, dessen hauptamtlicher Mitarbeiter<br />
wurde, lokale Bildungsausschüsse<br />
gründen half, dem Spartakusbund an<br />
39
der Seite Mehrings, Karl Liebknechts<br />
und Rosa Luxemburgs angehörte und<br />
der 1946 gemeinsam mit Otto Grotewohl,<br />
Mitglied der sozialdemokratischen<br />
Reichstagsfraktion zum Vorsitzenden der<br />
SED gewählt und schließlich 1949 Präsident<br />
der DDR wurde.<br />
Mehring beschäftigt sich weiter<br />
mit der deutschen Klassik, der<br />
ausländischen Literatur und der<br />
bildenden Kunst<br />
Mehring beendigte erst seine Chefredakteurtätigkeit<br />
an der »LVZ« erst nach<br />
Aufnahme seiner Lehrtätigkeit. Zugleich<br />
publizierte er im »Vorwärts«, siehe<br />
deren Jubiläumsausgabe vom 31.<br />
März 1909, und nahm weiterhin seine<br />
Verpflichtungen an der sozialdemokratischen<br />
Wochenzeitung »<strong>Die</strong> Neue Zeit«<br />
war. Mehring blieb Redakteur und Mitherausgeber.<br />
Über zwanzig Artikel erschienen<br />
aus seiner Feder von 1906 bis<br />
1911. Mehring verlegte die Schrift von<br />
Engels »Der deutsche Bauernkrieg« im<br />
Vorwärts Verlag. Veröffentlichungen zur<br />
deutschen Klassik gewinnen für ihn erneut<br />
an Bedeutung. Aus Platzgründen<br />
lässt sich nur ein bescheidener Einblick<br />
geben. 1909 erblickte »Schiller. Ein Lebensbild<br />
für deutsche Arbeiter« das<br />
Licht der Welt. Eine überarbeitete Auflage<br />
folgte 1913. Mehring verfasste zahlreiche<br />
Einführungen in die klassische<br />
Theaterwelt: 1909 zu Schillers »Kabale<br />
und Liebe«, zu Lessings »Nathan den<br />
Weisen« und zur »Minna von Barnhelm«<br />
sowie zu Heinrich Kleists »Der zerbrochene<br />
Krug.« 1911 folgt von Mehring eine<br />
Heine-Biographie. Sie wird Teil einer<br />
zehnbändigen Volksausgabe von Heine-<br />
Werken im Vorwärts Verlag. Seine Aufsätze<br />
zur ausländischen Literatur erfassen<br />
zahlreiche Länder Europas von<br />
Spanien bis Rußland und reichen von<br />
Cervantes »Don Quichott« bis Gorkis<br />
Nachtasyl und zur bildenden Kunst vom<br />
500. Geburtstag Gutenbergs bis zu Gemälden<br />
Rembrandts.<br />
Rosa Luxemburg würdigt in ihrem<br />
Glückwunsch zu Mehrings 70. Geburtstag<br />
auch seine Leistungen zur Klassik:<br />
»Durch Ihre Bücher, wie durch Ihre Artikel<br />
haben Sie das deutsche Proletariat<br />
nicht bloß mit der klassischen deutschen<br />
Philosophie, sondern auch mit der<br />
klassischen deutschen Dichtung, nicht<br />
nur mit Kant und Hegel, sondern mit<br />
Lessing, Schiller und Goethe durch unzerreißbare<br />
Bande verknüpft. Sie lehrten<br />
unsere Arbeiter mit jeder Zeile aus ihrer<br />
wunderbaren Feder, dass der Sozialismus<br />
nicht nur eine Messer- und Gabelfrage,<br />
sondern eine Kulturbewegung, eine<br />
stolze große Weltanschauung sei« 23<br />
40<br />
Zum Mehring-Kautsky-Konflikt<br />
Nicht formelle Streitigkeiten, sondern<br />
politische Gründe, »Meinungsverschiedenheiten<br />
über die Parteitaktik«, waren<br />
es in erster Linie, schrieb Mehring in seinem<br />
Brief an den Parteivorstand, die den<br />
Mehring-Kautsky-Konflikt seit 1912 herauf<br />
beschworen. Mehring sah sich sehr<br />
gekränkt durch Unterstellungen Kautskys,<br />
er habe sich in einem Artikel über<br />
Lassalle gegen Marx gewandt und ihm<br />
Kompetenzüberschreitung unterstellte<br />
<strong>als</strong> er, wie gewohnt, zum Beispiel Artikel<br />
von Rosa Luxemburg an die sozialdemokratische<br />
Presse über den sozialdemokratischen<br />
Pressedienst weiterleitete.<br />
Mehring schrieb keine Leitartikel mehr<br />
für »<strong>Die</strong> Neue Zeit« und schied nach<br />
Auseinandersetzungen mit dem Parteivorstand<br />
<strong>als</strong> ihr Mitherausgeber aus.<br />
Clara Zetkin und Rosa Luxemburg hatten<br />
ihm zuvor geraten, den Revisionisten<br />
nicht freiwillig das Feld zu räumen. Allerdings<br />
setzte dann Mehring seine journalistische<br />
Arbeit in dieser Zeitschrift,<br />
mit Zustimmung des Parteivorstandes,<br />
im beschränkten Umfang fort Mehring<br />
verstärkte die Herausgabe weniger bekannter<br />
Schriften von Friedrich Engels,<br />
Wilhelm Wolff, Wilhelm Weitling bis Ferdinand<br />
Lassalle. In dieser Zeit beginnt<br />
Mehring mit den Arbeiten an seinem<br />
letzten Hauptwerk, der 1918 zum Geburtstag<br />
von Marx erscheinen sollenden<br />
Marx-Biographie. Um den Einfluss der<br />
<strong>Linke</strong>n zu erhöhen gaben Franz Mehring,<br />
Rosa Luxemburg und Julian Marchlewski<br />
ab 1913 wöchentlich eine eigene »Sozialdemokratische<br />
Korrespondenz« heraus.<br />
Sie wurde zum ersten selbstständigen<br />
Organ der deutschen <strong>Linke</strong>n in der SPD.<br />
Mit ihrer Hilfe versorgten sie die Redaktionen<br />
sozialdemokratischer Presseorgane<br />
mit eigenen Beiträgen, Informationen<br />
und Anregungen. Es war die Zeit<br />
des verstärkten Kampfes gegen Militarismus<br />
und den ersten imperialistischen<br />
Weltkrieg.<br />
Mehrings Kampf nach Ausbruch des<br />
ersten imperialistische Weltkrieges<br />
Noch am 25. Juli 1914 ruft die SPD zu Aktionen<br />
auf. 14 Tage später, am 4. August<br />
1914 stimmt die sozialdemokratische<br />
Reichstagstagsfraktion unter Fraktionszwang<br />
gegen die Minderheit zu der Karl<br />
Liebknecht gehörte, für die Kriegskredite<br />
Sie bricht in Übereinstimmung mit der<br />
Mehrheit des Parteivorstandes die Beschlüsse<br />
der II. Sozialistischen Internationale.<br />
Vergessen war der Aufruf des Parteivorstandes<br />
der SPD vom 25. Juli 1914<br />
sofort in Massenversammlungen »den<br />
unerschütterlichen Friedenswillen des<br />
klassenbewußten Proletariats zum Aus-<br />
druck zu bringen.« Nun galt der Ruf des<br />
Kaisers Ruf an die »vaterlands-losen Gesellen«:<br />
»Ich kenne nur noch Deutsche«.<br />
Am Abend der Abstimmung im Reichstag<br />
trafen sich namhafte <strong>Linke</strong> in der<br />
Wohnung Rosa Luxemburgs. Unter ihnen<br />
befanden sich Hermann Duncker,<br />
Rosa Luxemburg, Julian Marchlewski,<br />
Franz Mehring, Ernst Meyer, Wilhelm Pieck.<br />
Der Älteste unter ihnen war Franz<br />
Mehring. Er nahm trotz angeschlagener<br />
Gesundheit sofort teil an der Fortsetzung<br />
ihres des Kampfes gegen die<br />
»Burgfriedenspolitik« und für die Beendigung<br />
des imperialistischen Krieges.<br />
Mit dem gleichen Ziel entstehen in verschiedenen<br />
Städten oppositionelle<br />
Gruppen in der Sozialdemokratie. Am<br />
2. Dezember 1914 setzt sich Liebknecht<br />
über den Fraktionszwang hinweg und<br />
stimmt <strong>als</strong> einziger Abgeordneter im<br />
deutschen Reichstag gegen die zweite<br />
Kriegskreditvorlage. Aus der Vielzahl<br />
der Aktivitäten Mehrings können<br />
in diesem Rahmen nur einige aufgeführt<br />
werden. Auf der ersten Reichskonferenz<br />
der revolutionären Opposition am<br />
5. März 1915 in der Wohnung Wilhelm<br />
Piecks übernehmen Rosa Luxemburg<br />
und Karl Liebknecht die Herausgabe<br />
der Monatsschrift »<strong>Die</strong> Internationale«<br />
für Praxis und Theorie des Marxismus.<br />
Im Juli 1915 wird gegen P.Berten,<br />
Rosa Luxemburg, Franz Mehring und<br />
Clara Zetkin wegen ihrer Mitarbeit an<br />
der Zeitschrift »Internationale » ein Verfahren<br />
eingeleitet. Mehring gehört zu<br />
den <strong>Linke</strong>n die zum 19. März 1916 die<br />
erste Reichskonferenz der Spartakusgruppe<br />
nach Berlin einberufen und die<br />
die Konstituierung der Spartakusgruppe<br />
im Wesentlichen abschließt. <strong>Die</strong> danach<br />
einsetzende Verhaftungswelle erfasst<br />
nicht nur Karl- Liebknecht und<br />
Rosa Luxemburg sondern macht auch<br />
vor dem 70jährigen, nicht mehr gesunden<br />
Franz Mehring nicht halt. Vom 3.<br />
August bis zum 24. Dezember wird er<br />
in »Schutzhaft« genommen und im Gefängnis<br />
Brandenburg eingesperrt. Heinz<br />
Deutschland stieß bei seinen Recherchen<br />
im Bundesarchiv auf eine Postkarte<br />
Mehrings (BArch/SAPMO 11-12 N),<br />
Poststempel 25. 12. 1916 an Käte Duncker,<br />
der Frau Hermann Dunckers: »Liebe<br />
Freundin! Hiermit melde ich mich<br />
wieder zur Stelle. Freund M (vermutlich<br />
Ernst Meyer), ist noch, wie mein kleiner<br />
Finger sagt ›in Ketten‹, doch hoffe ich,<br />
das er bis Ende dieser Woche wieder antreten<br />
wird. Ich wurde im Krankenwagen<br />
herbefördert und bin sehr matt und müde,<br />
so dass mir der Arzt auf Strengste<br />
verboten hat, Besuche zu machen. Sie<br />
müssen deshalb einstweilen mit diesen
flüchtigen Zeilen vorlieb nehmen. Stets<br />
Ihr F.M. Nachschrift Käte (für Hermann)<br />
mit Bleistift:<br />
M.I.H. Ich war gestern bei ihm, fand ihn<br />
matt und abgemagert, aber im übrigen<br />
ganz der ›Alte‹. Mir ist ein Stein vom<br />
Herzen! Viele, viele Grüße D.K. 24<br />
Am 18. Januar 1917 schloss die Parteiführung<br />
der SPD mit 29 gegen 10 Stimmen<br />
die um die sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft<br />
mit Eduard Kautsky<br />
und Georg Ledebour und den <strong>Linke</strong>n um<br />
Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht Clara<br />
Zetkin und Franz Mehring gruppierte<br />
Opposition aus der SPD aus. Zur ideologischen<br />
Spaltung der SPD trat jetzt auch<br />
die vom Parteivorstand der SPD herbeigeführte<br />
organisatorische Spaltung.<br />
Karl Liebknecht bat Mehring für ihn am<br />
20. März 1917 in dessen neuen Wahlkreis<br />
11 bestehend aus den Stadtteilen<br />
Wedding und Gesundbrunnen in der »Ersatzwahl«<br />
für ihn, zum preußischen Landtag<br />
zu kandidieren. Der Rechtsanwalt Dr.<br />
Karl Liebknecht hatte der offiziellen Begründung<br />
zufolge, sein Mandat verloren<br />
»infolge Aberkennung der bürgerlichen<br />
Ehrenrechte« 25 .Mehring konnte ein ähnlich<br />
gutes Wahlergebnis von Liebknecht<br />
erreichen. Ausgerechnet während des<br />
Krieges erhält Mehring sein erstes parlamentarisches<br />
Mandat. Er wird im preußischen<br />
Landtag anstelle von Liebknecht<br />
das Wort ergreifen. Mehring stellt in jenen<br />
Tagen das Manuskript für die Marx-<br />
Biographie fertig und setzt seine journalistische<br />
Tätigkeit fort. Mehring überträgt<br />
seine Solidarität für die russischen Revolutionäre<br />
von 1905/06 auf die Februar-<br />
Revolutionäre von 1917 und dann auf<br />
die sozialistische Oktoberrevolution. Am<br />
23. April 1917 schreibt Mehring im Auftrage<br />
des Spartakusbundes an Vorsitzenden<br />
des Exekutivkomitees des Arbeiter-<br />
und Soldatenrates, Genossen Tscheidse:<br />
die Revolution in Russland gehöre zu den<br />
größten Ereignissen der Weltgeschichte<br />
und sei der Beweis für die großen Möglichkeiten<br />
des proletarischen Klassenkampfes<br />
in den Krieg führenden Ländern.<br />
26<br />
Im Mai 1918 erleidet Franz Mehring einen<br />
Ohnmachtsanfall, stürzt und zieht<br />
sich eine schwere Kopfverletzung zu. Er<br />
berichtete Rosa Luxemburg von seinem<br />
Unfall. Sehr bestürzt antwortet sie: Wie<br />
mich ihr letzter Brief und namentlich der<br />
Bericht von dem fatalen Unfall erschüttert<br />
hat. Kann ich ihnen gar nicht sagen.<br />
Ich ertrage ja nunmehr meine ins vierte<br />
Jahr währenden Sklawerei mit wahrer<br />
Lammsgeduld, hier aber unter dem Eindruck<br />
solcher schmerzlicher Nachrichten,<br />
packte mich eine fieberhafte Ungeduld<br />
und ein brennendes Verlangen,<br />
sofort hinaus zu dürfen, nach Berlin zu<br />
eilen und mich durch Augenschein zu<br />
überzeugen, wie es Ihnen geht, Ihnen<br />
die Hand zu drücken und mit Ihnen ein<br />
Stündchen zu plaudern.« 27<br />
Mehring musste seine Frau Eva bitten,<br />
ihm den Antwortbrief vorzulesen. <strong>Die</strong> zur<br />
Revolution drängenden Ereignise überschlagen<br />
sich und nun auch dieser Unfall<br />
Mehring. Mit Unterstützung von Eduard<br />
Fuchs gelang es noch im gleichen Monat<br />
Mai in einem Leipziger Verlag es<br />
die Marx-Biographie herauszubringen.<br />
Schon Spätestens 1913 hatte Mehring<br />
mit der Arbeit begonnen. Rosa Luxemburg<br />
schrieb den Abschnitt zur Nationalökonomie.<br />
<strong>Die</strong>ses letzte Hauptwerk<br />
Mehrings sollte zum Geburtstag von<br />
Karl Marx am 5. Mai 1918 erscheinen.<br />
<strong>Die</strong> Freigabe durch die Militärzensurr erfolgte<br />
erst nach langwierigen Auseinandersetzungen<br />
und kleineren Korrekturen.<br />
Im Mai und Juni 1918, parallel zur ausführlichen<br />
Vorstellung seiner Marx-Biographie<br />
in der »Leipziger Volkszeitung«<br />
auch seine vierteilige Folge: »<strong>Die</strong> Bolschewiki<br />
und wir« zu veröffentlichen<br />
und am 3. Juni ein »Offenes Schreiben<br />
an die Bolschewiki« zu richten: »Es mag<br />
anmaßend erscheinen, wenn ich, <strong>als</strong><br />
ein einzelner ihrer deutschen Gesinnungsgenossen,<br />
den russischen Kameraden<br />
brüderliche Grüße und herzliche<br />
Glückwünsche sende. Aber in Wahrheit<br />
schreibe ich Ihnen doch nicht <strong>als</strong> einzelner,<br />
sondern <strong>als</strong> Ältester der Gruppe<br />
Internationale, der Spartakusleute,<br />
derjenigen sozialdemokratischen Richtung<br />
in Deutschland, die seit vier Jahren<br />
unter schwierigsten Umständen,<br />
auf demselben Boden, mit derselben<br />
Taktik kämpft, wie sie von Euch angewandt<br />
wurde, ehe die glorreiche Revolution<br />
Eure Anstrengungen mit dem<br />
Sieg gekrönt hat. Mit neidlosen Stolz<br />
empfinden wir den Sieg der Bolschewiki<br />
<strong>als</strong> unseren Sieg, und wir würden<br />
uns freudig zu Euch bekennen, wenn<br />
unsere Reihen nicht arg gelichtet wären<br />
und viele von uns – wahrlich nicht die<br />
Schlechtesten – hinter den Mauern des<br />
Gefängnisses schmachteten, wie die<br />
Genossin Rosa Luxemburg, oder hinter<br />
den Mauern des Zuchthauses, wie der<br />
Genosse Karl Liebknecht.«<br />
Wenige Tage später wurde Franz<br />
Mehring zum ordentlichen Mitglied der<br />
Akademie für Gesellschaftswissenschaften<br />
der RFSSR für seinen wissenschaftlichen<br />
Beitrag für den Kampf um<br />
den Sozialismus berufen. Mehring hielt<br />
in seinem Brief auch nicht hinter dem<br />
Berg: Beim Eintritt in die Unabhängige<br />
Sozialdemokratische Partei Deutschland<br />
(USPD) habe ihn und die Sparta-<br />
kusgruppe die Hoffnung bewegt, die Unabhängigen<br />
auf Revolutionskurs bringen<br />
zu können. <strong>Die</strong>se Hoffnung habe sich<br />
aber nicht erfüllt. <strong>Die</strong>se Einschätzung<br />
werde aber nicht von allen Spartakusanhängern<br />
geteilt.<br />
Mehring wurde am 7. Oktober 1918 von<br />
der Reichskonferenz der Spartakusgruppe<br />
in Abwesenheit in die Leitung<br />
gewählt. <strong>Die</strong>se Konferenz sprach sich<br />
für den Ausbau der Rätebewegung, für<br />
den Sturz der kaiserlichen Monarchie<br />
und für eine Republik aus. Sie rief zum<br />
bewaffneten Aufstand auf.<br />
Am 18. Oktober 1918 nahm Franz<br />
Mehring auf einem Krankenstuhl an<br />
einem Empfang der sowjetischen Botschaft<br />
anlässlich der Freilassung Karl<br />
Liebknechts aus dem Zuchthaus teil.<br />
<strong>Die</strong> November-Revolution weitete sich<br />
nach den Matrosenaufständen in Windeseile<br />
aus. Spartakus konnte nicht<br />
überall sein. Rosa Luxemburg sah nach<br />
ihrer Befreiung ihre Hauptaufgabe in<br />
der Herausgabe der Zeitung »<strong>Die</strong> rote<br />
Fahne.« Erst am 18. November kam<br />
sie dazu, dem kranken Franz Mehring zu<br />
schreiben: »Das erste war: endlich mit<br />
einer Zeitung herauszukommen. Nun<br />
brenne ich darauf ihr Urteil zu hören, ihren<br />
Rat zur Seite zu haben. Wir waren<br />
hoch erfreut, <strong>als</strong> uns Freund X* mitteilte,<br />
dass wir demnächst ›<strong>Die</strong> Fahne‹ mit ihrem<br />
Namen schmücken können.« 29<br />
Wie ersichtlich hütete sich Rosa Luxemburg<br />
eine Mitarbeit in der Nerven zermürbenden<br />
Redaktionsarbeit anzubieten.<br />
Sie machte es aber möglich, bis<br />
zum 28. 12. 1918 in der »Roten Fahne«<br />
eine von Mehring erneut bearbeitete<br />
vierteilige Serie über seine »Militärische<br />
Schutzhaft« zu veröffentlichen.<br />
Mehring wurde zum Mitbegründer der<br />
Kommunistischen Partei Deutschlands.<br />
Vom Tod seiner engsten Mitstreiter<br />
Karl Liebknecht und Rosa Lusemburg<br />
erfuhr Mehring im Krankenhaus am<br />
Heckeshorn im Grunewald, 14 Tage später,<br />
von Martha Rosenbaum. Sein Vertrauter<br />
und Nachlassverwalter Eduard<br />
Fuchs erlebte mit ihm die letzten Stunden.<br />
Seine Frau lag durfte das Krankenbett<br />
wegen einer schweren Grippeerkrankung<br />
nicht verlassen. In seinem<br />
Vorwort zur Neuauflage der Marx-Biographie<br />
zum 1. Mai 1920 beschrieb<br />
Fuchs die Erregung Mehrings nach Erhalt<br />
der Nachricht vom Mord. Er lief im<br />
Zimmer stundenlang auf und ab, machte<br />
die Fenster auf um Luft zu bekommen<br />
und wie er den grausamen Mord verurteilte.<br />
Mehring befand sich mit einer<br />
schweren Lungenentzündung im Krankenhaus,<br />
war schon vorher körperlich<br />
sehr geschwächt starb an ihr und dem<br />
41
Tod seiner Freunde. Franz Mehring ist<br />
tot, aber sein Werk gehört zum unvergänglichen<br />
Nachlass der deutschen Arbeiterbewegung<br />
aus dem zu lernen, ist<br />
auch heute nicht zu spät.<br />
Werner Ruch<br />
1 Vgl.Thomas Höhles Buch: Franz Mehring – Sein<br />
Weg zum Marxismus. Es sollte von Jedem zur Hand<br />
genommen werden, der sich mit Mehrings Entwicklung<br />
vom bürgerlichen Demokraten zum demokratischen<br />
Sozialisten zu beschäftigen beabsichtigt.<br />
Erschienen ist es in der Schriftenreihe des Instituts<br />
für Deutsche Geschichte an der Karl-Marx-Universität<br />
Leipzig, Herausgegeben von Prof. Dr. Ernst Engelberg,<br />
Verlag, Rütten und Loening Berlin, 2. Auflage<br />
1958 nach der erste Auflage von 1956.<br />
2 Vgl. »Neues Deutschland«, 3. 3, 1971: Bernd Grabowski:<br />
Er arbeitet an der »Zukunft«.<br />
3 1903 versuchte der Revisionist Heinrich Braun, Georg<br />
Bernhard u. a. durch Diffamierung Mehrings die<br />
zu erwartete Verurteilung des Revisionismus durch<br />
den Dresdner Parteitag zu unterlaufen.<br />
4 August Bebel, Aus meinem Leben, zweiter Teil,<br />
Verlag J.H.W. <strong>Die</strong>tz Nachf. Berlin, 1. Auflage 1946,<br />
S. 200 f.<br />
5 DerTitel der Broschüre lautete: »Herr von Treitschke<br />
der Sozialistentöter und die Endziele des Liberalismus.<br />
Eine sozialistische Replik«, Leipzig. Druck<br />
und Verlag der Genossenschaftsdruckerei, 1875.<br />
Auszug in Thomas Höhle: Franz Mehring Sein Weg<br />
zum Marxismus.<br />
7 Vgl. Berliner Zeitung, 27. 11. 08: Im Berliner Bezirk<br />
Steglitz wird von Bezirkspolitikern erneut die Umbenennung<br />
der Treitschkestraße gefordert; zum<br />
Gesamtzusammenhang: Reiner Zilkenat, Histo-<br />
42<br />
risches zum Antisemitismus in Deutschland. Zur<br />
Entstehung und Entwicklung des »modernen« Antisemitismus<br />
im Kaiserreich, in: Horst Helas u. a.,<br />
Neues vom Antisemitismus: Zustände in Deutschland,<br />
Berlin 2008, S. 13 ff.<br />
8 Vgl. Zitat aus Franz Mehring »Kapital und Presse«,<br />
S. 73, zitiert bei Thomas Höhle, Franz Mehring Sein<br />
Weg zum Marxismus, S. 109.<br />
10 <strong>Die</strong> erste Nummer der Zeitschrift »<strong>Die</strong> Neue Zeit«<br />
erscheint ab 1. Januar 1883, nach fünf Jahren »Sozialistengesetz«,<br />
unter der Redaktion von Karl Kautsky<br />
<strong>als</strong> »Revue des öffentlichen und geistlichen Lebens«.<br />
Unterstützt von Friedrich Engels trug sie zur<br />
Verbreitung des Marxismus bei. 1890 wurde »<strong>Die</strong><br />
Neue Zeit« offizielles Theoretisches Organ der SPD<br />
und erscheint wöchentlich mit 2.500 Abonnenten.<br />
11 Auskunft über weitere Ausgaben dieses Verlages<br />
von Franz Mehring in: »Empor zum Licht«, herausgegeben<br />
zu 125 Jahre Verlag J.H.W.<strong>Die</strong>tz Nachf., 2006.<br />
12 Vgl. Der Tagesspiegel, 30. 12. 2008.<br />
14 Vgl. Aufruf »Berliner Volksblatt« v. 23. März 1890.<br />
Das Haus »<strong>Die</strong> Volksbühne«, erbaut nach 1913, befindet<br />
sich am Rosa-Luxemburg-Platz im Bezirk Mitte<br />
zu Berlin.<br />
15 Mehr zur Aufführung »<strong>Die</strong> Weber« in Berlin und der<br />
Haltung des Kaisers vgl. Rüdiger Bernhardt, Gerhart<br />
Hauptmanns Hiddensee, Edition Ellert & Richter,<br />
3. Auflage 2004, S. 20 f.<br />
16 Zitiert nach Franz Mehring: Gesammelte Schriften<br />
Band 11, Berlin 1961, hrsg. v. Prof. Dr. Thomas<br />
Höhle, Dr. Hans Koch, Prof. Dr. Josef Schleifstein,<br />
S. 563. Weitere Beiträge Mehrings zu G. Hauptmann<br />
im gleichen Band.<br />
17 Vgl. Rüdiger Zimmermann, »Empor zum Licht! Hrsg.<br />
zu 125 Jahre Verlag J.H.W. <strong>Die</strong>tz Nachf., 2006,<br />
S. 44.<br />
18 Franz Mehring, Geschichte der Deutschen Sozialdemokratie,<br />
Berlin 1960, Erster Teil, Anmerkungen,<br />
S. 697.<br />
19 <strong>Die</strong> erwähnten Artikel Bernsteins erschienen danach<br />
im Januar 1898 im <strong>Die</strong>tz Verlag unter dem Ti-<br />
tel: »<strong>Die</strong> Voraussetzungen des Sozialismus und die<br />
Aufgaben der Sozialdemokratie.« Zuletzt erschien<br />
dieser Buchtitel 1984 im genannten Verlag, eingeleitet<br />
von Horst Heimann. Im Katalog einer Ausstellung<br />
der Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2006 über<br />
die Entwicklung sozialdemokratische Programmatik<br />
und Politik findet sich auf S. 8 folgende Aussage:<br />
»Seit 1896 wendet sich Eduard Bernstein gegen<br />
zentrale Aussagen der marxistischen Theorie,<br />
die zu ›revidieren‹ seien …« Vgl. 60 Jahre Leipziger<br />
Volkszeitung 1894–1954, Verlag Leipziger Volkszeitung<br />
mit Vorbemerkung der Redaktion.<br />
20 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages<br />
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.<br />
Abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29.<br />
September 1906, Berlin 1906, S. 134–137.<br />
21 Vgl. Unterrichtsplan der sozialdemokratischen<br />
Parteischule von 1906 bis 1914 in: <strong>Die</strong>ter Fricke,<br />
Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung<br />
1869 bis 1917 in zwei Bänden., Band 1,<br />
Berlin 1987.<br />
22 Vgl. Heinz Deutschland in: Jahrbuch für Forschungen<br />
zur Geschichte der Arbeiterbewegung,<br />
2006/Heft III, S. 21.<br />
24 Vgl. B/Arch/ SAPMO NY4445. Der junge Hermann<br />
Duncker hatte Mehrings Bekanntschaft im Sommer<br />
1902 in der Redaktion der »Leipziger Volkszeitung«<br />
gemacht . Duncker teilte Käte Duncker am 2.September<br />
1902 mit, dass Mehring ihm in einem Gespräch<br />
über seine weitere Redaktionstätigkeit gesagt<br />
habe, »ich wäre ein seltener Mensch in der<br />
Partei, wenn ich meinte noch lernen zu können.«<br />
25 Vgl. Thomas Kühnem Handbuch der Wahlen von<br />
preußischen Abgeordneten 1867–1918, Düsseldorf,<br />
1994.<br />
26 Vgl. Franz Mehring. Gesammelte Schriften, Berlin,<br />
Bd. 15, S. 720.<br />
29 Annelies Laschitza u. Günter Radczum, Rosa<br />
Luxemburg, Gesammelte Briefe 1914–1918, Bd. 5,<br />
S. 377, Hrsg.: Institut für Marxismus-Leninismus<br />
beim ZK der SED, Berlin, sechste Auflage, 1984.
Berlin – das Zentrum der deutschen Revolution<br />
1918/1919 ?<br />
Regionales und Biographisches zum 90. Jahrestag der Novemberrevolution<br />
Am Ende des 19. Jahrhunderts war Berlin,<br />
die Millionenstadt, längst mit ihrem<br />
Umland zusammengewachsen, wurde<br />
bekanntlich aber erst 1920 zu Groß-<br />
Berlin zusammengefasst. 1 Unbestritten<br />
ist Berlin politisches Zentrum Preußens<br />
und Deutschlands, größtes Industriezentrum,<br />
zugleich größte Handwerker-<br />
und Handelsstadt, Finanzzentrum und<br />
Verkehrsmittelpunkt. Weltweit bekannt<br />
sind seine Wissenschafts- und Kulturinstitutionen;<br />
auch sein Charakter <strong>als</strong> eine<br />
riesige Garnisonsstadt-Kasernopolis,<br />
jede Menge Rüstungsfabriken, Bischofssitz<br />
und Medienmittelpunkt.<br />
Vernachlässigt, bewusst vergessen oder<br />
übersehen wird jedoch meistens, dass<br />
Berlin das Zentrum der deutschen Arbeiterbewegung<br />
war.<br />
Schon 1905 hatten sich die 6 Berliner<br />
Reichstagswahlkreis-Vereine der SPD<br />
mit den umgebenden Kreisen Teltow-<br />
Beeskow-Storkow-Charlottenburg und<br />
Niederbarnim zum »Verband der Wahlvereine<br />
Groß-Berlins und Umgegend«<br />
zusammengeschlossen, einer über das<br />
spätere Groß-Berlin weit in die brandenburgische<br />
Provinz greifende Organisation.<br />
Sie zählte 1914 über 120.000 Mitglieder,<br />
die bei den Reichstagswahlen<br />
1912 sieben der acht Wahlkreise gewinnen<br />
konnte. 45 der Berliner Stadtverordneten<br />
waren 1913 Sozialdemokraten<br />
und von den zehn preußischen<br />
SPD-Landtagsabgeordneten kamen<br />
sieben aus Berlin. Von etwa 560.000<br />
organisationsfähigen Berufstätigen<br />
gehörten mehr <strong>als</strong> 300.000 den sozialistischen<br />
Gewerkschaften an. 2 Gerade<br />
diese sozialdemokratische Dominanz<br />
in der Haltung der Berliner Einwohnerschaft<br />
verstärkte die ohnehin traditionelle<br />
Abneigung bedeutender deutscher<br />
Bevölkerungsschichten und<br />
einiger Kleinstaaten gegen die preußische<br />
Hauptstadt. <strong>Die</strong> fortbestehende<br />
staatliche Eigenständigkeit besonders<br />
der süddeutschen Bundesstaaten, der<br />
weiterhin auch verfassungsrechtlich gestützte<br />
Partikularismus, symbolisierte<br />
sich in der Ablehnung Berlins – dieses<br />
»Molochs«.<br />
Das hier nur skizzierte Bild der Hauptstadt<br />
gewann mit Ausbruch und im Verlauf<br />
des Ersten Weltkrieges schärfere<br />
Konturen. Tendenzen verstärkten sich zu<br />
Dominanzen. Als neuer Typ entstand in<br />
der Ansicht vieler einfacher Menschen<br />
der »Raffke«, der Kriegstreiber und<br />
Kriegsgewinnler, dem der Kriegsprofit<br />
über alles ging und der ein Schlemmerdasein<br />
führte, das der verarmten hungernden<br />
Bevölkerung Klassengegensätze<br />
emotional erlebbar machte. Und wie<br />
selbstverständlich konzentrierte sich<br />
die ganze zunehmende Kriegsmüdigkeit,<br />
der Unmut, auf das Kriegszentrum.<br />
In Berlin selbst kam es nach der ersten<br />
allgemeinen Kriegsbegeisterung bald zu<br />
Hungerunruhen und im Juni 1916 erstmalig<br />
auch zum politischen Streik von<br />
55.000 Rüstungsarbeitern gegen die<br />
Verhaftung und den Prozess Karl Liebknechts.<br />
3<br />
Hatte bis dahin das nationalistische<br />
»Deutschland, Deutschland über alles«<br />
der jungen deutschen Soldaten, zum<br />
Beispiel bei den Kämpfen um das belgische<br />
Langemark, das einsame Votum<br />
Karl Liebknechts am 2. Dezember<br />
1914 im Reichstag gegen die Kriegskredite,<br />
sein »Der Hauptfeind steht im eigenen<br />
Land!« auch in der Arbeiterschaft<br />
übertönt, so begann sich seit 1916 eine<br />
Antikriegsbewegung zu entwickeln, deren<br />
Träger vor allem Arbeiter in der Rüstungsindustrie,<br />
deren Agitatoren linke<br />
Sozialdemokraten, Gewerkschaftler und<br />
bürgerliche Pazifisten (beispielsweise<br />
der Bund Neues Vaterland) waren.<br />
<strong>Die</strong> bereits vor dem Krieg in der Sozialdemokratie<br />
geführten Auseinandersetzungen<br />
um den Kurs der Partei, unter anderem<br />
in der Haltung zum Massenstreik<br />
und zur Rüstungspolitik, gewannen mit<br />
Kriegsausbruch neue Dimensionen und<br />
erfuhren in der Kriegskreditfrage ihre<br />
krasse Zuspitzung.<br />
War einerseits die Zahl der beitragszahlenden<br />
Mitglieder (bei Berücksichtigung<br />
der »Eingezogenen«) von 1914<br />
im Agitationsbezirk Groß-Berlin mit<br />
121.689 Mitgliedern auf 76.355 (1916)<br />
bzw. 6.475 (1917) zurückgegangen 4 , so<br />
spaltete andererseits der Übergang der<br />
SPD-Führung mit ihrer Zustimmung zu<br />
den Kriegskrediten und dem »Burgfrieden«<br />
die Partei zunächst politisch-ideologisch<br />
und schließlich auch organisatorisch.<br />
Für Berlin war dieser Prozeß sehr<br />
kompliziert und durch einzelne Schritte<br />
charakterisiert, die hier nicht im Detail<br />
dargelegt werden müssen. 5 <strong>Die</strong> markantesten<br />
waren indes: die allmähliche<br />
Formierung der <strong>Linke</strong>n mit Rosa Luxemburg,<br />
Karl Liebknecht, Leo Jogiches und<br />
anderen zur Spartakusgruppe, ihr Verbleiben<br />
in der zentristischen Gruppierung<br />
um Georg Ledebour, Hugo Hasse,<br />
Ernst Däumig, der Führung der USPD<br />
und deren Reichstagsfraktion, der fortschreitende<br />
Meinungsumschwung in<br />
den Betrieben und die Herausbildung<br />
der Bewegung oppositioneller Gewerkschaftsfunktionäre,<br />
die <strong>als</strong> Ob- und Vertrauensleute<br />
in den Rüstungsfabriken,<br />
den Branchenkommissionen, schließlich<br />
auch in der mittleren Ortsverwaltung<br />
des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes<br />
(DMV) <strong>als</strong> wichtigster Berliner<br />
Gewerkschaftsorganisation einflußreiche<br />
Positionen gewannen. Im Sommer<br />
1917 zählte nach der Spaltung die<br />
Stadtverordnetenfraktion der SPD 23,<br />
die der USPD 22 Mitglieder. Am 1. Juli<br />
1917 hatte die USPD in Berlin 25.000,<br />
die SPD etwa 6.500 Mitglieder. Somit<br />
hätte sich die MSPD (so ihr Name seit<br />
ihrer Neugründung am 28. April 1917)<br />
in Berlin Minderheits-SPD nennen müssen.<br />
Bis zum Ausbruch der Revolution<br />
ging die Zahl der USPD-Mitglieder auf<br />
etwa 18 bis 20.000 zurück, die SPD hatte<br />
zu diesem Zeitpunkt etwa die gleiche<br />
Mitgliederzahl.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>n wuchsen mit den sich entwickelnden<br />
Massenstreiks nach den<br />
russischen Revolutionen im April 1917 6<br />
und im Januar 1918 7 . Mit den Arbeiterräten<br />
entstanden neue Formen zur Leitung<br />
der Massenbewegung neben den<br />
herkömmlichen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen<br />
– jetzt konnte<br />
Berlin deutlich <strong>als</strong> Vorort der Antikriegsbewegung,<br />
wohl auch <strong>als</strong> zentraler Ort<br />
der heranwachsenden Revolution gelten.<br />
Es zeigten sich bereits die Stärken,<br />
aber auch die Schwächen der Bewegung,<br />
zum Teil Spontaneität und<br />
Massenbeteiligung, Kampfbereitschaft<br />
und Solidarität, zugleich relative Isolation<br />
gegenüber anderen Mittelpunkten<br />
der Bewegung, Meinungsverschiedenheiten<br />
in der Führung und Zielsetzung,<br />
deren prinzipiellen Unterschiede zunächst<br />
durch gemeinsame Streikforderungen<br />
und die Beteiligung rechtssozialdemokratischer<br />
Funktionäre zum<br />
Beispiel. am Groß-Berliner Arbeiterrat<br />
Ende Januar 1918 überdeckt wurden.<br />
Der fortdauernde Belagerungszustand,<br />
die Inhaftierung oder auch Einberufung<br />
von Spartakus- und USPD-Funktionären<br />
zum Militär, das faktische Fehlen ei-<br />
43
ner oppositionellen Massenpresse (die<br />
Überbewertung der »Spartakusbriefe«<br />
oder des »Mitteilungsblattes« ist zu beachten!)<br />
– neben dem rechtssozialdemokratischen<br />
»Vorwärts«, der seine Auflage<br />
noch steigern konnte – schränkten<br />
die Möglichkeiten einer klärenden politischen<br />
Auseinandersetzung über Fortgang<br />
und Ziele der Bewegung stark ein.<br />
Am 7. November schrieb der Diplomat<br />
und Schriftsteller Harry Graf Kessler in<br />
sein Tagebuch: »Allmähliche Inbesitznahme,<br />
Ölfleck, durch die meuternden<br />
Matrosen von der Küste aus. Sie isolieren<br />
Berlin, das bald nur noch eine Insel<br />
sein wird. Umgekehrt wie in Frankreich<br />
(1789–I.M.) revolutioniert die Provinz<br />
die Hauptstadt, die See das Land«. 8 Obgleich<br />
sich Ende Oktober 1918 der »Vollzugsausschuß<br />
des Arbeiter- und Soldatenrates«<br />
in Berlin aus Revolutionären<br />
Obleuten, leitenden USPD-Funktionären<br />
und Spartakusführeren bildete (die Anwesenheit<br />
des Pionier-Oberleutnants<br />
Eduard Walz bis zu seiner Verhaftung<br />
am 3. November rechtfertigte offenbar<br />
auch die Bezeichnung »Soldatenrat«!),<br />
es kam zunächst nicht zu einem geschlossenen<br />
und entschlossenen Aufruf<br />
zum revolutionären Aufstand.<br />
Man muss allerdings in Rechnung stellen,<br />
dass sich in der Hauptstadt nach<br />
wie vor ein machtvoller Militär- und Polizeiapparat<br />
befand, der insbesondere<br />
nach der Verhaftung von Walz von<br />
der »revolutionären Bedrohung Berlins«<br />
überzeugt war. So begann die Revolution<br />
mit dem Aufstand der Matrosen, »an<br />
der See«, in Wilhelmshaven und Kiel, wo<br />
sich Arbeiter und Soldaten mit ihnen zusammenschlossen<br />
für die Beendigung<br />
des Krieges und revolutionäre demokratische<br />
Veränderungen 9 . Ihnen folgten<br />
zahlreiche Orte an den Küsten, in Nord-<br />
und Westdeutschland, in Stuttgart, und<br />
am 7. November wird in München die erste<br />
Monarchie gestürzt und die demokratische<br />
Republik ausgerufen. Einen<br />
»demokratischen« Staat hatte die kaiserliche<br />
Koalitionsregierung unter Max<br />
von Baden mit SPD-Beteiligung durch<br />
Teilparlamentarisierung am 26./27. Oktober<br />
und durch Versprechen von Frieden<br />
und demokratischen Freiheiten am<br />
4. November angekündigt. Doch diesen<br />
Weg zum Frieden ohne Revolution, mit<br />
Kaiser und ohne Republik, verhinderte<br />
die revolutionäre Massenerhebung zwischen<br />
dem 3./4. und dem 9. November,<br />
beginnend an der Küste; der entscheidende<br />
Schlag kam jedoch aus Berlin am<br />
9. November mit Gener<strong>als</strong>treik und bewaffneten<br />
Demonstrationen. <strong>Die</strong> Übergabe<br />
des Reichskanzleramtes von Max<br />
von Baden an Friedrich Ebert, die Pro-<br />
44<br />
klamation der freien deutschen Republik,<br />
womit ein bürgerlich-parlamentarischer<br />
Staat gemeint war, formulierte<br />
Philipp Scheidemann vom Reichstagsgebäude<br />
aus. Karl Liebknecht verkündete<br />
von einem Balkon des Stadtschlosses<br />
der Hohenzollern die freie sozialistische<br />
Republik, die sich auf die Arbeiter- und<br />
Soldatenräte stützen sollte. <strong>Die</strong> »Berliner<br />
Republik« war ausgerufen!<br />
Man muss erwähnen, dass sich der revolutionären<br />
Erhebung kaum Widerstand<br />
entgegenstellte, millionenfach<br />
wurden die dem Kaiser einst geschworenen<br />
Eide gebrochen, Entscheidungsschwäche,<br />
Plan- und Tatenlosigkeit<br />
der Militärbefehlshaber waren wesentlich<br />
für den raschen, relativ unblutigen<br />
Sieg der tatsächlichen wie der vermeintlichen<br />
Revolutionäre, die sich in Berlin<br />
an die Hebel der Macht gesetzt hatten,<br />
an denen sie bereits seit Anfang Oktober<br />
teilhatten. Am 9.und 10. November<br />
wurden sie ihnen von den alten Machthabern<br />
übergeben und mit deren funktionierenden<br />
und agierenden Teilen verbündeten<br />
sich sofort, um die Macht real<br />
ausüben zu können. Das Bündnis Eberts<br />
mit dem General Wilhelm Groener von<br />
der Obersten Heeresleitung (OHL) fand<br />
seine provinziellen und örtlichen Parallelen:<br />
führende Militärs arrangierten<br />
sich mit den Aufständischen, ihren revolutionär<br />
gebildeten Kampforganen, den<br />
Räten. Ähnliches vollzog sich bekanntlich<br />
auf anderen Ebenen 10 , betreffend<br />
die Unternehmerorganisationen mit den<br />
reformistischen Gewerkschaftsführern.<br />
Berlin wird (oder bleibt) Zentrum der Revolution,<br />
der Republik, und ihrer leitenden<br />
Organe: der Reichsregierung, jetzt<br />
Rat der Volksbeauftragten nach der Einigung<br />
der SPD- und USPD- Führungen<br />
und der Ablehnung der Beteiligung Karl<br />
Liebknechts – ihre Bestätigung durch<br />
die Vollversammlung der Berliner Arbeiter-<br />
und Soldaten-Räte am 10. November<br />
im Zirkus Busch, sie bilden ihrerseits<br />
den Vollzugsrat, vorgeblich zentrales<br />
Macht- und Kontrollorgan der sozialistischen<br />
Republik In beiden leitenden<br />
Revolutionsorganen zeigt sich der Kompromisscharakter<br />
des Erreichten: das<br />
Zusammenwirken der sozialdemokratischen<br />
Parteien, die demokratische Beteiligung<br />
der Arbeiter und Soldaten an<br />
den Machtorganen, die Einigung auf<br />
den Aufruf »An das werktätige Volk«,<br />
der die sozialistische Republik verkündet;<br />
dem stimmen alle Versammelten<br />
zu. <strong>Die</strong> Spartakusgruppe lehnt jedoch<br />
die Beteiligung am Vollzugsrat der Räte,<br />
die Zusammenarbeit mit »Regierungssozialisten«<br />
ab, eine sektiererische Position,<br />
die erst im Februar 1919 aufgegeben<br />
wird, <strong>als</strong> die Räte ihren ursprünglichen,<br />
nicht unbedeutenden Rang bereits weitgehend<br />
eingebüßt haben. In der 1966<br />
in der DDR veröffentlichten »Geschichte<br />
der deutschen Arbeiterbewegung«,<br />
Band 3, wurde nach langen Diskussionen<br />
des Herausgeber- und Autorenkollektivs<br />
die Fehlentscheidung beschönigend<br />
<strong>als</strong> »nicht elastisch genug«<br />
charakterisiert . 11<br />
Der Groß-Berliner Vollzugsrat erklärte<br />
wie der Rat der Volksbeauftragten seine<br />
Zuständigkeit für das Reich, für Preußen<br />
und für Berlin, wenn zunächst auch<br />
nur provisorisch, bis zu dem in Aussicht<br />
genommenen gesamtdeutschen Rätekongreß<br />
12 , der das »Provisorium« beenden<br />
und ein für das Reich dauerhaft<br />
legitimiertes leitendes Räteorgan anstelle<br />
des Berliner Rates wählen sollte.<br />
Zunächst waren in den zentralen Revolutionsgremien<br />
Berliner Funktionäre dominant.<br />
<strong>Die</strong> örtliche Herkunft, die Verbindung<br />
zur Basis, zur »Hausmacht«, war für die<br />
Reputation beider Institutionen, für ihr<br />
Ansehen bei der Bevölkerung im ganzen<br />
Reich von nicht zu unterschätzender<br />
Bedeutung. Man muss daran erinnern,<br />
dass es nicht überall <strong>als</strong> ein Vorzug<br />
galt, ein Berliner Funktionär zu sein..<br />
Das Ansehen der Hauptstadt hatte,<br />
wie erwähnt, während des Krieges <strong>als</strong><br />
Zentrum der politischen, militärischen<br />
und wirtschaftlichen Diktatoren nicht<br />
gerade gewonnen. Nun waren weder<br />
die Volksbeauftragten der SPD, Friedrich<br />
Ebert, Otto Landsberg und Philipp<br />
Scheidemann, wie auch die der USPD,<br />
Emil Barth, Wilhelm Dittmann und Hugo<br />
Haase <strong>als</strong> Funktionäre in der Hauptstadt<br />
ansässig; Emil Barth indessen <strong>als</strong><br />
einziger mit dem Berliner Proletariat<br />
durch seine Funktion im DMV verbunden.<br />
Er wirkte zudem im Rat der Volksbeauftragten<br />
und bis zum 20. November<br />
gleichzeitig im Vollzugsrat. Ähnlich<br />
enge Beziehungen zur Berliner Arbeiterbewegung<br />
wie Barth hatten die leitenden<br />
Genossen des Vollzugsrates; bezeichnenderweise<br />
gab es lediglich im<br />
technischen Apparat des Vollzugsrates<br />
Frauen. Allerdings auch hier keine gebürtigen<br />
Berliner unter dem Führungskader<br />
: der Vorsitzende Richard Müller<br />
(USPD) war aus Thüringen gebürtig 13 ,<br />
der soldatische Kovorsitzende, zunächst<br />
Hauptmann von Beerfelde (bis zum 12.<br />
November) 14 , dann (bis zum 8. 1. 1919)<br />
Brutus Molkenbuhr 15 ebenso wenig aus<br />
Berlin wie die Arbeiterräte Ernst Däumig<br />
16 und Georg Ledebour 17 , wie Barth<br />
aber mit der Berliner Arbeiterbewegung<br />
eng verbunden, beide im Zentralvorstand<br />
der USPD, Ledebour seit 1900
Mitglied des Reichstags für Berlin VI,<br />
dazu dann aber eine ganze Phalanx aus<br />
den etwa 100 Revolutionären Obleuten:<br />
Paul Eckert, Paul Wegmann, Paul<br />
Neuendorf von der USPD, sowie Ernst<br />
Jülich, Oskar Rusch, Max Maynz, Franz<br />
Büchel 18 . Somit war der Vollzugsrat hinsichtlich<br />
der personellen Zusammensetzung<br />
deutlich ein Berliner Organ.<br />
<strong>Die</strong> Soldatenräte vertraten zwar Berliner<br />
Truppenteile, waren aber durchweg<br />
keine »Berliner«, sondern spiegelten<br />
schon eine breitere deutsche Landsmannschaft<br />
und andere soziale Schichten<br />
wider. Aus den zunächst gewählten<br />
Soldaten sind neben den erwähnten<br />
Vorsitzenden wohl Eduard Walz 19 , Hans<br />
Paasche 20 und Max Cohen-Reuß 21 sowie<br />
der »Arbeiterrat« Hermann Müller<br />
zu erwähnen, zwei prominente Mitglieder<br />
des Parteivorstandes der SPD 22 .<br />
Cohen-Reuß trug mit Julius Kaliski Überlegungen<br />
zur Rätebewegung bei, die<br />
die Mehrheit des Parteivorstandes ablehnten.<br />
Einem Vorschlag der SPD-Fraktion<br />
(Reinhold Vietz, Schriftführer des<br />
Soldaten-Rates) folgend, bildeten die<br />
Berliner Soldatenräte am 20. November<br />
einen gesonderten Vorstand mit Alfred<br />
Gottschling <strong>als</strong> Vorsitzenden, der Anfang<br />
Dezember Mitglied des Vollzugsrates<br />
wurde. 23 Es war sicher auch eine<br />
Folge der von Berlinern dominierten<br />
Zusammensetzung des Vollzugsrates,<br />
dass sich »sehr bald…in weiten Teilen<br />
des Reiches eine starke Mißstimmung<br />
gegen den Berliner Vollzugsrat geltend«<br />
machte, wie Hermann Müller in seinen<br />
»Erinnerungen« feststellte. Er zitiert den<br />
Soldatenrat Gerhardt mit seiner Unzufriedenheit:<br />
»Der Vollzugsrat hat nicht<br />
Fühlung mit den Süddeutschen aufgenommen,<br />
sondern die Vertreter der<br />
süddeutschen Kameraden mußten erst<br />
hierher kommen«. 24<br />
<strong>Die</strong>s traf zu diesem Zeitpunkt so nicht<br />
mehr zu, denn bereits am 15. November<br />
bedankte sich der Vollzugsrat bei der<br />
»Republik der Bayrischen Arbeiter- und<br />
Soldatenräte« für deren »brüderlichen<br />
Gruß« und forderte sie auf, »gemeinsam<br />
alle Kräfte einzusetzen, die Errungenschaften<br />
der Revolution zu sichern und<br />
auszubauen« 25 . Am 23. November nahmen<br />
schon zwei Vertreter des Arbeiter-<br />
und Soldaten-Rates Badens (Emil Baer<br />
und Johannes Krayer) – sie hatten am<br />
21. 11. Gespräche mit den Berliner Vorsitzenden<br />
geführt – sowie drei Delegierte<br />
von etwa 400.000 Soldaten der Ostfront<br />
an der Vollzugsratssitzung teil; sie<br />
wurden in den Rat aufgenommen. Sehr<br />
bedeutsam war die Teilnahme von Regierungsvertretern<br />
Preußens und Bayerns<br />
(mit Kurt Eisner) <strong>als</strong> bedeutendste<br />
deutsche Bundesstaaten an der Sitzung<br />
des Vollzugsrates am 25. November 26<br />
sowie die Anwesenheit Kieler Delegierter<br />
am 26. 11. 27 , später (am 30. 11.) Bremer<br />
und Münchener 28. Als weitere Vertreter<br />
der Länder wurden Max König<br />
und Lemke für Elsaß-Lothringen (!), Fritz<br />
Heckert und Max Heldt für Sachsen sowie<br />
der Arbeiterrat Heinrich Schäfer für<br />
die besetzten linksrheinischen Gebiete<br />
Mitglieder des Vollzugsrates, wobei Heckert<br />
(Spartakusbund) und Heldt (SPD)<br />
ihre Arbeit im Rat nicht aufnahmen 29 .<br />
Schließlich beschloss der Vollzugsrat<br />
nach der Soldatenratskonferenz am<br />
1. 12. 18 in Bad Ems seine Erweiterung<br />
um fünf Delegierte der Soldatenräte der<br />
im Westen befindlichen Truppen; dann<br />
traten noch drei Abgeordnete des Zentralrats<br />
der Marine (53er Ausschuß) hinzu,<br />
so dass der Vollzugsrat am Vorabend<br />
des Rätekongresses 45 Mitglieder zählte,<br />
die mehrheitlich durch den Zutritt der<br />
Soldatenräte der SPD folgten und der<br />
deutlich über seine ursprüngliche Zentriertheit<br />
auf Berlin hinausgewachsen<br />
war. Er entsprach damit der politischen<br />
Zusammensetzung vieler deutscher<br />
Räte. Trotz anfänglichem Paritätsprinzip<br />
SPD-USPD, was eigentlich dem Räteprinzip<br />
widersprach, hatte die SPD bald<br />
vielerorten die Mehrheit errungen, zumal<br />
längst nicht überall USPD- oder gar<br />
Spartakusorganisationen existierten. 30<br />
Entscheidend für die politische Rolle<br />
des Vollzugsrates wie auch des Rates<br />
der Volksbeauftragten war jedoch seine<br />
Politik, seine Beschlüsse und sein<br />
Vermögen, diese zu verbreiten und<br />
zu realisieren. Erst daran läßt sich die<br />
Stellung Berlins im Revolutionsprozeß<br />
festmachen. Gerhard Engel hat in seinem<br />
Aufsatz über den Vollzugsrat <strong>als</strong><br />
zentrales Räteorgan 31 darauf hingewiesen,<br />
daß der Vollzugsrat entsprechend<br />
seinem Anspruch »hauptstadtübergreifende<br />
Probleme« behandelte, <strong>als</strong>o Berlin<br />
<strong>als</strong> Zentrum der revolutionären Veränderungen<br />
zu respektieren war: so die<br />
Verlautbarung über die exekutive Gewalt<br />
gerichtet auf Reich, Preußen und<br />
Hauptstadt. Aber der Aufruf war lediglich<br />
an die Arbeiter und Soldaten Groß-<br />
Berlins mitgeteilt; der Aufruf zur Bildung<br />
der Roten Garde, die Wahlrichtlinien für<br />
die Arbeiterräte, die Ressorts des Vollzugsrates<br />
– alles nur auf Berlin zugeschnitten.<br />
Andererseits schickte man<br />
Kuriere ins Land, bestimmte mindestens<br />
formal Bildung und Zusammensetzung<br />
der Preußischen Regierung, die Überprüfung<br />
der preußischen Regional- und<br />
Lokalbehörden. Schließlich gab es auch<br />
Ansätze, direkt Reichskompetenz in Anspruch<br />
zu nehmen, zum Beispiel Berlin<br />
<strong>als</strong> europäische Hauptstadt zu behaupten:<br />
so der Aufruf an die Völker Frankreichs,<br />
Italiens, Englands und Amerikas<br />
<strong>als</strong> Zeichen der Berliner <strong>als</strong> Sprecher<br />
deutschen Räte. <strong>Die</strong> Grundsätze revolutionärer<br />
Politik ausgearbeitet und damit<br />
die Rolle Berlins deutlich gemacht hat<br />
Ernst Däumig mit dem Entwurf seiner<br />
Leitsätze mit dem Kernpunkt: »proletarische<br />
Demokratie« gegen die »bürgerlich-demokratische<br />
Republik« über die<br />
Wahl einer Nationalversammlung; diese<br />
Leitsätze wurden am 16./17. November<br />
im Vollzugsrat diskutiert und mit<br />
12 : 10 Stimmen abgelehnt. Schließlich<br />
entsprach der Aufruf des Vollzugsrates<br />
zur gesamtdeutschen Delegiertenkonferenz<br />
am 23. 11. seiner zentralen Rolle,<br />
die Entscheidung aber war verschoben.<br />
Dennoch: obgleich es keine umfassende<br />
Orientierung oder gar Organisation der<br />
Revolutionsbewegung, der Räte, gab,<br />
waren die Unterschiede in den Forderungen<br />
in den verschiedenen Zentren<br />
der Revolution bei ihrem Ausbruch in<br />
den Hauptpunkten identisch oder ähnlich<br />
formuliert: schleunigste Herbeiführung<br />
des Friedens, Beseitigung des<br />
monarchistischen Regimes, eine freie<br />
demokratische Republik, Brot, demokratische<br />
Rechte und Freiheiten in einer<br />
sozialistischen Gesellschaft. Allgemein<br />
war auch die Illusion, mit dem 9./10<br />
November sei bereits die sozialistische<br />
Republik errungen und Träger der politischen<br />
Macht seien die Räte. Gefordert<br />
wurde vielfach die Verbindung zur russischen<br />
Sowjetrepublik 32 . Man braucht<br />
nicht zu wiederholen, dass die Auseinandersetzungen<br />
sehr bald um die Weiterentwicklung<br />
des revolutionären Prozesses<br />
entbrannten, eigentlich waren<br />
sie nur kurzzeitig bei den Kompromissen<br />
um den 9./10 11. überdeckt. Einerseits<br />
die um den Rat der Volksbeauftragten,<br />
<strong>als</strong>o die Führung der SPD und<br />
Teilen der USPD formierten Kräfte, der<br />
alte Staatsapparat, die OHL (Wilhelm<br />
Groener/Paul von Hindenburg) und der<br />
überwiegende Teil des Militärs, Gewerkschaftsführer<br />
und Unternehmerverbände<br />
in Industrie und Landwirtschaft (Carl<br />
Legien – Hugo Stinnes), die Kirchen,<br />
Schulen und Medien, die Justiz, Bürgerräte<br />
und die neu gebildeten bürgerlichen<br />
Parteien, verbunden und verbündet<br />
mit der Regierungsforderung nach<br />
einer Nationalversammlung, die nach<br />
allgemeinem, gleichen und geheimem<br />
Wahlrecht, auch für Frauen, die künftige<br />
Gestaltung des Reiches <strong>als</strong> bürgerlich-demokratische<br />
Republik zu bestimmen<br />
hätte. Andererseits die auf<br />
eine Weiterführung der Revolution bis<br />
zur Errichtung einer sozialistischen Re-<br />
45
publik, der Rätemacht, unterschiedlich<br />
<strong>als</strong> eine »sozialistische« oder »proletarische«<br />
Demokratie bezeichnet, teilweise<br />
<strong>als</strong> Synonym auch <strong>als</strong> »Diktatur des<br />
Proletariats« formuliert, orientierenden<br />
Kräfte: die linke USPD, in Berlin <strong>als</strong>o<br />
USPD-Funktionäre des Vollzugsrates,<br />
die Mehrheit der revolutionären Obleute<br />
und die Spartakusführer, die sich zwar<br />
am 11. November zum Bund, aber noch<br />
nicht zur selbständigen Partei zusammenfanden,<br />
wie sich zeigte, in der Berliner<br />
Arbeiterschaft unterstützt, jedoch<br />
nicht mehrheitlich.<br />
<strong>Die</strong> Gegenrevolution konzentrierte<br />
sich von Anfang an auf Berlin, bereitete<br />
die militärische Besetzung der Stadt<br />
vor und organisierte die konterrevolutionäre<br />
Propaganda gegen die Räte,<br />
bis zur Rufmordhetze gegen Karl Liebknecht<br />
bereits Ende November. In der<br />
Provinz machte die bürgerliche Presse<br />
zudem Stimmung gegen das »rote« Berlin:<br />
»Berlin ist von allen guten Geistern<br />
verlassen…Liebknecht ist der Mann<br />
von morgen, wenn ihn nicht andere<br />
Mächte in Fesseln schlagen <strong>als</strong> das<br />
Kollegium der sechs Männer… Berlin<br />
wird das ganze Deutschland in den Abgrund<br />
reißen, wenn das Reich in seinen<br />
Einzelstämmen nicht die Entschlußkraft<br />
findet, die einstige Reichshauptstadt<br />
abzuschütteln und sein Schicksal<br />
selbst zu bestimmen. Dort locken<br />
die Sirenen des Bolschewismus.. In einer<br />
solchen Stunde heißt es: Rette sich<br />
wer kann! <strong>Die</strong> Augen auf …und los von<br />
Berlin« 33 .<br />
<strong>Die</strong>se Losung kulminierte in den Bestrebungen<br />
nach einer »Republik Groß-<br />
Thüringen« nach dem Beispiel der Rheinisch-westfälischen<br />
Separatisten und<br />
ähnlicher Machenschaften in Bayern<br />
und Oberschlesien 34 . Obgleich Ebert<br />
der Hessischen Regierung bereits am<br />
21. 11. auf ihre Befürchtungen über »die<br />
Entwicklung in Berlin« geantwortet hatte,<br />
dass »nicht nach der Diktatur einer<br />
Stadt« gestrebt werde 35 und dies auf<br />
der Reichskonferenz der Ministerpräsidenten<br />
der deutschen Staaten am<br />
25. 11. in Berlin neuerlich unterstrichen<br />
hatte 36, es wurden weiter die Anti-Berlin-Losungen<br />
<strong>als</strong> Teil der konterrevolutionären<br />
Propaganda verbreitet. Und die<br />
Konferenz der süddeutschen Staaten<br />
am 28./29. November erklärte: »<strong>Die</strong><br />
Verhältnisse in Berlin …bedrohen auch<br />
die Einheit des Deutschen Reiches« 37 .<br />
Wir können den Hass der Konterrevolution<br />
gegen das »rote« Berlin auch positiv<br />
wenden: man erkennt in der Hauptstadt<br />
das Zentrum der Revolution.<br />
Am gleichen Tag, <strong>als</strong> der zitierte Artikel<br />
in Eisenach erschien, am 6. Dezember,<br />
46<br />
kam es in Berlin zum ersten blutigen Zusammenstoß<br />
zwischen Anhängern der<br />
Revolution und Militärs in der Chausseestraße.<br />
Es war noch nicht eine Regierungsaktion,<br />
sondern ein unprovozierter<br />
militärischer Gewaltakt, ein Vorbote.<br />
Am 10. Dezember begrüßten Ebert und<br />
der Magistrat am Brandenburger Tor die<br />
heimkehrenden, »im Felde unbesiegten«<br />
Truppen. Über die Pläne, die die OHL<br />
mit Zustimmung Eberts mit dem Militäreinmarsch<br />
der 10 Divisionen in Berlin<br />
nach diesem Tag verfolgte, hat sich General<br />
Groener später deutlich geäußert:<br />
»Das nächste Ziel« war, »in Berlin die Gewalt<br />
den Arbeiter- und Soldatenräten zu<br />
entreißen« und »eine feste Regierung in<br />
Berlin aufzustellen« 38 . Bevor es aber zur<br />
Militäraktion, zum »Krieg gegen die Revolution«<br />
39 , kam, fand im Preußischen<br />
Abgeordnetenhaus der von allen Seiten<br />
mit Spannung erwartete 1. Reichskongreß<br />
der Arbeiter- und Soldatenräte<br />
vom 16.–20. 12. statt, ein klares Zeichen<br />
für die Akzeptanz der Hauptstadt<br />
<strong>als</strong> Zentrum der Räte, die immer noch<br />
zehntausende Demonstranten mobilisieren<br />
konnten. Der Rätekongreß öffnete<br />
jedoch mit seinem mehrheitlichen<br />
Beschluß über die Wahl der Nationalversammlung<br />
am 19. Januar 1919 den Weg<br />
nach Weimar. War der Rätekongreß ein<br />
Beispiel für ein »sozialistisches« Parlament?<br />
Bekanntlich schloß sein Wahlreglement<br />
alle Bürger von der Wahl aus,<br />
die Wahl sollte aus den »bestehenden<br />
Arbeiter- und Soldaten- Räten« erfolgen;<br />
so kamen selbst die Vorkämpfer für eine<br />
Rätemacht, Luxemburg und Liebknecht,<br />
nicht zu einem Mandat.<br />
Der offene Angriff auf das revolutionäre<br />
Berlin begann mit den so genannten<br />
Weihnachtskämpfen, dem Bombardement<br />
der kaiserlichen Artillerie<br />
auf Schloß und Marstall, Symbole des<br />
Königs- und Kaiserreichs, die von der<br />
Volksmarinedivision allerdings ohne jeden<br />
Beschuss besetzt worden waren.<br />
Das Ergebnis war eher dürftig für die<br />
Angreifer, führte schließlich zum Austritt<br />
der rechten USPD-Vertreter aus der Regierung,<br />
die nun mit Noske, dem mit der<br />
OHL und den Freikorps zum brutalen<br />
Vorgehen entschlossenen »Bluthund«,<br />
seine reine SPD-Zusammensetzung erhielt<br />
und die alleinige Verantwortung<br />
übernahm. 40<br />
<strong>Die</strong> Gründung der KPD am Jahresende<br />
im Preußischen Abgeordnetenhaus unterstrich<br />
erneut die zentrale Rolle Berlins<br />
bei der Herausbildung und schließlichen<br />
Formierung einer alternativen<br />
Linkspartei. Sie war sicher ein wichtiges<br />
Ergebnis der Revolution, jedoch<br />
nicht das wichtigste und historisch be-<br />
deutsamste, wie wir in DDR-Publikationen<br />
immer wieder lesen konnten. 41<br />
Bekanntlich gab es Widersprüche zwischen<br />
der Minderheit um Rosa Luxemburg,<br />
die nach dem Rätekongreß (am<br />
23. 12. in der »Roten Fahne«) auf einen<br />
Kompromiss, nämlich die Beteiligung an<br />
den Wahlen zur Nationalversammlung<br />
und gleichzeitigem Festhalten am Rätesystem<br />
orientierte, und dagegen der unrealistisch,<br />
zum Teil anarchistisch votierenden<br />
Mehrheit, die weiter an der<br />
Illusion von der unmittelbaren Errichtung<br />
der Rätemacht, der Diktatur des<br />
Proletariats, festhielt.<br />
Es ist hier nicht der Platz, die theoretischen<br />
und parteipolitischen Diskrepanzen<br />
der jungen Partei zu erörtern,<br />
auch nicht beispielsweise die 1966 in<br />
der »Chronik zur Geschichte der deutschen<br />
Arbeiterbewegung« 42 getroffene<br />
Feststellung zu erörtern, die Kämpfe<br />
in der Revolution hätten bewiesen, daß<br />
es in Deutschland unmöglich war, »in<br />
einem Sprung zur Diktatur des Proletariats«<br />
zu gelangen. Konnte das überhaupt<br />
das aktuelle Ziel sein ?<br />
Eine Diskussion wäre nötig über »Rätemacht<br />
und Diktatur des Proletariats«,<br />
die noch 1983 im »Wörterbuch der<br />
Geschichte« <strong>als</strong> »die bis dahin umfassendste<br />
Demokratie« bezeichnet wird. 43<br />
Wichtig in unserem Zusammenhang ist<br />
es festzuhalten, dass es nicht gelang,<br />
mit dem fortgeschrittenen Teil der Berliner<br />
Arbeiterschaft, vertreten durch die<br />
Revolutionären Obleute, zu einem wie<br />
auch immer gearteten festen Zusammenschluss<br />
zu kommen und damit weiteren<br />
größeren Einfluss in Richtung einer<br />
Rätedemokratie zu gewinnen. <strong>Die</strong><br />
umstrittene Erklärung des »Revolutions-<br />
Ausschusses« vom 6. Januar 1919 über<br />
die Absetzung der Regierung Ebert war<br />
dazu mindestens ungeeignet.<br />
Andererseits muss man feststellen,<br />
dass die nachfolgenden Kämpfe, fälschlich<br />
»Spartakusaufstand« genannt, die<br />
Massen der Berliner Arbeiter, ihre Obleute,<br />
den Berliner USPD-Vorstand und<br />
die KPD in der Abwehr des weißen Terrors<br />
zusammenführten, der in der Ermordung<br />
Rosa Luxemburgs und Karl<br />
Liebknechts kulminierte.<br />
Der erste offene brutale Schlag der<br />
Konterrevolution richtete sich <strong>als</strong>o gegen<br />
das Berliner Proletariat, und wir haben<br />
versucht an einigen Schnittpunkten<br />
zu zeigen, warum dies der Fall war. Es<br />
folgten bekanntlich sehr bald weitere<br />
Militäraktionen gegen revolutionäre<br />
Zentren, Räterepubliken zumal, wie sie<br />
sich in Bremen (10. 1.–4. 2. 1919) und<br />
dann in München (13. 4.–3. 5. 1919)<br />
konstituiert hatten, gegen die Arbei-
ter Mitteldeutschlands und im Ruhrgebiet.<br />
Waren dies Beispiele für eine »sozialistische<br />
Demokratie«? Auch in Berlin<br />
war man sich seiner Sache noch immer<br />
nicht sicher. Schon während des Rätekongresses,<br />
am 17. Dezember 1918, hatte<br />
der »Vorwärts« vorausschauend geschrieben,<br />
dass man in einer Stadt wie<br />
Berlin, wo man vor Demonstrationen<br />
und Angriffen der Massen nicht sicher<br />
sei, das »höchste Symbol der Demokratie«,<br />
die Nationalversammlung, nicht tagen<br />
lassen könne, man sollte in Kassel,<br />
Erfurt oder in einem anderen Ort zusammenkommen.<br />
44<br />
Ende Dezember 1918 äußerte sich Ebert<br />
zu diesem Problem: » <strong>Die</strong> Sicherheit der<br />
Nationalversammlung« in Berlin zu gewährleisten<br />
sei einerseits »sehr schwierig,<br />
selbst wenn man nicht vor einer<br />
starken militärischen Sicherung zurückschrecken<br />
würde«, auch die wachsenden<br />
Anti-Berlin-Stimmungen und die Gefahr<br />
des Separatismus, die Beziehungen<br />
zu den Bundesstaaten legten den Gedanken<br />
nahe, die Nationalversammlung<br />
»näher nach dem Herzen Deutschlands«<br />
zu verlegen. Am 14. Januar 1919 meinte<br />
er: »Man sollte den Erfolg gegenüber<br />
den Unabhängigen und Spartakisten<br />
nicht überschätzen. Eine absolute Sicherheit<br />
läßt sich in einer solchen Riesenstadt<br />
wie Berlin nicht schaffen.« 45<br />
Scheidemann zog ebenfalls in Betracht,<br />
»dass man in Berlin jeden Tag Hunderttausende<br />
von Menschen auf die Beine<br />
bringen kann, die sich wie Mauern um<br />
die Gebäude legen. Dagegen schützen<br />
alle militärischen Machtmittel gar nicht.<br />
Man kann auf diese Menschenmassen<br />
nicht einfach schießen«. 46 (Das konnte<br />
man weiterhin, so auch in Berlin im<br />
März 1919). Weimar <strong>als</strong> die »Stadt Goethes«<br />
sei »ein gutes Symbol für die junge<br />
deutsche Republik« 47 . Weimar sei<br />
auch aus Gründen des »Einheitsgedankens«<br />
und der »Zusammengehörigkeit<br />
des Reiches« auszuwählen; wenn man<br />
den »Geist von Weimar« mit dem Aufbau<br />
eines »neuen Deutschen Reiches<br />
verbindet«, so würde das in der ganzen<br />
Welt »angenehm empfunden werden«,<br />
meinte Ebert 48.<br />
Es traten noch weitere Überlegungen<br />
hinzu: der USA-Präsident W. Wilson<br />
würde zustimmen, man könne einen<br />
»besseren Frieden« erhalten 49 , und<br />
schließlich fasste die Regierung am<br />
Tag nach den Wahlen zur Nationalversammlung<br />
den Beschluss, Weimar <strong>als</strong><br />
ihren Tagungsort zu bestimmen. 50 »<strong>Die</strong><br />
Konstituante soll die revolutionären<br />
Zustände beenden und dazu muss<br />
sie absolut sichergestellt sein«, hatte<br />
der Unterstaatssekretär und Chef der<br />
Reichskanzlei, Curt Baake, bereits am<br />
14. 1. gesagt: »In Berlin ist das aber<br />
nicht möglich … Hat die Konstituante<br />
erst einmal eine legale Gewalt geschaffen,<br />
so werden wir mit Berlin sehr viel<br />
eher fertig werden, denn diese legale<br />
Gewalt kann viel entschlossener, unbekümmerter<br />
und rücksichtsloser vorgehen<br />
<strong>als</strong> die gegenwärtige Regierung«.<br />
Dann könne man auch bestimmen,<br />
»dass Berlin das Zentrum von Deutschland<br />
bleibt«. 51 Berlin <strong>als</strong>o erst nach der<br />
Liquidation der Revolution wieder das<br />
Zentrum. Es war, wie wir gesehen haben,<br />
eines der Zentren der deutschen<br />
Revolution, der Ursprung der Republik<br />
lag hier, aber Berlin wurde nicht<br />
ihr Namensgeber, sondern die Nationalversammlung<br />
im Nationaltheater,<br />
das bürgerliche Weimar, gab dem aus<br />
der Revolution geborenen Staat für die<br />
nächsten 14 Jahre seinen Namen.<br />
Professor Dr. Ingo Materna<br />
1 Vgl. allgemein: Geschichte Berlins, hg. von Wolfgang<br />
Ribbe, Berlin 2002 (Forschungen der Historischen<br />
Kommission zu Berlin, 2 Bde.), hier Bd. 2.<br />
2 Vgl. immer noch am ausführlichsten im Detail:<br />
Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung,<br />
hg. von der Bezirksleitung der SED,<br />
Kommission zur Erforschung der örtlichen Arbeiterbewegung.<br />
Bd. 1. Von den Anfängen bis 1917,<br />
Berlin 1987.<br />
3 Vgl. auch die Einleitung zu: Dokumente aus geheimen<br />
Archiven. Bd. 4, 1914–1918. Berichte des<br />
Berliner Polizeipräsidenten zur Stimmung und Lage<br />
der Bevölkerung in Berlin, bearb. von Ingo Materna<br />
und Hans-Joachim Schreckenbach unter<br />
Mitarbeit von Bärbel Holtz, Weimar 1987 (im Folgenden<br />
zit. <strong>als</strong>: Berichte 1914–1918).<br />
4 <strong>Die</strong>ter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen<br />
Arbeiterbewegung 1869 bis 1917, 2 Bde,<br />
Leipzig 1987, Bd. 1, S. 377.<br />
5 Vgl. die Literatur in: Groß-Berliner Arbeiter- und<br />
Soldatenräte in der Revolution 1918/19, Dokumente<br />
der Vollversammlungen und des Vollzugsrates.<br />
Vom Ausbruch der Revolution bis zum<br />
1. Reichsrätekongreß, hg. von Gerhard Engel, Bärbel<br />
Holtz und Ingo Materna, Berlin 1993, S. XVI-<br />
II, Anm. 40 Im Folgenden (zit. <strong>als</strong>: Groß-Berliner<br />
A.- und S.-Räte, 1.)<br />
6 Am ausführlichsten: Heinrich Scheel, Der Aprilstreik<br />
1917 in Berlin, in: Revolutionäre Ereignisse<br />
und Probleme in Deutschland während der Periode<br />
der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution<br />
1917/1918, hg. von Albert Schreiner, Berlin 1957,<br />
S. 1–88.<br />
7 Walter Bartel, Der Januarstreik 1918 in Berlin, in:<br />
ebd., S. 141–184.<br />
8 Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918–1937, Frankfurt<br />
a.M. 1961, S. 18; zit. nach Heinrich A. Winkler,<br />
Weimar 1918–1933. <strong>Die</strong> Geschichte der ersten<br />
deutschen Demokratie, München 1993, S. 29.<br />
9 Vgl. Ernst-Heinrich Schmidt, Heimatheer und Revolution<br />
1918. <strong>Die</strong> militärischen Gewalten im Heimatgebiet<br />
zwischen Oktoberreform und Novemberrevolution,<br />
Stuttgart 1981, S. 204 ff.<br />
10 Vgl. ebd., S. 433 ff.<br />
11 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung,<br />
8 Bde., Bd. 3, Berlin 1966, S. 108.<br />
12 Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S.XXVI, XXVIII, 34.<br />
13 Jetzt erstmalig eine präzise Biographie von Ralf<br />
Hoffrogge, Richard Müller. Der Mann hinter der<br />
Novemberrevolution, <strong>Die</strong>tz Berlin, 2008; vgl. auch<br />
ders., Räteaktivisten in der USPD: Richard Müller<br />
und die Revolutionären Obleute, in: JahrBuch<br />
für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung,<br />
Jan. 2008, H. 1, S. 36–45. Im übrigen<br />
vgl. die biographischen Nachschlagewerke sowie<br />
auch in : Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, passim.<br />
Nachzutragen wäre für Ebert: Walter Mühlhausen,<br />
Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der<br />
Weimarer Republik, Bonn 2006; zu Hugo Haase:<br />
<strong>Die</strong>ter Engelmann u. Horst Naumann, Hugo Haase,<br />
Lebensweg und politisches Vermächtnis eines<br />
streitbaren Sozialisten, Berlin 1999.<br />
14 Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. 20, Anm. 12.<br />
15 Ebd., S. 16, Anm. 7.<br />
16 Ebd., S. 5 (mit Lit.).<br />
17 Ebd., S. 8 (mit Lit.).<br />
18 Zu allen Arbeiterräten s. Ebd., S. 22 ff. Zu Franz Büchel<br />
(S. 222, Anm. 19) ergänzend s. ANLAGE (1).<br />
19 Zu E. Walz (Ebd., S. 16) s. ausführlich in den ANLA-<br />
GEN (4).<br />
20 Zu H. Paasche (Ebd. S. 23) ist nachzutragen:<br />
Werner Lange, Hans Paasches Forschungsreise ins<br />
innerste Deutschland. Eine Biographie. Mit einem<br />
Geleitwort von Helga Paasche, Bremen 1995.<br />
21 Ebd., S. 34, s. ANLAGEN (2).<br />
22 Vgl. Hermann Müller, <strong>Die</strong> Novemberrevolution. Erinnerungen,<br />
Berlin 1928, S. 104 f.<br />
23 Ausführlich über A. Gottschling in ANLAGEN (3).<br />
Vgl. auch Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. XXXI-<br />
II.<br />
24 Hermann Müller, a. a. O, S. 106. Wörtlich übereinstimmend<br />
mit Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1,<br />
S. 414 (Sitzung des VR am 28. 11. 1918).<br />
25 Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. 66 f.<br />
26 Ebd., S. 234 ff., 316 ff., 355.<br />
27 Ebd., S. 357, 374.<br />
28 Ebd., S. 469, S. 480 f.<br />
29 Ebd., S. XXXVI.<br />
30 Ebd., S. XXXVII.<br />
31 Gerhard Engel, Der Vollzugsrat der Arbeiter- und<br />
Soldatenräte Groß-Berlins <strong>als</strong> zentrales Räteorgan<br />
(Über Zentralisation und Dezentralisation in der<br />
deutschen Rätebewegung), in: 75 Jahre deutsche<br />
Novemberrevolution. Schriftenreihe der Marx/Engels-Stiftung,<br />
Bd. 21, Köln 1994, S. 151–161.<br />
32 Vgl. den Aufruf der Vollversammlung der Berliner<br />
Räte am 10. 11. 1918, in : Groß-Berliner A.- und S.-<br />
Räte, 1, S. 24 f. Es wäre eine spezielle Untersuchung<br />
zu dieser Problematik angebracht.<br />
33 Erfurter Allgemeiner Anzeiger v. 6. 12. 1918, zit in:<br />
Gerhard Schulze, <strong>Die</strong> Novemberrevolution 1918 in<br />
Thüringen, Erfurt 1976, S, 136.<br />
34 Vgl. die knappe Übersicht bei: Gerhard A. Ritter<br />
u. Susanne Miller, <strong>Die</strong> deutsche Revolution<br />
1918/1919. Dokumente, Frankfurt a.M. 1983,<br />
S. 416 ff.<br />
35 Ebd., S. 399.<br />
36 Ebd., S. 394 ff., ausführlich in: Rat der Volksbeauftragten<br />
1918/1919, bearb v.. Susanne Miller unter<br />
Mitwirkung von H. Potthoff. Eingel. v. E. Matthias,<br />
2 T. Düsseldorf 1969, T. 1, S. 149 ff.<br />
37 Ritter/Miller, a. a. O, S. 401.<br />
38 Ebd., S. 136, 137.<br />
39 <strong>Die</strong> Rote Fahne, 25. 12. 1918.<br />
40 Vgl. Wolfram Wette, Gustav Noske. Eine politische<br />
Biographie, Düsseldorf 1987.<br />
41 Vgl. z. b. Lothar Berthold u. Helmut Neef, Militarismus<br />
und Opportunismus gegen die Novemberrevolution,<br />
2. Aufl., Berlin 1978, S. 109: <strong>Die</strong> Gründung<br />
der KPD »wurde zum wichtigsten Ereignis der Novemberrevolution«.<br />
42 Chronik zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung,<br />
T. II, Berlin 1966, S. 53.<br />
43 Wörterbuch der Geschichte, 2. Aufl. Berlin 1983,<br />
S. 237, 238. Es wird der »demokratische Charakter«<br />
der Diktatur des Proletariats ausdrücklich unterstrichen.<br />
44 Vorwärts, 17. 12. 1918 (M.)<br />
45 <strong>Die</strong> Regierung der Volksbeauftragten, T. 2, a. a. O,<br />
S. 225., auch S. 206 f.<br />
46 Ebd., S. 227.<br />
47 Ebd., S. 228 f.<br />
48 Ebd., S. 225.<br />
49 So Staatssekretär Graf Rantzau, ebd., S. 228.<br />
50 Ebd., S. 283.<br />
51 Ebd., S. 230 f. – Im weiteren vgl. J. S. Drabkin, <strong>Die</strong><br />
Entstehung der Weimarer Republik, Berlin 1983,<br />
S. 7 ff.<br />
47
Anlagen:<br />
(1) Ergänzung zu Franz Büchel (vgl.<br />
Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte,<br />
a. a. O, 1, S. 222 Anm. 19): geb.<br />
in Berlin 17. 4. 1890, <strong>als</strong> Metallarbeiter<br />
seit 1917 zum Kreis der sozialdemokratischen<br />
Betriebsobleute gehörig;<br />
1919/20 aktiv gegen die USPD-Regierung<br />
in Gotha; Juni 1920 Kandidat für<br />
die Reichstagswahlen; 1921–1923 sozialpolitischer<br />
Leiter der Deutschen<br />
Werke in Kassel; 1924–1933 2. Bezirksleiter<br />
der SPD in Kassel-Bettenhausen;<br />
nach 1933 politisch verfolgt, zeitweilig<br />
1933/34 und 1944/45 inhaftiert.<br />
1945 zunächst Vors. des SPD-Ortsvereins<br />
Erkner und Mitgl. des Bez.-Vorstandes<br />
der SPD Brandenburg, zeitweilig<br />
2. Vors. des SPD-Prov.Verbandes<br />
Brandenburg; Sept. 1945 Kritik an der<br />
Politik in der SBZ (Vergewaltigungen<br />
und Plünderungen, Oder-Neiße-Linie),<br />
17. 10. 1945 Verhaftung durch das NK-<br />
WD, bis 19. 1. 1950 Lagerhaft u. a. in<br />
Sachsenhausen und Buchenwald; nach<br />
Entlassung Vors. des »Bundes der Opfer<br />
der Sowjet-KZ« (BOS) in der BRD; gest.<br />
19. 9. 1970.<br />
(Ergänzungen mitgeteilt durch Andreas<br />
Herbst, Berlin).<br />
(2) Ergänzung zu Max Cohen-Reuß (vgl.<br />
Groß-Berliner A.- und S.-Räte, a. a. O, 1,<br />
S. 34, Anm. 3. Briefe an den Berliner Senatsdirektor<br />
Hans Emil Hirschfeld 1960,<br />
jetzt im Landesarchiv Berlin E. Rep.<br />
200 – 15,3 aus Neuilly sur – Seine 43<br />
Rue de la Ferme 24. 2. 1960, über 80jährig):<br />
bis 1933 Mitgl. des von Josephson<br />
gegründeten Angestelltenvereins in Berlin;<br />
in der Emigration für die Force Ouvière<br />
journalistisch tätig; Kontakte zu<br />
den bekannten Sozialdemokraten Paul<br />
Hertz und Siegfried Aufhäuser.<br />
(3) Neues zur Biographie von Alfred<br />
Gottschling (bisher ohne Vornamen<br />
und Daten in Groß-Berliner A.- und S.-<br />
Räte, a. a. O., 1, S. XXXIII u. a.; sicher<br />
auch mit dem S. 30 erwähnten Soldaten<br />
Gottstein identisch): Alfred Gottschling<br />
(16. 9. 1879–19. 7. 1952) war<br />
vom 21. 11. 1918 bis 7. 12. 1919 Vorsitzender<br />
der Berliner Soldatenräte, genauer:<br />
ihres ständigen Büros, das Verbindung<br />
zwischen dem »Großen Soldatenrat« und<br />
dem Vollzugsrat der Groß-Berliner A.-<br />
und S.-Räte halten sollte (ebd., S. 231,<br />
Anm.3). Über seine Stellung entzündete<br />
sich ein Streit in der Vollversammlung<br />
der S.-Räte, da er bereits eine bezahlte<br />
Stellung <strong>als</strong> Kurier beim Vollzugsrat<br />
(ebd., S. 412, Anm. 1) hatte. Seine politische<br />
Position vertrat A. G. in der Voll-<br />
48<br />
versammlung der S.-Räte am 30. 11., in<br />
der er sich für eine sozialistische Republik<br />
und zugleich für eine (spätere) Nationalversammlung<br />
einsetzte, ähnlich wie<br />
führende USPD-Funktionäre auch (ebd.,<br />
S. 500, 502; vgl. »<strong>Die</strong> Freiheit« Nr. 30 v.<br />
1. 12. 1918 – mit Foto des Präsidiums der<br />
Berliner S. Räte und Auszügen aus dem<br />
Referat A. G.: gegen die »Konjunktursozialisten«,<br />
die »Gefahr von rechts«, »für die<br />
sozialistische Republik und die soziale<br />
Gesellschaftsordnung«). Am 5. 12. wurde<br />
er in den »Vollzugsausschuß« (das ist<br />
der Vollzugsrat) gewählt (ebd., S. 609,<br />
658). Damit war er in die »Alltagsarbeit«<br />
des Vollzugsrates eingebunden (ebd.,<br />
S. 765, 778 f., 784 f., 802 f.), trat mit einer<br />
Warnung vor konterrevolutionären<br />
Unteroffizieren und Offizieren hervor<br />
(S. 665) und setzte sich für die Teilnahme<br />
der russischen Sowjetdelegation am<br />
Reichsrätekongress ein; er lehnte den<br />
pompösen Einmarsch der Fronttruppen<br />
am 10. 12. ab (S. 717). Schließlich verlangte<br />
er Rechenschaft von der Regierung<br />
über die Verwendung von Finanzen<br />
vor dem Rätekongreß am 18. 12., an dem<br />
er vermutlich <strong>als</strong> Mitglied des Vollzugsrates<br />
teilnahm (S. 893). Am 20. 12. 1918<br />
erklärte er im Vollzugsrat: »Auch ich habe<br />
morgen zu tun, da ich meine Entlassung<br />
durchführen und nach Hause fahren<br />
will.« Er übergab seine Unterlagen<br />
an den Groß-Berliner Ausschuß und den<br />
Soldatenrat (S. 905).<br />
Alfred Gottschlings »Zuhause« war Gotha,<br />
wo er seit etwa 1910 in der Sozialdemokratie<br />
wirkte. 1916 trat er in der<br />
oppositionellen sozialdemokratischen<br />
»Freien Jugend« Gotha auf, sprach im<br />
Werther´schen Gasthof, auch im Gasthaus<br />
»Zum Mohren« (wo im April 1917<br />
der Gründungskongreß der USPD stattfand)<br />
u. a. über »Gesetzesbestimmungen<br />
und Gerichts- Angelegenheiten«. Vor<br />
dem 1. Mai 1918 wurde er zum Militär<br />
eingezogen, »der bis dahin ein eifriger<br />
Agitator (gegen den Krieg) in der Waggonfabrik<br />
war« (nach Ewald Buchsbaum,<br />
<strong>Die</strong> Linksentwicklung der Gothaer Arbeiterbewegung<br />
von 1914 bis 1920, Diss.<br />
Halle 1965, auch für das Folgende).<br />
Am 11. Januar hielt A. G., »der kurz vorher<br />
aus Berlin zurückgekehrt war«, am<br />
Abend im Theatergebäude ein mehrstündiges<br />
Referat zum Thema »<strong>Die</strong> Waffen<br />
der Revolution«. Im »Gothaer Volksblatt«<br />
(29. 1. 1919) wird von einer Versammlung<br />
berichtet, auf der A.G. den Gegensatz<br />
zwischen den Rechten und <strong>Linke</strong>n in der<br />
Gothaer Arbeiterbewegung diskutierte<br />
und sich für »die Einigung des Proletariats<br />
über die Köpfe der Führer hinweg«<br />
einsetzte. »Da Alfred Gottschling über<br />
bedeutende rhetorische Fähigkeiten verfügte,<br />
dadurch Zustimmung bei vielen<br />
Werktätigen fand«, verstand es A.G. »die<br />
Gothaer Arbeiter irrezuführen« (meint<br />
E. Buchsbaum, a. a. O, S. 142 völlig unbegründet!).<br />
Dagegen erklärte Wilhelm<br />
Bock auf dem Parteitag der USPD in Berlin<br />
(2.–6. 3. 1919): »G. hat in der Partei<br />
die spartakistischen Tendenzen vertreten«.<br />
Bei der Berichterstattung über diesen<br />
Parteitag am 4./ 5. 5. 1919 in Gotha<br />
erklärte sich A.G. erneut für das Rätesystem.<br />
Auf dem Parteitag selbst sagte<br />
er (USPD. Protokoll über die Verhandlungen<br />
des außerordentlichen Parteitages<br />
vom 2. bis 6.März 1919 in Berlin,<br />
Berlin (1919), S. 180), ohne die Diktatur<br />
des Proletariats und die »Verwurzelung<br />
des Rätesystems gäbe es keine sozialistische<br />
Gesellschaftsordnung«. Außerdem<br />
bezog er sich auf einen »Vorgang<br />
vor 8 Jahren«, wo es eine gerichtliche<br />
Auseinandersetzung mit einem gewissen<br />
Rollwagen gegeben habe, offenbar<br />
über ein »Parteiangelegenheit« (S. 190<br />
des Protokolls).<br />
Nach dem Kapp-Putsch im März 1920<br />
in Gotha wegen »Hochverrats« angeklagt,<br />
soll A. G. durch »einflußreiche Gothaer«<br />
gerettet worden sein .(<strong>Die</strong>se Mitteilung<br />
und alles Folgende verdanke ich<br />
Herrn Ingo Fuhrmann, Enkel Alfred Gottschlings,<br />
Düsseldorf, der durch seine<br />
Kenntnisse den Weg zum Lebenslauf seines<br />
Großvaters ermöglichte). A. G. hat<br />
sich dann auch literarisch betätigt, sein<br />
Theaterstück »Menschen der Arbeit«,<br />
ein »soziales Drama in 3 Akten« wurde<br />
im Dezember 1930 in Ruhla (wo er vermutlich<br />
derzeit lebte) aufgeführt (Vgl. Eisenacher<br />
Tagespost 51. Jg., Nr. 295 v.<br />
17. 12. 1930). Offenbar hat seine Ehefrau<br />
Martha (gest. 1961 in Gotha) einige seiner<br />
Gedichte »Aus der Schublade eines<br />
deutschen Arbeiters« aufgezeichnet, die<br />
erhalten sind. Es gibt eine Gipsbüste,<br />
gefertigt von einem Freund. Schließlich<br />
hatte A.G. während der NS-Herrschaft<br />
»wahrscheinlich … auch zu (dem kommunistischen<br />
Lehrer und Widerstandskämpfer-I.M.)<br />
Neubauer Kontakt, <strong>als</strong><br />
dieser in Ruhla unterrichtete«. – A.G. hat<br />
dort einen Handwerksbetrieb mit mehreren<br />
Gesellen geführt; da ihn »politische<br />
Diskussionen in den Gasthäusern« mehr<br />
anzogen <strong>als</strong> das Handwerk, »ging er konsequent<br />
in Konkurs«. Nach dem 2. Weltkrieg<br />
malte – kopierte – er für »russische<br />
Offiziere, die bei ihm ständige Gäste waren,<br />
Stalin-Bilder und schrieb weiter Theaterstücke,<br />
unterhielt sogar ein eigenes<br />
Theater«.
(4) Eduard Walz<br />
Obgleich fast in jeder Publikation<br />
über die Revolution 1918/19 der Name<br />
Eduard Walz genannt wird, war bis<br />
zur Publikation »Groß-Berliner A.- und<br />
S.-Räte«, a. a. O, 1) über seine Person<br />
nichts bekannt. Hier (S. 16) konnten<br />
erstmalig, gestützt auf einige Briefe von<br />
E. W. an das Entschädigungsamt Berlin<br />
und dessen Leiter Hans Emil Hirschfeld<br />
(im Landesarchiv Berlin E Rep. 200-18,<br />
Bd, 3), einige Daten mitgeteilt werden.<br />
<strong>Die</strong> folgende biographische Skizze berücksichtigt<br />
weitere Quellen, die durch<br />
neuerliche Studien in oben genannten<br />
Akten und Nachforschungen von Andreas<br />
Herbst in der Landesversicherungsanstalt<br />
Berlin, Entschädigungsbehörde<br />
(Reg. Nr. 173.312 – Devisen Ausländer)<br />
vervollständigt werden konnten. Wichtigstes<br />
Dokument ist ein von E.W. maschinenschriftlich<br />
verfaßter Lebenslauf<br />
(ohne Datum, offenbar Ende der<br />
1950er Jahre in Paris für den Antrag<br />
auf Entschädigung für in der NS-Herrschaft<br />
Erlittenes), der allerdings einer<br />
quellenkritischen Bearbeitung bedarf,<br />
da er die für unseren Zusammenhang<br />
wichtigste Periode, nämlich die Zeit vor<br />
und während der Revolution 1918, ausläßt,<br />
in unserer Skizze nach Möglichkeit<br />
ergänzt wird.<br />
<strong>Die</strong> Biographie Eduard Walz: Eduard<br />
Paul Walz wurde am 22. 1. 1895 in München<br />
<strong>als</strong> Sohn des Kaiserlichen Marineoberingenieurs<br />
Ernst Walz (1846–<br />
1918) und der Elisabeth W., geb. Schack<br />
(1864–1910) geboren, besuchte die<br />
Volksschule in Starnberg, das Gymnasium<br />
in Sigmaringen und trat, angeblich<br />
ohne Mittel für ein Studium, am<br />
22. 11. 1913 <strong>als</strong> Fahnenjunker in das Füselierregiment<br />
40 in Rastatt ein, am<br />
18. 7. 1914 zum Fähnrich, am 8. 10. 1914<br />
zum Leutnant, am 20. 6. 1918 zum Oberleutnant<br />
befördert; nach Teilnahme am<br />
Krieg 1914–1918 <strong>als</strong> Pionieroffizier,<br />
schied er am 6. 10. 1918 aus dem Heeresdienst<br />
(schweres Nervenleiden). Etwa<br />
zu dieser Zeit nahm er Kontakt zu<br />
Georg Ledebour in Berlin auf, lernte<br />
Emil Barth, Ernst Däumig und Richard<br />
Müller kennen, die alle Vertrauen zum<br />
ihm fassten und ihn, den Oberleutnant<br />
»Lindner«, in die Gespräche über die<br />
Vorbereitung des revolutionären Aufstandes<br />
einbezogen. Am 3./4. November<br />
wurde E. W. durch das Generalkommando<br />
verhaftet, in der Vernehmung<br />
am 5. 11. gab er seine Kenntnisse über<br />
Personen und Pläne der Revolutionäre<br />
preis (Folge: Verhaftung von Däumig<br />
am 8. 11.), angeblich aus »Dummheit«.<br />
Am 9. 11. aus der Haft befreit, wurde E.<br />
W. in der Vollversammlung der Räte am<br />
10. 11. kurzzeitig <strong>als</strong> deren 2. Vorsitzender<br />
in den Vollzugsrat gewählt und zur<br />
»Kontrolle« des Preußischen Kriegsministeriums<br />
bestellt. E. W. erklärte sich<br />
in der Vollzugsratssitzung am 16. 11.<br />
mit den Leitsätzen E. Däumigs, für Sozialismus<br />
und Räterepublik, keine vorschnelle<br />
Wahl der Konstituante, gegen<br />
»Bauernräte« mit Gutsbesitzern, für<br />
Räte der Landarbeiter, gegen die weitere<br />
Dekoration der Offiziere mit Abzeichen<br />
und Degen. Am 22. 11. beriet der Vollzugsrat<br />
erstmalig über die »Angelegenheit<br />
Walz«, sein eigenmächtiges Vorgehen<br />
im Kriegsministerium; dann erfolgte<br />
(am 23. 11.) durch E. Barth die Aufklärung<br />
seines Verhaltens nach der Verhaftung<br />
am 3. 11., die mit der Festsetzung<br />
im Gebäude des Vollzugsrats, Einsetzung<br />
einer Untersuchungskommission,<br />
seinem »Verzicht« auf den Sitz im Voll-<br />
zugsrat (am 26. 11.) endete. Ihm wurde<br />
(u. a. durch G. Ledebour und R. Müller)<br />
dringend geraten, Berlin zu verlassen,<br />
zu seinem Schwiegervater, einem Medizinalrat<br />
am Starnberger See, zu gehen;<br />
Walz selbst sprach von seiner Ehefrau,<br />
(die in seinem Lebenslauf nicht vorkommt<br />
!). 1919 eröffnete er in München<br />
ein Antiquariat, studierte dann Kunstgeschichte<br />
in München, Amsterdam, in der<br />
Schweiz und arbeitete <strong>als</strong> erster Deutscher<br />
(!) <strong>als</strong> Deutschlektor an der Sorbonne.<br />
1929–1933 wohnte er in Berlin-Frohnau<br />
bei der Mutter eines seiner<br />
Studenten, der verwitweten Jüdin Ida<br />
Rosenberg (1880–1946), mit deren Vermögen<br />
er mehrere Bäckereien/Konditoreien<br />
(zuletzt 4 gutgehende Geschäfte)<br />
in Berlin betrieb, ab 1933 ständige Angriffe<br />
durch SA, Boykott. Im April 1933<br />
mit Frau R. nach Paris geflohen, arbeitete<br />
E. W. <strong>als</strong> Lektor für deutschsprachige<br />
und holländische Presse beim französischen<br />
Außenministerium, im September<br />
1939 zeitweilig interniert, dann<br />
von Juni 1940–23. 8. 1944 illegal in Paris,<br />
vom Kleinhandel existierend, Wohnungsdurchsuchung<br />
durch Gestapo Paris<br />
VIII, rue Duplot, illegale Wohnung in<br />
31 Avenue de L´Opera mit Frau Rosenberg<br />
bei der Mutter von Jeanne Honoré,<br />
einer Pianistin, die er 1944 heiratet;<br />
wohnhaft dann I rue Mizon, Paris XV.<br />
E.W. bemühte sich um freundschaftliche<br />
Beziehungen Frankreichs zur BRD und<br />
erhielt nach langwierigen Bemühungen<br />
(1958–1962) schließlich 1962 eine monatliche<br />
Rente von 700 DM (Berufsschadenrente),<br />
rückwirkend ab 1953.<br />
Am 18. 5. 1985 ist Eduard Walz hochbetagt<br />
in Paris verstorben.<br />
Professor Dr. Ingo Materna<br />
49
Der Arbeiterkinderklub »Nordost«<br />
in Berlin-Prenzlauer Berg 1929 bis 1933<br />
»Eins merke Dir Arbeiterkind!<br />
Wir weder Onkel noch Tante sind.<br />
Kommst Du herein und hebst die Flosse,<br />
grüßt ›Seid bereit‹ und sagst ›Genosse‹!«<br />
Im Zuge eines Projektes, in dem ich<br />
den Archivbestand der Bezirksorganisation<br />
Prenzlauer Berg der Vereinigung<br />
der Verfolgten des Naziregimes-Bund<br />
der Antifaschisten erschließe, stieß ich<br />
immer wieder auf interessante Dokumente.<br />
So auch auf eine Akte über den<br />
Arbeiterkinderklub »Nordost« der von<br />
1929 bis 1933 am Helmholtzplatz, einer<br />
damaligen Hochburg der KPD, bestand.<br />
<strong>Die</strong> Informationen, welche für<br />
mich <strong>als</strong> ehemaligem Jung- und Thälmannpionier<br />
sehr interessant und aufschlussreich<br />
waren, möchte ich auch<br />
den Lesern des Rundbriefes nicht vorenthalten.<br />
Der Arbeiterkinderklub »Nordost« war<br />
der erste Klub für Arbeiterkinder in ganz<br />
Berlin. Er wurde im November 1929 auf<br />
Initiative des Jungspartakusbundes eingerichtet<br />
und hieß zunächst »Heim Lenin«.<br />
Für die »Roten Jungpioniere«, die<br />
sich vorher in den Vereinszimmern der<br />
Arbeiterlokale mit aufhalten mussten,<br />
sollte ein eigener Anlaufpunkt geschaffen<br />
werden. Da der Klub aber allen Arbeiterkindern<br />
offen stehen sollte, <strong>als</strong>o<br />
auch sozialdemokratischen, christlichen<br />
und parteilosen, wurde er nach kurzer<br />
Zeit in »Nordost« umbenannt. Ziel war<br />
es, die von der dam<strong>als</strong> herrschenden<br />
Wirtschaftskrise betroffenen Arbeiterkinder,<br />
welche hungern mussten und<br />
sich oft auf herumtrieben, von der Straße<br />
zu holen und sie sinnvoll zu beschäftigen.<br />
Zunächst befand sich der Klub in der<br />
Dunckerstraße 86 in einem ehemaligen<br />
Kino. 1930 zog er in die Lettestraße 8<br />
in eine ehemalige Drogerie um, weil<br />
dort die Miete, welche teilweise von der<br />
KPD gestellt wurde, billiger war. <strong>Die</strong> Umzugskosten<br />
wurden vom KJVD getragen.<br />
In der Dunckerstraße hatte der Klub<br />
drei Räume gehabt: ein Bastelzimmer<br />
mit drei Hobelbänken, einen Waschraum<br />
mit zwei Handwaschbecken und<br />
40 Kleiderhaken sowie ein Spielzimmer<br />
mit einem kleinen eisernen Ofen.<br />
50<br />
In der Lettestraße hatte der Klub zwei<br />
große Räume, einen großen eisernen<br />
Ofen und ein Terrarium mit einer Schlange.<br />
<strong>Die</strong> Öfen spielten eine zentrale Rolle,<br />
da besonders im Winter in den Klub<br />
viele Kinder kamen, weil es noch keine<br />
Schulhorte gab und zuhause die Stuben<br />
oft unbeheizt blieben. Dam<strong>als</strong> gab<br />
es im Winter – so wie heute im Sommer<br />
manchmal hitzefrei – »Kohlferien«.<br />
Dann wurden von den Kindern in den<br />
Häusern rund um den Helmholtzplatz –<br />
der früher im Volksmund auch »Läuseplatz«<br />
hieß – Kohlen für diese Öfen gesammelt.<br />
Im Klub wurden Kinder im Alter von 6<br />
bis 14 Jahren betreut. Da in den umliegenden<br />
Schulen in der Pappelallee,<br />
der Duncker- und der Danziger Straße<br />
die Kinder in Schichten vormittags und<br />
nachmittags unterrichtet wurden, musste<br />
der Klub auch vormittags zugänglich<br />
sein. <strong>Die</strong>s stellte deshalb kein Problem<br />
dar, weil der Klubleiter, wie viele<br />
seiner Genossen derzeit, arbeitslos war<br />
und den ganzen Tag vor Ort sein konnte.<br />
Auch viele andere Arbeitslose halfen<br />
im Kinderklub ehrenamtlich mit. Stellvertretend<br />
sei an dieser Stelle von den<br />
vielen Helfern nur der wohl bekannteste<br />
von ihnen genannt, und zwar Genosse<br />
H. Burchert – wegen seiner herausragenden<br />
Körpergröße auch »Antenne«<br />
genannt –, der später <strong>als</strong> Kinderbuchautor<br />
unter dem Pseudonym »Hein Butt«<br />
bekannt werden sollte. Abends wurde<br />
der Klub von der KPD, dem KJVD und<br />
der Roten Hilfe für Versammlungen genutzt.<br />
Zeitweise (besonders im Winter)<br />
strömten hunderte Kinder aus den anliegenden<br />
Straßen in den Klub, um die<br />
Angebote wahrzunehmen. Jedoch waren<br />
nur wenige Mitglieder in der Pionierorganisation,<br />
hauptsächlich Kinder<br />
von KPD-Genossen. Aus der gesamten<br />
Greifswalder Straße zum Beispiel waren<br />
es nur 20 Pioniere, diese kamen aber regelmäßig.<br />
Zu den Beschäftigungen gehörten basteln,<br />
malen und Lieder lernen, aber<br />
auch (von älteren erfahrenen Genossen<br />
angeleitet) so sinnvolle Tätigkeiten, wie<br />
das Gestalten von Wandzeitungen. An<br />
den Wochenenden und Feiertagen wurden<br />
Wanderungen im Berliner Umland<br />
sowie Museumsbesuche unternommen.<br />
Im Winter wurden Weihnachtsgeschenke<br />
gebastelt und ein Julklapp<br />
durchgeführt, in den Sommerferien<br />
die Kinder in zentrale Pionierlager geschickt.<br />
Auch wurden von den Kindern<br />
regelrechte Programme einstudiert, die<br />
auf Parteiveranstaltungen und anderen<br />
Gelegenheiten, etwa im nahe gelegenen<br />
»Saalbau Friedrichshain«, Am<br />
Friedrichshain 16–23, oder im »Ledigenheim«,<br />
Pappelallee 15, aufgeführt<br />
wurden.<br />
Um die Fahrten und die Klubmiete (teilweise)<br />
zu finanzieren, führten die Pioniere<br />
Spendensammelaktionen durch und<br />
verkauften die Pionierzeitschrift »Trommel«,<br />
welche in der Druckerei der »Roten<br />
Fahne« gedruckt wurde. Meist standen<br />
die Pioniere mit den »Trommeln« an der<br />
Ecke Schönhauser Allee. Manchmal wurden<br />
ihnen die Zeitungen von SA oder<br />
Schupos gewaltsam entrissen.<br />
Nach der Machtübertragung an die Nazis<br />
im Januar 1933 wurde der Klub geschlossen.<br />
Darauf demonstrierten die<br />
Kinder auf dem Helmholtzplatz und riefen:<br />
»Gebt uns unseren Kinderklub wieder!«,<br />
bis die Polizei kam und die Demonstration<br />
auflöste. Im Jahre 1933<br />
wurde die Arbeit mit den Kindern dann<br />
auch eingestellt, weil man mit ihnen<br />
selbstverständlich nicht illegal arbeiten<br />
konnte und wollte. Jedoch waren die Pioniere<br />
in den wenigen Jahren des Bestehens<br />
des Klubs dauerhaft geprägt worden:<br />
Bis in die siebziger Jahre trafen sich<br />
die ehemaligen Klubmitglieder jedes<br />
Jahr auf der Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Demonstration,<br />
die zum Friedhof<br />
der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde<br />
führt.<br />
Quellen:<br />
Stiftung Archiv der Parteien und<br />
Massenorganisationen der DDR<br />
im Bundesarchiv:<br />
BY 9/PB 555 Arbeiterkinderklub<br />
»Nordost« 1929–1933<br />
BY 9/PB 137 Ilse Fuss<br />
Oliver Reschke M.A.
Ein sozialdemokratisches<br />
Widerstandskämpfer schicksal:<br />
Willi Scheinhardt, Gauleiter des hannoverschen Fabrikarbeiterverbandes<br />
von 1925 bis 1933<br />
Willi Scheinhardt wird am 10. Januar<br />
1892 <strong>als</strong> Sohn eines Bergarbeiters in<br />
Etzdorf/Mansfelder Seekreis (Provinz<br />
Sachsen) geboren. Nach Abschluss der<br />
Volksschule arbeitet er in chemischen<br />
Fabriken <strong>als</strong> ungelernter Hilfsarbeiter.<br />
Er engagiert sich früh politisch, tritt<br />
1908, erst 16 Jahre alt, in die Gewerkschaft<br />
ein und 1910 auch in Bitterfeld in<br />
die SPD, wo er sich <strong>als</strong> Leiter der Arbeiterjugend<br />
profiliert. Im April 1919 nimmt<br />
er eine Stelle <strong>als</strong> Sekretär des Fabrikarbeiterverbandes<br />
in Harburg an, der<br />
ihn im November 1922 <strong>als</strong> Agitationsleiter<br />
nach Hannover beordert. Von 1925<br />
bis 1933 ist Willi Scheinhardt in Hannover<br />
<strong>als</strong> Gauleiter des Fabrikarbeiterverbandes<br />
tätig.<br />
Geschichtliches zum Deutschen<br />
Fabrikarbeiterverband<br />
Vom 29. Juni bis 2. Juli 1880 findet in<br />
Hannover mit Delegierten aus 28 Orten<br />
des Deutschen Reiches der «Kongress<br />
aller nichtgewerblichen Arbeiter<br />
Deutschlands« statt. Es entsteht eine<br />
neue Organisation, der «Verband der<br />
Fabrik-, Land- und gewerblichen Hilfsarbeiter<br />
Deutschlands«. Mit der Gründung<br />
des Verbandes gelingt es allmählich,<br />
zersplitterte Lokalvereine von ungelernten<br />
Arbeitern in einen festgefügten<br />
Zentralverband einzubinden, um verbesserte<br />
Lohn- und Arbeitsbedingungen für<br />
die Arbeiterschaft zu erreichen. Der Fabrikarbeiterverband<br />
will es Arbeitern ohne<br />
Berufsausbildung ermöglichen, sich<br />
jeweiligen Berufsorganisationen anzuschließen.<br />
Der erste Verbandsvorsitzende<br />
des Fabrikarbeiterverbandes ist August<br />
Brey. Seine Amtszeit wird von 1880<br />
bis 1931 dauern.<br />
<strong>Die</strong> ersten Jahre nach seiner Gründung<br />
verlaufen für den Verband krisenreich.<br />
Doch ab 1895 setzt trotz der Existenzbehinderungen<br />
durch Unternehmer,<br />
Polizei und Justiz im wilhelminischen<br />
Obrigkeitsstaat ein Aufschwung ein. Angesichts<br />
der unruhigen gravierenden<br />
politischen Abläufe während des Ersten<br />
Weltkrieges, der Nachkriegszeit, der<br />
Novemberrevolution 1918 und der politischen<br />
Umbrüche, erlebt der Verband<br />
ein Auf und Nieder. Doch gegen Ende<br />
der Weimarer Zeit hat sich der Fabrikarbeiterverband<br />
zum viertgrößten Verband<br />
der im Allgemeinen Deutschen<br />
Gewerkschaftsbund (ADGB) zusammengeschlossenen<br />
Freien Gewerkschaften<br />
entwickelt. Damit verliert er seinen Status<br />
<strong>als</strong> Verband der ungelernten Arbeiter.<br />
<strong>Die</strong> neue Zentrale des Fabrikarbeiterverbandes<br />
in Hannover wird im Februar<br />
1930 <strong>als</strong> erstes eigenes Verbandsgebäude<br />
käuflich erworben. Bis dahin hat<br />
in dem Haus eine Filiale der Berliner Diskonto-Bank<br />
ihren Sitz. Der Umzug zum<br />
Rathenauplatz 3 vollzieht sich im Juni<br />
1930. Da der Verband aber auch am<br />
28. Juni 1930 sein 40jähriges <strong>Die</strong>nstjubiläum<br />
begeht, bezieht er in die Feierlichkeiten<br />
die Einweihung des neuen<br />
Verbandshauses mit dem Hauptsitz Am<br />
Rathenauplatz 3 ein.<br />
Während des Festaktes in der Stadthalle<br />
Hannover sind zahlreiche namhafte<br />
Gründungsmitglieder der ersten Stunde<br />
präsent, so August Brey, dessen Name<br />
im engen Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte<br />
des Fabrikarbeiterverbandes<br />
steht. <strong>Die</strong> »Deutsche Welle«<br />
überträgt die charismatische Festrede<br />
Breys im Rundfunk. Anwesend sind ferner<br />
August Lohrberg (Hannover), Claas<br />
de Jonge <strong>als</strong> Vertreter der Fabrikarbeiter-Internationale,<br />
Heinrich Martens<br />
(Harburg) und Peter Graßmann vom<br />
Bundesvorstand des ADGB.<br />
Aus gegebenem Anlass hat der Vorstand<br />
des Fabrikarbeiterverbandes bereits<br />
im Sommer 1929 beschlossen,<br />
einen Dokumentarfilm zur Geschichte<br />
des Verbandes zu produzieren. Weil der<br />
hannoversche Gauleiter Willi Scheinhardt<br />
den neuen Agitationsmethoden<br />
und den zeitgemäßen Medien wie Film<br />
und Rundfunk aufgeschlossen und fachkundig<br />
gegenüber steht, betraut ihn der<br />
Verband mit der Projektleitung. In Kooperation<br />
mit dem Regisseur Albert Blum<br />
entsteht der Film »Aufstieg«, der eine<br />
positive Resonanz findet. Der Dokumentarfilm<br />
geht in den Wirren des Zweiten<br />
Weltkrieges verloren.<br />
Willi Scheinhardt äußert sich dazu weitsichtig<br />
in einem Artikel:<br />
«Ein wichtiges Propagandamittel ist der<br />
Film. Wir verwenden ihn seit 4 Jahren.<br />
Unsere 4jährige Erfahrung reicht aus, um<br />
uns ein Urteil bilden zu können. Wir sind<br />
zu der Überzeugung gekommen, dass der<br />
Film eins der wichtigsten Propagandamittel<br />
ist. Er wirkt überzeugend und lockert<br />
den Boden ordentlich auf, der zu bearbeiten<br />
ist. <strong>Die</strong> Filmpropaganda ist nicht,<br />
wie landläufig angenommen wird, die<br />
teuerste, sondern sie ist die billigste. <strong>Die</strong><br />
durchschnittliche Besucherzahl unserer<br />
Filmveranstaltungen beträgt seit 4 Jahren<br />
200. Mit Hilfe des Films tragen wir den<br />
gewerkschaftlichen Gedanken in die Familien.<br />
Wir arbeiten nicht nur auf großen<br />
Hauptstraßen und Märkten, wir gehen<br />
auch in die Quer- und Nebenstraßen, d. h.<br />
in das kleinste Dorf. Heute wird allgemein<br />
ausgesprochen, dass die Hausagitation in<br />
dieser Zeit das geeignetste Mittel ist, um<br />
zu werben. Wir bestreiten das nicht. Wir<br />
sagen aber: Der Werber hat bei der Hausagitation<br />
einen viel größeren Erfolg, wenn<br />
durch eine großzügige Propaganda der<br />
Boden ordentlich aufgerissen ist, der zu<br />
bearbeiten ist. – Werfen wir einen Blick<br />
in unsere Tages- und Gewerkschaftszeitungen,<br />
so sehen wir, dass sie arm sind<br />
an Artikeln, die sich mit dem Schicksal<br />
des Arbeiters, seinen Nöten und seinen<br />
Sorgen beschäftigen. Hier war uns die alte<br />
Zeit überlegen«.<br />
<strong>Die</strong> neue Zentrale stellt für den Fabrikarbeiterverband<br />
nicht allein ein äußeres<br />
Zeichen von Erfolg und Aufstieg dar, sie<br />
bietet außerdem unübersehbare bessere<br />
Arbeitsbedingungen für die einzelnen<br />
Abteilungen des Hauptvorstandes. 1<br />
Durch Um- und Ausbaumaßnahmen im<br />
Gebäude Am Rathenauplatz 3 entsteht<br />
eine weitere Etage mit Wohnraum für<br />
die Verbandsangehörigen und ihre Familien.<br />
Der Gauleiter Willi Scheinhardt, seine<br />
Ehefrau Emma (geborene Gerig), die<br />
am 14. Oktober 1924 geborene Tochter<br />
Gerda, der Reichstagsabgeordnete<br />
und Sekretär der Tarifabteilung Richard<br />
Partzsch 2 sowie der Hausmeister Willi<br />
Krahtz ziehen ein.<br />
Durch die Machtübernahme Hitlers im<br />
Januar 1933 häufen sich bald die bedrohlichen<br />
politischen Ereignisse, die<br />
sich durch spürbare Repressalien in<br />
Form von Aus- und Gleichschaltung und<br />
Ermordung der vermeintlichen Gegner<br />
aller Richtungen äußern. Einbezogen<br />
sind Gewerkschaften und Verbände. Bereits<br />
im Februar 1933 finden in Hannover<br />
Aufmärsche der Nazis anlässlich Hitlers<br />
Ernennung zum Reichskanzler statt.<br />
Der 1. April 1933 ist der Tag des Boykotts<br />
jüdischer Geschäfte in Deutschland.<br />
<strong>Die</strong> Nazis besetzen in Hannover<br />
51
die Gewerkschaftshäuser und verhaften<br />
Gewerkschafter und Angestellte. Auch<br />
der Gauleiter Willi Scheinhardt wird von<br />
der SS verhaftet. Im Gegensatz zu seinen<br />
Kollegen bleibt er länger im Gefängnis<br />
und kommt erst später wieder frei.<br />
<strong>Die</strong> SS dringt in das Verbandsgebäude<br />
am Rathenauplatz ein, beschlagnahmt<br />
Verbandseigentum und -vermögen, versiegelt<br />
die Räume und hisst auf dem<br />
Dach die Hakenkreuzfahne. <strong>Die</strong> im Haus<br />
der Hauptverwaltung ansässigen Familien<br />
Scheinhardt und Partzsch dürfen<br />
nur mit (von der SA-Hilfspolizei ausgestellten)<br />
»Erlaubnisscheinen« ihre eigenen<br />
Wohnungen betreten und verlassen.<br />
<strong>Die</strong> im Haus der Hauptverwaltung ansässigen<br />
Familien Scheinhardt und<br />
Partzsch dürfen nur mit (von der SA-<br />
Hilfspolizei ausgestellten) »Erlaubnisscheinen«<br />
ihre eigenen Wohnungen betreten<br />
und verlassen.<br />
52<br />
<strong>Die</strong> Bewohner werden aus dem Haus<br />
vertrieben. Familie Scheinhardt zieht in<br />
die Rodenstr. 9 (Hannover-Linden) und<br />
lebt ab 1935 in der Hagenstr. 58 (Hannover-List).<br />
Mitte April 1933 ist die Zentrale wieder<br />
zugänglich und benutzbar. Der Fabrikarbeiterverband<br />
hat jedoch bereits am<br />
1. April 1933 seine Eigenständigkeit verloren.<br />
Der materielle Verlust nach dem begangenen<br />
Überfall bringt den schwer<br />
geschädigten<br />
Gewerkschaftsangehörigen Existenzkrisen.<br />
Davon betroffen ist auch die Familie<br />
Scheinhardt, die wie die anderen<br />
Genossen aus der Not heraus nach neuen<br />
Beschäftigungsmöglichkeiten sucht.<br />
Das Ehepaar Scheinhardt steigt in einen<br />
Wäscheverkauf ein. Frau Emma führt<br />
das Geschäft nach Verhaftung und Ermordung<br />
ihres Mannes bis 1938 allein<br />
weiter. Weil die geringe Rente zum Leben<br />
für sie und ihre Tochter Gerda nicht<br />
ausreicht, arbeitet Frau Emma Scheinhardt<br />
außerdem <strong>als</strong> Aushilfe in einer<br />
Gastwirtschaft bei Bekannten.<br />
Politische Aktivitäten 3 und<br />
Widerstand gegen die Faschisten<br />
Schon bald erkennt der Fabrikarbeiterverband<br />
in der NSDAP den gefährlichsten<br />
Feind der deutschen Gewerkschaftsbewegung<br />
und nimmt die illegale<br />
Widerstandsarbeit auf. Willi Scheinhardt<br />
hat ahnungsvoll bereits Ende der zwanziger<br />
Jahre den propagandistischen Kampf<br />
gegen die Nazis eingeleitet. Anfang 1933<br />
reist er häufig nach Amsterdam zum<br />
Sitz der Fabrikarbeiter-Internationale,<br />
um dort rechtzeitig die wichtigsten Verbandsdokumente<br />
in Sicherheit zu bringen.<br />
Er schließt sich der von Werner<br />
Blumenberg im Jahre 1932 gegründeten<br />
Widerstandsorganisation »Sozialistische<br />
Front« an, für die er illegales Material<br />
in Deutschland verbreitet. Noch<br />
am 2. März 1933 werden einige leitende<br />
Gewerkschafter, darunter auch Willi<br />
Scheinhardt, in seiner Funktion <strong>als</strong> Gauleiter<br />
von Hannover nach Süddeutschland<br />
delegiert, um eine zweite Gewerkschaftszentrale<br />
des Verbandes der<br />
Fabrikarbeiter Deutschlands zu gründen.<br />
Verhaftung, Deportation und<br />
Ermordung Willi Scheinhardts<br />
Noch 1936 hält er den Kontakt mit weiteren<br />
SPD-Genossen aufrecht. Sie betreiben<br />
unter anderem gemeinsam ein<br />
Wanderkino, das jedoch unter die Zensur<br />
der Nazis fällt und verboten wird.<br />
Im Januar 1936 zerschlägt die Gestapo<br />
die Widerstandsorganisation »Sozialistische<br />
Front« und verhaftet dabei auch<br />
Willi Scheinhardt in Hannover. Im Gestapogefängnis<br />
Hildesheim bleibt er unter<br />
dem Vorwurf des Hochverrats in Haft.<br />
Am 6. Oktober 1936 stirbt er an den Folgen<br />
grausamer Folterungen durch die<br />
Gestapo.<br />
Der »Neue Vorwärts« berichtet am 8.<br />
November 1936 in seiner Nr. 178: »Der<br />
frühere Gauleiter des Deutschen Fabrikarbeiterverbandes,<br />
der Genosse Willi<br />
Scheinhardt, ist Anfang Oktober den<br />
Misshandlungen durch die Gestapo erlegen<br />
und am 14. Oktober in aller Stille<br />
eingeäschert worden. Der Genosse<br />
Willi Scheinhardt, der jetzt im Alter von<br />
44 Jahren einen so grausamen Tod erleiden<br />
musste, hat von früher Jugend an<br />
<strong>als</strong> Sozialdemokrat und Gewerkschafter<br />
selbstlos der Gesamtbewegung und ihren<br />
Zielen gedient; er ist auch nach Hitlers<br />
Machtantritt seiner sozialistischen<br />
Überzeugung treu geblieben und muss-
te nun seine Treue zu unseren Ideen mit<br />
dem Leben büßen.--<br />
Der Gener<strong>als</strong>taatsanwalt dokumentierte<br />
am 17. Oktober 1936, dass er zwischen<br />
dem 29. 9.und 6. 10. 1936 zu Tode geprügelt<br />
worden ist, weil er »vermutlich kein<br />
vollständiges Geständnis abgelegt hat.«<br />
<strong>Die</strong> Gestapo verweigert den Familienangehörigen<br />
zunächst die offizielle Freigabe<br />
des Leichnams. <strong>Die</strong> Urnenbeisetzung<br />
erfolgt am 14. Oktober 1936 auf dem<br />
Friedhof Hannover-Ricklingen. Es ist der<br />
12. Geburtstag seiner Tochter Gerda.<br />
Das Grab wurde inzwischen eingeebnet.<br />
Das Schicksal der Familie nach der<br />
Ermordung Willi Scheinhardts<br />
1944 wird Frau Scheinhardt ausgebombt<br />
und kommt mit ihrer Tochter<br />
Zeitungsartikel von Willi Scheinhardt, Hannover, September 1931:<br />
Warum neue Formen<br />
der gewerkschaftlichen Agitation?<br />
Zunächst eine Bemerkung: Ich will nicht<br />
sprechen über Dinge, die uns – die wir<br />
hier sind – geläufig sind. Aber ich vertrete<br />
die Auffassung, dass wir Organisationskunde<br />
und Großbetriebslehre<br />
brauchen, wenn wir nicht von der Hand<br />
in den Mund leben wollen. In meinem<br />
Vortrage will ich zeigen, auf was unsere<br />
Erfolge zurückzuführen sind und warum<br />
wir in der Gegenwart und Zukunft<br />
zu einer Erweiterung unserer bisherigen<br />
Agitationsformen und –methoden kommen<br />
müssen und gleichzeitig andeuten,<br />
welche Wege wir einzuschlagen haben.<br />
Ich glaube, so das zu behandelnde Gebiet<br />
abgesteckt zu haben. Meiner Arbeit<br />
liegt folgender Satz zugrunde: »Nur der<br />
kann der Natur gebieten, der ihren Gesetzen<br />
zu gehorchen weiß«.<br />
<strong>Die</strong> Idee <strong>als</strong> werbende Kraft<br />
Dass die Arbeitskraft eines Volkes den<br />
Reichtum des Volkes darstellt und dass<br />
das jährliche einkommen eines Volkes<br />
sich zu verteilen hat nach dem Prinzip<br />
der freien Konkurrenz, diese Auffassung<br />
hat die Welt nicht erschüttert.<br />
Dass Menschen Reichtum zusammenscharrten<br />
aus der Arbeit der von ihnen<br />
beschäftigten Arbeiter, indem sie ihnen<br />
keinen auskömmlichen Lohn zahlten<br />
und dass es für die Arbeiter in der kapitalistischen<br />
Welt keine Arbeit gibt, wenn<br />
nicht der Unternehmergewinn gesichert<br />
ist, diese Auffassung hat die Welt erschüttert.<br />
Gerda bei Bekannten in Ricklingen unter.<br />
Später bewohnen beide bis zu ihrem<br />
Umzug nach Hannover-Ricklingen in ihr<br />
eigenes Haus im Jahre 1952 zwei Zimmer<br />
in Hannover-Waldhausen.<br />
Frau Emma Scheinhardt stirbt 1984 im<br />
Alter von über 92 Jahren in Hannover.<br />
Heide Kramer<br />
1 Nach1945 wird das Haus zum Sitz der IG Chemie<br />
(Nachfolge des Fabrikarbeiterverbandes), später<br />
Niederlassung einiger Banken.<br />
2 RichardPartzsch (geboren am 15. 11. 1881 in Dresden,<br />
gestorben am 6. 11. 1953 in Hannover) Er wird<br />
nach der Schule Dekorationsmaler. Seit 1902 ist<br />
er Mitglied der SPD und Gewerkschaft. Dann einige<br />
Jahre vor dem Ersten Weltkrieg Vorsitzender<br />
des SPD-Ortsvereins in Dresden-Cotta. Ab 1913<br />
Geschäftsführer des freigewerkschaftlichen Fa-<br />
Das Wort «alle Menschen sind Brüder«<br />
hat die Welt nicht aus ihren Angeln gehoben.<br />
Aber das Wort «Proletarier aller<br />
Länder vereinigt Euch« hat die Welt tief<br />
aufgewühlt.<br />
Dem langen Arbeitstag setzten die Arbeiter<br />
die 8 stündige Arbeitszeit entgegen.<br />
Der einseitigen Festsetzung des Lohnes<br />
den Tarifvertrag, der Arbeitslosigkeit<br />
innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft<br />
die Arbeitslosenversicherung<br />
und der kapitalistischen Wirtschaft die<br />
sozialistische Wirtschaft.<br />
Aus diesen Gedanken heraus bildete<br />
sich die gewerkschaftliche Idee, geboren<br />
aus der Not der Zeit, die Idee, ein<br />
Gedankenbild in den Köpfen der Arbeiter<br />
wie die Welt nach ihren Anschauungen<br />
sein müsste.<br />
<strong>Die</strong> Idee wurde die geistige Einstellung<br />
der schaffenden Menschen.<br />
Für die Gewerkschaftsbewegung war<br />
die Idee der große Agitator eine werbende<br />
Kraft ersten Ranges. Sie förderte<br />
die Liebe und den Idealismus zur Bewegung,<br />
sie gab der Bewegung Schwung,<br />
Kraft und Inhalt, sie war der Sauerteig<br />
der agitatorischen Kräfte.<br />
Sie ließ die Bewegung in den Köpfen von<br />
vielen Tausenden von Arbeitern nicht <strong>als</strong><br />
Rechenexempel erscheinen. <strong>Die</strong> Idee<br />
versetzte Berge.<br />
Der Glaube an die Kraft und Macht der<br />
Bewegung ließ die Idee nicht erschüttern.<br />
brikarbeiterverbandes in Köslin. Zwischen 1919<br />
und 1922 Stadtverordneter und Mitglied des Deutschen<br />
Reichstages in Köslin. Während dieser Zeit<br />
ist Partzsch Mitglied des Provinziallandtages von<br />
Pommern. Im März 1920 außerdem Zivilkommissar<br />
in Köslin, zwischen 1919 und 1922 in Köslin<br />
ebenfalls Stadtverordneter, 1920 für einige Monate<br />
erstm<strong>als</strong> Mitglied des Reichstages. Ab 1922<br />
lebt er in Hannover, wirkt dort <strong>als</strong> Gewerkschaftssekretär<br />
im Hauptvorstand des Verbandes der<br />
Fabrikarbeiter Deutschlands. 1932/33 erneut<br />
Mitglied des Deutschen Reichstages, ab 1933 Angehöriger<br />
der lokalen Widerstandsgruppe der Sozialistischen<br />
Front. Partzsch wird 1936 von der<br />
Gestapo in Hannover verhaftet und erst 1937 freigelassen.<br />
1944 erfolgt eine erneute Verhaftung im<br />
Rahmen der Aktion »Gewitter«. Von 1945 bis zu<br />
seinem Ausscheiden ist Richard Parztsch im Büro<br />
des SPD-Vorsitzenden Dr. Kurt Schumacher tätig<br />
und Mitglied im Vorstand der SPD.<br />
3 Beitrag von Willi Scheinhardt, Hannover, September<br />
1931 (Der Artikel ist von Willi Scheinhardt mit<br />
der Schreibmaschine verfasst und hier vollständig<br />
wiedergegeben worden).<br />
Ein ebenso großer Werber war das Wort<br />
«Solidarität« und das Wort «Proletarier«.<br />
Aus beiden spricht Sorge und Not,<br />
Kampfesfreude und Kampfeswille und<br />
Opferbereit – schaft. Opfer bringen für<br />
alle die, denen es schlechter geht <strong>als</strong><br />
uns.<br />
Das Wort «Solidarität« gab der Gewerkschaftsbewegung<br />
den nötigen Kitt. <strong>Die</strong><br />
gewerkschaftliche Solidarität machte<br />
aber auch den Gewerkschaftler zum<br />
Weltbürger.<br />
Als drittes kommt hinzu, dass es einen<br />
Streit über die Wege, die zum Ziel<br />
führten, nicht gab. Wir hatten fast eine<br />
einheitliche, in sich geschlossene Arbeiterbewegung.<br />
<strong>Die</strong> sich über den Weg zum Ziel stritten,<br />
war eine Handvoll Literaten. Sie standen<br />
nicht mitten unter den Arbeitern. Der<br />
Riss ging nicht durch die Arbeiter des<br />
Industriebetriebes. Im Betriebe hieß es:<br />
Wer nicht mit uns, ist gegen uns.<br />
Es gab nur eine Auffassung, dort gab es<br />
nur einen Willen: <strong>Die</strong> Werbung für den<br />
Verband stärkt die Front!<br />
Wer sich abfällig über die Gewerkschaftsbewegung<br />
oder deren Einrichtung<br />
äußerte, wurde in Acht und Bann<br />
getan. Wer das tat, der gehörte nicht<br />
zum Volke, der war nicht Mann vom<br />
Bau, der war kein echter Arbeiter.<br />
Als viertes kam hinzu: Wir hatten vor<br />
dem Kriege eine günstige Entwicklung<br />
der Wirtschaft. <strong>Die</strong>se Erscheinung war<br />
53
nicht nur national, sondern auch international.<br />
Wir können sagen, wir hatten<br />
in der Vorkriegszeit eine Hochkonjunktur<br />
der Weltwirtschaft.<br />
Zwei Zahlen: 1900 bis 1913 erhöhte sich<br />
die Kohlenproduktion von 9 auf 11 1/2<br />
Mill. T., Ausfuhr stieg von 3 auf 8 Milliarden<br />
Mark.<br />
Der Arbeiter hatte eine große Auswahl<br />
in seinen Arbeitgebern. Stiller Protest.<br />
<strong>Die</strong>ses Ereignis war günstig für die gewerkschaftliche<br />
Entwicklung.<br />
Sieg der Idee<br />
Der Durchbruch der gewerkschaftlichen<br />
Idee erfolgte 1918 bis 1921. Hunderttausende<br />
von Arbeitern wurden Mitglieder<br />
der Gewerkschaften. Wir hatten eine<br />
Mitgliederzunahme ohne Werbung. <strong>Die</strong><br />
Idee feierte ihren Sieg. Das ließ in den<br />
Köpfen vieler Hundert die Meinung aufkommen,<br />
man brauchte sich nicht mehr<br />
emsig um die Werbung zu kümmern.<br />
Es gab nicht wenig Funktionäre, die die<br />
Meinung vertraten, man brauchte nun<br />
alle die Wege, die man früher gegangen<br />
war, nicht mehr zu gehen. Jüngere Angestellte<br />
verlernten überhaupt das Werben<br />
von Mitgliedern; sie schwammen<br />
auf dem Öl der verflossenen Jahrzehnte.<br />
<strong>Die</strong> Veränderung der Gesamtlage<br />
Über die Volksvertretung zur Regierungsbank<br />
und Mitverantwortung im<br />
Staat.<br />
Noske <strong>als</strong> Kritiker des Militäretats. Noske<br />
<strong>als</strong> Reichswehrminister. Der Polizeipräsident<br />
– Eigentum. Der Übergang<br />
war hart, zu schnell. <strong>Die</strong> Spaltung der<br />
Arbeiterklasse.<br />
Das Bürgertum fühlt sich in seiner Existenz<br />
bedroht. Es ist nicht mehr mit den<br />
Kapitalisten Alleinberater der Regierung.<br />
Infolgedessen Radikalisierung des<br />
Bürgertums. Vorübergehende Erscheinung?<br />
In wirtschaftlicher Hinsicht zeigt uns<br />
heute der Industriebetrieb ein anderes<br />
Gesicht <strong>als</strong> das vor 10 und 15 Jahren der<br />
Fall war. Der einzelne Betriebsunternehmer<br />
tritt in den Hintergrund. Eine starke<br />
kartell- und konzernmäßige Bindung<br />
ist eingetreten. Es erfolgt eine starke<br />
Konzentration der Betriebe nach wirtschaftlichen<br />
produktions- und absatztechnischen<br />
Gesichtspunkten.<br />
Dabei spielt die Phantasie für den Großbetrieb<br />
eine wichtige Rolle. Der Großbetrieb<br />
ist eine Betriebsform, die wir schon<br />
aus der Vorkriegszeit her kennen, die<br />
aber in jener Zeit in der gewerkschaftlichen<br />
Agitation nicht die Bedeutung<br />
hatte, wie das heute der Fall ist. Es waren<br />
Betriebe, die wie alle Betriebe historisch<br />
gewachsen waren. Man hoffte im-<br />
54<br />
mer noch, die Arbeiter dieser Betriebe<br />
organisieren zu können. Der Großbetrieb<br />
der neuesten Zeit ist etwas ganz<br />
anderes. Er ist <strong>als</strong> Großbetrieb entstanden,<br />
es fehlt das historische Wachsen.<br />
<strong>Die</strong>se Betriebe sind von vornherein<br />
reichlich mit Kapital ausgestattet. Sie<br />
entstehen über Nacht.<br />
Im alten Großbetrieb der traditionelle<br />
Werkmeister, verbunden mit Werk und<br />
Unternehmer, zum Teil auch Arbeiter. Im<br />
neuen Großbetrieb ganz anders.<br />
Wir können die Menschen geistig nicht<br />
so schnell beeinflussen, wie sie in den<br />
Betrieb hineinströmen. <strong>Die</strong> geistige Beeinflussung<br />
dieser Arbeiter ist eine der<br />
großen Aufgaben, die wir in der Gegenwart<br />
und Zukunft lösen werden müssen.<br />
<strong>Die</strong> Arbeitsteilung ist das Prinzip des<br />
Fabri<strong>kb</strong>etriebes. Es ist uns <strong>als</strong>o nichts<br />
Neues. Es war immer vorherrschend.<br />
Neu dagegen ist die vollständige Aufteilung<br />
des Arbeitsprozesses, des weiteren<br />
ist neu, dass in einer Fabrik nur<br />
ein bestimmtes Produkt oder ein Teilprodukt<br />
hergestellt wird. Z. b. bei der<br />
Continental. Im Hauptwerk: nur Autoreifen,<br />
Motorradreifen: nur im Werk<br />
Excelsior.<br />
Das schafft uns einen ganz anderen<br />
Menschen. In Frage kommt weiter die<br />
ständige Zunahme der Arbeitsmaschine,<br />
ihre Entwicklung vom Halb- zum<br />
Vollautomat. <strong>Die</strong> motorische Kraft und<br />
maschinelle Kraft findet eine größere<br />
Verwendung <strong>als</strong> der arbeitende Mensch.<br />
Nebenher läuft eine scharfe Aufteilung<br />
des Betriebes in einzelne Betriebsabteilungen.<br />
Da steht nicht überall mehr der<br />
Kaufmann und der Jurist, sondern an<br />
der Spitze steht der Ingenieur und der<br />
Techniker. Das alles wirkt zerstörend auf<br />
den (unleserlich) … willen der Arbeiterschaft.<br />
Stilllegung in der Kali-Industrie, zweimal<br />
die letzte Schicht. Zerreibung der Arbeitskraft.<br />
Durch unser gewerkschaftliches Wirken<br />
wird aber auch das agitatorische Element<br />
geschwächt. Wir schaffen für a l<br />
l e Tariflöhne, Arbeitszeitverkürzung, Arbeitslosenversicherung,<br />
für alle Schutz<br />
gegen die Gefahren der Arbeit. Das gewerkschaftliche<br />
Wirken schafft <strong>als</strong>o<br />
selbst etwas Entspanntes.<br />
<strong>Die</strong> zeitliche Entfernung<br />
70 Jahre vom Anfang der Bewegung<br />
entfernt. Zwei Generationen sind verbraucht.<br />
<strong>Die</strong> eine, die die Gewerkschaft<br />
gründete und die andere, die sie bis in<br />
die Gegenwart hinein geführt hat.<br />
In 70 Jahren hat sich alles verändert. Da<br />
entsteht die Frage: Wo stehen wir? <strong>Die</strong><br />
Antwort ist: Wir stehen in einer Zeit, in<br />
der der ideale Gedanke des Arbeiters<br />
stark geknickt wird.<br />
Idee und Wirklichkeit rücken weiter auseinander<br />
<strong>als</strong> das je der Fall war. <strong>Die</strong> lange<br />
Arbeitslosigkeit zerreibt die Seele<br />
des Menschen. Der treue Republikaner<br />
<strong>als</strong> Arbeiter wird fortgesetzt von dem<br />
antirepublikanischen Arbeitgeber auf<br />
Straßenpflaster gesetzt. Dadurch tritt<br />
bei ihm die Meinung auf, dass der republikanische<br />
Staat ein Schwächling gegenüber<br />
dem kapitalistischen Arbeiter<br />
ist. Wenn sich das nicht ändert, werden<br />
wir mit einer tiefen geistigen Umschichtung<br />
innerhalb der Arbeiterbewegung<br />
rechnen müssen. Ob sie gewerkschaftsfreundlich<br />
ist, lässt sich nicht sagen.<br />
Wir stehen aber jedenfalls an einer Stelle,<br />
(unleserlich) eine Schwankung zu unseren<br />
(unleserlich) möglich ist.<br />
Da drängt sich die Frage auf: Kommen<br />
wir mit den bisherigen Agitationsmethoden<br />
infolge der total veränderten<br />
Lage aus?<br />
Jetzt werden alle Agitationsmethoden,<br />
die wir anwenden, blitzschnell durch Eure<br />
Gehirne fliegen und die Antwort wird<br />
lauten: Wir sind bisher mit diesen Methoden<br />
ganz gut ausgekommen. Wenn<br />
wir aber die Frage aufwerfen würden:<br />
Können wir heute nach derselben Methode<br />
allgemein im ganzen Lande noch<br />
Ziegelsteine herstellen, wie wir sie vor<br />
60 oder 70 Jahren hergestellt haben, sofort<br />
würde das von allen verneint werden.<br />
Ich möchte natürlich keine der bisherigen<br />
Methoden vermissen. Aber wir<br />
müssen modernisieren und ergänzen.<br />
Im politischen Kampfe haben die Nation<strong>als</strong>ozialisten<br />
und Kommunisten einen<br />
Teil dieser Methoden modernisiert<br />
(Straßenkolonne).<br />
Bisher herrschte in der Agitation bei<br />
uns Hand- und Faustrecht, d. h. jeder<br />
auf seine Art und Weise ist überall so<br />
eingebürgert, dass man es für unkollegial<br />
hält, darüber zu sprechen. Seit Bestehen<br />
unseres Verbandes hat man sich<br />
auf keinem der Verbandstage mit der<br />
Frage der Agitation beschäftigt, sondern<br />
nur hier und dort im Vorstandsbericht<br />
hat man mal Anfragen gestellt oder<br />
Wünsche geäußert.<br />
Wie oft sind uns schon die Flugblätter<br />
mit ihren ganz vortrefflichen Bildern der<br />
KPD recht unangenehm auf unsere Seele<br />
gefallen. Sehr viele dieser Bilder sind<br />
zeitgemäß vortreffliche Zeichnungen.<br />
<strong>Die</strong> K.P.D. hat in Berlin eine große Propaganda-Schule<br />
und bildet hier nicht alle,<br />
aber einen Teil der Funktionäre aus.<br />
<strong>Die</strong> Auflockerung des Bodens<br />
Zunächst muss der Boden aufgelockert<br />
werden. Will man das aber tun, so muss<br />
man wissen, was für Boden aufzulockern
ist, um mit dem richtigen Werkzeug an<br />
die Arbeit gehen zu können. Wir müssen<br />
den Arbeiter und seine Arbeitsstätte<br />
genau kennen. Wir alle stehen vielleicht<br />
zwei Jahrzehnte und etwas mehr nicht<br />
mehr im Betriebe und vieles hat sich im<br />
Laufe der Jahre geändert.<br />
Der Arbeiter in der Gegenwart<br />
Für die Lebensschicksale der Arbeiter<br />
und Arbeiterinnen ist zunächst entscheidend,<br />
in welche wirtschaftliche<br />
Umwelt sie hineingestoßen werden.<br />
<strong>Die</strong> wirtschaftlichen Verhältnisse und<br />
der Arbeitsplatz sind mitbestimmend für<br />
die geistige Einstellung des Arbeiters.<br />
Der Arbeiter zeigt uns heute ein ganz<br />
anderes Gesicht <strong>als</strong> (wie) vor zwei Jahrzehnten.<br />
<strong>Die</strong> junge Arbeiterin und der<br />
Arbeiter treten uns heute entgegen mit<br />
einer ganz anderen Schulbildung und<br />
Lebensauffassung.<br />
Ihr Leben wird durch die stark veränderten<br />
wirtschaftlichen und politischen<br />
Verhältnisse geformt. Ihr Blick für alle diese<br />
Dinge hebt sich weit ab von dem der<br />
jungen Arbeiter vor 20 oder 30 Jahren.<br />
Sie finden ein ganz anderes Arbeitsfeld.<br />
Das kulturelle und gesellschaftliche Leben<br />
hat sich ganz anders gestaltet. Jeder<br />
einzelne von uns betrachte nur, wie<br />
er daheim erzogen wurde und wie heute<br />
die Kinder erzogen werden.<br />
Der ältere Arbeiter<br />
Aber auch im Leben des älteren Arbeiters<br />
hat sich vieles verändert. Ist er 40<br />
Jahre alt, so sieht er keine Aufstiegsmöglichkeiten<br />
mehr, ihn erfüllt nur die<br />
eine Sorge, wie erhälst du deinen Arbeitsplatz.<br />
–<br />
Fällt er von seinem Arbeitsplatz, so geht<br />
vieles verloren. Er sieht keine Möglichkeit,<br />
sich wieder hochzuarbeiten. Er<br />
führt einen ständigen Kampf um die Erhaltung<br />
seines Arbeitsplatzes. <strong>Die</strong> Maschine<br />
macht seinen Arbeitsplatz unsicher.<br />
Alle diese Dinge haben wir zu<br />
betrachten, wenn wir den agitatorischen<br />
Boden auflockern wollen.<br />
<strong>Die</strong> Masse<br />
<strong>Die</strong> Arbeiterschaft ist ein Massenvolk. Ist<br />
sie eine farblose Masse? (blaue Bluse)<br />
Eine Masse mit einem ausgespro-<br />
chenen politischen und wirtschaftlichen<br />
Kampfeswillen. Es sind Schicks<strong>als</strong>genossen.<br />
Was müssen wir von dieser<br />
Masse wissen? Worauf sie reagiert. Wie<br />
man eine Masse zu führen hat, wieweit<br />
man sie führen kann.Verband ist Masse.<br />
Auseinanderfallen? Zerstörung!<br />
Ich muss wissen, ob ich auf Massenstimmung<br />
einschalte. Versuche zwecklos.<br />
Lebendige Bilder auf der Straße, Uniform,<br />
Trommel, Kokarde, Marsch.<br />
Wir müssen mit den Dingen fertig werden.<br />
Aber wie wollen wir alle inneren<br />
Kämpfe und alle Konflikte lösen, wenn<br />
wir das Seelenleben der Masse nicht begreifen<br />
lernen? Aus der Masse können<br />
neue Führer auftreten.<br />
<strong>Die</strong> Zeitung<br />
Das erste Mittel neben dem gesprochenen<br />
Wort ist das, was auf die Masse<br />
wirkt, das geschriebene Wort, - die<br />
Zeitung.<br />
Ein Blick auf unsere Tageszeitungen.<br />
Tageszeitung<br />
Gewerkschaftsteil, Wirtschaftsteil<br />
Gewerkschaftszeitung<br />
Vom Arbeiter muss die Zeitung sprechen,<br />
vom Leben seiner Klassengenossen.<br />
Der Lebensinhalt des Arbeiterlebens<br />
soll gestärkt werden. <strong>Die</strong> Zeitung<br />
muss ein Spiegel der Gesamtbewegung<br />
sein.<br />
Das Flugblatt<br />
Modern, sachlich, kein Leitartikel. Verbindung<br />
mit dem Betrieb, dem Arbeiter<br />
und der Organisation. Ein Flugblatt<br />
muss etwas sein, was man von einem<br />
Berg herabwirft und die Leute begierig<br />
danach greifen.<br />
Das Bild Für Zeitung und Flugblatt.<br />
Nicht irgend ein Bild, sondern was uns<br />
angeht. Das Krankenauto fährt vom Fabri<strong>kb</strong>etrieb<br />
oder der Betriebsunfallwagen<br />
aus der Werkswohnung werden<br />
die Möbel des Arbeiters auf die Straße<br />
gestellt.ein Betrieb wird stillgelegt, die<br />
letzte Schicht, die Landjäger schätzen<br />
Streikposten.<br />
Kollege Schulz ist 40 Jahre Mitglied unseres<br />
Verbandes und erhält Invalidenunterstützung.<br />
Wir brauchen im Bild nicht die Villa des<br />
Direktors zu bringen. Uns interessiert<br />
vielmehr das Leben des Arbeiters.<br />
Das Lichtbild für die Mitgliederveranstaltung.<br />
Als Demonstrationsmittel, Arbeitslosen-<br />
Unterstützung, Krankenunterstützung,<br />
Unfall-Unterstützung. <strong>Die</strong> Versammlung<br />
muss ein Erlebnis sein. Das Lichtbild<br />
zur öffentlichen Werbung. Kein Kitsch,<br />
gute Bilder, Zeichnung, Farbe, Lebendiggestaltung,<br />
der Vortragende muss alles<br />
beherrschen. Wir sind zufrieden.<br />
Der Film<br />
Es geht auch nicht von selbst, gute Vorbereitungen,<br />
Beispiel Hildesheim. Film<br />
ist Leben. Auch der stumme Film spricht.<br />
Was erreichen wir?<br />
Kollegen, deren Frauen, die Jugend, die<br />
Unorganisierten. Wir pflegen Geist und<br />
Idee.<br />
<strong>Die</strong> Musik<br />
»Aufstieg« Proletarier aller Länder vereinigt<br />
Euch!« 100 Veranstaltungen, je 280<br />
Besucher, 28 000 Menschen.<br />
Das Radio<br />
Pflege der Geselligkeit<br />
Festrede mit Musik. Ein solches Fest<br />
muss mit der Arbeit im Zusammenhang<br />
stehen.<br />
Brauchen nicht Lieder vom Rhein und<br />
Wein, von schönen Rosen und Frühling<br />
zu sein.<br />
Unser Leben wird geformt durch Fabrikschlote,<br />
Maschinen, Not und Sorge. Das<br />
muss zum Ausdruck kommen.<br />
<strong>Die</strong> Lebendiggestaltung der Idee<br />
Fast 200 Jahre entfernt, <strong>als</strong> die Worte<br />
»Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« geformt<br />
wurden und 100 Jahre entfernt von<br />
der Zeit, <strong>als</strong> das Wort »Sozialismus« und<br />
»Proletarier« allgemein bekannt wurden.<br />
Technik und Wissenschaft schafft täglich<br />
neue Existenzen. Wir stehen an der<br />
Stelle, wo religiöse, politische und soziale<br />
Anschauungen zerstört werden. <strong>Die</strong><br />
einzige Idee, die aus diesen Trümmern<br />
lebendig hervorgeht, kann und muss der<br />
Sozialismus sein! 1<br />
1 Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-<br />
Stiftung Bonn.<br />
55
Der »Bund der Freunde der Sowjetunion«<br />
und der antifaschistische Wider-Stand:<br />
Neue Fakten aus den Akten des Bundeaarchivs<br />
Am 4. November 1928 wurde der<br />
»Bund der Freunde der Sowjetunion«<br />
gegründet.<br />
Der »Bund« trat dem Antikommunismus<br />
und Antisowjetismus entschieden<br />
entgegen und verbreitete konkrete<br />
Kenntnisse über die Sowjetunion. Ein<br />
erster entscheidender Schritt zur Gründung<br />
des »Bundes der Freunde der Sowjetunion«<br />
(BdFSU) war die Tagung am<br />
18. September 1928 in Berlin, auf der<br />
sich das Berliner Komitee des BdFSU<br />
konstituierte. Der Arzt Dr. Max Hodann,<br />
der den Vorsitz des Berliner Komitees<br />
übernahm, führte über die Aufgabenstellung<br />
des Bundes unter anderem<br />
aus: »<strong>Die</strong> Bewegung der Freunde der<br />
Sowjetunion stelle <strong>als</strong> politische Organisation<br />
keine Konkurrenz zur ›Gesellschaft<br />
der Freunde des neuen Rußland‹<br />
dar, da diese Gesellschaft ein wissenschaftliches<br />
und künstlerisches Tätigkeitsfeld<br />
habe. <strong>Die</strong> ›Bewegung der<br />
Freunde der Sowjetunion‹ hingegen<br />
will alle Aktivposten aus den Arbeiterorganisationen<br />
und intellektuellen Kreisen<br />
sammeln zu einer Front gegen die<br />
drohende Kriegsgefahr zum Schutze für<br />
die Sowjetunion.« 1<br />
Von dieser Berliner Tagung aus trafen<br />
die Freunde des Bundes die Vorbereitungen<br />
für den ersten Kongress im<br />
Reichsmaßstab.<br />
<strong>Die</strong>ser erste Reichskongreß des BdFSU<br />
wurde für den 4. November 1928 nach<br />
Berlin in das ehemalige Preußische<br />
Herrenhaus in der Leipziger Straße<br />
(heute der Sitz des Deutsches Bundesrates)<br />
einberufen. Das Vorbereitungskomitee<br />
verfasste einen Aufruf, der am<br />
1. Oktober 1928 an die progressive, demokratische<br />
Presse gegeben wurde. Er<br />
erschien Mitte Oktober gleichzeitig in<br />
mehreren Zeitungen und Zeitschriften.<br />
Der Aufruf begann mit den Worten: »An<br />
alle Arbeiterorganisationen! Arbeiter,<br />
Intellektuelle, Freunde der Sowjetunion!<br />
Auf zum ersten Reichskongress der<br />
Freunde der Sowjetunion! …« 2<br />
165 Delegierte, darunter die Werktätigen<br />
von 35 Berliner Betrieben, sowie<br />
Kulturschaffende aus Kunst, Wissenschaft<br />
und Literatur, die sich mit<br />
dem Proletariat und der Sowjetunion<br />
verbunden fühlten, beschlossen die<br />
Gründung des BdFSU. Delegiert waren<br />
Vertreter bereits bestehender Ortskomitees<br />
des BdFSU, von proletarischen<br />
56<br />
Massenorganisationen und von pazifistischen<br />
Vereinigungen. Von den Delegierten<br />
des Kongresses gehörten 58<br />
der KPD, 35 der SPD an, 66 waren parteilos,<br />
3 gehörten dem Sozialistischen<br />
Bund, 2 dem KJVD und 1 Teilnehmer<br />
der Christlich-Sozialistischen Reichspartei<br />
an. Repräsentativ vertreten waren<br />
auf dem Kongress das »Einheits«-<br />
Komitee, das die Arbeiterdelegationen<br />
in die UdSSR organisierte, die Internationale<br />
Arbeiter-Hilfe (IAH), der Rote<br />
Frauen- und Mädchenbund (RFMB), die<br />
Liga für Menschenrechte und die »Gesellschaft<br />
der Freunde des neuen Rußland.«<br />
3<br />
Der Kongress gestaltete sich zu einer<br />
eindrucksvoll verlaufenden Kundgebung.<br />
Als Redner traten unter anderem<br />
auf: Dr. Max Hodann, Ernst Toller,<br />
Dr. Gumbel. Kurze Ansprachen hielten<br />
Helene Overlach <strong>als</strong> Vertreterin des<br />
»Frauenbundes« und Theo Overhagen<br />
im Namen der Arbeiterdelegierten, die<br />
die Sowjetunion besucht hatten. In der<br />
Nachmittagssitzung stand der organisatorische<br />
Aufbau des Bundes zur Debatte.<br />
<strong>Die</strong> Delegierten beschlossen,<br />
in Form von lokalen Komitees, die im<br />
ganzen Reichsgebiet zu organisieren<br />
waren, die Basis des Bunds zu schaffen.<br />
Nach dem Vorbild der KPD-Betriebszellen<br />
sollten die Mitglieder des<br />
Bundes auch auf Betriebsbasis organisiert<br />
werden. <strong>Die</strong>se Betriebsgruppen<br />
sollten dann den Kern der BdFSU-<br />
Ortsgruppen bilden. In der Diskussion<br />
hoben einige Delegierte hervor, das<br />
Schwergewicht des Bundes müsse auf<br />
die Verbreitung von Kenntnissen über<br />
die Sowjetunion – teils durch Gäste,<br />
teils durch Vorträge sogenannter Russlandreisender<br />
(Delegierter) – gelegt<br />
werden.<br />
<strong>Die</strong> Kongressdelegierten wählten ein<br />
Reichskomitee, bestehend aus 29 Personen.<br />
Ihm gehörten neben anderen<br />
an: Fritz Heckert und Franz Dahlem,<br />
beide KPD-Mitglieder und Abgeordnete<br />
des Reichstages (KPD), Mitglied des<br />
Reichstages, Dr Helene Stöcker, vom<br />
Bund für Mutterschutz und führendes<br />
Mitglied der »Gesellschaft der Freunde<br />
des neuen Rußland«, Dr. Max Hodann,<br />
Arzt und Sexualhygieniker, Dr. Kurt Hiller,<br />
Schriftsteller, Prof. Dr. Gumbel, Historiker<br />
und Publizist und Adolf Deters,<br />
Vertreter der Berliner Verkehrsbetriebe<br />
(BVG), der neben weiteren Vertretern<br />
Berliner Großbetriebe wie der AEG und<br />
der Siemens-Werke, in den Vorstand<br />
gewählt wurde.<br />
Über das Ziel des Bundes geben die<br />
Texte der Mitgliedskarten Auskunft. Es<br />
konnten noch einige über die Zeit der<br />
NS-Diktatur aufbewahrt werden, so<br />
zum Beispiel von der mitgliederstarken,<br />
auch nach 1933 illegal wirkenden Leipziger<br />
Gruppe um Lina und Richard Plock<br />
sowie von Berliner Mitgliedern des Bd-<br />
FSU. Zweck und Ziel des Bundes, hieß<br />
es auf den roten Mitgliederkarten, ist<br />
die Zusammenfassung aller Kräfte, die<br />
bereit sind, die Sowjetunion zu verteidigen<br />
sowie die weiteste Aufklärung<br />
über die wirkliche Lage in der Sowjetunion<br />
zu verbreiten. Aus der Sicht einer<br />
Gruppe sozialdemokratischer Arbeiter<br />
bestand das Ziel des Bundes in<br />
der »Schaffung einer kampfbereiten<br />
Einheitsfront zur Verteidigung der Sowjetunion<br />
in den Betrieben und allen<br />
Schichten des arbeitenden Volkes.« 4<br />
Große Aktivitäten entfaltete der Bund<br />
von 1928 bis 1933 bei der Vorbereitung<br />
und Durchführung der Antikriegskundgebungen,<br />
die am 1. August jedes Jahres<br />
stattfanden.<br />
Nach der Machtübertragung an die<br />
Faschisten reihten sich nicht wenige<br />
Freunde des BdFSU in die unsichtbare<br />
Front der Widerstehenden gegen<br />
das NS-Regime ein; ganz unabhängig<br />
davon, ob sie bis 1933 in der KPD, in<br />
der SPD oder in den ADGB- Gewerkschaften<br />
organisiert waren oder, ob sie<br />
parteilos waren. Jetzt, nach der Konstituierung<br />
der braunen Diktatur, setzten<br />
sie sich mit ganzer Kraft gegen sie zur<br />
Wehr.<br />
Bereits im Februar und März 1933 prangerten<br />
sie in selbstgefertigten Flugschriften,<br />
die in Gartenlokalen, Sprechzimmern<br />
von Ärzten, in Kaufhäusern,<br />
Straßenbahnen und auch bei Behörden<br />
verbreitet wurden, den Terror der SA-<br />
Horden an. Oft tauchten Handzettel auf,<br />
worauf geschrieben stand: »Der Bund<br />
der Freunde der Sowjetunion Lebt!« Von<br />
der Lebenskraft der Landesorganisation<br />
in Sachsen zeugen beispielsweise die<br />
fortbestehende Verbindung zur Reichsleitung<br />
in Berlin und die Kontakte nach<br />
Essen, Zwickau, Reichenbach, Plauen,<br />
Aue, Borna, Chemnitz, Zschopau, Zwickau<br />
und Meuselwitz bei Leipzig. 5
<strong>Die</strong> umfangreichen Aktivitäten des<br />
Bundes blieben der Gestapo nicht verborgen.<br />
Fieberhaft suchte sie nach dessen<br />
Mitgliedern. In einem Lagebericht<br />
der Gestapo im Frühjahr 1935 heißt es:<br />
»Unmittelbar nach der Auflösung der<br />
KPD und ihrer Nebenorganisationen<br />
am 3. März 1933 (gemeint ist die Notwendigkeit,<br />
in die Illegalität zu gehen –<br />
G.W.) setzte die illegale Tätigkeit der<br />
ehemaligen Funktionäre der Freunde<br />
der Sowjetunion ein.<br />
Der damalige Reichsleiter Karl Becker<br />
geb. am 19. 11. 1894 in Hannover Zurzeit<br />
vermutlich in Prag oder Amsterdam<br />
aufhältlich und der Expedient<br />
Paul <strong>Die</strong>trich Zurzeit in den skandinavischen<br />
Ländern, beriefen im März/<br />
April 1933 eine Funktionärsversammlung<br />
zur Tegeler Heide ein, an der ca.<br />
35–40 Personen teilnahmen. Bei dieser<br />
Versammlung unter freiem Himmel<br />
wurde beschlossen, dass der Bund<br />
der Freunde seine Tätigkeit wieder aufnehmen<br />
müsse. Es wurde angeregt,<br />
rege Propaganda zu treiben, die alten<br />
Genossen aufzusuchen, Mitgliedsbeiträge<br />
zu kassieren und die illegalen<br />
Schriften des Bundes zu vertreiben.<br />
Zunächst begnügte man sich damit illegale<br />
Schriften mit Schreibmaschine geschrieben<br />
und auf Wachsmatrize abgezogen<br />
herzustellen. …« 6<br />
Maßgeblich beteiligt am Herstellen<br />
und Verbreiten der Flugschriften waren<br />
die in Berlin-Neukölln lebenden<br />
Antifaschisten Bruno <strong>Die</strong>ckow, Friedrich<br />
Scharfenberg und Otto Tech nebst<br />
weiteren Helfern aus anderen Berliner<br />
Stadtbezirken. Vermutlich ab März<br />
1934 erschien die erste im Rotationsdruck<br />
hergestellte Miniaturausgabe<br />
des Bundes mit dem Kopf »Sowjetrußland<br />
heute – Organ der Freunde der<br />
Sowjetunion Deutschlands.« In Berlin<br />
wurden monatlich für das Jahr 1934<br />
900 illegale Schriften verbreitet. Es gelang<br />
auch, nach Leipzig, Chemnitz und<br />
in das Rheinland etwa 1.000 Exemplare<br />
zu versenden.<br />
Im Frühjahr 1933 setzte sich die Reichsleitung<br />
des Bundes aus folgenden Personen<br />
zusammen: Karl Becker, Paul<br />
<strong>Die</strong>trich (mit dem Decknamen »Scholli«)<br />
und Gerda Platschek. <strong>Die</strong>se Leitung<br />
bestand bis zum November 1933, weil<br />
zu diesem Zeitpunkt Paul <strong>Die</strong>trich in die<br />
Emigration ging.<br />
<strong>Die</strong> Berliner Leitung des Bundes bestand<br />
bis Oktober/November 1933 aus<br />
den Bundesmitgliedern Robert Steglich,<br />
Friedrich Scharfenberger, Walter<br />
Heller und dem Antifaschisten »Harry«<br />
(sein richtiger Name blieb unbekannt)<br />
sowie Georg Müller mit dem Deckna-<br />
men »Egon«. Ab November 1933 wurde<br />
aus konspirativen Gründen die Reichsleitung<br />
mit der Berliner Leitung zusammengelegt.<br />
Ihr gehörten an: Karl Becker,<br />
Gerda Platschek, Georg Müller,<br />
Alfred Lindemann, Walter Heller, Siegmund<br />
Sredzki, »Harry« und »Piepel«,<br />
der ebenfalls namentlich nicht ermittelt<br />
werden konnte. Im Oktober 1934 ging<br />
Karl Becker in die Emigration, da er <strong>als</strong><br />
langjähriger Reichsleiter des Bundes<br />
und Mitglied des Preußischen Landtages<br />
zu bekannt und gefährdet war.<br />
<strong>Die</strong> Leitung des Bundes bemühte sich<br />
um eine rege illegale Propaganda in<br />
den Berliner Betrieben. Aus diesem<br />
Grund sind 1934 drei Delegationen bestehend<br />
aus Frauen und Männern nach<br />
Rußland entsandt worden. <strong>Die</strong> notwendigen<br />
Reisepapiere und Geldmittel beschaffte<br />
der Bund. Dank vieler Helfer<br />
konnten die verdeckten Reiserouten<br />
zusammengestellt werden, um das Ziel<br />
Sowjetunion zu erreichen. <strong>Die</strong> Antifaschisten<br />
nutzten insbesondere die legale<br />
Reisemöglichkeit in die Tschechoslowakei.<br />
In Prag trafen sich die<br />
einzelnen Reisenden, um dann gemeinsam<br />
weiterzureisen. <strong>Die</strong> Teilnehmer<br />
der Delegationen betrieben nach ihrer<br />
Rückkehr rege Propaganda für den<br />
Bund der Freunde der Sowjetunion. <strong>Die</strong><br />
im März, Mai und November 1934 entsandten<br />
Delegationen zeugen von der<br />
erfolgreichen konspirativen Tätigkeit<br />
des Bundes. <strong>Die</strong> Reisenden berichteten<br />
nach ihrer Rückkehr in Berlin und<br />
anderen Orten über die persönlichen<br />
Eindrücke ihrer Reise. In der UdSSR<br />
selbst informierten sie ihre Gastgeber<br />
über das herrschende Terrorregime in<br />
Deutschland. <strong>Die</strong> im März 1934 organisierte<br />
Reisegruppe bestand überwiegend<br />
aus Frauen, die zum Internationalen<br />
Frauentag nach Moskau reisten. Zu<br />
den Teilnehmerinnen gehörten aus Berlin-Prenzlauer<br />
Berg Irene Harloff, Anna<br />
Krause und Margarethe Sredzki.<br />
Irene Harloff schrieb in ihren Erinnerungen<br />
begeistert von dem herzlichen<br />
Empfang in Moskau, von den Begegnungen<br />
mit sowjetischen Frauen. In<br />
den drei Wochen ihres Aufenthalts<br />
sammelten die Reiseteilnehmerinnen<br />
nachhaltige Eindrücke über das Leben<br />
in der Sowjetunion. Treffen mit Arbeitern<br />
festigten die Freundschaft und die<br />
internationale Solidarität.<br />
Anna Krause, eines der ältesten Delegationsmitglieder,<br />
erhielt <strong>als</strong> Geschenk<br />
eine goldene Damenbanduhr mit eingravierter<br />
Widmung, die an ihre Teilnahme<br />
am Internationalen Frauentag 1934<br />
in Moskau erinnerte. <strong>Die</strong> Uhr überdauerte<br />
die Zeit der Illegalität. Nach ihrer<br />
Rückkehr verbreiteten die Frauen ihre<br />
Erlebnisse durch geschickte Mundpropaganda.<br />
Dank der Überzeugskraft und den organisatorischen<br />
Fähigkeiten des Leitungsmitgliedes<br />
Siegmund Sredzki war<br />
es möglich, dass unter den harten illegalen<br />
Bedingungen »der Bund der<br />
Freunde der Sowjetunion in den Jahren<br />
1933 und 1934 sein Wirken fortsetzen<br />
konnte.« 7<br />
Monatelang bemühte sich die Gestapo,<br />
die in Berlin und den anderen<br />
Städten wirkenden Antifaschisten des<br />
Bundes aufzuspüren. Am 7. Dezember<br />
1934 wurde Siegmund Sredzki nebst<br />
zehn Kampfgefährten verhaftet. In den<br />
nachfolgenden Wochen bis Mitte März<br />
1935 erfolgte eine Verhaftungswelle,<br />
der 149 Antifaschisten zum Opfer fielen.<br />
Nach wochenlangen Verhören erfolgte<br />
die Anklage durch die NS-Justiz.<br />
In 9 Prozessen, aufgegliedert von »A<br />
bis J«, bekamen die Frauen und Männer,<br />
die illegal den Bund der Freunde<br />
der Sowjetunion bis zum Ende des Jahres<br />
1934 erfolgreich weitergeführt hatten,<br />
die Rache des Nazi-Terrorregimes<br />
zu spüren. Im Prozeß »A«, in dem die<br />
Hauptverantwortlichen nach Ansicht<br />
des Oberreichsanwaltes beim Volksgerichtshofs<br />
zusammengefaßt waren<br />
waren, wurden angeklagt und verurteilt:<br />
Der Dreher Siegmud Sredzki, seine<br />
Frau Margarethe Sredzki, beide in<br />
Berlin Prenzlauer Berg wohnhaft, die<br />
Stenotypistin Gerda Platschek aus<br />
Berlin-Mitte, der Friseur Georg Müller<br />
aus Berlin-Pankow, die Versicherungsbeamtin<br />
Therese Dorfner aus Berlin-<br />
Prenzlauer Berg, der Weber Robert<br />
Steglich aus Berlin-Friedrichshain, der<br />
Theaterleiter Alfred Lindemann aus<br />
Berlin-Prenzlauer Berg, der Schlosser<br />
Friedrich Scharfenberger aus Berlin-<br />
Prenzlauer Berg, der Werkzeugmacher<br />
Erich Brachmann aus Berlin-Neukölln<br />
und der kaufmännische Angestellte Otto<br />
Stahl aus Berlin-Mitte. In der über<br />
fünfzig Seiten starken Anklageschrift<br />
hob der Staatsanwalt hervor, dass die<br />
Angeklagten »… im Innland, insbesondere<br />
in Berlin, Leipzig und Magdeburg,<br />
die Angeschuldigten Müller, Gerda Platschek<br />
und Margarete Sredzki auch im<br />
Ausland insbesondere in Prag und Moskau<br />
in den Jahren 1933 und 1934 unter<br />
sich und mit anderen gemeinschaftlich<br />
und fortgesetzt illegal handelten. …« 8<br />
Ausführlich ging der anklagende Staatsanwalt<br />
des »Volksgerichtshofes« darauf<br />
ein, dass die Angeschuldigten am<br />
Wiederaufbau beziehungsweise an der<br />
Aufrechterhaltung des Bundes der Sowjetfreunde<br />
an führender Stelle sowie<br />
57
an der Verbreitung von Druckschriften<br />
beteiligt waren. Gerda Platschek wurde<br />
ferner vorgeworfen, die Kassenleiterin<br />
der Reichsleitung gewesen zu sein,<br />
während Georg Müller attestiert wurde,<br />
<strong>als</strong> Verbindungsmann der Reichsleitung<br />
zur Berliner Leitung des Bundes<br />
tätig gewesen zu sein. Hervorgehoben<br />
wurde auch, dass am 3. März 1933 die<br />
Räume des Internationalen Büros des<br />
Bundes in Berlin-Mitte, Dorotheenstr.<br />
19, nach einer Durchsuchung polizeilich<br />
geschlossen wurden. Laut Anklageschrift<br />
hatte zu diesem Zeitpunkt<br />
der Bund etwa 30.000 Mitglieder. Als<br />
Bundeszeitung wurde die in der Citydruckerei<br />
hergestellte Druckschrift<br />
»Sowjetrußland heute« in einer Auflage<br />
von 60.000 Exemplaren herausgegeben.<br />
9<br />
Ferner ist dem Schriftstück zu entnehmen,<br />
dass unmittelbar nach der<br />
Schließung des Büros in Berlin Karl Becker<br />
und Paul <strong>Die</strong>trich erste Schritte in<br />
die Illegalität des Bundes einleiteten.<br />
Sie beriefen die zu erreichenden Mitglieder<br />
zu einer Beratung in der Tegeler<br />
Heide ein. Dort wurden die notwendigen<br />
Schritte erörtert, um illegal<br />
weiterzuarbeiten. Bereits im April 1933<br />
erschien die erste Ausgabe einer illegalen<br />
Bundeszeitung im monatlichen<br />
Abstand mit einer Auflagenhöhe von<br />
100 bis 300 Exemplaren. <strong>Die</strong> Vervielfältigung<br />
erfolgte an verschiedenen<br />
Orten Berlins. <strong>Die</strong> Verbreitung innerhalb<br />
der Stadt organisierte Georg Müller.<br />
Zu Beginn des Jahres 1934 schuf<br />
die Reichsleitung Voraussetzungen für<br />
die Herausgabe einer illegal gedruckten<br />
Zeitung, die offensichtlich im Ausland<br />
gedruckt wurde, da sich im Innland<br />
keine Druckmöglichkeit fand. Im<br />
Juni/Juli 1934 erschien die erste Nummer<br />
der Druckschrift »Sowjetrußland –<br />
heute« im Kleinformat. <strong>Die</strong>se erste<br />
illegale Auflage betrug etwa 2.000 Exemplare.<br />
Neben der Bundeszeitung gab<br />
die Reichsleitung einen hektografierten<br />
Pressedienst heraus, der fast jede Woche,<br />
aber auch in größeren Zeitabständen<br />
erschien. Besonders hervorgehoben<br />
wurde in der Anklageschrift »A«,<br />
dass in den illegalen Druckschriften<br />
der »Nation<strong>als</strong>ozialismus« verhöhnt,<br />
die Maßnahmen der Reichsregierung<br />
auf dem Gebiet der Innen- und Außenpolitik<br />
in ungewöhnlich verlogener und<br />
gehässiger Weise verunglimpft wurden<br />
sowie den Lesern die Anschauung nahe<br />
gelegt wurde, dass eine Beseitigung<br />
des faschistischen Regimes im Interesse<br />
aller Werktätigen geboten sei.<br />
»<strong>Die</strong> hochverräterischen Ziele des<br />
Bundes«, so der Staatsanwalt, »kenn-<br />
58<br />
zeichnet am treffendsten zweifellos ein<br />
von den Angeschuldigten abgedruckter<br />
Artikel in der Ausgabe Nr. 8 1934 mit<br />
der Überschrift:<br />
<strong>Die</strong> Aufgaben der FSU in Deutschland<br />
1. Wir müssen verstehen und danach<br />
handeln, dass unser Kampf für die<br />
Wahrheit über die Sowjetunion und ihre<br />
Verteidigung nur <strong>als</strong> Kampf gegen die<br />
Hitlerregierung geführt werden kann.<br />
2. dass der Kriegspolitik der deutschen<br />
Bourgeoisie gegen Sowjetrußland<br />
nur mit dem Sturz der Hitlerregierung<br />
… ein Ende gemacht werden<br />
kann … Unsere Aufgaben liegen in erster<br />
Linie auf agitatorischem Gebiet.<br />
… Unser wichtigstes Mittel sind unsere<br />
Zeitungen. … Ein Mittel von nichtgeringerer<br />
ist das organisierte Abhören<br />
des Moskauer Rundfunks. … Von großer<br />
Bedeutung für unsere Arbeit sind<br />
die Arbeiterdelegationen nach der SU<br />
und ihre Berichterstattung. Wir haben<br />
bereits einige Delegationen trotz Naziterror<br />
mit gutem Erfolg entsandt. Wir<br />
werden weitere entsenden. Ihre Basis<br />
muss aber noch breiter, ihre Berichterstattung<br />
noch besser organisiert werden.<br />
Insbesondere gilt es dabei, dass<br />
wir mit unserer ganzen Agitation Richtung<br />
nehmen auf die Arbeiter in den<br />
kriegswichtigen Betrieben und Industrien,<br />
aus ihren Reihen Delegierte zu<br />
entsenden, in ihren Reihen Bericht zu<br />
erstatten. Ebenso gilt es, in den faschistischen<br />
Massenorganisationen, wie<br />
Arbeitsfront, Hitlerjugend, usw. jede<br />
Möglichkeit für unsere Agitation auszunutzen.«<br />
10<br />
Zusammenfassend hob der Ankläger<br />
in der siebzig Seiten starken Anklageschrift<br />
hervor, dass alle zehn Angeklagten<br />
sich in erschwerter Form des<br />
Verbrechens der Vorbereitung zum<br />
Hochverrat zu verantworten haben.<br />
Am 4., 5. und 8. Juni 1936 erfolgte vor<br />
dem 1. Senat des »Volksgerichthofs«<br />
der Prozess und die Verurteilung von<br />
Siegmund Sredzki und dessen Kampfgefährten.<br />
<strong>Die</strong> Angeklagte Therese Dorfner wurde<br />
aus Mangel an Beweisen freigesprochen.<br />
Das Verfahren gegen Alfred Lindemann<br />
wurde eingestellt, da ihm der<br />
innere Tatbestand eines Verbrechens<br />
der Vorbereitung zum Hochverrat nicht<br />
nachzuweisen war, sondern nur der<br />
Verstoß gegen das Parteiengesetz.<br />
Georg Müller erhielt mit sechs Jahren<br />
Zuchthaus die höchste Strafe ihm<br />
folgte Siegmund Sredzki mit fünf Jahren<br />
Zuchthaus. Das Strafmaß für die<br />
anderen Angeklagten schwankte zwischen<br />
drei und zwei Jahren 6 Monaten<br />
Zuchthaus. Lediglich Robert Steglich<br />
erhielt wegen geringfügiger Teilnahme<br />
an den Widderstandsaktionen des<br />
Bundes 1 Jahr Gefängnis.<br />
Im Prozeß »B« standen 15 Angehörige<br />
des Bundes am 8. Oktober 1935<br />
vor dem 4. Strafsenat des Kammergerichts<br />
in Berlin. Sie kamen überwiegend<br />
aus Berlin-Neukölln, vier Angeklagte<br />
wohnten in Finowfurt, je einer in Berlin-<br />
Spandau und Ruhlsdorf. In dieser Prozessgruppe<br />
befanden sich zwei Frauen.<br />
Der Fliesenleger Bruno <strong>Die</strong>ckow wurde<br />
mit fünf Jahren Zuchthaus am härtesten<br />
bestraft. Ihm wurde vor allem vorgeworfen,<br />
bereits seit 1930/31 bis zu seiner<br />
Verhaftung am 7. Januar 1935 ununterbrochen<br />
für die Ziele des Bundes der<br />
Freunde der Sowjetunion gewirkt zu<br />
haben. Seine Kampfgefährten erhielten<br />
ebenfalls langjährige Zuchthausstrafen.<br />
Im Prozeß »C« standen 19 Angeklagte<br />
vor dem Kammergericht in Berlin, das<br />
im Zeitraum Oktober/November 1935<br />
alle Prozesse von »B« bis »J« durchführte.<br />
Insgesamt wurden 129 Antifaschisten<br />
zu langjährigen Zuchtaus- bzw.<br />
Gefängnisstrafen verurteilt. 11<br />
In den Prozessen »H« und »J« standen<br />
Jugendliche zwischen 16 bis 21 Jahren<br />
vor den NS-Richtern. Sie hatten wie<br />
Gerhard Sredzki, der Sohn von Margarete<br />
und Siegmund Sredzki, sich im illegalen<br />
Kommunistischen Jugendverband<br />
Deutschlands (KJVD) engagiert<br />
und indirekt den Bund der Freunde<br />
der Sowjetunion unterstützt, ohne dort<br />
Mitglied gewesen zu sein.<br />
Karl Becker, der <strong>als</strong> Reichsleiter in die<br />
Emigration gegangen war, von Amsterdam<br />
und Paris aus die Weiterführung<br />
des Bundes mitorganisierte sowie nach<br />
Kriegsausbruch in den Reihen der französischen<br />
Résistance kämpfte, wurde<br />
im Juni 1941 von der französischen Polizei<br />
verhaftet und an die Gestapo ausgeliefert.<br />
Er wurde am 4. September<br />
1942 vom Volksgerichtshof zum Tode<br />
verurteilt und im Strafgefängnis Berlin-<br />
Plötzensee am 1. Dezember 1942 hingerichtet.<br />
Sein Kampfgefährte Siegmund Sredzki<br />
kam unmittelbar nach seiner Strafverbüßung<br />
in das KZ Sachsenhausen. Dort<br />
fand er Anschluß an die illegale Lagergruppe<br />
deutscher und ausländischer<br />
Häftlinge und leistete mit ihnen unter<br />
den unmenschlichen Bedingungen im<br />
Konzentrationslager illegale politische<br />
Arbeit. Er wurde am 11. Oktober 1944<br />
mit 23 deutschen und französischen<br />
Häftlingen wegen der Teilnahme am Widerstand<br />
im Konzentrationslager Sachsenhausen<br />
erschossen.<br />
An sein Widerstehen gegen das NS-Regime<br />
erinnert die Sredzki Straße in Ber
lin-Prenzlauer Berg und die Gedenktafel<br />
an der Ringmauer der Gedenkstätte der<br />
Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde.<br />
Mit der Zerschlagung der Struktur des<br />
Bundes der Sowjetunion hörte der Widerstand<br />
der Wenigen, die den Massenverhaftungen<br />
1934/35 entkamen,<br />
jedoch nicht auf. Sie suchten sich neue<br />
Kontakte zu Gleichgesinnten.<br />
Auch die aus den Haftanstalten Entlassenen<br />
wie Gerhard Sredzki und seine<br />
Frau Gerda Sredzki (geb. Wess) sowie<br />
Karl Ziegler setzen nach dem Kriegsausbruch<br />
in der Jacob/Saefkow/Bästlein-Organisation<br />
ihren Kampf gegen<br />
die braune Barbarei fort.<br />
Dr. Günter Wehner<br />
1 Der drohende Krieg. Organ des BdFSU, Jg.<br />
1/1928, S. 70.<br />
2 <strong>Die</strong> Einheit, Jg. 1928, Novemberheft, H. 3.<br />
3 Vgl. <strong>Die</strong> Rote Fahne, 6. 11. 1928.<br />
4 Sozialdemokratische Arbeiter über den sozialistischen<br />
Aufbau in der Sowjetunion. Berlin 1928,<br />
S. 56.<br />
5 Vgl. Curt. Remer u. a., Aus der Geschichte des<br />
Bundes der Freunde der Sowjetunion in Sachsen<br />
bis 1935; in: Jahrbuch für Geschichte der<br />
deutsch-slawischen Beziehungen in Ost- u. Mitteleuropa,<br />
Bd. II, 1958, S. 30 ff..<br />
6 Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten,<br />
ZC 13171, Bd. 6, Bl. 70 ff..<br />
7 Vgl. Zur Geschichte des Kampfes gegen Faschismus<br />
in Berlin-Prenzlauer Berg 1933 bis 1945,<br />
hrsg. vom Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer<br />
der DDR, Kreiskomitee Berlin-<br />
Prenzlauer Berg, Berlin 1987, S. 69 ff..<br />
8 Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten,<br />
ZC 13171, Bd. 5, Bl 2 ff..<br />
9 Vgl. Ebenda.<br />
10 Ebenda, Bd. 5, Bl. 12–14.<br />
11 Vgl. Ebenda Bd. 5, Bl. 36 ff.<br />
59
Leistungen und Fehlleistungen marxistischer Faschismustheorien aus heutiger<br />
Sicht. Einige Vorüberlegungen für eine neue materialistische allgemeine Theorie<br />
der Faschismen 1<br />
<strong>Die</strong> erste produktive Phase: Marxistische<br />
Reaktionen auf den aufkommenden Faschis m u s<br />
Zu den vielen bis heute umstrittenen<br />
Fragen der faschismustheoretischen<br />
Diskussion gehört die nach dem Zeitpunkt,<br />
an dem das, was später allgemein<br />
»Faschismus« genannt wurde,<br />
zuerst auftrat. Es gibt gute Gründe anzunehmen,<br />
dass bereits einige extrem nationalistische<br />
Gruppierungen, die Ende<br />
des 19. Jh. in Frankreich und Italien entstanden,<br />
die wichtigsten faschistischen<br />
Wesenszüge aufwiesen, so die Associazione<br />
Nazionalista Italiana (ANI) um Enrico<br />
Corradini und die Action Francaise<br />
(AF) um Charles Maurras. <strong>Die</strong> Marxist/<br />
innen jedenfalls realisierten die entstehende<br />
tödliche Gefahr in vollem Umfang<br />
erst, <strong>als</strong> 1919 die sich selbst »faschistisch«<br />
nennende Massenbewegung<br />
in Italien entstanden war und ihre paramilitärischen<br />
squadren einen beispiellosen,<br />
bürgerkriegsähnlichen Terror gegen<br />
Gewerkschaften und Sozialistische<br />
Partei entfesselt hatten.<br />
Es scheint, <strong>als</strong> seien die Marxist/innen<br />
in- und außerhalb Italiens von der Mobilisierungskraft<br />
und terroristischen Wirksamkeit<br />
der Faschisten bis zu einem<br />
gewissen Grad überrascht worden. <strong>Die</strong><br />
ersten prominenten marxistischen Interpretationen<br />
des Faschismus, wie sie<br />
1923 auf einer Erweiterten Exekutivkonferenz<br />
der Kommunistischen Internationale<br />
(EKKI) entfaltet wurden, offenbaren<br />
ausnahmslos eine enttäuschte Revolutionshoffnung<br />
und auch eine gewisse Ratlosigkeit:<br />
Wie konnte es sein, dass sich<br />
bedeutende Teile der kleinbürgerlichen<br />
Bevölkerung, besonders der Jugend,<br />
den Faschisten zuwendeten, wo doch<br />
die Marxist/innen – in ihrer Selbstwahrnehmung<br />
– eine so strahlende, überzeugende<br />
und vernünftige gesellschaftliche<br />
und politische Alternative angeboten<br />
und dazu noch die historischen Gesetzmäßigkeiten<br />
auf ihrer Seite hatten? Der<br />
Erfolg des Faschismus musste den meisten<br />
Marxist/innen <strong>als</strong> Anomalie der<br />
Geschichte erscheinen.<br />
Es machte ihnen allerdings keinerlei<br />
Schwierigkeiten, seine Nutznießer und<br />
Urheber zu bestimmen. Ab spätestens<br />
1920 hatte sich die faschistische Bewegung,<br />
deren Wurzeln eigentlich im<br />
syndikalistischen und auch im sozialistischen<br />
Milieu lagen, mit den radikalen<br />
60<br />
Nationalisten und Imperialisten verschmolzen,<br />
ihren ursprünglichen Republikanismus<br />
und Antiklerikalismus zurückgestellt<br />
und sich zum bereitwilligen<br />
terroristischen Werkzeug der Großbürger<br />
und Großagrarier gegen die drohende<br />
soziale Revolution gemacht. Der<br />
Faschismus <strong>als</strong> Söldner- und Hilfstruppe<br />
der alten herrschenden Klassen gegen<br />
die vor der Tür stehende Arbeiterrevolution<br />
– dieses Erklärungsmuster sollte<br />
paradigmatisch für die marxistische Faschismustheorie<br />
werden.<br />
Doch wenn dies stimmte – handelte<br />
dann der kleinbürgerliche und teilweise<br />
sogar »unterbürgerliche«, oft jugendliche<br />
Massenanhang der Faschisten nicht<br />
gegen seine objektiven, seine eigentlichen<br />
Interessen? Und wie war diese irrationale<br />
Entscheidung materialistisch<br />
zu erklären? Der – vermeintliche – Widerspruch<br />
zwischen sozialer Funktion<br />
und sozialer Basis des Faschismus, oder<br />
anders ausgedrückt zwischen seiner<br />
großbürgerlichen und großagrarischen<br />
Klassen- und seiner klein- und unterbürgerlichen<br />
Massenbasis war von Beginn<br />
an das zentrale Problem der marxistischen<br />
Faschismustheorien.<br />
Im Unterschied zu den späteren Dogmen<br />
der stalinisierten Kommunistischen<br />
Internationale vom Faschismus<br />
<strong>als</strong> »Diktatur der reaktionärsten<br />
usw. Elemente des Finanzkapit<strong>als</strong>« und<br />
vom »Sozialfaschismus« bemühten sich<br />
die marxistischen Faschismustheoreme<br />
der frühen zwanziger Jahre immerhin<br />
noch ernsthaft um ein Verständnis der<br />
Motive der faschisierten Massen. Clara<br />
Zetkin nahm die faschistischen Versprechen<br />
von sozialer Gerechtigkeit und nationaler<br />
Klasseneinheit durchaus ernst,<br />
würdigte den subjektiv ehrlichen Glauben<br />
vieler Faschisten an ihre Ideale und<br />
fragte nach den seelischen Bedürfnissen<br />
breitester Massen, an die der Faschismus<br />
geschickt anknüpfte. Karl<br />
Radek begriff den Faschismus <strong>als</strong> nationalistische,<br />
nach Klassenharmonie<br />
strebende Kleinbürgerbewegung, deren<br />
Erfolge der welthistorischen Niederlage<br />
und dem Versagen der Arbeiterbewegung<br />
geschuldet sei. 2 Einige Jahre<br />
nach Zetkin und Radek betonte der<br />
italienische Sozialist Filippo Turati die<br />
Bedeutung der Weltkriegskatastrophe<br />
und schwerer strategischer Fehler der<br />
<strong>Linke</strong>n für die Entstehung des Faschismus.<br />
Auch Palmiro Togliatti und Antonio<br />
Gramsci gehörten zu den wenigen<br />
namhaften Marxist/innen, welche die<br />
Motive und die Ideologie der Faschisten<br />
ernst nahmen und sie nicht einfach <strong>als</strong><br />
Lug und Trug denunzierten. 3<br />
Ernst Bloch, etwas später schreibend<br />
<strong>als</strong> die Vorgenannten, wurde gleichfalls<br />
davon angetrieben, die Beweggründe<br />
der Faschisten verstehen zu wollen:<br />
<strong>Die</strong> gleichzeitige Existenz und dabei<br />
Ungleichzeitigkeit moderner und vormoderner<br />
Produktionsweisen und Bewusstseinsformen<br />
sei der Kraftquell<br />
des Faschismus und dieser eine Revolte<br />
gegen die kalte und gefühllose Welt der<br />
kapitalistischen Moderne. Bloch war einer<br />
der wenigen, dem zu diesem frühen<br />
Zeitpunkt die besondere Anziehungskraft<br />
des Faschismus auf die männliche<br />
Jugend des Bürgertums auffiel. Der unkonventionelle<br />
Marxist Bloch kann somit<br />
<strong>als</strong> erster Theoretiker gelten, der die<br />
Geschlechterdimension der Faschismen<br />
ansprach. Wie viele derjenigen Gegner/<br />
innen des Faschismus, welche die Gedankenwelt<br />
der Faschisten ernst nahmen<br />
und nicht <strong>als</strong> irrelevant abtaten, plädierte<br />
auch Bloch leidenschaftlich dafür,<br />
den Faschisten ihre Symbole, Phrasen<br />
und Ideale zu entwinden, um die faschisierten<br />
Massen zu den Kommunist/innen<br />
herüber zu ziehen. Und wie viele<br />
seinesgleichen tadelte er die oft arrogante,<br />
phantasielose und ineffektive<br />
Agitation der Kommunist/innen – um<br />
im gleichen Atemzug den Stalinismus<br />
zu seiner ideologischen Wiedereingliederung<br />
von Familie, Nation und Volksgemeinschaft<br />
in die kommunistische<br />
Ideologie zu beglückwünschen! Bloch<br />
empfahl, den esoterischen, heilslehrenhaften<br />
Aspekt des Kommunismus gegen<br />
den faschistischen Mythos zu stellen.<br />
Auch Leo Trotzki, dessen Faschismusinterpretation<br />
ansonsten dem Spektrum<br />
der Bonapartismustheorien zugehört,<br />
erklärte wie Bloch die faschistische<br />
Massenanziehungskraft mit einem Atavismus<br />
– der Faschismus <strong>als</strong> Rückfall in<br />
urzeitliche Barbarei:<br />
»Der Faschismus hat die Niederungen
der Gesellschaft zur Politik erhoben.<br />
Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern<br />
auch in den städtischen Wolkenkratzern<br />
leben noch heute neben dem<br />
zwanzigsten Jahrhundert das zehnte<br />
und das dreizehnte. Hunderte von Millionen<br />
Menschen gebrauchen den elektrischen<br />
Strom und hören doch nicht<br />
auf, an die magische Gewalt der Gesten<br />
und Beschwörungen zu glauben.<br />
Der römische Papst verbreitet das Mirakel<br />
der Verwandlung von Brot und Wein<br />
durch das Radio. <strong>Die</strong> Filmstars gehen zu<br />
den Astrologen. <strong>Die</strong> Flugkapitäne, welche<br />
wunderbare, vom Menschengeist<br />
geschaffene Apparate steuern, tragen<br />
Amulette auf ihren Pullovern! Welch unerschöpfliche<br />
Reserven von Dunkelheit,<br />
Unwissenheit und Barbarei!« 4 Blochs<br />
und Trotzkis Faschismuserklärung beinhaltet<br />
sicherlich das Wahre, dass die<br />
ideologische Arbeit der Faschisten auf<br />
jeder irrationalen und reaktionären Tradition<br />
aufbauen beziehungsweise bei<br />
ihr Anleihen machen konnte und ihnen<br />
jedes Ressentiment gegen die moderne<br />
Welt zugute kam. Doch scheint das<br />
Erklärungsmodell des Atavismus viel zu<br />
wenig komplex und unspezifisch, um die<br />
Faschismen von anderen irrationalen<br />
und obskuren Erscheinungen abzugrenzen.<br />
<strong>Die</strong> Spezifik der faschistischen Antwort<br />
auf die Krisen des modernen Kapitalismus<br />
lässt sich damit jedenfalls<br />
nicht einfangen.<br />
Marxisten an den Ursprüngen<br />
der Modernisierungstheorien<br />
des Faschismus und der<br />
Totalitarismustheorien<br />
Vielleicht war es nur natürlich, dass die<br />
Marxist/innen <strong>als</strong> erste Hauptgegner<br />
und Hauptopfer des Faschismus besonders<br />
produktiv bei der Bildung von Theorien<br />
über ihn waren. Vor allem sie gaben<br />
seit 1922 allen möglichen rechten Bewegungen<br />
und Regimen den Namen des<br />
Faschismus, den viele für sich selbst<br />
nicht verwendeten. <strong>Die</strong> Marxist/innen<br />
trugen so einerseits maßgeblich dazu<br />
bei, den Faschismusbegriff <strong>als</strong> allgemeine<br />
Kategorie zu etablieren, welche die<br />
Wesensähnlichkeit zahlreicher extrem<br />
rechter Bewegungen und Regime der<br />
Zwischenkriegszeit und ihren ursächlichen<br />
Zusammenhang mit dem Kapitalismus<br />
nennbar machte. Andererseits<br />
begründeten sie durch inflationären Gebrauch<br />
die unselige linke Tradition der<br />
Entgrenzung des Faschismusbegriffs,<br />
die ihn in dem Maße untauglich machte,<br />
wie sie ihn polemisch gegen alle im weiteren<br />
Sinne rechten und autoritären<br />
Phänomene in Anschlag brachte.<br />
Marxist/innen standen am Anfang der<br />
meisten wichtigen Faschismustheorien,<br />
sei es, dass sie diese tatsächlich<br />
begründeten oder substanziell beeinflussten<br />
und anregten. Ein Großteil<br />
der nicht-marxistischen Faschismustheorien<br />
verdankte seine Entstehung<br />
dem bürgerlichen Bedürfnis, der marxistischen<br />
Deutung eine triftigere Interpretation<br />
entgegenzusetzen. <strong>Die</strong>se<br />
Dynamik wurde selten treffender beschrieben<br />
<strong>als</strong> vom US-amerikanischen<br />
Historiker Henry Ashby Turner, der seinerseits<br />
angetreten war, um die marxistischen<br />
Gewissheiten über das Verhältnis<br />
von Faschismus und Großkapital ins<br />
Wanken zu bringen: »Entspricht die weit<br />
verbreitete Ansicht, daß der Faschismus<br />
ein Produkt des modernen Kapitalismus<br />
ist, den Tatsachen, dann ist dieses System<br />
kaum zu verteidigen. Ist diese Meinung<br />
jedoch f<strong>als</strong>ch, dann ist es auch die<br />
Voraussetzung, auf der die Einstellung<br />
vieler Menschen […] zur kapitalistischen<br />
Wirtschaftsordnung beruht.« 5<br />
Ein dissidenter deutscher Kommunist,<br />
Franz Borkenau, gehörte zu den Begründern<br />
der Modernisierungstheorien des<br />
Faschismus. Sein zentrales Theorem: In<br />
schwach entwickelten kapitalistischen<br />
Ländern wie Italien sind starke Arbeiterbewegungen<br />
ein Hemmnis der Industrialisierung.<br />
Der Faschismus stellt eine<br />
Entwicklungsdiktatur dar mit der historischen<br />
Aufgabe, dieses Hindernis zu<br />
zerstören. Zu Borkenaus Unglück wurden<br />
diese 1933 veröffentlichten Annahmen<br />
durch die historischen Tatsachen<br />
sofort grundsätzlich in Frage gestellt:<br />
Der Faschismus kam auch sowohl in<br />
hoch entwickelten Industrieländern wie<br />
Deutschland <strong>als</strong> auch in Ländern ohne<br />
Industrie und Arbeiterbewegung wie<br />
Rumänien hoch. <strong>Die</strong>s hinderte aber Gelehrte<br />
wie D. E. Apter, C. A. Black und<br />
A. F. K. Organski nicht daran, weiterhin<br />
Modernisierungstheorien des Faschismus<br />
aufzustellen. 6<br />
Zweifellos zielten die faschistischen<br />
Ideologien und Regime auf eine pervertierte<br />
Form von Modernisierung ab. <strong>Die</strong><br />
im engeren Sinne modernisierenden<br />
Elemente der Faschismen finden jedoch<br />
ihre Entsprechung in zahlreichen nichtfaschistischen<br />
Entwicklungswegen, die<br />
von industrialisierten oder sich industrialisierenden<br />
Gesellschaften seit dem<br />
Anfang des 20. Jahrhunderts beschritten<br />
wurden. <strong>Die</strong> umfassende staatliche<br />
Durchdringung und Beeinflussung der<br />
Gesellschaft, insbesondere der Wirtschaft,<br />
die aktive gesellschaftsplanerische<br />
und wissenschaftlich angeleitete<br />
Tätigkeit des Staates, sein autoritäres<br />
Krisenmanagement – all das gehörte zu<br />
den allgemeinen Merkmalen der kapita-<br />
listischen Entwicklung. <strong>Die</strong>se Entwicklungstendenz<br />
konnte sich auch unter faschistischen<br />
Vorzeichen verwirklichen,<br />
sie ist aber nicht identisch mit der Spezifik<br />
der Faschismen. 7<br />
Vielfach ist vergessen worden, dass<br />
auch am Anfang der Totalitarismustheorien<br />
sozialdemokratische Marxisten<br />
wie Karl Kautsky standen, die Faschismus<br />
und Leninismus bzw. Stalinismus<br />
<strong>als</strong> Erscheinungsformen eines Gleichen<br />
auffassten. Wie viele nicht-stalinistische<br />
Marxisten der zwanziger und<br />
dreißiger Jahre versuchten diese Sozialdemokraten,<br />
den Faschismus mit Hilfe<br />
von Marx‘ Schrift »Der 18. Brumaire<br />
des Louis Bonaparte« zu analysieren,<br />
gehörten <strong>als</strong>o zu den frühen Repräsentanten<br />
der »Bonapartismustheorien«<br />
des Faschismus. Analog zum Regime<br />
Napoleons III. in Frankreich von 1852<br />
bis 1870 sollten sich faschistischer und<br />
bolschewistischer Staat gegenüber ihrer<br />
sozialen Basis »verselbständigt« haben.<br />
<strong>Die</strong>s erkläre den überdurchschnittlich<br />
tyrannischen und terroristischen Charakter<br />
dieser Regime. 8 <strong>Die</strong> Gleichsetzung<br />
von Leninismus bzw. Stalinismus<br />
und Faschismus durch einige Sozialdemokraten<br />
verhielt sich analog zu der<br />
stalinistischen Gleichsetzung von Sozialdemokratie<br />
und Faschismus, wie sie<br />
die Rede vom »Sozialfaschismus« ausdrückte.<br />
Klassische Ausformung und<br />
Stagnation: <strong>Die</strong> Agenten- und<br />
Bonapartismustheorien<br />
<strong>Die</strong> meisten Vertreter/innen der Bonapartismustheorien<br />
hielten sich von<br />
solchen Gleichsetzungen frei. Fast alle<br />
Marxist/innen der zwanziger, dreißiger<br />
und vierziger Jahre, die sich der Stalinisierung<br />
entzogen, vertraten Spielarten<br />
der Bonapartismustheorie, so Julius<br />
Braunthal, Oda Olberg, Wilhelm Ellenbogen,<br />
Paul Kampffmeyer, Otto Bauer,<br />
Arkadij Gurland, Franz Borkenau, Georg<br />
Decker, Alexander Schifrin, Rudolf Hilferding,<br />
Angelo Tasca, Pietro Nenni, August<br />
Thalheimer, Wolfgang Abendroth,<br />
Leo Trotzki und Antonio Gramsci. 9<br />
<strong>Die</strong> »Bonapartismustheoetiker/innen«<br />
beriefen sich auf verschiedene Ähnlichkeiten:<br />
Faschismus wie Bonapartismus<br />
befriedeten oppositionelle Teile der Gesellschaft<br />
durch eine Doppelstrategie<br />
aus Repression und Integration und genossen<br />
wegen ihrer Sozialreformen und<br />
zeitweiligen außenpolitischen Erfolge<br />
plebiszitäre Unterstützung. 10<br />
<strong>Die</strong>se auf dem Vergleich von Herrschaftstechniken<br />
beruhende Parallelisierung<br />
blendet aus, dass keines<br />
der <strong>als</strong> Bonapartismus bezeichneten<br />
61
Regime (neben Napoleon III. figurieren<br />
mitunter auch Camillo Cavour, Otto<br />
von Bismarck, Fürst Schwarzenberg<br />
in Österreich-Ungarn und der britische<br />
Premierminister Benjamin Disraeli <strong>als</strong><br />
Herrscher bonapartistischen Typs) wesentliche<br />
Elemente der Faschismen<br />
wie Massenmobilisierung, Massenpartei<br />
und Parteimiliz hervorbrachte. 11 <strong>Die</strong><br />
ideologischen Ähnlichkeiten zwischen<br />
Bonapartismus und Faschismus – Führerideologie,<br />
Etatismus, Militarismus,<br />
Expansionismus, Sozialreformismus,<br />
plebiszitäre Elemente 12 – erlauben weder<br />
einzeln noch in Kombination eine<br />
hinreichende Abgrenzung der Faschismen<br />
von nicht-faschistischen autoritären<br />
und diktatorischen Regimen.<br />
Für den an Stalin orientierten Teil der sozialistisch-kommunistischenWeltbewegung<br />
wurde eine später häufig mit dem<br />
Begriff: »Agententheorie« gekennzeichnete<br />
Auffassung des Faschismus kanonisch,<br />
deren Kern die Komintern-Definition<br />
von 1934 ausdrückt: Faschismus<br />
sei »die offene, terroristische Diktatur<br />
der reaktionärsten, chauvinistischsten,<br />
am meisten imperialistischen Elemente<br />
des Finanzkapit<strong>als</strong>«.<br />
Beide Hauptströmungen der marxistischen<br />
Faschismustheorie gehen<br />
fehl – sowohl die Agententheorie, nach<br />
der faschistische Bewegungen einfach<br />
Instrumente der Klassenherrschaft sind,<br />
<strong>als</strong> auch die »Bonapartismustheorien«,<br />
nach denen der Faschismus Kleinbürger-<br />
und Deklassiertenbewegung ist, der<br />
im Moment relativer Kräftebalance zwischen<br />
Bourgeoisie und Proletariat von<br />
Ersterer die staatliche Herrschaft übertragen<br />
wird, woraufhin es zu einer »Verselbständigung«<br />
des Staates kommt. Es<br />
ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass<br />
der Unterschied zwischen Agenten- und<br />
Bonapartismustheorien bloß graduell<br />
ist: In beiden handelt der Faschismus<br />
im Auftrag und im Interesse der herrschenden<br />
Kapitalistenklasse, nur dass<br />
die »Bonapartismustheoretiker/innen«<br />
mittels des Verselbständigungstheorems<br />
zu erklären versuchen, wieso die<br />
faschistische Herrschaft sich in manchen<br />
Fällen auch gegen die objektiven<br />
Interessen der Großbourgeoisie wenden<br />
kann. 13<br />
Dass die marxistischen Faschismustheorien<br />
den ihrer Meinung nach bürgerlichen<br />
Klassencharakter des Faschismus<br />
derart stark betonten, war<br />
keineswegs nur dem marxistischen Interesse<br />
an der Delegitimation der kapitalistischen<br />
Gesellschaftsordnung geschuldet.<br />
Vielmehr spiegelte sich darin<br />
eine historische Erfahrung: Wo die Faschisten<br />
tatsächlich die Staatsmacht<br />
62<br />
besetzen konnten wie in Italien und<br />
Deutschland, gelang ihnen dies nur im<br />
Bündnis mit traditionellen Führungsgruppen<br />
– wichtigen Teilen des Großkapit<strong>als</strong>,<br />
der hohen Bürokratie, der Militärführung,<br />
des Adel und des hohen<br />
Klerus – oder zumindest mit deren Duldung.<br />
Historisch-empirische Zweifel an<br />
Grundaussagen der marxistischen<br />
Faschismustheorien<br />
Vor aller Kritik an den theoretischen<br />
Grundlagen der marxistischen Faschismustheorien<br />
kann schon jetzt festgestellt<br />
werden, dass sich die marxistische<br />
Deutung des Faschismus aus heutiger<br />
Sicht nur schwer mit den historischen<br />
Fakten in Übereinstimmung bringen<br />
lässt. In den weitaus meisten Ländern<br />
Europas setzten die traditionellen Führungsgruppen<br />
nicht auf die Faschisten,<br />
sondern sahen in ihnen die längste Zeit<br />
gefährliche Rivalen, die sie hart unterdrückten<br />
– so in Ungarn unter Admiral<br />
Horthy und in Rumänien unter Antonescu.<br />
In anderen Ländern verbündeten<br />
sich die politischen Vertreter der traditionellen<br />
Führungsgruppen zwar mit den<br />
Faschisten, bemühten sich aber um ihre<br />
Assimilation und Neutralisierung, um sie<br />
schließlich ganz an den Rand zu drücken<br />
und zu entmachten, wie es unter Franco<br />
in Spanien und unter Salazar in Portugal<br />
geschah. <strong>Die</strong>se unterschiedlichen<br />
Konstellationen mussten den Marxist/<br />
innen entgehen und tun dies manchmal<br />
bis heute, weil ihnen jedes konservative,<br />
autoritäre oder diktatorische Regime<br />
größtenteils ohne Weiteres <strong>als</strong> »faschistisch«<br />
galt, so dass sie die gravierende<br />
ideologische und praktische Differenz<br />
zwischen Faschisten und Konservativen<br />
nicht wahrnehmen konnten.<br />
Auch in Deutschland und Italien unterstützten<br />
maßgebliche Teile der sozialen<br />
Führungsgruppen, allen voran das vorwiegend<br />
an Staatsaufträgen und am<br />
Binnenmarkt interessierte Großkapital<br />
der Schwer- und Rüstungsindustrie, die<br />
Faschisten erst dann, <strong>als</strong> ihre eigentlichen<br />
Favoriten, die traditionellen rechten<br />
Parteien, abgewirtschaftet hatten<br />
und man die Faschisten wegen deren<br />
Massenbasis nicht mehr länger ignorieren<br />
konnte.<br />
Agenten- und Bonapartismustheorien<br />
passen außerdem wenig auf diejenigen<br />
faschistischen Bewegungen, die wie die<br />
rumänischen »Legionäre« oder die kroatischen<br />
»Ustascha« in Ländern empor<br />
kamen, denen eine entwickelte Industrie<br />
und folglich sowohl eine starke<br />
Bourgeoisie <strong>als</strong> auch eine Arbeiterbewegung<br />
weitgehend fehlten. Es bleibt<br />
aber ein Verdienst der marxistischen<br />
Faschismustheorien und der von ihnen<br />
inspirierten Forschung, reiches empirisches<br />
Material über die vielfach unleugbare<br />
Komplizenschaft zwischen traditionellen<br />
Führungsgruppen, vor allem<br />
Großkapitalisten, und den verschiedenen<br />
faschistischen Bewegungen zusammen<br />
getragen zu haben.<br />
Neben ihren grundsätzlichen Annahmen<br />
über das Verhältnis zwischen Kapitalistenklasse<br />
und Faschisten teilten<br />
Agenten- und Bonapartismustheorien<br />
auch folgende Grundauffassung: <strong>Die</strong><br />
faschistischen Bewegungen entstehen<br />
und werden von den herrschenden<br />
Klassen zur Machtsicherung herangezogen,<br />
weil die Arbeiterbewegung eine solche<br />
Stärke gewonnen hat, dass Macht<br />
und Privilegien der Herrschenden nicht<br />
mehr anders erhalten werden können.<br />
Während allerdings für die Agententheorien<br />
der frühen dreißiger Jahre kennzeichnend<br />
war, den Faschismus geradezu<br />
für das letzte verzweifelte Bollwerk<br />
gegen die nah bevorstehende Revolution<br />
zu halten – erinnert sei an die grandiose<br />
Fehleinschätzung der KPD, wonach<br />
die Herrschaft des Nazifaschismus den<br />
revolutionären Prozess in Deutschland<br />
nur beschleunigen könne – charakterisierten<br />
die Bonapartismustheorien ihn<br />
<strong>als</strong> Notlösung, welche die Bourgeoisie<br />
in der Situation eines Kräftegleichgewichts<br />
zwischen den Hauptklassen<br />
wählt.<br />
<strong>Die</strong>se zentralen marxistischen Annahmen<br />
über die historische Ausgangssituation<br />
der faschistischen Herrschaft<br />
sind mehr <strong>als</strong> zweifelhaft. Wo der Faschismus<br />
die Macht erlangte, bestand<br />
weder ein Kräftegleichgewicht der Klassen<br />
noch eine revolutionäre oder vorrevolutionäre<br />
Situation, sondern Arbeiterbewegung<br />
und <strong>Linke</strong> hatten<br />
entscheidende Niederlagen erlitten. 14<br />
Alle europäischen Faschismen der Zwischenkriegszeit<br />
gediehen nur, wenn ihre<br />
Gegenspieler, <strong>als</strong>o demokratische und<br />
liberale sowie vor allem sozialdemokratische,<br />
sozialistische, kommunistische<br />
und anarchistische Kräfte, durch vorangegangene<br />
Niederlagen geschwächt<br />
und desorientiert, durch tief greifende<br />
Fragmentierungsprozesse und verfehlte<br />
politische Einschätzungen zu angemessenem<br />
Handeln unfähig oder in der jeweiligen<br />
Gesellschaft ohnehin schwach<br />
vorhanden waren.<br />
Bis heute haben nur wenige Marxist/<br />
innen den vollen Umfang der welthistorischen<br />
Niederlage der <strong>Linke</strong>n begriffen,<br />
die das historische Fenster für die<br />
Faschismen öffnete. Es war dies die Situation<br />
des Weltkriegsausbruchs 1914:
Anstatt den praktischen Beweis für die<br />
Wahrheit ihres Internationalismus zu erbringen,<br />
fügten sich die im Zenit ihrer<br />
Organisationsmacht stehenden europäischen<br />
Arbeiterparteien mehrheitlich in<br />
klassen- und lagerübergreifende Kriegskoalitionen<br />
ein. Der Sommer 1914 war<br />
das Menetekel der marxistischen Arbeiterbewegung,<br />
der Beweis der praktischen<br />
Unmöglichkeit der Weltrevolution<br />
auf Generationen hin. Interessanter<br />
weise lernten schon Marx und Engels<br />
den europäischen Krieg, den sie lange<br />
<strong>als</strong> Katalysator der Revolution herbei<br />
gesehnt hatten, am Ende ihres Lebens<br />
fürchten: Der Übergang zum Sozialismus<br />
könne in Europa nur durch einen<br />
allgemeinen Krieg verhindert werden,<br />
der den Chauvinismus obsiegen ließe.<br />
Vor allem der später <strong>als</strong> Marx verstorbene<br />
Engels sah seine revolutionären<br />
Hoffnungen durch den Nationalismus<br />
gefährdet. 15<br />
Materialistische<br />
Faschismustheorien nach 1945<br />
In den ersten zwei Jahrzehnten nach<br />
dem Untergang der faschistischen Regime<br />
in Europa stagnierte die marxistische<br />
Theoriebildung weitgehend. <strong>Die</strong><br />
Dogmen des Marxismus-Leninismus ließen<br />
Innovation sowieso kaum zu, aber<br />
auch von den »Bonapartismustheoretiker/innen«<br />
kamen keine substanziellen<br />
Weiterentwicklungen. Das Bekanntwerden<br />
der ungeheuerlichen Verbrechen<br />
der Faschisten im Zweiten Weltkrieg,<br />
vor allem der deutschen, veranlasste<br />
die meisten Marxist/innen keineswegs,<br />
die Faschismen schärfer von autoritärkonservativen<br />
Phänomenen abzugrenzen,<br />
sondern steigerte im Gegenteil die<br />
Verlockung, alle möglichen politischen<br />
Gegner <strong>als</strong> »faschistisch« zu brandmarken.<br />
Der ohnehin schon ausgefranste<br />
Begriff des Faschismus wurde noch weiter<br />
entgrenzt.<br />
Unterdessen vollzogen sich abseits des<br />
Traditionsmarxismus und in scharfem<br />
Gegensatz zu ihm spannende theoretische<br />
Entwicklungen, die marxistischen<br />
Vorarbeiten unendlich viel verdankten<br />
und bis heute nicht in vollem Umfang für<br />
marxistische Faschismustheorie nutzbar<br />
gemacht wurden. Da wäre zunächst<br />
die Kritische Theorie zu beachten. Schockiert<br />
von der klassenübergreifenden<br />
Mobilisierungskraft vor allem des Nazifaschismus<br />
suchten ihre Repräsentanten<br />
nach sozialpsychologischen Erklärungen.<br />
Viele Marxist/innen kritisierten<br />
seither, dass sozialpsychologische Erklärungsansätze<br />
die Frage nach der<br />
Schuld an der Errichtung faschistischer<br />
Herrschaft von den sozialen Führungs-<br />
gruppen auf den Massenanhang faschistischer<br />
Bewegungen verlagern würden.<br />
Beim kapitalistischen System verbleibe<br />
nur die vage Restschuld, verantwortlich<br />
für die massenhafte Ausprägung<br />
Faschismusanfälliger Persönlichkeitsstrukturen<br />
zu sein. Doch tragen sozialpsychologische<br />
Erklärungsversuche, ob<br />
nun von der Kritischen Theorie oder anderen<br />
Richtungen formuliert, zweifellos<br />
mehr zur Erklärung der faschistischen<br />
Massenbasis bei <strong>als</strong> das meiste, was die<br />
Traditionsmarxist/innen zu diesem Thema<br />
zu sagen hatten.<br />
Um so interessanter ist es, dass die Kritische<br />
Theorie dort, wo sie den Faschismus<br />
nicht psychologisch, sondern sozialökonomisch<br />
erklärte, teilweise recht<br />
nahe bei den marxistischen Agententheorien<br />
angesiedelt war. Wie bei diesen<br />
herrschte in der Kritischen Theorie<br />
mitunter krasser Ökonomismus: Der Faschismus<br />
wurde <strong>als</strong> eine mögliche Herrschaftsform<br />
von mehreren in der schon<br />
an sich totalitären Industriegesellschaft,<br />
die faschistische Ideologie <strong>als</strong> inhaltlich<br />
beliebig und rein manipulatorisch begriffen,<br />
so etwa von Adorno: »Man kann<br />
wahrscheinlich zu den tiefsten Einsichten<br />
in die Struktur des Faszismus<br />
gelangen durchs Studium der Reklame,<br />
die in ihm erstm<strong>als</strong> ins politische Zentrum<br />
– oder besser in den politischen<br />
Vordergrund – tritt und deren ökonomische<br />
Voraussetzungen wahrscheinlich<br />
wieder mit denen des Faszismus<br />
korrespondieren.« 16<br />
<strong>Die</strong> politische Spitze dieser Interpretation<br />
richtete sich zwar auch gegen die<br />
bürgerliche Demokratie in der Industriegesellschaft,<br />
aber natürlich ebenso<br />
und noch stärker gegen den Staatssozialismus<br />
sowjetischer Prägung. Hierdurch<br />
geriet die Kritische Theorie in<br />
unübersehbare Nähe zu den Totalitarismustheorien,<br />
was die meisten Marxist/<br />
innen nachhaltig daran hinderte, die in<br />
ihr möglicherweise enthaltenen Anregungen<br />
aufzunehmen.<br />
Hannah Arendt <strong>als</strong> die kraetivste und differenzierteste<br />
Vertreterin der Totalitarismustheorien<br />
lehnte den marxistischen<br />
Faschismusbegriff zwar entschieden<br />
ab, ihre materialistische Ableitung des<br />
Nazifaschismus aus Krise und Zersetzung<br />
der bürgerlichen Gesellschaft, aus<br />
Imperialismus, Rassismus und Antisemitismus<br />
aber kann für materialistische<br />
Faschismustheorie anregender und<br />
fruchtbarer sein <strong>als</strong> die Schablonen der<br />
Agenten- und Bonapartismustheorien.<br />
Dabei fällt besonders bei ihren Überlegungen<br />
zum Imperialismus die eklatante<br />
Nähe zu marxistischen Theorien ins Auge.<br />
Arendts rigider Antikommunismus,<br />
ihre hanebüchene Gleichsetzung von<br />
Bolschewismus und Nation<strong>als</strong>ozialismus,<br />
ihre mangelnde Differenzierung<br />
zwischen Marxismus, Leninismus und<br />
Stalinismus sowie die sich durch ihr<br />
ganzes Werk ziehende Apologie der bürgerlichen<br />
Gesellschaft jedoch hinderten<br />
die meisten Marxist/innen daran, ihre<br />
Arbeiten vorurteilsfrei für sich zu nutzen.<br />
Theoretischer Wiederaufschwung<br />
ab den 1960er Jahren<br />
Der Aufschwung fundamentaler Gesellschaftskritik<br />
und oppositioneller sozialer<br />
Bewegungen in den sechziger Jahren<br />
brachte zunächst einen weiteren<br />
Schub in der verderblichen Entgrenzung<br />
des Faschismusbegriffs. In der <strong>Linke</strong>n<br />
verbreitete sich ein Theorem namens<br />
»Neuer Faschismus«, nach dem der Faschismus<br />
sich heute nicht mehr <strong>als</strong> politische<br />
Bewegung zu formieren brauche,<br />
sondern gleich in Struktur und Praxis<br />
der staatlichen Institutionen in wachsendem<br />
Maße zum Ausdruck komme<br />
(»Faschisierung«), wo er ohnehin schon<br />
immer angelegt sei. <strong>Die</strong>ses Theorem<br />
ermöglichte es, jede staatliche Repression<br />
und jede Einschränkung demokratischer<br />
Rechte <strong>als</strong> faschistisch<br />
anzuprangern. Nicht zuletzt verschaffte<br />
es bewaffneten Gruppen wie der »Rote<br />
Armee Fraktion« (RAF) eine vermeintlich<br />
antifaschistische Legitimation.<br />
Neben solchen Instrumentalisierungen<br />
des Faschismusbegriffs im politischen<br />
Handgemenge entspann sich aber auch<br />
eine lange, erkenntnisreiche theoretische<br />
Diskussion, die während der siebziger<br />
Jahre unter anderem in der westdeutschen<br />
marxistischen Zeitschrift<br />
»Das Argument« ausgetragen wurde.<br />
Eine Weiterentwicklung der Agententheorien<br />
stellte die realistischere Monopolgruppentheorie<br />
dar, die vor allem<br />
über das Verhältnis zwischen traditionellen<br />
Führungsgruppen und Faschisten<br />
in Deutschland wichtiges Wissen vermittelte.<br />
<strong>Die</strong> Monopolgruppentheorie versuchte,<br />
den Widerspruch zwischen der<br />
realen, relativen Eigenständigkeit der<br />
faschistischen Ideologien, Bewegungen<br />
und Regime und dem marxistisch-leninistischen<br />
Dogma vom Faschismus <strong>als</strong><br />
Herrschaft des Monopolkapit<strong>als</strong> durch<br />
die Ausdifferenzierung des Monopolkapit<strong>als</strong><br />
zu lösen. <strong>Die</strong> Autonomie des Faschismus<br />
sollte aus den Widersprüchen<br />
der unterschiedlichen auf den Staat einwirkenden<br />
Kapitalfraktionen zu erklären<br />
sein. Trotz ihrer Teileinsichten war die<br />
Monopolgruppentheorie zu abenteuerlichen,<br />
ja mystifizierenden Konstruktionen<br />
und zum Lavieren gegenüber der<br />
63
eigentlich offenkundigen Tatsache gezwungen,<br />
dass große Teile der faschistischen<br />
Herrschaftspraxis eben nicht<br />
ökonomisch, sondern vielmehr vorrangig<br />
ideologisch determiniert waren.<br />
Als Hauptproblem der marxistischen<br />
Faschismustheorien stellte sich nach<br />
wie vor die Erklärung der faschistischen<br />
Massenbasis. 17 Eine Lösung sollte die<br />
prominent durch Reinhard Kühnl vertretene<br />
Theorie vom Bündnis zwischen<br />
Faschismus und Monopolkapital bieten.<br />
Aber auch Kühnl ging wie so viele<br />
Marxist/innen nicht mit der gebotenen<br />
Ausführlichkeit auf die Eigenständigkeit<br />
und die spezifischen Inhalte der faschistischen<br />
Ideologien ein. Immerhin<br />
erwähnte er zu Recht die Rolle des fetischisierten<br />
Bewusstseins bei der Herausbildung<br />
faschistischer Ideologie. Er<br />
blieb damit jedoch viel zu unspezifisch,<br />
denn dieses Bewusstsein liegt allen auf<br />
kapitalistischem Boden entstandenen<br />
Ideologien zugrunde. 18<br />
Der andere große westdeutsche Faschismustheoretiker<br />
der sechziger und<br />
siebziger Jahre, Reinhard Opitz, der an<br />
der orthodoxen Theorie vom Faschismus<br />
<strong>als</strong> Herrschaft des Monopolkapit<strong>als</strong><br />
festhielt, gelangte bei der Untersuchung<br />
des Verhältnisses zwischen faschistischer<br />
Klassen- und Massenbasis auf<br />
die richtige Fährte des Ideologischen.<br />
Der Faschismus sei: »der im Protest gegen<br />
die vom Monopolkapital geschaffenen<br />
Verhältnisse von unten her in Gestalt<br />
rechter Bewegungen aufsteigende<br />
Autoritarismus«. »Nichtmonopolistische<br />
Schichten«, die in imperialistischer Ideologie<br />
befangen seien, würden durch<br />
die ständige Verletzung ihrer objektiven<br />
Interessen, vor allem wegen ihrer Verelendung,<br />
rebellisch gegen die offiziellen<br />
monopolistischen Parteien. <strong>Die</strong> Radikalisierung<br />
bestimmter Formen bürgerlicher<br />
Ideologie durch die genannten<br />
Schichten verlange nach hartem Durchgreifen<br />
gegen wirkliche und vermeintliche<br />
Feinde – Demokraten, <strong>Linke</strong>, äußere<br />
Gegner, Juden etc.:<br />
»Das Kennzeichen dieser Mentalität<br />
besteht, auf einen Satz gebracht, darin,<br />
dass sie aus dem imperialistischen<br />
Feindbild die Gewaltkonsequenz zieht<br />
und nach deren praktischer Einlösung<br />
verlangt.« Opitz verfolgte aber die richtige<br />
Spur des Ideologischen nicht mehr<br />
weiter. Sein Klassenreduktionismus ließ<br />
ihn nicht nur die Möglichkeit einer Interessenidentität<br />
zwischen Großkapital<br />
und anderen Klassen im Zeichen der Nation<br />
und damit die Zugkraft der faschistischen<br />
Versprechungen verkennen.<br />
Der Akzent, den Opitz auf die Rolle des<br />
Monopolkapit<strong>als</strong> legte, führte ihn auch<br />
64<br />
dazu, einfache Militärdiktaturen <strong>als</strong> faschistisch<br />
ansehen. Seine Faschismusdefinition,<br />
die kaum über die bekannte<br />
der Kommunistischen Internationale hinausging,<br />
gab alle gewonnenen Erkenntnisse<br />
wieder auf. 19<br />
Höhepunkt marxistischer Faschis -<br />
mustheoriebildung: <strong>Die</strong> »Projektgruppe<br />
Ideologie-Theorie« (PIT)<br />
Ende der siebziger, Anfang der achtziger<br />
Jahre wirkte in Westdeutschland<br />
das marxistische »Projekt Ideologie-<br />
Theorie« (PIT), deren bekanntestes Mitglied<br />
Wolfgang Fritz Haug, Professor für<br />
Philosophie an der Freien Universität in<br />
West-Berlin, war. Das PIT formulierte eine<br />
Kritik und gleichzeitig Selbstkritik,<br />
die meines Erachtens voll ins Schwarze<br />
traf:<br />
Der stark ausgeprägte Ökonomismus<br />
und Klassenreduktionismus der bisherigen<br />
Hauptströmungen der marxistischen<br />
Faschismustheorien helfe<br />
nicht, die Wirkungsmacht der faschistischen<br />
Ideologie zu verstehen. <strong>Die</strong><br />
Zurückführung der faschistischen Ideologie<br />
auf Klassenherrschaft und Klasseninteresse<br />
vermag zwar Absichten zu<br />
erhellen, aber keine Wirkungen. Von daher<br />
sei Ökonomismus auch hilflos bei<br />
der Entwicklung von antifaschistischen<br />
Strategien. Der Zusammenhang zwischen<br />
kapitalistischer Klassenstruktur<br />
und Faschismus könne nur über die Ideologie<br />
und nicht durch reine Ableitung<br />
aus der Ökonomie verständlich gemacht<br />
werden. 20<br />
Zweifellos gehören die Texte des PIT zu<br />
den fortgeschrittensten, bis heute anscheinend<br />
nicht eingeholten Arbeiten in<br />
der marxistischen Faschismustheorie –<br />
allerdings nicht hinsichtlich ihrer politisch-strategischen<br />
Schlussfolgerungen.<br />
Der sicher richtige Grundgedanke des<br />
PIT besteht darin, den Faschisten alle<br />
psychischen und emotionalen Energien,<br />
welche diese für sich einzuspannen<br />
trachten, zu entwinden, um sie dann<br />
demokratisch bzw. emanzipatorisch zu<br />
kanalisieren. Problematisch wird es bei<br />
den – nur angedeuteten – praktischen<br />
Empfehlungen, den Diskurs um Volk und<br />
Nation von links zu besetzen. 21 <strong>Die</strong>s würde<br />
entgegen den hierein gesetzten Hoffnungen<br />
des PIT wahrscheinlich weniger<br />
zu einer Demokratisierung des Nationalismus<br />
<strong>als</strong> zu einer Faschisierung der<br />
<strong>Linke</strong>n führen.<br />
Ungeachtet dessen bestechen die Arbeiten<br />
der PIT dadurch, dass sie das<br />
Ideologische wirklich ernst nehmen und<br />
auf simple Ableitungsversuche verzichten.<br />
Dabei gehen sie von einer maßgeblich<br />
durch den französischen Marxisten<br />
Louis Althusser inspirierten Ideologie-<br />
Theorie aus, die Ideologie vorrangig <strong>als</strong><br />
materielle Praxis auffasst. Mit folgenden<br />
Worten umriss Haug treffend das progressive<br />
Potenzial des PIT-Ansatzes:<br />
»Wir sind gut beraten, wenn wir aufmerksam<br />
untersuchen, was die Faschisten<br />
wirklich tun. […] Und wir werden von einer<br />
funktionalhistorischen Bestimmung<br />
des Ideologischen ausgehen. Sie sucht<br />
nicht primär Ideengebäude, auch weder<br />
Klassenbewusstsein noch sonstige Formen<br />
›wertbezognen‹ oder ›handlungsorientierten‹<br />
›Bewusstseins‹. Wir suchen<br />
Formen der auf innere Selbstunterstellung<br />
der Individuen zielenden Reproduktion<br />
von Herrschaft. […] Und wir suchen<br />
vor allem die faschistische Spezifik im<br />
Ensemble der ideologischen Mächte,<br />
Beziehungen, Praxen etc. Wir suchen<br />
<strong>als</strong>o nicht primär nach einer faschistischen<br />
Ideologie, sondern nach der<br />
Faschisierung des Ideologischen und<br />
nach der ideologischen Transformationsarbeit<br />
der Faschisten.« 22<br />
Leider trifft beim PIT dieses althusserianische<br />
Konzept von Ideologie auf verschiedene<br />
traditionsmarxistische Restbestände:<br />
Der Staat wird immer noch<br />
zu sehr <strong>als</strong> Instrument der Klassenherrschaft<br />
interpretiert, seine relative Autonomie<br />
nicht in vollem Ausmaß erkannt.<br />
Dass das PIT den Faschismus demzufolge<br />
gleichfalls <strong>als</strong> Klassenherrschaft bestimmt<br />
23 , führt sie wie so viele Marxist/<br />
innen zur Vernachlässigung der spezifisch<br />
faschistischen Form von Antikapitalismus<br />
zugunsten des faschistischen<br />
Antikommunismus. Das PIT hätte vielleicht<br />
gut daran getan, doch ein wenig<br />
mehr nach einer spezifisch »faschistischen<br />
Ideologie« zu suchen, anstatt<br />
»Hitlers Standpunkt« lediglich folgendermaßen<br />
zu bestimmen: »Reorganisierte<br />
Reproduktion der bestehenden<br />
Ordnung«. 24 Außerdem ist es bedauerlich,<br />
dass das PIT keine allgemeine Faschismustheorie<br />
leistete, sondern ihre<br />
Arbeit weitgehend auf den deutschen<br />
Extrem- und Sonderfall des Faschismus<br />
beschränkt blieb.<br />
Und heute?<br />
<strong>Die</strong> Zeiten, in denen linke Gelehrte mit<br />
ihren Faschismustheorien in der Wissenschaftslandschaft<br />
der BRD prominent<br />
vertreten waren und der Faschismusbegriff<br />
wie selbstverständlich<br />
verwendet wurde, sind lange vorbei.<br />
Parallel zum Abklingen der oppositionellen<br />
sozialen Bewegungen in den<br />
siebziger und achtziger Jahren und zum<br />
sich schon lange vor 1989/90 abzeichnenden<br />
Zusammenbruch des Staatssozialismus<br />
sowjetischer Prägung, wurde
die Verwendung des Faschismusbegriffs<br />
immer stärker zum Ausweis linker<br />
Gesinnung und damit hochgradig<br />
unmodisch. 25 <strong>Die</strong>s beginnt sich allmählich<br />
zu verändern, dennoch wurde die<br />
wahre Renaissance allgemeiner (»generischer«)<br />
Faschismustheorien, die sich<br />
seit der ersten Hälfte der neunziger Jahre<br />
im angelsächsischen Raum abspielte,<br />
in Deutschland lange verschlafen.<br />
Am bis heute schlechten Image des Faschismusbegriffs<br />
in Deutschland ist die<br />
inflationäre und oft rein polemische<br />
Verwendung des Begriffs von linker Seite<br />
nicht unschuldig. Aber auch die historisch<br />
bedingte Fokussierung der<br />
Forschung hierzulande auf den deutschen<br />
Extrem- und Sonderfall des Faschismus,<br />
den Nation<strong>als</strong>ozialismus,<br />
trug ihren Teil zur Vernachlässigung<br />
allgemeiner Faschismustheorie und<br />
vergleichender Faschismusforschung<br />
bei. Selbstverständlich hatte die Sache<br />
auch eine eminent politische Seite:<br />
Gerade in Deutschland nach 1989/90<br />
wollten der triumphierende Kapitalismus<br />
und der neu erstarkende Nationalismus<br />
lieber nicht an ihre historische<br />
und ursächliche Beziehung zu den Naziverbrechen<br />
erinnert werden.<br />
Innerhalb der linken Szenerie war der<br />
Faschismusbegriff zwar immer etabliert<br />
und wurde und wird in vielerlei Zusammenhängen<br />
verwendet, doch ist seine<br />
theoretische Klärung seit den siebziger<br />
Jahren anscheinend keinen Schritt voran<br />
gekommen. Nicht allein muss konstatiert<br />
werden, dass selbst die am wenigsten<br />
aufgeklärtesten Versionen der<br />
Agententheorie nach wie vor zahlreiche<br />
Anhänger/innen haben. Generell fällt<br />
genuin linke oder marxistische Faschismustheorie<br />
am meisten durch ihre Abwesenheit<br />
auf. In der Antifa-Bewegung<br />
beispielsweise können Menschen ihre<br />
ganze politische Sozialisation hinter sich<br />
bringen, ohne auch nur ein einziges Mal<br />
tiefer gehend mit Faschismustheorie in<br />
Berührung gekommen zu sein – eigentlich<br />
erstaunlich bei einer Bewegung, die<br />
den Faschismusbegriff im Namen trägt<br />
und zumindest teilweise nicht so theoriefern<br />
ist wie ihr Ruf mancherorts.<br />
Das Gedankengut des israelischen Historikers<br />
Zeev Sternhell, der entschieden<br />
dafür eintritt, die Rekonstruktion einer<br />
spezifisch faschistischen Ideologie<br />
zum Ausgangspunkt der Faschismusanalyse<br />
und -theorie zu nehmen, wurde<br />
zwar in Teilen der deutschen <strong>Linke</strong>n aufgenommen,<br />
jedoch scheinbar ohne größere<br />
Folgen. Noch immer ist das, was es<br />
an marxistischer oder überhaupt linksemanzipatorischerFaschismustheorie<br />
gibt, völlig auf den Faschismus <strong>als</strong><br />
Herrschaftsform konzentriert und vernachlässigt<br />
hierüber die Faschismen<br />
<strong>als</strong> Ideologien und (Oppositions-) Bewegungen.<br />
<strong>Die</strong> linksradikale Theoriezeitschrift<br />
»Phase 2« schaffte es in ihrer<br />
kürzlich erschienenen Ausgabe zum<br />
Themenschwerpunkt Faschismustheorie,<br />
dass in keinem einzigen der informativen<br />
Beiträge die faschistischen Ideologien<br />
<strong>als</strong> solche behandelt wurden.<br />
Wenn in der <strong>Linke</strong>n das Ideologische<br />
der Faschismen verhandelt wird, dann<br />
meist im Zusammenhang mit Ideologien<br />
der Ungleichheit, die ein viel größeres<br />
politisches Spektrum <strong>als</strong> das<br />
eigentlich faschistische betreffen: Nationalismus,<br />
Rassismus, Antisemitismus,<br />
Sexismus und so weiter. Oft wird<br />
angegeben, dass der Faschismus in ideologischer<br />
Hinsicht eben eine Radikaliserung<br />
der genannten und anderer antiemanzipatorischer<br />
Ideologien sei, eine<br />
Auffassung, die in orthodox marxistischleninistischer<br />
Formulierung schon bei<br />
Reinhard Opitz anzutreffen war. Dabei<br />
bleibt weiterhin unklar, ab wann denn<br />
zum Beispiel ein »normaler« Nationalist<br />
zum Faschisten wird, wie diese unterschiedlichen<br />
Ideologien und Ideologeme<br />
bei den Faschisten zusammenhängen<br />
und sich bedingen und ob es nicht<br />
vielleicht doch eine genuin faschistische<br />
Ideologie gibt, deren Spezifik in der Weise<br />
der Kombination der ideologischen<br />
Elemente liegt und durch die sich die<br />
Faschisten von anderen Rechten zuverlässig<br />
abgrenzen lassen.<br />
Grundlagenkritik der marxistischen<br />
Faschismustheorien und Anforderungen<br />
an eine neue allgemeine<br />
materialistische Theorie der<br />
Faschismen<br />
<strong>Die</strong> breite Akzeptanz der Agententheorien<br />
im Marxismus lässt sich zunächst<br />
damit erklären, dass diesem eine eigentliche<br />
Staatstheorie fehlt. Bei Marx<br />
finden sich nur wenige und dazu widersprüchliche<br />
staatstheoretische Fragmente.<br />
Was Engels und später Lenin an<br />
Theorie des Staates zuwege brachten,<br />
ließ diesem nur noch wenig Eigenständigkeit.<br />
26 Das erschwerte das Verständnis<br />
des überaus »verselbständigten«<br />
faschistischen Staates. Wer daran gewöhnt<br />
ist, in allem Staatlichen den direkten<br />
Ausdruck herrschender Klasseninteressen<br />
zu sehen, für den können<br />
faschistische Regime nur bloße Agenturen<br />
sein. Ähnliches betrifft Ideologien:<br />
Wer in diesen nur entweder Klasseninteresse<br />
oder Verschleierung wahrer Absichten<br />
erblicken kann, dem wird sich<br />
die massenhafte Anziehungskraft der<br />
faschistischen Ideologien auch auf Ar-<br />
beiter/innen nicht erschließen können.<br />
Der sozialdemokratisch-marxistische<br />
Theoretiker Rudolf Hilferding<br />
hat die faschismustheoretische Schwäche<br />
der Marxist/innen in einem kurz<br />
vor seiner Ermordung durch die Nazis<br />
geschriebenen und erst 1948 bekannt<br />
gewordenen Aufsatz klar erkannt: Der<br />
Faschismus sei mit marxistischen Kategorien<br />
kaum beschreibbar, das heißt.<br />
weder ökonomisch noch klassentheoretisch<br />
direkt ableitbar. 27<br />
Anders <strong>als</strong> selbst die differenziertesten<br />
Ausprägungen der Agententheorie vermögen<br />
die Bonapartismustheorien mittels<br />
des Verselbständigungstheorems<br />
immerhin zu denken, dass sich der Faschismus<br />
an der Macht auch gegen die<br />
traditionellen Führungsgruppen wenden<br />
kann. Den Kardinalfehler der Verkennung<br />
der relativen Eigenständigkeit und<br />
Eigengesetzlichkeit des Ideologischen<br />
haben Agenten- und Bonapartismustheorien<br />
jedoch gemeinsam. Bei den Bonapartismustheorien<br />
wird die Selbständigkeit<br />
der faschistischen Ideologie aus<br />
der angeblich vorwiegend kleinbürgerlichen<br />
Basis der Faschismen abgeleitet<br />
oder <strong>als</strong> mehr oder weniger über den sozialen<br />
Bedingungen Schwebendes, von<br />
ihnen Losgelöstes dargestellt. Überhaupt<br />
stellt sich das Verselbständigungstheorem<br />
<strong>als</strong> systemimmanentes<br />
und daher ebenso f<strong>als</strong>ches Gegenstück<br />
der Agententheorie dar. Reduziert der<br />
marxistisch-leninistische Ökonomismus<br />
Staat und Ideologie gnadenlos auf<br />
einen machtlosen, völlig unselbständigen<br />
Rest, so ersetzt das Verselbständigungstheorem<br />
den Zusammenhang<br />
der gesellschaftlichen Bereiche durch<br />
ein unverbundenes Nebeneinander. 28<br />
Zwar können die Bonapartismustheorien<br />
mehr Wahrheitsmomente <strong>als</strong> die<br />
Agententheorien beanspruchen, aber<br />
trotzdem lässt sich mit ihnen nicht viel<br />
anfangen. Der Eindruck drängt sich auf,<br />
dass die Marxist/innen, <strong>als</strong> sie sahen,<br />
wie ratlos sie den Faschismen gegenüberstanden,<br />
verzweifelt nach Ideen im<br />
Werk der »Klassiker« suchten, die sich<br />
irgendwie auf die Faschismen beziehen<br />
ließen.<br />
Agenten- und Bonapartismustheorien<br />
teilen das grundsätzliche Desinteresse<br />
am Ideologischen und die Fixierung auf<br />
den Faschismus <strong>als</strong> Herrschaftsform. 29<br />
Insofern der Faschismus an der Macht<br />
selbstverständlich wesentlich mehr<br />
Unheil anrichten kann <strong>als</strong> eine faschistische<br />
Bewegung in der Opposition,<br />
hat diese Fixierung auch eine gewisse<br />
theoriepolitische Berechtigung. Dennoch<br />
versteht sich von selbst, dass die<br />
marxistischen Faschismustheorien da-<br />
65
durch nur sehr begrenzt tauglich sind<br />
zur Analyse der übergroßen Mehrzahl<br />
der Faschismen, die nie an die Staatsmacht<br />
kamen. Nazi- und Italofaschismus<br />
blieben Ausnahmen; alle anderen<br />
faschistischen Regime Europas wurden<br />
im Laufe des Zweiten Weltkriegs von<br />
Deutschen und Italienern eingesetzt. Es<br />
dürfte feststehen, dass ohne Unterstützung<br />
durch wesentliche Teile der sozialen<br />
Führungsgruppen kein Faschismus<br />
an die Macht gelangt wäre und gelangen<br />
würde. Aber die Faschismen existieren<br />
auch ohnedies <strong>als</strong> Ideologien und Bewegungen,<br />
und sie werden für Führungsgruppen<br />
nur in dem Maße interessant,<br />
wie sie Massenanhang bekommen. <strong>Die</strong><br />
immense Dynamik der Faschismen <strong>als</strong><br />
politische Bewegungen, die Gründe für<br />
die Anziehungskraft, der »genuine Antrieb<br />
einiger Zehntausend Fanatiker« 30<br />
entzogen sich somit weitgehend dem<br />
marxistischen Verständnis. <strong>Die</strong> marxistische<br />
Ignoranz gegenüber den faschistischen<br />
Ideologien lässt sich nur so<br />
erklären, dass die Marxist/innen im vermeintlichen<br />
Vollbesitz der Wahrheit gar<br />
nicht auf den Gedanken kamen, dass ihre<br />
faschistischen Gegner auch denkende<br />
Wesen sein und tatsächlich für eigene<br />
– herrschaftliche – Interessen und<br />
Privilegien eintreten könnten. 31<br />
<strong>Die</strong> meisten Marxist/innen weigern<br />
sich bis heute, die Aussagen der Faschisten<br />
zu ihrem Selbstverständnis,<br />
ihren Motiven und Zielen für bare Münze<br />
zu nehmen. Das, was gemeinhin <strong>als</strong><br />
faschistische Ideologie gilt, gilt vielen<br />
Marxist/innen demnach nur <strong>als</strong> demagogische<br />
Tarnung und Täuschung. Ein<br />
guter Neuanfang wäre, die Aussagen<br />
der Faschisten endlich wortwörtlich<br />
ernst zu nehmen. 32 <strong>Die</strong>s würde bedeuten<br />
davon auszugehen, dass die Faschisten<br />
in der Regel – wie viele andere<br />
Akteure in der politischen Arena – keine<br />
käuflichen Agenten oder zynischen<br />
Machtmenschen sind, sondern dass<br />
die meisten von ihnen oft wirklich meinen,<br />
was sie sagen. Faschisten werden<br />
wie andere politische Akteure meistens<br />
von einer aufwühlenden Wahrnehmung<br />
gesellschaftlicher Probleme umgetrieben<br />
und von dem dringenden Wunsch<br />
geleitet, ihnen Abhilfe zu schaffen. Es<br />
steht völlig außer Frage, dass die meisten<br />
Faschisten subjektiv ehrlich davon<br />
überzeugt waren und sind, das Gute und<br />
Richtige zu tun. <strong>Die</strong>s schließt weder aus,<br />
dass einzelne faschistische Akteure tatsächlich<br />
einen rein instrumentellen Zugang<br />
zum Ideologischen haben, noch<br />
dass der gespürte Erfolg eines Ideologems<br />
zu seiner verstärkten Benutzung<br />
führt und gewissermaßen auch auf den<br />
66<br />
Ideologen selbst wirkt, das heißt seinen<br />
Glauben an dieses Ideologem intensiviert.<br />
33<br />
Zur materialistischen Rekonstruktion<br />
der spezifisch faschistischen Ideologie<br />
müsste zunächst der historischen Entstehungssituation<br />
der Faschismen –<br />
imperialistische Mächtekonfrontation<br />
und Erster Weltkrieg – nachgegangen<br />
werden: Was war die spezifisch faschistische<br />
Antwort auf die allgemein wahrgenommenen<br />
existenziellen Herausforderungen<br />
und Probleme der Epoche?<br />
Um weiter das Verhältnis von Kapitalismus<br />
und Faschismen zu klären, erscheint<br />
es zweckmäßig, die faschistische<br />
Interpretation und Kritik des<br />
Kapitalismus zu betrachten: Was haben<br />
die Faschisten am Kapitalismus zu kritisieren<br />
und wie tun sie es? Wie sieht ihr<br />
sozialer Gegenentwurf aus? Zur Bestimmung<br />
des Verhältnisses zwischen Kapitalismus<br />
und Faschismus gehören auch<br />
klassentheoretische Überlegungen, die<br />
(nicht nur) in der marxistischen Faschismustheorie<br />
traditionell viel angestellt<br />
wurden: Welche Interessen und Mentalitäten<br />
von sozialen Klassen, Schichten<br />
und Gruppen drücken sich in den Faschismen<br />
aus beziehungsweise machen<br />
besonders anfällig für faschistische Ideologien?<br />
Wer sind die Träger und wer die<br />
Nutznießer der Faschismen?<br />
Anders <strong>als</strong> vielen nicht-marxistischen<br />
Faschismustheorien kann den marxistischen<br />
nicht vorgeworfen werden, den<br />
Zusammenhang zwischen Kapitalismus<br />
und Faschismus zu verschleiern. Im Gegenteil<br />
neigt der marxistische Antikapitalismus<br />
meist zu einer Verwischung<br />
der Spezifik faschistischer Regime<br />
gegenüber anderen kapitalistischen<br />
Herrschaftsformen, seien sie nun<br />
parlamentarisch-demokratisch oder autoritär-diktatorisch.<br />
Ähnlich verkennen<br />
die Marxist/innen meist die Besonderheit<br />
der faschistischen Ideologien gegenüber<br />
nicht-faschistischem Nationalismen<br />
und dem Konservatismus. Wo<br />
sich aus marxistischer Perspektive mit<br />
faschistischen Ideologien beschäftigt<br />
wurde, da verhinderte die Fixiertheit auf<br />
den faschistischen Antimarxismus die<br />
Erkenntnis der großen Bedeutung, welche<br />
die Feindschaft gegen Liberalismus,<br />
Individualismus, bürgerlichen Lebensstil<br />
und Hedonismus für die Faschismen<br />
hatte. Stattdessen müsste eine adäquate<br />
materialistische Faschismustheorie<br />
in undogmatisch-marxistischer Tradition<br />
sowohl den Bruch <strong>als</strong> auch die Kontinuität<br />
im Verhältnis von Faschismen<br />
und Kapitalismus bestimmen können.<br />
Mathias Wörsching M.A.<br />
1 <strong>Die</strong> Wahl der Pluralform deutet an, dass die Faschismen<br />
zwar eine kategoriale Einheit darstellen,<br />
sich aber dennoch von Land zu Land ganz erheblich<br />
unterscheiden. Damit wird einer vor allem mit<br />
den Namen George L. Mosse und Roger Griffin verbundenen<br />
theoretischen Linie gefolgt, nach der die<br />
Faschismen in ideologischer Hinsicht zunächst <strong>als</strong><br />
ultranationalistische Bewegungen aufgefasst werden<br />
müssen, woraus ihre frappierende Pluralität<br />
herrührt: »Jedes Land entwickelte den Faschismus,<br />
der seinem spezifischen Nationalismus gerecht<br />
wurde.« Vgl. George L. Mosse, <strong>Die</strong> Völkische Revolution.<br />
Über die geistigen Wurzeln des Nation<strong>als</strong>ozialismus,<br />
Frankfurt a.M. 1991 (zuerst: New York<br />
1964), S. Vf. Der Historiker Roger Griffin verwendet<br />
das Wort »Faschismus« häufig, ohne sich konsequent<br />
für Singular oder Plural zu entscheiden.<br />
2 2 Vgl. Ernst Nolte, Einleitung, in: derselbe, Hrsg.,<br />
Theorien über den Faschismus, Königstein/Taunus<br />
1984, S. 21 ff.<br />
3 Vgl. Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen<br />
in marxistischen Faschismustheorien, in:<br />
Projekt Ideologie-Theorie (PIT), Faschismus und<br />
Ideologie, Berlin 1980 (Argument-Sonderheft 60),<br />
S. 25 ff.<br />
4 Zitiert nach: Ernst Nolte, Theorien, S. 56 f..<br />
5 Zitiert nach: Reinhard Opitz, Über die Entstehung<br />
und Verhinderung von Faschismus, in: Das Argument,<br />
Heft 87, November 1974, 544. Vgl. Max<br />
Horkheimer in: <strong>Die</strong> Juden und Europa (1939): »Wer<br />
aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch<br />
vom Faschismus schweigen.« (Zitiert nach: Wolfgang<br />
Fritz Haug, Annäherung an die faschistische<br />
Modalität des Ideologischen, in: PIT, Faschismus<br />
und Ideologie, S. 44.)<br />
6 Vgl. Wolfgang Wippermann, Europäischer Faschismus<br />
im Vergleich, Frankfurt a.M. 1983, S. 20 u.<br />
derselbe, Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen<br />
Diskussion, Darmstadt 1989, S. 80 ff.<br />
7 Vgl. Rajani Palme Dutt, Was ist Faschismus?<br />
(1934), in: Ernst Nolte, Theorien über den Faschismus,<br />
S. 297 ff., wo im Rahmen einer marxistischagententheoretischen<br />
Argumentation bestimmte<br />
Elemente der Modernisierung kapitalistischer Industriegesellschaften<br />
(Aufbau eines Systems der<br />
organisierten Klassenzusammenarbeit, Ausdehnung<br />
der staatlichen monopolistischen Organisation<br />
von Industrie und Finanz) <strong>als</strong> zentrale faschistische<br />
Inhalte bestimmt und infolgedessen<br />
Roosevelt und Brüning <strong>als</strong> Proto- oder Quasifaschisten<br />
aufgefasst werden. Strukturell ähnlich<br />
argumentierte auch Johannes Agnoli: Der Faschismus<br />
sei die politische Entsprechung der<br />
monopolkapitalistischen, imperialistischen, etatistischen<br />
Phase des Kapitalismus im Gegensatz<br />
zum Konkurrenzkapitalismus. Kritik an Agnolis<br />
Gleichsetzung von Korporatismus und Faschismus<br />
und der daraus folgenden Tendenz zur Inflation des<br />
Faschismusbegriffs übt Reinhard Opitz, Über die<br />
Entstehung und Verhinderung von Faschismus,<br />
S. 581. Zur Differenz zwischen dem, was für Opitz<br />
die normale »staatsmonopolistische Formierung«<br />
ist, und dem Faschismus vgl. ebd., 584 ff.<br />
8 Vgl. Wolfgang Wippermann, <strong>Die</strong> Bonapartismustheorie<br />
von Marx und Engels, Stuttgart 1983,<br />
S.209 f.<br />
9 Ebenda, S. 8 ff., 15, 207 f.<br />
10 Vgl. derselbe, Europäischer Faschismus, S. 124 f..<br />
11 Dagegen spricht Wolfgang Abendroth, Das Problem<br />
der sozialen Funktion und der sozialen Voraussetzungen<br />
des Faschismus, in: Das Argument,<br />
12. Jg., H. 4–6, August 1970, S. 252, von<br />
der »breiten und partial militanten auf Mittelklassen<br />
und Deklassierte gestützten Massenbewegung<br />
(Dezembergesellschaft)« des Louis Bonaparte. Allerdings<br />
»war es nicht möglich, diese Massenbewegung<br />
zu einer permanenten selbständigen politischen<br />
Herrschaftsgruppe zu organisieren und zu<br />
stabilisieren. Noch waren die sozialen Techniken<br />
ungenügend entwickelt«. Vgl. zu den – fundamentalen<br />
– Unterschieden zwischen Bonapartismus<br />
und Faschismus ebd., 254.<br />
12 Vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie,<br />
S. 12, 23 ff., 173; derselbe, Faschismustheorien,<br />
S. 68 ff.; Wolfgang Abendroth, Das Problem<br />
der sozialen Funktion, S. 251.
13 So drückte es der österreichische sozialdemokratische<br />
Führer Otto Bauer aus: »Wenn sie (die Kapitalistenklasse;<br />
d. Verf.) die faschistischen Banden<br />
auf das Proletariat loslässt, so wird sie selbst<br />
zur Gefangenen der faschistischen Banden. Sie<br />
kann … (sie) nicht mehr niederwerfen, ohne sich<br />
der Revanche des Proletariats auszusetzen. Sie<br />
muss sich daher selbst der faschistischen Diktatur<br />
der faschistischen Banden unterwerfen«. Zitiert<br />
nach: Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen,<br />
S.18.<br />
14 <strong>Die</strong>s sahen auch einige Marxisten so, z. b. mit August<br />
Thalheimer mindestens ein prominenter Vertreter<br />
der Bonapartismustheorie (vgl. Wolfgang<br />
Wippermann, Bonapartismustheorie, S. 205 ff.),<br />
und außerdem Karl Radek und Clara Zetkin. Vgl.<br />
Clara Zetkin, Der Kampf gegen den Faschismus,<br />
in: Ernst Nolte, Theorien über den Faschismus,<br />
S.88 f., 95 f., 106 f.; Ernst Nolte, Einleitung, in:<br />
derselbe, Theorien, S. 21 ff.; Daniel Guerin, Faschismus<br />
und Kapitalismus, in: ebenda, S. 271 f.<br />
Für Franz Borkenau, in: ebenda, S. 156 ff, ist der<br />
Faschismus die Welt-Konterrevolution nach der<br />
abgebrochenen marxistischen Weltrevolution.<br />
Ebenda wird harsche Kritik an Otto Bauer, August<br />
Thalheimer und ihren modifizierten Bonapartismustheorien<br />
geübt: Der Faschismus sei ein Symptom<br />
der Schwäche der <strong>Linke</strong>n, nicht ihres nah<br />
bevorstehenden Sieges oder einer Kräftebalance.<br />
Reinhard Kühnl, Probleme der Interpretation des<br />
deutschen Faschismus, in: Das Argument, 12. Jg.,<br />
H. 4–6, August 1970, S. 273 f., kritisiert die vom<br />
orthodoxen Marxismus-Leninismus vorgetragene<br />
Interpretation, wonach der Nazifaschismus einer<br />
proletarischen Revolution zuvorkommen sollte. <strong>Die</strong>se<br />
sei Anfang der 1930 er Jahre unwahrscheinlich<br />
gewesen. Desgleichen auch Reinhard Opitz,<br />
Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus,<br />
585 und Nicos Poulantzas. Vgl. Jan Rehmann,<br />
<strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen, S. 31.<br />
15 Vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie,<br />
S. 79 ff.; Ernst Nolte, Faschismus über den Faschismus<br />
(Rüc<strong>kb</strong>lick), S. VIII ff.<br />
16 Zitiert nach Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus.<br />
Frankreich, Italien und Deutschland im<br />
Vergleich, Darmstadt 2005, S. 47. Das Zitat ist<br />
sehr früh, noch aus den 30 er Jahren.<br />
17 Prägnant wird das Problem bei Reinhard Kühnl,<br />
Probleme der Interpretation des deutschen Faschismus,<br />
S. 272 ff., gefasst. Ebenfalls bei Reinhard<br />
Opitz, Fragen der Faschismusdiskussion.<br />
Zu Reinhard Kühnls Bestimmung des Faschismusbegriffs,<br />
in: Das Argument, 12. Jg., H. 4–6,<br />
August 1970, S. 282 u. 288 f. Das Problem ist<br />
auch ein Hauptthema des genannten Aufsatzes<br />
von Opitz.<br />
18 Vgl. die Kritik an Kühnl bei Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung<br />
des Ideologischen, S. 24.<br />
19 Vgl. Reinhard Opitz, Fragen der Faschismusdiskussion,<br />
S. 286; Über die Entstehung und Verhinderung<br />
von Faschismus, S. 591–602. Vgl. die Kritik<br />
des PIT bei Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen,<br />
S.21 ff., so z. b. ebd., S. 22: »Opitz kapituliert<br />
vor seinem eigenen Anspruch der theoretischen<br />
Vermittlung.«<br />
20 Vgl. PIT, Faschismus und Ideologie, Vorwort, S. 8<br />
u. 11; Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen,<br />
S. 13 ff.<br />
21 Vgl. dazu ebenda, S. 35; Wolfgang Fritz Haug, Annäherung<br />
an die faschistische Modalität des Ideologischen,<br />
S. 76 ff.<br />
22 Vgl. ebenda, S. 47 u. S. 76: »<strong>Die</strong>s ist unser Forschungsgegenstand<br />
und die leitende Frage: Wie<br />
hat sich die faschistische Macht über die Herzen<br />
des Volkes befestigt?«<br />
23 Vgl. Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen,<br />
S. 14 u. 24.<br />
24 Vgl. Wolfgang Fritz Haug, Annäherung an die faschistische<br />
Modalität des Ideologischen, S. 54–<br />
59. Vgl. ebenda, S. 59 ff.: »National-Sozialismus<br />
<strong>als</strong> Gegen-Bolschewismus«.<br />
25 Vgl. Busch, S. 32; Wolfgang Wippermann Wippermann,<br />
Totalitarismustheorie, S. 2 f.<br />
26 Vor allem in den Schriften: »Ursprung der Familie,<br />
des Privateigentums und des Staates« (Friedrich<br />
Engels) und »Staat und Revolution« (Wladimir<br />
I. Lenin).<br />
27 Vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie,<br />
210 ff. Eine sehr differenzierte, nicht mehr<br />
agententheoretische Erklärung des Faschismus –<br />
allerdings wieder nur des Faschismus an der<br />
Macht – lieferte auch Nicos Poulantzas. Sie wird<br />
gleichwohl beherrscht vom Klassenreduktionismus,<br />
d. h. von dem Bemühen, bestimmte Ideolo-<br />
gien bzw. Ideologeme eindeutig den Interessen bestimmter<br />
Klassen zuzuordnen (vgl. hierzu die Kritik<br />
des PIT bei Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen,<br />
S. 28–35.<br />
28 Vgl. ebenda, S. 15–21.<br />
29 Vgl. Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien,<br />
S. 76.<br />
30 Vgl. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche.<br />
Action Francaise, Italienischer Faschismus, Nation<strong>als</strong>ozialismus.<br />
Mit einem »Rüc<strong>kb</strong>lick nach 30 Jahren«,<br />
München 1984 (zuerst: 1963), S. 453 f.<br />
31 Beispielhaft ist Wolfgang Abendroth, Das Problem<br />
der sozialen Funktion, S. 254: »Den diesen Sozi<strong>als</strong>chichten<br />
[v. a. dem Kleinbürgertum – M.W.]<br />
angebotenen antibolschewistischen und antimarxistischen<br />
Parolen wurde der Schein ›antikapitalistischer‹<br />
Ideologie zugesetzt, um ihnen die Illusion<br />
des Kampfes für ihre eigenen Interessen zu<br />
geben. Mit Hilfe dieser Parolenmixtur sollte das<br />
Mittelstandsaufgebot die Arbeiterorganisationen<br />
ausschalten.« Deswegen bleibt die richtige Feststellung<br />
ebd., dass die »Rechtsstaatlichkeit […]<br />
durch einen […] unverhüllt dezisionistisch-repressiven<br />
Teil staatlicher Tätigkeit weithin verdrängt<br />
wurde«, auch unbegründet in der Luft hängen.<br />
Um diesen Umstand zu erklären, hätte es ja der<br />
Ideologie bedurft, der oben jegliche Eigenständigkeit<br />
abgesprochen wurde. Kritik an der völligen<br />
Abwesenheit sozialpsychologischer – und damit<br />
immer auch Ideologie-bezogener – Erklärungsmodelle<br />
bei vielen Marxisten übt auch Kühnl, Probleme<br />
der Interpretation des deutschen Faschismus,<br />
S. 278.<br />
32 Vgl. Zeev Sternhell, Faschistische Ideologie. Eine<br />
Einführung, Berlin 2002. S. 13 f.; Ernst Nolte, Der<br />
Faschismus in seiner Epoche, S. 54 f. Vgl. PIT, Faschismus<br />
und Ideologie, Vorwort, S. 8: »Bei den<br />
Materi<strong>als</strong>tudien machten wir die verblüffende Erfahrung,<br />
dass die Kommentare der führenden Faschisten<br />
die Strukturen und Wirkungsweisen ideologischer<br />
Praxen klarer beschreiben <strong>als</strong> der größte<br />
Teil der faschismuskritischen Autoren.«<br />
33 Vgl. Wolfgang Fritz Haug, Annäherung an die faschistische<br />
Modalität des Ideologischen, S. 65 ff.<br />
(hier am Beispiel des Hitlerschen Antisemitismus).<br />
67
Das antifaschistische Thema in<br />
der DDR-Literatur<br />
Demokratische Erneuerung war die Losung,<br />
mit der deutsche Antifaschisten aus<br />
dem Exil und aus dem Widerstand im Jahre<br />
1945 ihre Aufbauarbeit in der sowjetischen<br />
Besatzungszone begannen. Um<br />
die verstörten und orientierungslosen<br />
Menschen für eine antifaschistische<br />
Neugestaltung ihrer Lebensverhältnisse<br />
zu gewinnen, musste Klarheit geschaffen<br />
werden über Wesen und Wurzeln des Hitlerfaschismus.<br />
Schluss gemacht werden<br />
musste vor allem mit militaristischen und<br />
chauvinistischen Ideologien, die der Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
ausgenutzt hatte – ganz<br />
zu schweigen vom Rassismus und Herrenmenschentum<br />
der Funktionsträger<br />
und Nutznießer des deutschen Faschismus.<br />
1 <strong>Die</strong> Verantwortung des deutschen<br />
Volkes für das, was in seinem Namen geschehen<br />
war, die Bereitschaft zur Wiedergutmachung<br />
musste geweckt werden.<br />
Dafür wurde in der sowjetischen<br />
Besatzungszone und in der frühen DDR<br />
viel getan und die Literatur hat einen hervorragenden<br />
Anteil daran gehabt.<br />
Einer der ersten, die in die zerstörte<br />
Heimat zurückkamen, war der Dichter<br />
Johannes R. Becher Seinen Bemühungen<br />
ist die Gründung des Kulturbundes<br />
zur demokratischen Erneuerung<br />
Deutschlands zu danken, der ersten Organisation<br />
von Intellektuellen und kulturinteressierten<br />
Menschen, die in<br />
Deutschland entstand. Sie sollte zum<br />
Kern einer geistigen Erneuerungsbewegung<br />
werden, in der Menschen aller<br />
Weltanschauungen und politischen<br />
Richtungen zusammenfinden konnten,<br />
die den Faschismus ablehnten oder Widerstand<br />
geleistet hatten. Bald öffneten<br />
sich die Reihen des Kulturbundes aber<br />
auch für solche, die zeitweise den Nation<strong>als</strong>ozialisten<br />
gefolgt waren und<br />
erst jetzt den verbrecherischen Charakter<br />
des Naziregimes und seines<br />
Raubkrieges zu begreifen begannen.<br />
Es ging Johannes R. Becher und seinen<br />
Freunden im Kulturbund um ein »nationales<br />
Befreiungs- und Aufbauwerk größten<br />
Stils auf ideologisch-moralischem<br />
Gebiet« 2 . Deshalb war er, der entschiedene<br />
Antifaschist und Kommunist, der<br />
vom ersten Tage an leidenschaftlich<br />
gegen den deutschen Faschismus gekämpft<br />
hatte, <strong>als</strong> Dichter bemüht, sich<br />
mit den Menschen in Deutschland zu<br />
solidarisieren und zu identifizieren. »An<br />
die Sieger« heißt ein Gedicht aus dem<br />
Band »Volk im Dunkel wandelnd« (1948):<br />
68<br />
»Ihr, die ihr Sieger seid, lasst mir das eine:<br />
Lasst mich beweinen meines Volkes<br />
Leid, Darin ich aller Welt Leid mit beweine<br />
– Lasst mir dies eine, die ihr Sieger<br />
seid!<br />
Ich bitt euch nicht, dass ihr uns sollt verzeihn.<br />
Nur eines bitt ich. Lasst mich darum<br />
bitten, – noch ist das ganze Leid<br />
nicht ausgelitten – Lasst mich verzweifelt<br />
sein und traurig sein.« 3<br />
Er suchte den Ton zu finden, den seine<br />
Landsleute, seine erhofften Leser verstehen<br />
konnten, suchte den Willen zur<br />
Umkehr und zur Abrechung mit der Vergangenheit<br />
zu wecken und zu stärken.<br />
Gerade von manchen Hitlergegnern ist<br />
dieser Versuch nicht immer verstanden<br />
worden, die Verführten und mitschuldig<br />
gewordenen Menschen, die<br />
Mehrheit der Deutschen anzusprechen.<br />
Manchen, die aus den Konzentrationslagern<br />
oder – wie Becher selbst – aus<br />
der Emigration zurückkamen, hielten<br />
es für wichtiger, sozialistische Überzeugungen<br />
– vor allem in der Arbeiterklasse<br />
– zu stärken. 4 Ihnen hielt der Dichter<br />
entgegen, dass proletarisches Klassenbewusstsein<br />
erst wieder erweckt und<br />
den Menschen aller Schichten wieder<br />
ein humanistischer Lebenssinn vermittelt<br />
werden müsse.<br />
Unter den Aktivisten der ersten Stunde,<br />
den Mitbegründern des Kulturbundes,<br />
waren Männer wie der bekannte Romancier<br />
Bernhard Kellermann. Er war<br />
in Deutschland geblieben und hatte sogar<br />
Bücher veröffentlichen können, obwohl<br />
er von den Nazis mit Misstrauen<br />
betrachtet wurde. 1945 griff er sofort in<br />
die Auseinandersetzungen mit der Naziideologie<br />
ein und unterstützte die Bemühungen<br />
um eine antifaschistischen<br />
und demokratischen Umgestaltung des<br />
gesellschaftlichen und intellektuellen<br />
Lebens. 5 Ihn beschäftigte das Problem,<br />
warum viele, besonders aus kleinbürgerlichen<br />
Kreisen stammende Menschen<br />
dem Einfluss des deutschen Faschismus<br />
erlegen waren. So schrieb er den<br />
Roman »Totentanz« (1948). 6 Es ging ihm<br />
darum – wie er im Vorwort schreibt –<br />
»die gefährliche militaristische Weltanschauung<br />
vor dem deutschen Volk anzuprangern«<br />
und »der erschreckenden<br />
Mentalität der herrschenden Klassen<br />
schonungslos die Maske vom Gesicht zu<br />
reißen«. Für einen bürgerlichen Autor ist<br />
das ein bemerkenswertes Programm. In<br />
dem Buch wird ein Rechtsanwalt geschildert,<br />
der sich anfangs nicht zu entscheiden<br />
weiß und schließlich zum Mitläufer<br />
der Nazis wird. Kellermann erzählt<br />
zügig und teils kolportagehaft, wie der<br />
Tod der beiden Söhne dieses Mannes<br />
im Kriege ihn allmählich zur Besinnung<br />
bringt. Doch seine Einsicht reicht nicht<br />
bis zum aktiven Widerstand. Er beginnt<br />
zwar zu ahnen, wer hinter dem deutschen<br />
Faschismus steht: die Herren<br />
der Industrie. Aber der Tanz um das<br />
goldene Kalb wird zum Totentanz. Der<br />
Held des Buches geht in den Freitod.<br />
Auch Hans Falladas Buch »Jeder stirbt<br />
für sich allein« (1947) 7 ist ein wichtiger<br />
Versuch der Auseinandersetzung mit<br />
den Nazi-Jahren. Fallada war in Deutschland<br />
geblieben und hatte sogar zeitweise<br />
mehr <strong>als</strong> problematische Zugeständnisse<br />
an die faschistischen Machthaber<br />
gemacht. Doch blieben seine Bücher<br />
in der Substanz realistische Schilderungen<br />
der zwanziger und dreißiger Jahre<br />
mit deutlich gesellschaftskritischen<br />
Zügen. Johannes R. Becher kannte die<br />
schriftstellerische Begabung Falladas<br />
und wusste, dass dieser Autor einen<br />
weiten Leserkreis erreichen konnte.<br />
Deshalb verschaffte er dem – schwerkranken<br />
und suchtabhängigen – Fallada<br />
Einsicht in Gestapo-Akten, in denen<br />
von einer individuellen Widerstandsaktion<br />
eines einfachen, unpolitischen Ehepaars<br />
gegen das Naziregime und seinen<br />
verbrecherischen Krieg berichtet wurde.<br />
Der Stoff faszinierte den Romanschreiber<br />
sehr und er schrieb in kurzer Zeit<br />
seinen Roman über den Widerstand des<br />
Ehepaars Quangel. Als beider Sohn in<br />
Frankreich gefallen ist, beginnt der völlig<br />
unpolitische Quangel ganz spontan<br />
hitlerfeindliche Postkarten zu schreiben,<br />
handgeschriebene Flugblätter <strong>als</strong>o. <strong>Die</strong><br />
Gestapo vermutet – zu Unrecht – eine<br />
Widerstandsorganisation, wo nur aus<br />
tiefem Schmerz um den Tod des Sohnes<br />
ein moralischer Protest und ein humanes<br />
Verantwortungsgefühl erwachsen sind.<br />
Ein drittes Buch schließlich wäre hier<br />
noch zu nennen, das in den ersten Nachkriegsjahren<br />
eine große Wirkung getan<br />
hat – Theodor Pliviers Roman »Stalingrad«<br />
(1945). 8 Das Buch ist noch im<br />
sowjetischen Exil geschrieben worden,<br />
sein Autor stand den Kommunisten nahe<br />
und war nach seiner Rückkehr nach<br />
Deutschland zunächst Vorsitzender des<br />
Kulturbundes in Thüringen. Er hat dann
ald die sowjetische Besatzungszone<br />
verlassen und in seinen später im Westen<br />
veröffentlichten Büchern dem antikomummunistischen<br />
Zeitgeist seinen<br />
Tribut gezollt. Der Roman »Stalingrad«<br />
war und bleibt ein literarisches Ereignis<br />
von großem Gewicht und einer lang andauernden<br />
Wirkungskraft. Hier wurde<br />
zwar kaum etwas über das geschichtliche<br />
Wesen des Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
gesagt, aber die intensive Darstellung<br />
der Tragödie von Stalingrad in einer Fülle<br />
von Einzelschicksalen hat das Buch<br />
zu einer der erregendsten Kriegsschilderungen<br />
gemacht, die nach dem zweiten<br />
Weltkrieg in Deutschland erschienen<br />
sind. Sicher: die Gestalten sind oft<br />
skizzenhaft dargestellt und der Autor<br />
verzichtet weitgehend auf eine Analyse<br />
gesellschaftlicher Zusammenhänge.<br />
Aber das Massenschicksal der im Kessel<br />
von Stalingrad sinnlos geopferten<br />
Armee und die Schilderung der individuellen<br />
Leiden lassen den Leser begreifen,<br />
dass Stalingrad die Wende des Krieges<br />
war. Für die Vernichtung militaristischer<br />
Denkweisen und die Kritik der faschistischen<br />
Verherrlichung des Krieges hat<br />
das Buch einen bemerkenswerten Beitrag<br />
geleistet. Der Untergang des faschistischen<br />
Okkupationsheeres wurde<br />
von den Lesern mit Recht <strong>als</strong> gleichnishaft<br />
für die Aussichtslosigkeit des nazistischen<br />
Kriegsabenteuers insgesamt<br />
empfunden.<br />
Wie breit die Palette der dam<strong>als</strong> in der<br />
sowjetischen Besatzungszone entstehenden<br />
Literatur war, die sich mit dem<br />
Faschismus auseinandersetzte, zeigt<br />
der Roman der katholischen Autorin Elisabeth<br />
Langgässer »Das unauslöschliche<br />
Siegel« (1946). 9 Der Titel bezieht<br />
sich auf das Sakrament der Taufe, das<br />
die Autorin zum Zentrum ihres Buches<br />
macht. Erzählt wird die Geschichte<br />
eines getauften Juden, der zu Beginn<br />
des ersten Weltkrieges nach Frankreich<br />
fährt und dort interniert wird. Er erkennt,<br />
dass seine Konversion nur oberflächlich<br />
war und schwört dem Glauben<br />
ab. Aber – so will es die Schreiberin –<br />
die Gnade Gottes bewirkt seine plötzliche<br />
Bekehrung. Er geht zurück nach<br />
Deutschland und wird dort – <strong>als</strong> Christ<br />
jüdischer Abstammung – während der<br />
Naziherrschaft ins Konzentrationslager<br />
verbracht. Nach der Befreiung schlägt<br />
er sich <strong>als</strong> ein armer Bettler durchs Land<br />
und folgt dem Weg der Roten Armee<br />
nach Westen. Für die Autorin ist er ein<br />
Symbol der Hoffnung auf Rettung aus<br />
der Katastrophe des Krieges und der<br />
Vernichtung: einer Rettung freilich, die<br />
nur aus dem Glauben kommen soll. Zur<br />
Analyse des Faschismus gibt das Buch<br />
wenig her. <strong>Die</strong> streitbare Katholikin mit<br />
jüdischen Vorfahren sieht die Ursache<br />
des Faschismus letztlich im Abfall der<br />
Menschen von der katholischen Kirche,<br />
in der Glaubensspaltung und der Aufklärungsbewegung<br />
des 18. Jahrhunderts,<br />
der die französische Revolution folgte.<br />
Sie meint, der Mensch könne nicht aktiv<br />
eingreifen in die Weltgeschichte, denn<br />
diese Weltgeschichte ist für sie eine<br />
Heilsgeschichte, bestimmt vom Kampf<br />
zwischen Gott und dem Satan. Dennoch<br />
wendet sich ihr Buch klar gegen<br />
den Nazifaschismus und enthält starke<br />
Momente einer religiös-moralischen Kritik<br />
des bürgerlichen Zeitalters.<br />
Der linkskatholische Publizist Walter<br />
Dirks hat 1948 in den »Frankfurter Heften«<br />
geschrieben, die Bücher von Elisabeth<br />
Langgässer, Theodor Plivier und dazu<br />
noch der Roman »Das siebte Kreuz«<br />
von Anna Seghers seien die repräsentativen<br />
Zeugnisse der Nachkriegsliteratur.<br />
10 Dass der westdeutsche Autor<br />
damit drei Bücher nennt, deren Autoren<br />
zunächst in der sowjetischen Besatzungszone<br />
lebten, bezeichnet die damalige<br />
Situation ebenso wie die Tatsache,<br />
dass zwei von ihnen eben zu dieser Zeit<br />
in den Westen übersiedelten. Dam<strong>als</strong><br />
wurde die deutsche Literatur noch <strong>als</strong><br />
eine Einheit betrachtet. <strong>Die</strong> in Berlin lebende<br />
Elisabeth Langgässer veröffentlichte<br />
ihren Roman in Hamburg – das<br />
galt zu jener Zeit <strong>als</strong> normal. Ihre Übersiedlung<br />
in ihre rheinhessische Heimat<br />
nach Rheinzabern vollzog sich 1948 sogar<br />
mit Unterstützung der sowjetischen<br />
Besatzungsorgane. Sie hat zeitweise im<br />
Kulturbund mitgearbeitet und Hörspiele<br />
für den Berliner Rundfunk geschrieben.<br />
Aber sie mochte sich nicht den gesellschaftlichen<br />
Umwälzungen in der Sowjetzone<br />
anbequemen.<br />
Während Elisabeth Langgässer in ihre<br />
katholische Heimat übersiedelte, kam<br />
Anna Seghers, die Dirks <strong>als</strong> eine wesentliche<br />
Autorin der Nachkriegszeit<br />
genannt hatte, nach Berlin. Sie war zu<br />
Beginn der Nazizeit nach Frankreich<br />
emigriert, musste 1940 vor der einmarschierenden<br />
Wehrmacht fliehen und<br />
fand in Mexiko ein Asyl. Nun war sie –<br />
wenn auch zögernd – aus dem Exil dorthin<br />
zurückgekehrt, wo sie <strong>als</strong> kommunistische<br />
Schriftstellerin ihren wichtigsten<br />
Wirkungskreis sah: in die sowjetischen<br />
Besatzungszone. In ihrem Gepäck lag<br />
das beinahe fertige Manuskript eines<br />
neuen Romans mit dem Titel »<strong>Die</strong> Toten<br />
bleiben jung« (1949). 11 Anders <strong>als</strong> »Das<br />
siebte Kreuz« umfasste dieser Roman<br />
ein großes historisches Panorama. <strong>Die</strong><br />
Erschießung eines Spartakisten im Jahr<br />
1919 steht am Anfang und die Handlung<br />
des Buches verfolgt in mehreren parallelen<br />
Fabeln die Schicksale von Menschen,<br />
die mit diesem Toten und seinem<br />
gewaltsamen Tod verbunden waren:<br />
die Schicksale seiner Mörder und die<br />
Schicksale seiner Freunde und Genossen<br />
– vor allem der Frau, die ihn geliebt<br />
und ihm ein Kind geboren hat.<br />
<strong>Die</strong> Handlung um den Mörder führt in<br />
die großkapitalistischen und Junker-<br />
Kreise, die den deutschen Faschismus<br />
vorbereiteten und schließlich an die<br />
Macht geschoben haben. Sie zeigt aber<br />
auch Menschen aus diesen Kreisen, die<br />
aus moralischer Verantwortung sich<br />
der Herrschaft Hitlers widersetzen. Auf<br />
der anderen Seite wird das Schicksal<br />
der »kleinen Leute«, von sozialistischen<br />
und von unpolitischen Proletariern dargestellt.<br />
Spontane Solidarität und Klassenverbundenheit<br />
zeigt sich ebenso wie<br />
die unselige Spaltung der Arbeiterbewegung<br />
– immer in individuellen Handlungen<br />
und Reaktionen, im alltäglichen<br />
Leben der Leute. Anna Seghers zeigt,<br />
dass der Faschismus viele, ja die meisten<br />
Menschen verführen und korrumpieren,<br />
aber nicht den Widerstandswillen und<br />
die Kampfbereitschaft der besten Vertreter<br />
der Arbeiterbewegung ersticken<br />
konnte. Sie stellt dar, woher sich – trotz<br />
Niederlage und Terror – der Widerstand<br />
immer wieder rekrutierte. Der Sohn des<br />
toten Spartakisten wird am Schluss des<br />
Buches wiederum erschossen – er ist<br />
ein Widerstandskämpfer geworden und<br />
wie sein Vater bezahlt er mit dem Leben:<br />
<strong>Die</strong> Toten bleiben jung. Doch <strong>als</strong> Symbol<br />
der Hoffnung steht auch diesmal ein ungeborenes<br />
Kind.<br />
Ebenso wichtig an diesem Buch von<br />
Anna Seghers scheint mir die Art und<br />
Weise zu sein, wie die Verbindungen<br />
zwischen Monopolkapital und preußisch-deutschem<br />
Militarismus erzählerisch<br />
bloßgelegt werden. Das geschieht<br />
nicht <strong>als</strong> soziologische Lehre, sondern<br />
ganz und gar innerhalb persönlicher Beziehungen<br />
und sozialer Prozesse, in die<br />
die handelnden Figuren eingebunden<br />
sind. Ob das sozialistisch-kommunistischen<br />
Milieu, einflussreiche Industriellenfamilien<br />
oder die Militärkaste Gegenstand<br />
der epischen Erzählung sind,<br />
immer gelingt es der Autorin, die soziale<br />
Mentalität und die persönlichen Erfahrungen<br />
der Protagonisten genau darzustellen,<br />
aus denen faschistische oder<br />
antifaschistische Haltungen erwachsen.<br />
Antifaschistische Thematik, wie ich sie<br />
hier verstehe, umfasst den unmittelbaren<br />
Bezug der Bücher auf die – wie Johannes<br />
R. Becher einmal formulierte –<br />
69
»politisch-moralische Vernichtung des<br />
Faschismus«. 12 Schon im Exil in Mexiko<br />
hatte Anna Seghers geschrieben – es<br />
war 1942 –, die Macht des Faschismus<br />
vermöge nicht nur Länder zu besetzen<br />
und Völker zu unterdrücken, sondern<br />
auch ganze Strecken geistigen Besitzes<br />
zu verwüsten, »alte, teuere Begriffe zu<br />
verfälschen«. Es gebe eine Anzahl von<br />
Worten, die viele Menschen nicht mehr<br />
ohne Ekel anhören können – wie beispielsweise:<br />
Vaterland, Heimaterde,<br />
Volk. Der antifaschistische Schriftsteller<br />
müsse solche Verfälschungen aufbrechen<br />
und die Konflikte bewusst machen,<br />
die sich dahinter verbergen. Er<br />
müsse die wichtigsten Vorgänge innerhalb<br />
eines Volkes sichtbar werden lassen,<br />
die zum Austragen dieser Konflikte<br />
führen. Und schließlich müsse er sich<br />
mit jener Schicht seines Volkes identifizieren,<br />
»die die progressive Geschichte,<br />
die Freiheit seines Volkes sichert«. 13<br />
Im Jahr 1944 fragte Anna Seghers,<br />
welche Rolle die Kunst in naher Zukunft<br />
haben werde, wenn der Kampf<br />
mit den Waffen entschieden sein wird,<br />
aber »der Kampf von Verstand zu Verstand,<br />
von Geist zu Geist noch lange<br />
andauern wird, ein erbitterter Kampf<br />
zwischen Weltanschauungsfronten«.<br />
Ihre Antwort ist, der Künstler von heute<br />
müsse »die Angriffspunkte ersinnen,<br />
von denen aus er die Mentalität der faschistischen<br />
Jugend von ungeheurem<br />
Wahn, von lügenhaften Vorstellungen,<br />
von totenstarrhafter Verkrampftheit in<br />
Herrschsucht und mechanischem Gehorsam<br />
befreien kann«. Er – der Künstler<br />
– dürfe sich nie scheuen, die Angriffspunkte<br />
zu benutzen, auf denen<br />
Karl Marx in seiner Zeit bestanden hat:<br />
die Erniedrigung, in die Deutschland<br />
gefallen ist, noch furchtbarer machen<br />
durch das Bewusstsein der Erniedrigung,<br />
durch das rücksichtslose Aufzeigen<br />
aller Folgen, aller Kennzeichen der<br />
politischen Ohnmacht, die nicht nur das<br />
Dasein der Nation, die das Dasein jedes<br />
einzelnen in der Nation brandmarken, in<br />
zahllosen, oft nur unbewussten Einwirkungen«.<br />
Vor allem aber müsse der antifaschistische<br />
Künstler die Begriffe von<br />
drei Werten in der deutschen Jugend neu<br />
erwecken: Das »Individuum, das Volk,<br />
die Menschheit« 14 . Antifaschismus wird<br />
hier von Anna Seghers nicht <strong>als</strong> eine Haltung<br />
bestimmt, die nur <strong>als</strong> ein »Gegen«,<br />
nur vom Negativen her definiert werden<br />
kann. <strong>Die</strong>ser Begriff ziele vielmehr<br />
auf eine demokratische Erneuerung. In<br />
diesem Sinne – möchte ich verallgemeinern<br />
– ist die antifaschistische Thematik<br />
für die Literatur in der DDR ein konstitutives<br />
Moment ersten Ranges geworden.<br />
70<br />
<strong>Die</strong> Wendung an die Jugend ist deshalb<br />
ein charakteristischer Zug in der Literatur<br />
der Nachkriegszeit. Friedrich Wolf<br />
gibt seinem 1947 in Berlin geschriebenen<br />
Stück »Wie Tiere des Waldes«<br />
den Untertitel »Ein Schauspiel von Hetzjagd,<br />
Liebe und Tod einer Jugend«. 15 Das<br />
Stück spielt im April 1945 in der Nähe<br />
von Berlin und beruht auf einer tatsächlichen<br />
Begebenheit. Ein junger Soldat<br />
ist in den letzten Kriegstagen desertiert<br />
und versucht, mit seiner Freundin<br />
zu entkommen. <strong>Die</strong> beiden wollen ihre<br />
Liebe verteidigen und ihr Leben retten.<br />
Doch sie geraten in die Maschinerie des<br />
Amok laufenden Nazisystems: sie werden<br />
gehetzt und in die Enge getrieben.<br />
Das Mädchen wird getötet, der junge<br />
Soldat gefangen. Wolf will nicht stehen<br />
bleiben bei der bloßen Darstellung der<br />
Unmenschlichkeit und Brutalität des<br />
Naziregimes, bei der Bedenkenlosigkeit<br />
der Henker und ihrer Helfershelfer. Als<br />
kämpferischer Antifaschist zeigt er, wie<br />
die Großmutter des Jungen zusammen<br />
mit anderen um das Leben des Neunzehnjährigen<br />
kämpft und schließlich Erfolg<br />
hat. <strong>Die</strong> humane Tat soll den Weg<br />
eröffnen in eine Zukunft, die Wolf mit<br />
voller Absicht noch unbestimmt lässt.<br />
<strong>Die</strong> Ratlosigkeit, die er dem geretteten<br />
Soldaten zuschreibt, soll gerade junge<br />
Zuschauer zu einer Identifizierung veranlassen<br />
– denn er will vor allem Resignation<br />
und Hoffnungslosigkeit überwinden<br />
helfen. Das Zeitstück betont die<br />
humane, die moralische Entscheidung,<br />
um diese Zuschauer an die kommende<br />
politische Entscheidung heranzuführen.<br />
Sehr erfolgreich war er freilich damit<br />
nicht.<br />
Für viele Autoren, die aus dem Exil in<br />
ihre Heimat zurückkamen, war es nicht<br />
leicht, Mentalität und Gedankenwelt<br />
der Deutschen während und unmittelbar<br />
nach der faschistischen Herrschaft<br />
zu verstehen und zu gestalten. Doch<br />
sie verstanden rasch, dass in der moralischen<br />
Entscheidung der Leute zur<br />
Ehrlichkeit gegen sich selbst, in der<br />
Entscheidung zur Einsicht in ihre Mitverantwortung<br />
für faschistische Verbrechen<br />
oder gar die Mitschuld an ihnen<br />
eine wesentliche Voraussetzung lag,<br />
mit der faschistischen Vergangenheit<br />
zu brechen und einen neuen Anfang zu<br />
finden.<br />
Willi Bredels Erzählung »Das schweigende<br />
Dorf« (1948) 16 behandelt eben<br />
diese Frage. Berichtet wird von den<br />
Bewohnern eines mecklenburgischen<br />
Dorfes, die kurz vor Kriegsende den<br />
SS-Mördern geholfen haben, sechzig<br />
entflohene KZ-Häftlinge zu fangen und<br />
zu ermorden. <strong>Die</strong> Bauern vereinbarten,<br />
Schweigen darüber zu bewahren.<br />
Nur ein Mädchen hat eines der Häftlingskinder<br />
gerettet, und durch sie erfährt<br />
ein junger Heimkehrer aus dem<br />
Kriegsgefangenenlager den Vorfall.<br />
Der – fiktive – Bericht zeigt exemplarisch,<br />
dass eben dieses Schweigen, die<br />
Weigerung, das Verbrechen öffentlich<br />
zu bekennen, das schweigende Dorf<br />
hindert, das nötige Umdenken, die notwendige<br />
Umgestaltung ihres Lebens zu<br />
vollziehen. Denn die Gemeinsamkeit<br />
des Schweigens bedeutet, die Schuldigen<br />
zu decken und eine Selbstabrechnung<br />
zu verweigern. Wie die Leute<br />
dieses Dorfes dazu finden sollen, mit<br />
ihrer Vergangenheit abzurechnen, weiß<br />
Bredel nicht. Seine Erzählung ist ein<br />
Gleichnis für gesamtgesellschaftliche<br />
Vorgänge und zeigt die Schwierigkeit,<br />
denen Antifaschisten zu begegnen hatten.<br />
Er zeigt auch, wie isoliert sie sich<br />
oft fühlen mochten gegenüber den vielen<br />
Menschen, welche die eigene Vergangenheit<br />
zu verdrängen, aber nicht zu<br />
bewältigen wussten.<br />
Das damit verbundene Problem für die<br />
Schriftsteller hat Anna Seghers auf dem<br />
zweiten deutschen Schriftstellerkongress<br />
1950 unmissverständlich formuliert.<br />
Sie zitiert eine Zeitung, in der zu<br />
lesen war, viele der Aktivisten des Zweijahrplans<br />
seien zwar früher Nazis gewesen,<br />
aber auf Grund ihres Elans, ihrer Arbeitsmoral,<br />
zu einer großen moralischen<br />
Kraft gekommen. Anna Seghers stimmt<br />
dem zwar völlig zu, betont jedoch zugleich,<br />
das sei nur eine Seite der Sache.<br />
Denn ein Schriftsteller könne unmöglich<br />
die Arbeit der Aktivisten, die grandiose<br />
Aufbauarbeit schildern, ohne zu wissen,<br />
dass er <strong>als</strong> Schreiber »nicht abbrechen<br />
(darf) mit der Vergangenheit«, das heißt<br />
nicht ignorieren darf, was die Menschen<br />
ringsum während der Nazijahre gedacht<br />
und getan haben. Ein antifaschistischer<br />
Schriftsteller – mahnt sie – könne nicht<br />
auslassen, was sein Herz bewegt. Er<br />
könne doch nicht seine Angehörigen<br />
vergessen, die unter dem Faschismus<br />
ermordet wurden, und sich der Aufbauarbeit<br />
zuwenden, <strong>als</strong> sei nichts geschehen.<br />
Der großartige Aufbau, die Verwirklichung<br />
des Fünfjahrplans vollziehe sich<br />
nicht nach denselben Gesetzen und mit<br />
demselben Tempo im Innern eines Menschen.<br />
Ein Schriftsteller müsse das wissen,<br />
sonst laufe er Gefahr, dass es ihm<br />
geht wie einem Arzt, der eine Krankheit<br />
geheilt glaubt, während sie sich in Wahrheit<br />
nur in tiefere Schichten des Körpers<br />
hinein verzogen hat. 17
<strong>Die</strong> Folgerungen aus dieser Einsicht hat<br />
Anna Seghers auch <strong>als</strong> Autorin gezogen,<br />
indem sie die Erzählung »Der Mann und<br />
sein Name« (1952) 18 schrieb. Das war<br />
ein neuartiger Zugriff zum antifaschistischen<br />
Thema. Sie erzählt die Geschichte<br />
einer Wandlung, aber in einer<br />
außergewöhnlichen Zuspitzung. Ihr Held<br />
ist ein ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS,<br />
der sich nach dem Krieg den Namen<br />
eines Widerstandskämpfers zulegt,<br />
um sich zu tarnen. Alte Faschisten helfen<br />
ihm dabei, wollen ihn zu ihrem Werkzeug<br />
machen. Der junge Mann, der sich<br />
zunächst verstellt und heuchelt, ein Antifaschist<br />
zu sein, gerät immer mehr<br />
in Widerspruch zu sich selbst und seinen<br />
alten Freunden. <strong>Die</strong> Arbeit für die<br />
neue Ordnung, das Zusammensein mit<br />
Genossen der Sozialistischen Einheitspartei,<br />
die neuen menschlichen Beziehungen<br />
und das Gefühl, gebraucht zu<br />
werden und wiedergutmachen zu können,<br />
verursachen eine tief greifende<br />
Wandlung. Er wendet sich nun gegen<br />
die Feinde der neuen Ordnung, gerät damit<br />
jedoch in einen neuen Widerspruch.<br />
Seiner gewandelten Überzeugung nach<br />
muss er bekennen, unter f<strong>als</strong>chem Namen<br />
zu leben, aber sein Bekenntnis bedeutet<br />
zugleich, das er ausgeschlossen<br />
wird aus dem Kreis, in den er hineingewachsen<br />
und in dem er wirksam geworden<br />
ist. Er entschließt sich zur Ehrlichkeit,<br />
in der Hoffnung, seine Schuld<br />
sühnen zu können.<br />
<strong>Die</strong> Geschichte erzählt – ganz im Sinne<br />
der dam<strong>als</strong> unter aufgeschlossenen<br />
Leuten gängigen Vorstellungen – von<br />
einem neuen Charakter der Arbeit und<br />
von neuen Beziehungen unter den Menschen.<br />
Aber sie erzählt auch von den<br />
zerreißenden Widersprüchen, die dennoch<br />
wirksam sind – und das ist der<br />
realistischere Teil des Ganzen. Gewiss<br />
hat Anna Seghers mit dieser Geschichte<br />
und der darin vorgetragenen Sicht<br />
auf die Gegenwart dazu beigetragen,<br />
dass nun eine neue Schriftstellergeneration<br />
sich selbst und ihre Erfahrungen<br />
im Krieg und im Nachkrieg zu artikulieren<br />
wagte. Wie ein Engagement für<br />
die – wie der offizielle Terminus lautete<br />
– antifaschistisch-demokratische<br />
Ordnung beitragen konnte, die eigene<br />
Vergangenheit zu bewältigen, das war<br />
für viele der jungen Autoren der fünfziger<br />
Jahre ein lebenswichtiges Thema:<br />
das Thema der Abrechnung mit der eigenen<br />
Jugend unter dem Faschismus<br />
und der Wandlung zu einer neuen Haltung<br />
und Weltanschauung. Eines der<br />
bemerkenswertesten Bücher der beginnenden<br />
fünfziger Jahre nennt Anna<br />
Seghers in ihrer Rede auf dem sowjetischen<br />
Schriftstellerkongress. Bisher –<br />
sagte sie da – sei von den Autoren der<br />
DDR noch kein bedeutendes Buch über<br />
den Krieg geschrieben worden. Aber<br />
mehrere junge Schriftsteller hätten begonnen,<br />
ihre Kriegserlebnisse zu verarbeiten.<br />
So habe Franz Fühmann in seiner<br />
Dichtung »<strong>Die</strong> Fahrt nach Stalingrad«<br />
(1953) »entscheidende Punkte herausgebracht<br />
in dem Prozess seiner eigenen<br />
Veränderung. Er schildert drei Fahrten<br />
nach Stalingrad in Gedichtform: <strong>als</strong> Soldat,<br />
<strong>als</strong> Gefangener und <strong>als</strong> Gast« 19 .<br />
Fühmanns Poem ist nach einer Delegationsreise<br />
deutscher Schriftsteller<br />
geschrieben worden, die ihn im Mai<br />
1953 in die Sowjetunion führte. <strong>Die</strong>se<br />
dritte Begegnung mit der Stadt Stalingrad<br />
wird für den Dichter Anlass der<br />
Selbstabrechnung – und der Selbstverständigung<br />
über die Wandlung, die er<br />
durchlaufen hat. Es ist ein autobiographisches<br />
Poem und ein Weltanschauungspoem,<br />
mit großer Ehrlichkeit geschrieben<br />
und mit großer Strenge. »O<br />
Wunder/dieser Gefangenschaft!« –<br />
heißt es darin. »<strong>Die</strong> uns einst Feinde<br />
hießen,/erkennen wir <strong>als</strong> unsere wahren<br />
Freunde;…«. Deutschland-Pathos<br />
bestimmt das Gedicht, wie es der Programmatik<br />
dieser beginnenden fünfziger<br />
Jahre entsprach: ein einheitliches,<br />
demokratisches Deutschland<br />
ohne Kriegstreiber und Monopolisten<br />
zu schaffen. Weniger polemisch formuliert<br />
bedeutet das: ein neutralisiertes<br />
Land, das sozialen Umgestaltungen<br />
aufgeschlossen gegenüber steht. <strong>Die</strong>se<br />
Hoffnung ging 1955 mit den Pariser<br />
Verträgen und der Remilitarisierung der<br />
Bundesrepublik zu Ende. Ein Grundton<br />
des Poems aber, der schon Fühmanns<br />
frühes Werk bestimmt, ist die Wendung<br />
gegen das Vergessen: »Nein, wir dürfen<br />
nicht vergessen,/bis an das Ende unseres<br />
Lebens nicht; und unsere Kinder,/sie<br />
sollen immer wissen, was geschah<br />
…«. 20<br />
Hatte Anna Seghers 1954 noch festgestellt,<br />
es gebe noch kein episches Werk,<br />
das den Romanen vergleichbar wäre, die<br />
nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland<br />
geschrieben wurden – von Ludwig<br />
Renn bis Arnold Zweig -, so war es<br />
wiederum Fühmann, der 1955 mit seiner<br />
Novelle »Kameraden« 21 den Durchbruch<br />
zu einer neuen Fragestellung<br />
erreichte. <strong>Die</strong> Handlung spielt am Vorabend<br />
des Überfalls auf die Sowjetunion.<br />
Drei deutsche Soldaten erschießen unbeabsichtigt<br />
die Tochter eines Offiziers.<br />
Sie beschließen zu schweigen und glauben<br />
sich mit den faschistischen Leitbegriffen<br />
wie Kameradschaft und Treue<br />
vor sich selbst rechtfertigen zu können.<br />
Nach dem Beginn des Krieges gegen die<br />
Sowjetunion veranlasst ein Naziführer,<br />
der Vater eines der drei Soldaten, dass<br />
der Tod des Mädchens sowjetischen<br />
Soldaten angelastet wird und – <strong>als</strong> angebliche<br />
»Vergeltung« – zwei russische<br />
Mädchen erhängt werden. Tief erschüttert<br />
bricht einer der drei Kameraden<br />
jetzt das Schweigen – und wird selber<br />
erschossen. Sein Gewissen ließ ihm keine<br />
andere Wahl.<br />
<strong>Die</strong> Novelle ist in strenger und klarer Prosa<br />
geschrieben, sie eröffnet eine Reihe<br />
epischer Versuche Fühmanns, das Thema<br />
des tragischen Widerspruchs vieler<br />
junger Soldaten zu gestalten, die beeindruckt<br />
von faschistischer Ideologie,<br />
sich dennoch »anständig« zu verhalten<br />
versuchen – und angesichts der Realität<br />
des faschistischen Weltanschaungs-<br />
und Vernichtungskrieges scheitern<br />
müssen. Ein Band »Stürzende Schatten«<br />
(1959) 22 ist hier ebenso zu nennen<br />
wie die gesammelten Erzählungen unter<br />
dem Titel »König Ödipus« (1966). 23 <strong>Die</strong>ser<br />
Band enthält neben der eindrucksvollen<br />
Titelgeschichte aus dem besetzten<br />
Griechenland mit dem aktualisierten<br />
Ödipus-Motiv auch die Erzählung »Barlach<br />
in Güstrow«, eine eindringliche<br />
Auseinandersetzung mit der beklemmenden<br />
Situation des großen Bildhauers<br />
in Nazideutschland. Und in der Erzählung<br />
»Böhmen am Meer« (1963)<br />
verschränkt der Autor kunstvoll die Geschichte<br />
einer böhmischen Umsiedlerin,<br />
die in ihrer neuen Heimat Fuß fasst, mit<br />
dem Erleben des Erzählers, welcher in<br />
Westberlin gleichzeitig den Forderungen<br />
ewiggestriger Revanchisten konfrontiert<br />
wird, die die Korrektur der Nachkriegsgrenzen<br />
fordern.<br />
Mit unerbittlicher Konsequenz ist Fühmann<br />
den Problemen der Wandlung<br />
nachgegangen. In dem Band »Das Judenauto«<br />
(1962) 24 sucht er in vierzehn<br />
Episoden die Etappen seiner eigenen<br />
Entwicklung nachzuzeichnen. Welcher<br />
Mechanismus ihn <strong>als</strong> Kind im Sudetenland<br />
an ein dämonisch-gefährliches<br />
»Judenauto« glauben ließ und antisemitische,<br />
rassistische Gefühle weckte;<br />
wie er <strong>als</strong> Sohn einer kleinbürgerlichen<br />
Familie zum Antikommunisten und<br />
SA-Mann gemacht wird und sich einspannen<br />
lässt in die Zerschlagung des<br />
tschechoslowakischen Staates – alles<br />
das wird erzählt und fortgeführt bis zur<br />
Entscheidung für ein Leben in der DDR.<br />
71
Schärfer wird der Blick in den »Studien<br />
zur bürgerlichen Gesellschaft«, die<br />
unter dem Titel »Der Jongleur im Kino«<br />
(1970) 25 erschienen sind. <strong>Die</strong>se<br />
vier Erzählungen handeln von Erfahrungen<br />
des Kindes mit der Erwachsenenwelt<br />
der dreißiger Jahre, mit der<br />
bürgerlichen Lebensweise. Dargestellt<br />
wird, wie die Zwänge des Besitzdenkens<br />
und der sozialen Abhängigkeit<br />
den Menschen deformieren, wie sie<br />
zu verkehrten Bildern von der Wirklichkeit<br />
und zu antihumanen Haltungen und<br />
Handlungen führen. Am Schluss steht –<br />
<strong>als</strong> böser Triumph des Kindes über die<br />
Erwachsenen – das wie eine Monstranz<br />
erhobene Hitler-Bild. Mit ihm ist<br />
die Drohung verbunden, alle zu vernichten,<br />
die den »Führer« nicht lieben wollen.<br />
<strong>Die</strong> Lust zu verletzen, andern wehe<br />
zu tun, sie einzuschüchtern und zu beherrschen,<br />
erweist sich <strong>als</strong> eine – sozial<br />
begründete – emotionale Grundlage<br />
faschistischer Denkweise und Haltung.<br />
Fühmann legt Wert darauf, dass diese<br />
Haltung durch eine politische Entscheidung<br />
nicht spurlos verschwindet.<br />
<strong>Die</strong>ses Durcharbeiten individueller<br />
und kollektiver Erfahrungen – vertieft<br />
durch Studien der Mythen <strong>als</strong> »Modelle<br />
von Menschheitserfahrung« 26 – führt<br />
Fühmann schließlich zu einer grundlegenden<br />
Neubewertung seines bisher<br />
zentralen Themas: der Wandlung vom<br />
bürgerlichen zum sozialistisch engagierten<br />
Menschen. In »Zweiundzwanzig Tage<br />
oder die Hälfte des Lebens«(1973)<br />
wird das Tagebuch einer Reise nach Ungarn<br />
zum Ausgangspunkt einer philosophish-weltanschaulichenSelbstbesinnung<br />
großen Stils. Sie umfasst eine<br />
neue Vorstellung von Dichtung, in der<br />
Mythologeme, Verallgemeinerungen von<br />
Menschheiterfahrungen, <strong>als</strong> Grundstoff<br />
und Urmuster erscheinen. Aufgabe des<br />
Chronisten sei nicht, etwas zu ändern,<br />
heißt es bei Fühmann, sondern Merkwürdiges<br />
festzuhalten. <strong>Die</strong> Funktion des<br />
Dichters ist aus solcher Sicht: jenes<br />
Stückchen Literatur zu schaffen, das nur<br />
er und kein anderer schreiben kann. Das<br />
bedeutet nicht mehr und nicht weniger<br />
<strong>als</strong> eine Distanzierung von kulturpolitischen<br />
Forderungen an die Literatur,<br />
wie sie in der DDR jener Jahre gängig<br />
waren. Zugleich reflektiert Fühmann<br />
seine vergeblichen Versuche, das, was<br />
man Wandlung nennt, (92) überzeugend<br />
zu beschreiben. Damit gelangt er zu der<br />
Frage, worin denn die typischen Züge<br />
faschistischen Handelns und Denkens<br />
bestanden haben (94), und er kommt<br />
schließlich zu der erschreckenden Einsicht:<br />
»Gesetzt, du wärest nach Ausch-<br />
72<br />
witz kommandiert worden, was hättest<br />
du dort getan? … Du hättest in Auschwitz<br />
vor der Gaskammer genau so funktioniert,<br />
wie du in Charkow oder Athen<br />
hinter deinem Fernschreiber funktioniert<br />
hast«. 27<br />
Fühmann nimmt Abschied von der romantischen<br />
Auffassung von einem geistig-moralisch<br />
souveränen Individuum.<br />
Mit einer solchen Vorstellung – meint<br />
er nun – seien die Bewegungen dieses<br />
Jahrhunderts nicht mehr fassbar: »Nicht<br />
das ist der Faschismus: dass irgendwo<br />
ein Rauch nach Menschenfleisch riecht,<br />
sondern dass die Vergaser auswechselbar<br />
sind«. 28 Und so formuliert er eine<br />
wichtige Einsicht von grundsätzlichem<br />
Gewicht: »Ich bin gleich Tausenden anderen<br />
meiner Generation zum Sozialismus<br />
nicht über den proletarischen Klassenkampf<br />
oder von der marxistischen<br />
Theorie her, ich bin über Auschwitz in<br />
die andere Gesellschaftsordnung gekommen.<br />
Das unterscheidet meine Generation<br />
von denen vor ihr und nach ihr,<br />
und eben dieser Unterschied bedingt<br />
unsere Aufgaben in der Literatur.« 29<br />
Natürlich ist das nicht ohne weiteres<br />
verallgemeinerbar, die Formulierung<br />
Fühmanns ist eine poetologische Prinzipienerklärung,<br />
welche zuerst und vor<br />
allem ihn selber und sein Schaffen erfasst.<br />
Aber er spricht damit doch auch<br />
eine Tendenz aus, die nicht auf den ein<br />
oder anderen Schreiber begrenzbar ist.<br />
<strong>Die</strong> Durcharbeitung von Faschismuserfahrungen<br />
im antifaschistischen Thema<br />
vollzieht sich in der Literatur der DDR<br />
in charakteristischen Etappen. In den<br />
sechziger Jahren herrschte das Bemühen<br />
vor, der Forderung Anna Seghers<br />
gerecht zu werden: epische Darstellungen<br />
des zweiten Weltkrieges zu geben.<br />
<strong>Die</strong>ter Nolls Roman »<strong>Die</strong> Abenteuer<br />
des Werner Holt« 30 ist 1960 erschienen.<br />
Das Buch ist viel gelesen worden,<br />
vor allem von den jungen Menschen, die<br />
den Krieg noch hautnah erlebt hatten.<br />
Es war aber auch jenseits der Grenzen<br />
der DDR erfolgreich, weil der Autor die<br />
Mentaltität junger Hitlersoldaten in ihrer<br />
Differenziertheit begreiflich machte und<br />
zeigte, wie der Mechanismus ihrer Integration<br />
in den Raubkrieg Hitlers funktionierte.<br />
Dabei wollte er freilich nicht<br />
stehen bleiben. Er ging vielmehr darauf<br />
aus, es nicht bei der Entscheidung seines<br />
Helden gegen den Krieg und gegen<br />
den Faschismus zu belassen, sondern<br />
in anschließenden Bänden eine – nicht<br />
weniger komplizierte und umwegige –<br />
Entscheidung seines Helden für den<br />
Sozialismus herbeizuführen. An dieser<br />
künstlerischen Zielstellung scheiterte<br />
Noll freilich, wie ich meine vor allem<br />
deshalb, weil eine solche Sicht auf das<br />
Thema wenig Spielraum ließ. Sie drängt,<br />
bei allen möglichen Komplikationen, auf<br />
eine zweite Entscheidung, deren Endpunkt<br />
und Ergebnis letztlich politisch<br />
vorgegeben und vom Leser leider allzu<br />
folgerichtig abzusehen war. Das verleiht<br />
der Fortsetzung der Erzählung – selbst<br />
bei beträchtlicher Realitätshaltigkeit im<br />
einzelnen – einen unbefriedigenden,<br />
einen ermüdenden Charakter. 31 Eine<br />
solche – zum mehrbändigen Entwicklungsroman<br />
tendierende – Strukturierung<br />
ist für eine ganze Reihe von Versuchen<br />
bezeichnend, von der individuellen<br />
Auseinandersetzung mit dem Kriegserlebnis<br />
zu einer <strong>als</strong> epochentypisch<br />
aufgefassten Wandlung und Persönlichkeitsentwicklung<br />
eines jungen Helden<br />
zu kommen. Dessen Entscheidung gegen<br />
den Krieg soll sich in der Entscheidung<br />
für ein sozialistisches Engagement<br />
bewähren.<br />
Auch Max Walter Schulz’ Roman »Wir<br />
sind nicht Staub im Wind« (1962) 32 ist<br />
nach einem solchen Muster aufgebaut.<br />
Anders <strong>als</strong> bei Noll wird hier freilich der<br />
Versuch gemacht, die Desillusionierung<br />
der Zentralfigur Rudolf Hagedorn in der<br />
faschistischen Armee <strong>als</strong> eine Auseinandersetzung<br />
mit der Wehrlosigkeit eines<br />
Bildungshumanismus zu geben, der an<br />
Traditionen der machtgeschützten Innerlichkeit<br />
deutscher Art orientiert ist.<br />
Thomas Mann hat Pate gestanden bei<br />
diesem bildungsbewussten Buch, das<br />
klassisches Erbe und klassisches Denken<br />
in die aktuelle Auseinandersetzung<br />
des Helden einbezieht. <strong>Die</strong> Lehre<br />
des Buches läuft darauf hinaus, die Beschränkung<br />
auf eine kontemplative Verehrung<br />
und Verinnerlichung klassischer<br />
Bildungsideale reiche nicht aus, um sich<br />
der Anziehung und der Bedrohung entziehen<br />
zu können, die der Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />
für die junge Intelligenz zweifellos<br />
besaß. Auch dieser ursprünglich<br />
auf mehrere Bände geplante Roman ist<br />
nicht zu Ende geführt worden. Aber mit<br />
der Novelle »Der Soldat und die Frau«<br />
(1978) 33 erzählt Schulz die Geschichte<br />
eines deutschen Soldaten, der <strong>als</strong><br />
Kriegsgefangener sowjetischen Menschen<br />
begegnet, russischen Frauen,<br />
deren Hass sich in Vertrautheit und<br />
schließlich elementare menschliche<br />
Gemeinschaft verwandelt. Der kleine<br />
Mann, der den Krieg der Herren führte,<br />
obwohl er weder die Herren noch den<br />
Krieg gewollt hat, erfährt in dieser legendenhaften<br />
Erzählung Solidarität, Liebe,<br />
Gemeinsamkeit und gewinnt ein bisher<br />
nie gekanntes Selbstbewusstsein.
Zu nennen ist hier auch der Roman<br />
»Der Hohlweg« von Günter de Bruyn<br />
(1963). 34 Der Autor hat sich später – im<br />
Jahr 1974 – in einem Essay mit dem ironischen<br />
Titel »Der Holzweg« recht kritisch<br />
mit seinem Erstling auseinandergesetzt.<br />
Vorgeschwebt habe ihm, den<br />
Bewusstseinszustand junger Menschen<br />
zu zeigen, die noch wenig Gelegenheit<br />
hatten, schuldig zu werden und das Ende<br />
des Krieges <strong>als</strong> einen geistigen Zustand<br />
der Schwerelosigkeit, der Leere,<br />
der Offenheit, der Herrschafts- und<br />
Verantwortungslosigkeit erlebten: <strong>als</strong><br />
das »Glück der Anarchie«. <strong>Die</strong> Erinnerung<br />
an diesen selbst erlebten Zustand<br />
sei für ihn eine Art »Mythos vom verlorenen<br />
Paradies« geworden. <strong>Die</strong>se besondere<br />
Art der Befreiung, des Sich-<br />
Losmachens vom Faschismus aber sei<br />
im Roman nicht mehr zu erkennen. Dort<br />
werde statt des Gefühls, endlich Herr<br />
seiner selbst zu sein, allein, groß und<br />
frei, ein Gefühl der Verzweiflung und eine<br />
Haltung des Suchens beschrieben:<br />
»<strong>Die</strong> Erkenntnis, dass es kein geistiges<br />
Vakuum gibt, verführte dazu, auch das<br />
Gefühl davon zu leugnen«. 35 So – meint<br />
der Autor – sei das Buch zum Klischee<br />
geworden und er habe sein Thema verfehlt.<br />
Eine solche Kritik f<strong>als</strong>cher Geradlinigkeit<br />
der Entwicklung korrespondiert<br />
mit Fühmanns Überlegungen und weist<br />
damit auf die literarische Neuansätze<br />
der siebziger Jahre.<br />
Im Jahr 1948 hatte Walter Ulbricht die<br />
SED-Schriftsteller gemahnt, sie seien<br />
zurückgeblieben hinter der Gegenwart<br />
und hielten sich mit Emigrationsliteratur,<br />
KZ-Literatur oder gar mit dem ersten<br />
Weltkrieg auf, statt die Bodenreform<br />
zu gestalten. 36<br />
Der in diesem Fall sehr kurzsichtige Politiker<br />
ahnte nicht, dass ein Jahrzehnt<br />
später gerade ein Roman über die Befreiung<br />
von Buchenwald zu einen der<br />
größten Bucherfolge der DDR in der<br />
Welt werden würde: Bruno Apitz’ Roman<br />
»Nackt unter Wölfen« (1958). 37<br />
Das ist ein Roman über das Konzentrationslager<br />
Buchenwald, kein Tatsachenbericht.<br />
Neu und fesselnd war an dem<br />
Buch, dass nicht nur Leiden und Aufbegehren<br />
der Häftlinge dargestellt, sondern<br />
<strong>als</strong> Kern der Fabel die Geschichte<br />
von der Rettung eines Kindes erzählt<br />
wurde. Das war ein Hoheslied der<br />
Menschlichkeit, gerade deshalb, weil<br />
schroff ein Konflikt herausgearbeitet<br />
wurde, in dem politische Zweckmäßigkeit<br />
gegen humane Verpflichtung stand:<br />
Sollte die bewaffnete Widerstandsorganisation<br />
der Häftlinge gefährdet werden<br />
um eines Kindes will? Durfte sie gefährdet<br />
werden? Oder war nicht gerade die<br />
Rettung des Kindes ein Sieg, der mehr<br />
<strong>als</strong> irgendetwas das Selbstbewusstsein<br />
der Häftlinge heben konnte? Um solche<br />
Fragen ging es, und damit letztlich um<br />
die schwierige und gefährdete Einheit<br />
von revolutionärer Moral und humaner<br />
Solidarität.<br />
Vor dem Hintergrund der Ergebnisse<br />
des XX. Parteitages der KPdSU und seiner<br />
Enthüllungen über die Ungesetzlichkeiten<br />
unter Stalin war das eine bedrängende<br />
Problematik. Und nachdem<br />
in der DDR der Übergang von der antifaschistisch-demokratischen<br />
Phase zur<br />
sozialistischen offiziell verkündet und<br />
schließlich <strong>als</strong> vollzogen erklärt wurde,<br />
rückten verschiedene Maßnahmen<br />
zur Konsolidierung und Stärkung des<br />
Staatswesen in der DDR solche Fragen<br />
individueller und kollektiver Verantwortung<br />
und Entscheidung immer wieder<br />
ins Zentrum öffentlicher Selbstverständigung.<br />
Wenn Ende der sechziger Jahre<br />
eine ganze Reihe von Büchern sich<br />
ausdrücklich wieder des scheinbar so<br />
fernen Themas von Ghetto, Lager und<br />
Zuchthaus zuwandten, so steht dahinter<br />
das Bedürfnis, sich von vereinfachenden<br />
Klischees bei der Aufarbeitung<br />
der Nazivergangenheit zu lösen,<br />
den Spuren nachzugehen, die sie hinterlassen<br />
hat. Und natürlich spielte<br />
auch das Hervortreten von neofaschistischen<br />
Tendenzen in der Bundesrepublik<br />
eine Rolle, die in beiden deutschen<br />
Staaten durchaus <strong>als</strong> bedrohlich empfunden<br />
wurde.<br />
Jurek Becker erzählte in »Jakob, der<br />
Lügner« (1968) 38 die Geschichte von Jakob,<br />
der im Ghetto mit tausenden Leidensgefährten<br />
gefangen, die Hoffnung<br />
auf Rettung aufrechterhält, weil er behauptet,<br />
ein Radio zu besitzen. So erzählt<br />
er von der nahenden Roten Armee<br />
und anderen Dingen, die Rettung verheißen.<br />
Jakob ist – wenn man so will –<br />
ein Hochstapler und Schelm, aber einer,<br />
der durch »wohltätige Lügen« seinen<br />
Freunden »Kraft zum Überleben« vermittelt.<br />
Jüdisches Schicksal und Erlebnis<br />
des Widerstandes verbindet Peter<br />
Edel in seinem Roman »<strong>Die</strong> Bilder des<br />
Zeugen Schattmann« (1969) 39 und dem<br />
autobiographischen Bericht »Wenn es<br />
ans Leben geht« (1979). 40 Im gleichen<br />
Jahr ist auch Eva Lippolds autobiographischer<br />
Roman »Haus der schweren<br />
Tore« (1979) 41 erschienen, ein Bericht<br />
von Widerstand und Haft im Nazizuchthaus,<br />
der – von Günter Rücker zum<br />
Filmszenarium frei umgestaltet – durch<br />
den Film »<strong>Die</strong> Verlobte« (1980) 42 zu ei-<br />
nen tief bewegenden Erlebnis für Millionen<br />
von Zuschauern geworden ist. <strong>Die</strong><br />
Kraft dieser Darstellung liegt nicht zuletzt<br />
in der ungeschminkten und ganz<br />
und gar unheroischen Erfassung des<br />
Alltags, des alltäglichen Lebens und<br />
der individuellen psychischen Welt der<br />
Figuren. Ein Film des großen Regisseurs<br />
Michail Romm trug den Titel »Der gewöhnliche<br />
Faschismus« (1965), und es<br />
kann <strong>als</strong> ein wichtiger Ansatz einer neuen<br />
Reflexion und Gestaltung des antifaschistischen<br />
Themas in den siebziger<br />
Jahren gelten, dass dem faschistischen<br />
Alltag, dem Alltagsfaschismus nachgegangen<br />
wird. 43<br />
In seinem Drama »<strong>Die</strong> Schlacht« 44 –<br />
entstanden zwischen 1951 und 1974 –<br />
hat Heiner Müller eine rigorose Faschismuskritik<br />
gegeben. Mit Mitteln<br />
satirischer Überhöhung und grotesker<br />
Stilisierung gelingt ihm eine paradoxe<br />
Leistung: alltägliche Wirklichkeit des<br />
Lebens im faschistischen Deutschland<br />
durch die Darstellung extremer Situationen<br />
nachvollziehbar zu machen. Große<br />
Widersprüche werden erfasst, in denen<br />
alltägliches Erleben große geschichtliche<br />
Konturen erhält. Da tötet ein Widerständler<br />
seinen Bruder, weil dieser<br />
zum Verräter geworden war. Doch dass<br />
er es wurde, hat seinen Grund darin,<br />
dass ihn seine Genossen <strong>als</strong> Fremden<br />
behandeln mussten, nachdem er von<br />
den Nazis verhaftet worden war. Da<br />
werden deutsche Soldaten im Schnee<br />
im buchstäblichen Sinn zu dem, was<br />
sie im übertragenen Sinn immer waren:<br />
zu Kannibalen. Schließlich wird ein Nazi-Kleinbürger<br />
vorgeführt, der nach Hitlers<br />
Selbstmord erst seine Tochter und<br />
dann die sich sträubende eigene Frau<br />
erschießt – um dann am Leben zu bleiben.<br />
Selten sind die Deformierungen<br />
der Menschen so konsequent ausgestellt<br />
worden wie hier bei Müller. Hatte<br />
Fühmann geschrieben, die Endform der<br />
bürgerlichen Gesellschaft sei das KZ 45 ,<br />
so sind Müllers »Szenen aus Deutschland«<br />
Warnbilder einer kollektiven Deformation,<br />
die nur mühsam aufgebrochen<br />
werden kann. Ob die notwendige<br />
Befreiung möglich ist, scheint der Autor<br />
seinen Lesern und Zuschauern freilich<br />
nicht in der Form einer nachvollziehbaren<br />
Botschaft vermitteln zu wollen.<br />
Das ist eine irritierende Wendung an die<br />
gegenwärtigen Leser und Zuschauer.<br />
Es ist nicht zu übersehen: <strong>Die</strong> Neuaufnahme<br />
des antifaschistischen Themas<br />
ist vielschichtiger und problemgeladener<br />
geworden. »Blickwechsel« 46 hat<br />
Christa Wolf eine Darstellung des ersten<br />
Augenblicks der Freiheit 1945 ge-<br />
73
nannt. »Ich hatte keine Lust auf Befreiung«,<br />
schreibt sie darin und schildert<br />
den Treck und die Tieffliegerangriffe,<br />
mit der emotionalen Genauigkeit wie<br />
sie ihre Ich-Figur erlebt hat. Fremd sind<br />
ihr die Vorgänge von dam<strong>als</strong>, ob KZ-<br />
Häftlinge sich statt auf Brot auf die Gewehre<br />
im Straßengraben stürzen oder<br />
polnische Fremdarbeiter einen deutschen<br />
Gutsbesitzer beiseite schieben<br />
und seine geschwungene Peitsche<br />
wortlos zu Boden fallen lassen. Im Roman<br />
»Kindheitsmuster« (1976) 47 will<br />
Christa Wolf die »Struktur der Vergangenheitsbeziehungen«<br />
ihrer Generation<br />
erforschen, indem sie drei Zeitebenen<br />
in Beziehung setzt: die Kindheit unter<br />
dem Faschismus, eine Familienreise<br />
in den Heimatort, der heute in Polen<br />
liegt, und schließlich die Zeit des<br />
Schreibvorgangs zu Beginn der siebziger<br />
Jahre. Über ihr Anliegen bemerkt<br />
sie pointiert, ein Autor, der heute über<br />
den Faschismus schreibe, habe es »bereits<br />
mit anderen Sachverhalten zu tun<br />
<strong>als</strong> die antifaschistischen Schriftsteller<br />
in der Emigration oder kurz nach dem<br />
Krieg«. <strong>Die</strong> Zeit – schreibt sie – <strong>als</strong>o unsere<br />
Lebenszeit seitdem, gebe der Periode<br />
unserer Geschichte fortlaufend<br />
eine neue Dimension. Deshalb sei der<br />
Sachverhalt, der sich ihr <strong>als</strong> Stoff anbietet,<br />
nicht mehr: Faschismus (d. h. seine<br />
sozialökonomischen Wurzeln, die Eigentumsverhältnisse,<br />
aus denen er entstehen<br />
konnte etc,), sondern »die Struktur<br />
der Vergangenheitsbeziehungen<br />
meiner Generation, das heißt: Bewältigung<br />
der Vergangenheit in der Gegenwart«.<br />
48 Überwindung oder Weiterwirken<br />
der »Kindheitsmuster« in dieser<br />
Gegenwart werden reflektiert. Am Ende<br />
des Romans bleibt die Frage: »Das<br />
Kind, das in mir verkrochen war – ist<br />
es hervorgekommen? Oder hat es sich,<br />
aufgescheucht, ein tieferes, unzugänglicheres<br />
Versteck gesucht? Hat das Gedächtnis<br />
seine Schuldigkeit getan? Oder<br />
hat es sich dazu hergegeben, durch Irreführung<br />
zu beweisen, dass es unmöglich<br />
ist, der Todsünde dieser Zeit zu entgehen,<br />
die da heißt: Sich nicht kennen<br />
lernen zu wollen?« 49<br />
(<strong>Die</strong>sem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde,<br />
der am 22. März 1985 vor japanischen<br />
Germanisten in Berlin – Hauptstadt<br />
der DDR – gehalten wurde.)<br />
Professor Dr. <strong>Die</strong>ter Schiller<br />
74<br />
1 Vgl. Johannes R. Becher, Zur Frage der politischmoralischen<br />
Vernichtung des Faschismus (1945),<br />
in: derselbe, Publizistik 2 1939–1945 (Gesammelte<br />
Werke Band 16), Berlin und Weimar 1978,<br />
S. 403 ff. Vgl. auch <strong>Die</strong>ter Schiller, Bechers Gedanke<br />
einer demokratischen Erneuerung der deutschen<br />
Kultur und der Kulturbund 1943–1947, in:<br />
Bulletin des Arbeitskreises »Zweiter Weltkrieg«<br />
Nr. 1–4, 1985, S. 165–181.<br />
2 Johannes R. Becher, Bemerkungen zu unseren Kulturaufgaben<br />
(1944), in: Johannes R. Becher, Publizistik<br />
2, S. 362 ff.<br />
3 Johannes R. Becher, Gedichte 1942–1948 (Gesammelte<br />
Werke Band 5), Berlin und Weimar 1967,<br />
S. 538.<br />
4 Vgl. Fritz Selbmann, Aufbruch des Geistes. Zur Frage<br />
der neuen deutschen Volkskultur. Referat auf<br />
der Kulturtagung des Antifaschistischen Blocks,<br />
Leipzig, 29. Juni 1945, Hg. Zentralausschuss Antifaschistischer<br />
Block Leipzig, S. 4.<br />
5 Bernhard Kellermann: Was sollen wir tun? Auferstehung<br />
aus Schutt und Asche. Berlin 1945<br />
6 Bernhard Kellermann: Totentanz, Berlin 1948; weitere<br />
Ausgaben: 1951, 1960, 1983. – Vgl. Bernhard<br />
Kellermann, Eine Nachlese 1906–1951, hrsg. v.<br />
H.D. Tschärtner. Berlin 1979, S. 45 ff.<br />
7 Hans Fallada, Jeder stirbt für sich allein. Berlin<br />
1947. <strong>Die</strong> Ausgabe besorgte Paul Wiegler. – Auch:<br />
Hans Fallada: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben<br />
VIII, hrsg. v. Günter Caspar. Berlin und Weimar<br />
1981.<br />
8 Theodor Plievier, Stalingrad, Berlin 1945.<br />
9 Elisabeth Langgässer, Das unauslöschliche Siegel.<br />
Hamburg 1946. – Vgl. dazu ergänzend <strong>Die</strong>ter<br />
Schiller, Drama zwischen Gott und Satan. Elisabeth<br />
Langgässers Auseinandersetzung mit dem<br />
Faschismus in »Das unauslöschliche Siegel«, in:<br />
Erfahrung Nazideutschland. Romane in Deutschland<br />
1933–1945, hrsg. v. Sigrid Bock und Manfred<br />
Hahn, Berlin und Weimar 1987, S. 412 ff.<br />
10 Walter Dirks, Elisabeth Langgässer, in: Frankfurter<br />
Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik. Frankfurt<br />
am Main, 3. Jg., Heft 12/1948, S. 1127.<br />
11 Anna Seghers, <strong>Die</strong> Toten bleiben jung. Roman. Berlin<br />
1949. – Vgl. auch Sigrid Bock, Erziehungsfunktion<br />
und Romanexperiment. Anna Seghers: <strong>Die</strong><br />
Toten bleiben jung, in: Erfahrung Exil. Antifaschistische<br />
Romane 1933–1945, hrsg. von Sigrid Bock<br />
und Manfred Hahn, Berlin und Weimar 1979.<br />
12 Johannes R. Becher, Publizistik 2, S. 403.<br />
13 Anna Seghers, Volk und Schriftsteller, in: Anna<br />
Seghers: Aufsätze, Ansprachen, Essays 1927–<br />
1953 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben Band<br />
XIII), Berlin und Weimar 1980, S. 114 ff.<br />
14 Anna Seghers, Aufgaben der Kunst, in: ebenda,<br />
S. 168 ff.<br />
15 Friedrich Wolf, Wie Tiere des Waldes. Ein Schauspiel<br />
von Hetzjagd, Liebe und Tod einer Jugend,<br />
in: derselbe, Gesammelte Dramen Band IV, Berlin<br />
1952, S. 195 ff. – Geschrieben 1947 in Berlin.<br />
16 Willi Bredel, Das schweigende Dorf und andere Erzählungen,<br />
Rostock 1949. – Siehe auch Willi Bredel,<br />
Auf den Heerstraßen der Zeit. Erzählungen,<br />
Berlin 1957, S. 526 ff.<br />
17 Anna Seghers, Aufsätze, Ansprachen, Essays,<br />
S. 336 f.<br />
18 Anna Seghers, Der Mann und sein Name, Berlin<br />
1952.<br />
19 Anna Seghers, Zum zweiten Kongress der Sowjetschriftsteller,<br />
in: dieselbe, Aufsätze, Ansprachen,<br />
Essays 1954–1979 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben<br />
Band XIV), Berlin und Weimar 1980,<br />
S. 39. – Anna Seghers schätzte die Dichtung Fühmanns<br />
und hat eine essayistische Studie mit dem<br />
Titel »Fahrt nach Stalingrad« darüber veröffentlicht.<br />
Vgl. Aufsätze, Ansprachen Essays 1954–1979,<br />
S. 49 ff. – Fühmann hat diese frühe Arbeit nicht in<br />
seine Werkausgabe aufgenommen.<br />
20 Franz Fühmann, <strong>Die</strong> Fahrt nach Stalingrad. Eine<br />
Dichtung, Berlin 1953, S. 49 und 60 f.<br />
21 Franz Fühmann, Kameraden. Novelle, Berlin 1955.<br />
22 Franz Fühmann, Stürzende Schatten. Novellen.<br />
Illustrationen von Hans und Lea Grundig, Berlin<br />
1959 (Enthält: Das Gottesgericht, Kapitulation,<br />
Das Erinnern).<br />
23 Franz Fühmann, König Ödipus. Gesammelte Erzählungen,<br />
Berlin und Weimar 1966.<br />
24 Franz Fühmann, Das Judenauto. Vierzehn Tage aus<br />
zwei Jahrzehnten, Berlin 1962.<br />
25 Franz Fühmann, Der Jongleur im Kino oder <strong>Die</strong> Insel<br />
der Träume, Rostock 1970.<br />
26 Franz Fühmann, Das mythische Element in der<br />
Literatur, in: derselbe, Erfahrungen und Widersprüche.<br />
Versuche über Literatur, Rostock 1975,<br />
S. 164.<br />
27 Franz Fühmann, Zweiundzwanzig Tage oder <strong>Die</strong><br />
Hälfte des Lebens. Rostock 1973, S. 198 ff.; vgl.<br />
auch S. 36, 41, 79, 92, 181 ff.<br />
28 Ebenda, S. 198.<br />
29 Ebenda, S. 200.<br />
30 <strong>Die</strong>ter Noll, <strong>Die</strong> Abenteuer des Werner Holt. Roman<br />
einer Jugend, Berlin 1960.<br />
31 <strong>Die</strong>ter Noll, <strong>Die</strong> Abenteuer des Werner Holt. Roman<br />
einer Heimkehr, Berlin 1963.<br />
32 Max Walter Schulz, Wir sind nicht Staub im Wind.<br />
Roman einer unverlorenen Generation. Buch 1,<br />
Halle 1962.<br />
33 Max Walter Schulz, Der Soldat und die Frau. Novelle,<br />
Halle-Leipzig 1978.<br />
34 Günter de Bruyn, Der Hohlweg. Roman, Halle<br />
1963.<br />
35 Eröffnungen. Schriftsteller über ihr Erstlingswerk,<br />
hrsg. v. Gerhard Schneider, Berlin und Weimar<br />
1974, S. 138 ff., insbes. S. 141.<br />
36 Walter Ulbricht, Der Künstler im Zweijahrplan.<br />
Diskussionsrede auf der Arbeitstagung der SED-<br />
Schriftsteller und Künstler. 2. September 1948,<br />
in: derselbe, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung.<br />
Aus Reden und Aufsätzen. Band III:<br />
1946–1950, Berlin 1953, S. 313<br />
37 Bruno Apitz, Nackt unter Wölfen. Roman. Halle<br />
1958.<br />
38 Jurek Becker, Jakob der Lügner, Berlin und Weimar<br />
1969.<br />
39 Peter Edel, <strong>Die</strong> Bilder des Zeugen Schattmann. Ein<br />
Roman über deutsche Vergangenheit und Gegenwart,<br />
Berlin 1969.<br />
40 Peter Edel, Wenn es ans Leben geht. Meine Geschichte.<br />
Erster und zweiter Teil, Berlin 1979.<br />
41 Eva Lippold, Haus der schweren Tore. Roman, Berlin<br />
1971; Leben, wo gestorben wird. Berlin 1974<br />
42 Günther Rücker, <strong>Die</strong> Verlobte, in: derselbe, <strong>Die</strong> Verlobte<br />
u. a. Berlin 1988, S. 361 ff. – Der Film »<strong>Die</strong><br />
Verlobte« (Regie Günther Rücker/Günter Reisch)<br />
hatte am 2. September 1980 Premiere.<br />
43 Vgl. hierzu auch: Rolf Richter, Reicht es aus, sich<br />
mit dem Alltag zu befassen? Zur Analyse und Kritik<br />
der nichtmarxistischen Alltagsgeschichtsschreibung,<br />
in: Konsequent, Westberlin, H. 4/1982,<br />
S. 81–91 u. derselbe, Zur Analyse und Kritik der<br />
nichtmarxistischen Geschichtsschreibung über<br />
den Alltag im deutschen Faschismus, in: Beiträge<br />
zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft<br />
6/1983, S. 824–834.<br />
44 Heiner Müller, <strong>Die</strong> Schlacht. Szenen aus Deutschland,<br />
in: derselbe, <strong>Die</strong> Schlacht/Traktor. Leben<br />
Gundlings. Friedrich von Preußen. Lessings Schlaf-<br />
TraumSchrei. Mit einem Nachwort von Joachim<br />
Fiebach, Berlin 1977, S. 7 ff.<br />
45 Franz Fühmann, Zweiundzwanzig Tage oder <strong>Die</strong><br />
Hälfte des Lebens, S. 195.<br />
46 Christa Wolf, Blickwechsel, in: Der erste Augenblick<br />
der Freiheit, hrsg. v. Elli Schmidt, Rostock<br />
1970, S.329 ff.<br />
47 Christa Wolf, Kindheitsmuster, Berlin und Weimar<br />
1976.<br />
48 Christa Wolf, Fortgesetzter Versuch. Aufsätze, Gespräche,<br />
Essays, Leipzig 1982, S. 92.<br />
49 Christa Wolf, Kindheitsmuster, S. 530.
BERICHTE UND INFORMATIONEN<br />
2. Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft<br />
Rechtsextremismus/Antifaschismus der<br />
Linkspartei im Jahre 2008<br />
Am 6. Dezember 2008 fand im Berliner<br />
Karl-Liebknecht-Haus die zweite Tagung<br />
der BAG statt. Horst Helas konnte<br />
dazu für den Sprecherrat 40 Mitglieder<br />
und Gäste begrüßen, darunter Vertreter<br />
mehrerer antifaschistischer Organisationen<br />
und erstm<strong>als</strong> auch Vertreter<br />
der Landesarbeitsgemeinschaft Antifaschismus<br />
der Linkspartei aus dem Saarland.<br />
Im ersten Tagesordnungspunkt erörterten<br />
die Beratungsteilnehmer –<br />
ausgehend von den Erfahrungen der<br />
letzten Monate und mit Blick auf die<br />
Vorbereitung wichtiger Wahlen im Jahre<br />
2009 – aktuelle Einschätzungen zum<br />
Rechtsextremismus und zu den Gegenstrategien.<br />
Impulse dafür gab zunächst<br />
das Mitglied der Bundestagsfraktion <strong>Die</strong><br />
<strong>Linke</strong> MdB Ulla Jelpke. Außerdem hatte<br />
der Sprecherrat in Vorbereitung der Beratung<br />
ein Diskussionspapier »Rechtsextremismus<br />
und Antifaschismus in<br />
Deutschland« versandt und auch mit<br />
dem neuen Rundbrief 4/2008 lagen<br />
weitere Einzelanalysen zur Situation in<br />
den Bundesländern vor.<br />
Ulla Jelpke vermittelte eingangs einen<br />
Überblick über das gegenwärtige Agieren<br />
der drei wichtigsten Strömungen<br />
des Rechtsextremismus im Lande: die<br />
eher rechtspopulistischen Kräfte (hier<br />
unter anderem die Pro-Bewegungen<br />
und die nicht mehr vom Verfassungsschutz<br />
beobachteten Republikaner),<br />
die neonazistischen Parteien (NPD,<br />
DVU), die militant und aggressiv auftretenden<br />
Gruppierungen (von der Kameradschaftsszene<br />
bis hin zu den erstarkenden<br />
»Autonomen Sozialisten«).<br />
Dabei verdient die NPD nach wie vor<br />
besondere Aufmerksamkeit, die mit ihren<br />
zur Zeit 7.300 Mitgliedern inzwischen<br />
auch die weiter an Einfluss verlierende<br />
DVU überholt hat, die verstärkt<br />
ihren völkischen »Antikapitalismus« propagiert<br />
und versucht, den Spagat zwischen<br />
den eher auf »Ankommen« in der<br />
bürgerlichen Mitte ausgerichteten Kräften<br />
und ihrem mit den »Freien Kräften«<br />
operierenden militanten Flügel auszuhalten.<br />
Jelpke betonte, dass aus den für<br />
diese meist enttäuschenden Wahlergebnissen<br />
im letzten Jahr und aus den fortwährenden<br />
personellen und finanziellen<br />
76<br />
Krisen rechtsextremer Parteien keinesfalls<br />
eine Entwarnung vor den bestehenden<br />
Gefahren herausgelesen werden<br />
kann.<br />
Aus ihrer Erfahrung im Bundestag setzte<br />
sich die Referentin mit den verschiedenen<br />
Standpunkten zu einem Verbot<br />
der NPD auseinander. Da es sich zeigt,<br />
dass bei vielem Wortgeklingel von Seiten<br />
anderer Parteien eine ernsthafte<br />
Bekämpfung dieser neonazistischen<br />
Partei fehlt, bleibt für die <strong>Linke</strong> <strong>als</strong> nächster<br />
Schritt neben der ständigen Entlarvung<br />
der NPD auch weiterhin die Forderung<br />
nach Abschaltung der V-Leute<br />
des Verfassungsschutzes auf der Tagesordnung.<br />
Für die Wahlen im Jahre 2009<br />
müssen auch die Aktivitäten der Pro-Bewegung,<br />
die zum Beispiel in Nordrhein-<br />
Westfalen bei den Kommunalwahlen<br />
flächendeckend antreten will, die der<br />
Republikaner und ähnlicher Kräfte im<br />
Visier behalten werden, die allesamt auf<br />
einer nationalistischen, rassistischen<br />
und ausländerfeindlichen Plattform<br />
agieren.<br />
In der anschließenden regen Diskussion<br />
wurde ein breiter Fragenkreis berührt –<br />
von der Zunahme der rechtsextremen<br />
Militanz und Gewalt in einigen Bundesländern<br />
(unter anderem in Rheinland-<br />
Pfalz und im Berliner Umland), der Einschätzung<br />
der Situation in der NPD, der<br />
Beurteilung von Wahlergebnissen, der<br />
Rolle der Musik für den Einfluss der Neonazis<br />
bis zur Reaktion der rechtsextremen<br />
Parteien auf die weltweite Finanzkrise.<br />
Einen besonderen Schwerpunkt bildeten<br />
dabei Erfahrungen aus den Kommunen.<br />
Aus dem Einzug einer ganzen<br />
Reihe von Neonazis in die kommunalen<br />
Parlamente, wie jüngst bei den Kommunalwahlen<br />
in Brandenburg im September<br />
2008, ergeben sich neue Probleme.<br />
Auch wenn eine Anzahl dieser Leute<br />
erst sehr geringe Erfahrungen in ihrem<br />
parlamentarischen Auftreten hat, so<br />
sind doch die Anstrengungen der Neonazis<br />
zu deren Schulung und zur Koordinierung<br />
überörtlich nicht zu übersehen.<br />
Wie die sächsischen NPD-Erfolge bei<br />
den Kreistagswahlen zeigen, sind diese<br />
auch das Sprungbrett für weitere Aktivitäten<br />
bei Landtagswahlen und darüber<br />
hinaus. Für die <strong>Linke</strong> ergeben sich deshalb<br />
Notwendigkeiten einer verstärkten<br />
Hilfe in schriftlicher und mündlicher<br />
Form für ihre Vertreter in den kommunalen<br />
Parlamenten, wie unter anderem<br />
Reiner Tietz und Gerhard Seifert an Beispielen<br />
aus dem Kreis Oberhavel demonstrierten.<br />
Aus Beiträgen zur Heranziehung historischer<br />
Erfahrungen für die kommenden<br />
Auseinandersetzungen (die unter anderem<br />
von Rolf Richter und Heinz Engelstädter<br />
vorgetragen wurden) ergab sich,<br />
dass der Kampf um die Aufrechterhaltung<br />
demokratischer Verhältnisse angesichts<br />
der zahlreichen Versuche, demokratische<br />
Rechte der Bürger auch von<br />
Regierungsseite her zu beschneiden<br />
und angesichts immer neuer Provokationen<br />
der Neonazis im Straßenkampf,<br />
nach wie vor höchste Priorität genießen<br />
muss. Stets braucht es breite, demokratische<br />
Bündnisse und zivilgesellschaftliches<br />
Engagement, besonders auch<br />
dort, wo es gilt, junge Menschen vor<br />
neonazistischem Einfluss zu schützen.<br />
Und massenpsychologisch – so wurde<br />
ebenfalls mit Bezug auf geschichtliche<br />
Lehren und auf Erfahrungen im antifaschistischen<br />
Kampf beruhend hervorgehoben<br />
– müssen dabei stets die sozialpolitischen<br />
Forderungen im Vordergrund<br />
stehen, um der Demagogie der Neonazis<br />
keinen Raum zu lassen.<br />
Wichtige Informationen enthielt auch<br />
der Beitrag des Bundessprechers der<br />
VVN-BdA, Prof. Gerhard Fischer. Er würdigte<br />
die Erfolge der Kampagne 2008<br />
»NPD-Verbot jetzt!«, deren Ergebnisse<br />
mit 175.000 Unterschriften vom Bundestag<br />
letztlich doch nicht einfach weggewischt<br />
werden konnten und dankte<br />
für die Unterstützung, die auch aus den<br />
Reihen der Linkspartei kam. Auch im<br />
nächsten Jahr wird die NPD keine Ruhe<br />
haben, es wird Fortsetzungen der Kampagne<br />
geben, auch das Logo »NoNPD«<br />
wird uns weiter begleiten.<br />
Im zweiten Punkt der Tagesordnung<br />
beschäftigten sich die Teilnehmer der<br />
Beratung mit der Situation in den Gedenkstätten<br />
für die Opfer der faschistischen<br />
Diktatur, darunter mit der sogenannten<br />
Gedenkstättenkonzeption<br />
der Bundesregierung. Anerkennende
Worte fanden sie für die fleißige Arbeit<br />
der Mitarbeiter in den Gedenkstätten<br />
und den Einsatz vieler Zeitzeugen für<br />
den Erhalt und die Betreuung der Besucher<br />
der Einrichtungen. Besondere Anerkennung<br />
zollten sie intensiver Jugendarbeit<br />
in manchen Gedenkstätten, über<br />
die zum Beispiel Peter Hochmuth von<br />
der Lagergemeinschaft Buchenwald und<br />
Karl-Heinz Lutkat von der verdi-Jugend<br />
berichteten.<br />
Gleichzeitig hielten sie mit ihrem Unverständnis<br />
und ihrer Kritik an dem Dokument<br />
der Bundesregierung nicht zurück,<br />
die mit der Vermischung der Gedenkstätten-Konzeptionen<br />
für die Opfer der<br />
Nazidiktatur und der »DDR-Diktatur«<br />
und der Schwerpunktsetzung der Förderung<br />
auf letztere dem Geschichtsrevisionismus<br />
Tür und Tor öffnet und neue<br />
Instrumente zur »Delegitimierung« der<br />
DDR schafft.<br />
Dr. Detlef Kannapin, Mitarbeiter der Bundestagsfraktion<br />
<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>, zeichnete in<br />
seinem einführenden Vortrag den Werdegang<br />
der Konzeption der Bundesregierung<br />
nach, die auch nach vielen<br />
Diskussionsrunden in der nun im November<br />
von der Mehrheit des Bundestages<br />
gebilligten Fassung keinen wirklich<br />
akzeptablen Rahmen gefunden hat.<br />
Zwar konnte im Verlauf der letzten beiden<br />
Jahre die im ersten Entwurf praktisch<br />
geleugnete Singularität der faschistischen<br />
Verbrechen nun im Dokument<br />
verankert werden, doch bleibt dieses<br />
Papier in seiner antikommunistischen<br />
Diktion. Mussten zum ersten Entwurf<br />
auch Leiter der Gedenkstätten für die<br />
Opfer des Faschismus feststellen, dass<br />
hier ein regelrechter »geschichtsrevisionistischer<br />
Putsch« versucht wurde, so<br />
bleibt nach dessen Entschärfung auch<br />
heute die Absicht deutlich und die Gefahr<br />
reaktionären Missbrauchs virulent.<br />
Kommt die Konzeption doch nicht nur<br />
jenen entgegen, die ganz offenkundig<br />
die gesamte Geschichte der DDR hinter<br />
Stasi-Gebäuden und die hinter den<br />
Erinnerungen an die Sonderlager der<br />
sowjetischen Besatzungsmacht in Buchenwald<br />
und Sachsenhausen die KZ-<br />
Gedenkstätten verschwinden lassen<br />
wollen. Sie steht auch nicht zufällig im<br />
Rahmen der CDU-Debatten über den<br />
Umgang mit der eigenen Geschichte,<br />
über die Erinnerungen in der Bevölkerung<br />
an die DDR und um die künftige<br />
antikommunistische Beeinflussung der<br />
Schüler. Auch die Einrichtung eines Zentrums<br />
in Berlin, das Erika Steinbachs<br />
Versionen von Vertreibungen darstellen<br />
soll und die Schaffung neuer Denkmale<br />
für tote Bundeswehrsoldaten und vor<br />
dem Neubau des Berliner Schlosses hat<br />
damit zu tun.<br />
In der Diskussion wurde betont, dass<br />
beträchtliche Mittel in die Baulichkeiten<br />
der KZ-Gedenkstätten investiert wurden,<br />
dass es aber gleichzeitig dort nicht<br />
genügend Gelder für die notwendige<br />
pädagogische Arbeit und dazu gehörende<br />
Ausstellungen gibt. Hinsichtlich<br />
der immer weniger werdenden Zeitzeu-<br />
gen wurde vermerkt, dass es wichtig ist,<br />
deren Wissen und Erfahrungen solange<br />
wie möglich gerade im Gespräch mit<br />
Jugendlichen zu nutzen, dass es aber<br />
auch gilt, die von ihnen hinterlassenen<br />
schriftlichen und audiovisuellen Quellen<br />
vor Verfälschungen zu schützen. Heute<br />
führt die Konzeption der Bundesregierung<br />
zur Förderung der Gedenkstätten<br />
bei denen mit »doppelter Vergangenheit«<br />
wie Sachsenhausen und Buchenwald<br />
dazu, dass bewusst mehr Gelder<br />
für die Darstellung der »Sonderlager«<br />
fließen, während andererseits zu den<br />
Rettern vor dem Faschismus immer weniger<br />
gesagt wird. In diesem Zusammenhang<br />
wurde darauf hingewiesen, dass<br />
es in den alten Bundesländern auch eine<br />
Erinnerung an die »doppelte Vergangenheit«<br />
mancher Einrichtungen geben<br />
müsste. So ist zwar das Gefängnis<br />
Wolfenbüttel <strong>als</strong> faschistische Kerker-<br />
und Opferstätte bekannt, verschwiegen<br />
wird aber, dass es nach 1945 in den Jahren<br />
des kalten Krieges gleich wieder <strong>als</strong><br />
Kerker für Antifaschisten, Kommunisten<br />
und Kriegsgegner diente.<br />
Am Schluss der Beratung erläuterte Dr.<br />
Gerd Wiegel die Vorbereitungen für eine<br />
zentrale Konferenz der Bundestagsfraktion<br />
<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> und der Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />
zum Rechtsextremismus,<br />
die am 24. und 25. Januar 2009 im<br />
Berliner Abgeordnetenhaus stattfinden<br />
wird.<br />
Dr. sc. Roland Bach<br />
77
»Es brennt!« Eine Ausstellung zum<br />
antijüdischen Terror im November 1938<br />
Am 6. November 2008 wurde eine<br />
neue Ausstellung in Berlin eröffnet. Im<br />
Centrum Judaicum ist sie bis 1. März<br />
2009 zu sehen. Und es gibt einen reich<br />
illustrierten und informativen Begleitband<br />
zur Ausstellung – zum erschwinglichen<br />
Preis von 15 Euro.<br />
<strong>Die</strong> drei für Ausstellung und Publikation<br />
projektverantwortlichen Stiftungen<br />
(Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum<br />
Judaicum; Stiftung Topographie<br />
des Terrors; Stiftung Denkmal für die<br />
ermordeten Juden Europas) haben untertrieben,<br />
indem sie diesen Band <strong>als</strong><br />
»Katalog« bezeichneten. Erschienen ist<br />
vielmehr eine gelungene Mischung aus<br />
Essay-Band und Ausstellungskommentierung.<br />
Bilder einer Ausstellung sollte man<br />
nicht zu beschreiben versuchen. <strong>Die</strong><br />
ganz individuelle Betrachtung macht<br />
doch den Reiz aus, auch in diesem besonderen<br />
Falle. Mir fiel <strong>als</strong> Gemeinsames<br />
an den kaum bekannten Fotos<br />
vom Novemberpogrom 1938 besonders<br />
auf: <strong>Die</strong> Spuren von Gewalt sind<br />
im Straßenbild unübersehbar gewesen,<br />
ebenso das Nichtstun vieler Gaffer<br />
und das Tun von sich an fremdem<br />
Eigentum bereichernden Raffern. Das<br />
Gezielte der Aktion vom November<br />
1938 wird erkennbar, wenn Straßenzüge<br />
zu sehen sind, wo zerschlagene<br />
Schaufensterscheiben neben unberührten<br />
Geschäftsauslagen zu sehen<br />
sind. Aus Nachbarn waren Juden geworden.<br />
Der Begleitband/Katalog wird eingeleitet<br />
durch drei kurze Beiträge: Einem<br />
Vorwort der Direktoren der genannten<br />
Stiftungen (Dr. Hermann Simon,<br />
Prof. Dr. Andreas Nachama und Uwe<br />
Neumärker), einem Grußwort des Regierenden<br />
Bürgermeisters von Berlin,<br />
Klaus Wowereit, sowie einem Text<br />
des Direktors des Zentrums für Anti-<br />
semitismusforschung an der TU Berlin,<br />
Prof. Dr. Wolfgang Benz.<br />
Der erste Teil des Bandes beschreibt verschiedene<br />
Aspekte der Vorgeschichte<br />
und des Verlaufs des Pogroms. Im Zentrum<br />
stehen die zeitgenössischen Fotos.<br />
Zwei am Beginn dieses Abschnitts<br />
(S. 46 f.) gegenübergestellte historische<br />
Karten gewinnen ihre Aussagekraft<br />
nicht durch die Detailgenauigkeit <strong>als</strong><br />
Wegweiser zur Suche nach historischen<br />
Orten. Sie bestechen durch zwei Aussagen.<br />
<strong>Die</strong> Dichte jüdischer Einrichtung,<br />
die für das Deutschland der Weimarer<br />
Republik davon zeugten, dass jüdisches<br />
Leben zum Alltag gehörte. Und die Dichte<br />
der Übergriffe im November 1938.<br />
1283 Synagogen und jüdische Betesäle<br />
wurden im November 1938 zerstört. <strong>Die</strong><br />
Forschungen sind nicht abgeschlossen,<br />
immer wieder kommen weitere, bislang<br />
nicht bekannte Beispiele hinzu.<br />
Angemerkt sei, dass auch ein weit verbreiteter<br />
Irrtum aufgeklärt wird, er betrifft<br />
die Neue Synagoge in der Berliner<br />
Oranienburger Straße. »Das Foto, das<br />
die brennende Synagoge im November<br />
1938 zeigt, ist um das Jahr 1948 entstanden.<br />
Dabei handelt es sich um eine<br />
Fälschung: Flammen sind in eine Aufnahme,<br />
die nach dem Bombenangriff<br />
(vom November 1943) gemacht wurde,<br />
hineinretuschiert worden. Dennoch<br />
dient dieses Foto immer wieder dazu,<br />
die Geschehnisse des November 1938<br />
zu illustrieren.« (S. 103)<br />
Der Teil zwei des Begleitbandes/Kataloges<br />
umfasst sechs Beiträge, die bloße<br />
Nennung ihrer Titel soll die Neugier potentieller<br />
Leser fördern: Frühe Berichte<br />
von Verfolgten des antijüdischen Terrors<br />
im November 1938 (Ulrich Baumann);<br />
Der Novemberpogrom 1938 im Spiegel<br />
diplomatischer Berichte aus Berlin (Hermann<br />
Simon); Reaktionen auf den Novemberpogrom<br />
in der jüdischen Pres-<br />
se in Polen 1938/39 (Ingo Loose); Zur<br />
bildlichen Überlieferung des Novemberpogroms<br />
(Klaus Hesse); <strong>Die</strong> justizielle<br />
Ahndung von »Reichskristallnacht«-Verbrechen<br />
durch die westdeutsche Justiz<br />
seit 1945 (Edith Raim); Das Gedenken<br />
an den Novemberpogrom 1938 (Andreas<br />
Nachama).<br />
Der Begleitband/Katalog wird im Anhang<br />
durch ein Orts- und Personenregister<br />
sowie Literaturempfehlungen komplettiert.<br />
<strong>Die</strong> Verantwortlichen für Ausstellung<br />
und Katalog sehen ihr Wirken <strong>als</strong> Beitrag,<br />
»den 9. November 1938 <strong>als</strong> Gedenktag<br />
für die jüdischen Opfer aus<br />
dem Deutschen Reich wieder in den<br />
Vordergrund der deutschen Erinnerungskultur<br />
zu rücken«. (S. 9) Dass dies<br />
im Herbst 2008 in hohem Maße gelungen<br />
ist, davon zeugt eine große Zahl<br />
von Initiativen, Veranstaltungen und<br />
Ausstellungen überall in Deutschland.<br />
Leider gibt es aber auch eine andere<br />
Tendenz. Mehr <strong>als</strong> in den Jahren zuvor<br />
berichteten die Medien in den Tagen<br />
des Jubiläums über Fälle von Gewalt<br />
gegenüber Juden <strong>als</strong> Personen und jüdischen<br />
Einrichtungen sowie über notwendigen<br />
Bürgerprotest gegen rechtsextremistische<br />
Verunglimpfung dieses<br />
Gedenkens. Aachen, Berlin, Erfurt, Fulda,<br />
Gotha, Moers, Schöneiche, Waren,<br />
Wetter und andere Orte wären hier zu<br />
nennen. <strong>Die</strong> Anstrengungen zur Zurückweisung<br />
jeglicher Erscheinung von Antisemitismus<br />
in der deutschen Gesellschaft<br />
– immer sofort, überall und mit<br />
aller Konsequenz – bleibt eine zentrale<br />
Aufgabe.<br />
Schließlich die übliche Anregung: <strong>Die</strong><br />
Ausstellung selbst besuchen, den Katalog<br />
kaufen und Freunde wie Bekannte<br />
auf beides hinzuweisen.<br />
Dr. Horst Helas<br />
79
»Stille Helden« – Noch eine Gedenkstätte<br />
in Berlin? Ja, und das ist gut so.<br />
Am 27. Oktober 2008 wurde die neue<br />
Gedenkstätte Stille Helden feierlich eröffnet,<br />
unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit.<br />
Auf zwei Ausstellungsetagen<br />
werden am Hackeschen Markt<br />
ausgewählte Beispiele jahrelanger Forschungen<br />
vorgestellt. In einem Begleitbuch<br />
zur Präsentation kann man dazu<br />
Näheres nachlesen. 1 Im Buch wie in der<br />
Dauerausstellung werden unterschiedliche<br />
Hilfsaktionen erläutert, die alle<br />
einem gemeinsamen Ziel dienten: bedrängten<br />
Juden in Deutschland zu helfen<br />
– auf dem Weg ins rettende Exil oder<br />
in die Illegalität mitten in Deutschland.<br />
Allein 1.700 Frauen, Männer und Kinder<br />
versteckten sich <strong>als</strong> so genannte U-<br />
Boote in Berlin, 3.000 waren es in ganz<br />
Deutschland.<br />
Porträtiert werden bekannte Helfer<br />
wie Oskar und Emilie Schindler oder<br />
der Helferkreis in Berlin um Maria Grä-<br />
80<br />
fin von Maltzan. Aber auch an weniger<br />
bekannte, mutige Menschen, die keine<br />
Juden waren (nach NS-Terminologie<br />
»Arier«) und mit ihren Taten das eigene<br />
Leben gefährdeten, wird erinnert.<br />
<strong>Die</strong> neue Gedenkstätte ist eine Zweigstelle<br />
der von Prof. Dr. Johannes Tuchel<br />
geleiteten Gedenkstätte Deutscher Widerstand.<br />
Dr. Beate Kosmala und Barbara<br />
Schieb, die seit Jahren nach »Stillen<br />
Helden« suchten, erhielten in der<br />
Rosenthaler Straße 39 eine neue Wirkungsstätte<br />
mit verbesserten Arbeitsbedingungen.<br />
Sie sammeln weiter Berichte,<br />
Fotos und Dokumente. Jede<br />
mündliche Erinnerung ist willkommen<br />
und wird in Bild und Ton festgehalten. 2<br />
Für die Gedenkstätte Stille Helden wurde<br />
mit der Adresse Rosenthaler Straße<br />
39 ein besonders günstiger Ort gefunden.<br />
<strong>Die</strong>s meint nicht nur die verkehrsgünstige<br />
Lage am S-Bahnhof Hacke-<br />
scher Markt. Unter dieser Adresse kann<br />
man nun gleich drei Orte des Gedenkens<br />
an früheres Jüdisches Leben besuchen.<br />
<strong>Die</strong> anderen beiden, die sich<br />
schon längere Zeit regen Zuspruchs erfreuen,<br />
sind das Anne-Frank-Zentrum<br />
Berlin 3 und das Museum Blindenwerkstatt<br />
Otto Weidt. 4 Berlinern und Berlin-Besuchern,<br />
allen Geschichtsinteressierten<br />
und namentlich vielen Schülern<br />
mit engagierten Lehrern sei dieser »Geheimtipp«<br />
für eine historische Spurensuche<br />
wärmstens ans Herz gelegt.<br />
Dr. Horst Helas<br />
1 Siehe: Gedenkstätte Stille Helden. Eine Dokumentation<br />
der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand,<br />
Berlin 2008.<br />
2 Kontaktadressen:<br />
kosmala@gdw-berlin.de; schieb@gdw-berlin.de<br />
3 Siehe: www.annefrank.de<br />
4 Siehe: info@musem-blindenwerkstatt.de
ZUR DISKUSSION<br />
Anmerkungen zu einer strittigen Frage –<br />
Zu Horst Helas’ Artikel zum Antisemitismus<br />
in der DDR<br />
Horst Helas ist nicht der Einzige, der<br />
hinsichtlich der Anfänge der PDS die<br />
Feststellung betont, man habe endgültig<br />
und für ewig dem Stalinismus Valet gesagt.<br />
1 Es ist allerdings schon merkwürdig,<br />
dass regelmäßig nur die verkündete<br />
konsequente Überwindung des Stalinismus<br />
<strong>als</strong> das zu Merkende des Außerordentlichen<br />
Parteitages der SED/PDS<br />
vom Dezember 1989 genannt wird. Das<br />
ist die Negativaussage über das, was<br />
die Partei niem<strong>als</strong> mehr sein dürfe: stalinistisch.<br />
Selbstverständlich ist es richtig,<br />
beim Rüc<strong>kb</strong>lick auf die Geschichte<br />
der DDR dort, wo stalinistische Praxis<br />
vollzogen wurde, diese auch zu benennen<br />
und zu kritisieren. Allerdings sollte<br />
das dann auch korrekt geschehen. <strong>Die</strong><br />
Überwindung des Stalinismus wie von<br />
Gebetsmühlen herabzubeten, ohne exakte<br />
Angaben darüber, was <strong>als</strong> schändliche<br />
Praxis angesehen werden muss,<br />
verzichtet auf geschichtliche Wahrheit.<br />
Offenbar meint man aber, dass alles abstrafbar<br />
ist, wenn es nur gehörig oft behauptet<br />
wird. Wozu auch die inzwischen<br />
<strong>als</strong> antisemitisch verteufelte DDR gehört,<br />
in der es, was nicht bestritten werden<br />
kann und soll, zeitweilig antisemitisches<br />
Verhalten gab.<br />
Warum verweist man eigentlich immer<br />
wieder lediglich und nur auf die Überwindung<br />
des Stalinismus und »vergisst«,<br />
über den Bericht an den Parteitag<br />
zum Stalinismus hinauszugehen<br />
und sich des Beschlussentwurfs und<br />
des Statuts zu erinnern? Dort nämlich<br />
sind in der Zielstellung auch das Konstruktive<br />
formuliert, das den Inhalt der<br />
Parteinahme und – arbeit der entstalinisierten<br />
Partei bestimmen sollte. In<br />
der »Zusammenfassung« zum Beschlussentwurf<br />
der Redaktionskommission,<br />
die von Lothar Bisky vorgetragen wurde,<br />
heißt es unter anderem, dass eine<br />
neue sozialistische Partei entstehen<br />
solle, »die die Traditionen der Arbeiterbewegung<br />
fortsetzt. Sie knüpft an sozialdemokratisches,<br />
sozialistisches, kommunistisches,<br />
antifaschistisches und<br />
pazifistisches Erbe an. … Unsere Partei<br />
stützt sich in ihrer Politik auf die modernen<br />
Gesellschaftswissenschaften. Marx<br />
und Lenin sind uns dabei historisches<br />
82<br />
Vorbild.« 2 Und in der Präambel des Statuts,<br />
das am 17. Dezember 1989 beschlossen<br />
wurde, heißt es: »<strong>Die</strong> Partei<br />
ist eine marxistische sozialistische Partei.<br />
… Theoretische Grundlage der Partei<br />
ist der Marxismus. … Ziel der Partei<br />
ist ein neuer menschlicher, demokratischer<br />
Sozialismus in der DDR, jenseits<br />
von Profitwirtschaft, Ausbeutung und<br />
administrativ-bürokratischem Sozialismus.<br />
… <strong>Die</strong> Partei kämpft entschieden<br />
gegen jede Form von Nationalismus,<br />
Faschismus, Rassismus und Chauvinismus.<br />
… <strong>Die</strong> internationale Solidarität mit<br />
allen um nationale und soziale Befreiung<br />
Kämpfenden ist ihr ein wesentliches Anliegen.«<br />
3 Dazu würde dann auch eine objektive<br />
Betrachtung der Frage gehören,<br />
ob und inwieweit es Antisemitismus in<br />
der DDR gegeben hat.<br />
Nun muss man feststellen, dass die genannte<br />
Politi<strong>kb</strong>estimmung der SED/<br />
PDS Schritt für Schritt einer Wandlung<br />
unterlag und unterliegt, wobei ein tendenzielles<br />
Abgehen vom Marxismus und<br />
eine sukzessive Sozialdemokratisierung<br />
nicht zu übersehen sind. Schritt für<br />
Schritt ist in den nachfolgenden Jahren<br />
von dieser klaren Inhaltsbestimmung<br />
der Partei Abstand genommen worden.<br />
Dennoch wäre es wohl sinnreich, sich<br />
auch dieser Ausgangssítuation immer<br />
wieder zu erinnern, wenn man mit Verve<br />
auf die Ablehnung des Stalinismus<br />
verweist.<br />
Der Kampf gegen den Rassismus war in<br />
der DDR Realität. Bedauerlicherweise<br />
gab es zu einem bestimmten Zeitpunkt –<br />
in den 50 er Jahren – Verstöße gegen das<br />
hehre Ziel auch dadurch, dass jüdische<br />
Personen bestimmten Sanktionen ausgesetzt<br />
waren bzw. aus Furcht vor derartigen<br />
Repressionen die DDR fluchtartig<br />
verließen. <strong>Die</strong>se Phase wurde überwunden,<br />
obwohl kritisch zu vermerken ist,<br />
dass eine offene Kritik und Selbstkritik<br />
der Verantwortlichen für diese dem<br />
Charakter nach auch antisemitischen<br />
Entgleisungen leider nicht erfolgte. Was<br />
jedoch durchaus der üblichen Praxis der<br />
Parteiführung entsprach, Negatives »im<br />
Vorwärtsschreiten« zu überwinden und<br />
sich nicht durch »rückwärtsgewandte<br />
Diskussion« hemmen zu lassen.<br />
Aber man wird wohl kaum, sofern man<br />
nicht konsequenter Ignorant ist, ableugnen<br />
können, dass die DDR in der<br />
internationalen Auseinandersetzung<br />
Front gegen Rassismus machte, was<br />
nicht zuletzt die Entkolonisierung verlangte.<br />
<strong>Die</strong> DDR stand auf der Seite<br />
jener, die die nationale Befreiung erstritten.<br />
Was letzten Endes auch die<br />
Unterstützung der Palästinenser und<br />
der PLO erklärt, die unter anderem einen<br />
sichtbaren Ausdruck in der Anerkennung<br />
von Yassir Arafat <strong>als</strong> ihrem<br />
politischen Repräsentanten fand. <strong>Die</strong>se<br />
Tatsache löste bei den politischen<br />
Spitzen Israels keine Freude aus. So<br />
wie auch die Annäherung der DDR an<br />
Staaten des Nahen Ostens, mit der unter<br />
anderem die gegen die Souveränität<br />
und internationale Anerkennung der<br />
DDR gerichtete bundesdeutsche Hallstein-Doktrin<br />
durchbrochen werden<br />
konnte, missbilligt wurde. <strong>Die</strong> israelische<br />
Seite hatte sich nach der Staatsgründung,<br />
die mit Billigung der UdSSR<br />
stattfand, sukzessive nach Westen orientiert.<br />
So wie die UdSSR diese Hinwendung<br />
nicht begrüßte, verhielt sich<br />
auch die DDR. Wenn der DDR das Fehlen<br />
diplomatischer Beziehungen zu Israel<br />
angelastet wird, dann muss deutlich<br />
gemacht werden, dass Israel <strong>als</strong><br />
der früher konstituierte Staat das Angebot<br />
an den später entstandenen Staat<br />
hätte unterbreiten müssen. Israel hat<br />
weder dies getan, noch der Aufnahme<br />
der DDR in die UNO zugestimmt <strong>als</strong> das<br />
auf der Tagesordnung stand.<br />
Prinzipiell f<strong>als</strong>ch ist die Praxis, Israel,<br />
den Zionismus und das Judentum, was<br />
durchaus unterschiedliche Sachverhalte<br />
sind, zu vermengen und daraus Antisemitismus<br />
abzuleiten.<br />
Dass die DDR den Zionismus einseitig<br />
für einen bürgerlichen aggressiven Nationalismus<br />
hielt, der zur Legitimierung<br />
des Handelns Israels genutzt wurde, traf<br />
mit Sicherheit nicht auf alle Formen des<br />
Zionismus zu, war jedoch kein Antisemitismus.<br />
Man sollte sich auch daran erinnern,<br />
dass nicht wenige dem Judentum<br />
angehörende Bürgerinnen und Bürger<br />
durchaus Kritiker des nationalistischen<br />
Zionismus waren und sind.
Dass Israel sich <strong>als</strong> ein Staat des westlichen<br />
Weltlagers mit allen sich daraus<br />
ergebenden Konsequenzen der Klassenauseinandersetzung<br />
gegenüber der<br />
DDR antikommunistisch verhielt, um<br />
den heutzutage verpönten, jedoch kennzeichnenden<br />
Begriff zu gebrauchen, hatte<br />
entsprechende Wirkungen, wie sie<br />
sich für die DDR im Verhältnis zu allen<br />
Staaten des imperialistischen Lagers<br />
ergaben. Antisemitismus war diese Haltung<br />
jedenfalls nicht.<br />
Dass die DDR an Israel keine Wiedergutmachung<br />
leistete, war kein Antisemitismus,<br />
sondern die Konsequenz aus<br />
dem, was die DDR im Gefolge der Niederlage<br />
des deutschen Faschismus an<br />
Wiedergutmachung gemäß dem Potsdamer<br />
Abkommen bereits geleistet hatte.<br />
Im Verständnis Israels hat die DDR<br />
keine Wiedergutmachung geleistet.<br />
Im Verständnis der DDR ist diese eine<br />
Wiedergutmachung in zweifacher Hinsicht<br />
realisiert worden: Erstens durch<br />
die Beseitigung der ökonomischen, politischen<br />
und ideologischen Grundlagen<br />
für die beispiellose Vernichtung von jüdischen<br />
Menschen, wie sie der deutsche<br />
Faschismus unter der menschenverachtenden<br />
Losung einer »Endlösung<br />
der Judenfrage« vollzogen hatte; zweitens<br />
durch die Reparationsleistungen<br />
an die Sowjetunion <strong>als</strong> Folge des faschistischen<br />
Überfalls auf die Sowjetunion.<br />
Israel hat nie akzeptiert, dass die DDR<br />
nach 1945 <strong>als</strong> Konsequenz aus der faschistischen<br />
Aggression eine Wiedergutmachung<br />
zu leisten hatte, die im<br />
Potsdamer Abkommen und anderen alliierten<br />
Dokumenten in Gestalt der Reparationen<br />
eingefordert wurde. <strong>Die</strong>se<br />
Reparationen gingen nach alliierten<br />
Festlegungen an die UdSSR. <strong>Die</strong> Sowjetunion<br />
hatte ihre Reparationsforderungen<br />
gegenüber Deutschland auf 10<br />
Milliarden Dollar zu den Preisen von<br />
1933 beziffert. »Gemäß der von den<br />
Westmächten auf der Potsdamer Konferenz<br />
maßgeblich beeinflussten Reparationsregelung<br />
war die Sowjetunion darauf<br />
angewiesen, die ihr zuerkannten<br />
Reparationsansprüche fast ausschließlich<br />
aus ihrer Besatzungszone zu befriedigen.<br />
<strong>Die</strong> vereinbarten ergänzenden<br />
Lieferungen aus Demontagen in den<br />
Westzonen waren relativ gering; eine<br />
Einigung über die dafür auszusuchenden<br />
Objekte erwies sich <strong>als</strong> schwierig,<br />
und der Realisierung erfolgte schleppend<br />
oder gar nicht.« 4 <strong>Die</strong> Reparationen<br />
erfolgten auf drei Wegen: 1. durch Demontagen,<br />
2. aus der laufenden Produktion<br />
und 3. durch die Verpflichtung von<br />
deutschen Wissenschaftlern zu wissen-<br />
schaftlich-technischer Arbeit für die Sowjetunion.<br />
<strong>Die</strong> Demontagen erfolgten<br />
unter anderem in folgendem Bereichen:<br />
»In der Reifenindustrie waren alle Produktionsmittel<br />
abgebaut. <strong>Die</strong> Demontage<br />
des Anlagevermögens belief sich<br />
beim Schienenfahrzeugbau auf 80 Prozent,<br />
im polygrafischen Maschinenbau<br />
auf zwischen 95 und 60 Prozent, im<br />
Werkzeugmaschinenbau auf 55 Prozent,<br />
in der Strick- und Wirkwarenindustrie<br />
auf 43 und in den Spinnereien auf<br />
10,6 Prozent.« Das zweite Gleis wurde<br />
auf dem Gebiet der Ostzone demontiert,<br />
so dass sich die Kilometerzahl von<br />
6.081, 27 im Jahre 1944 auf 1.063,09 im<br />
Jahre 1948 verringerte. Es versteht sich,<br />
dass sich daraus schwerwiegende Verpflichtungen<br />
für einen Neuaufbau der<br />
industriellen Grundlagen ergaben. <strong>Die</strong><br />
bundesdeutschen Reparationen an die<br />
Westmächte beliefen sich auf lediglich<br />
517 Millionen Dollar (Handelsflotte, Auslandswerte,<br />
Erträge von Demontagen). 5<br />
Und die BRD profitierte vom Marshallplan.<br />
Wenn man die Haltung der DDR zu Israel<br />
beurteilen will, dann muss man zweifelsohne<br />
die Haltung Israels zur DDR mit bedenken.<br />
Zwar wünscht Horst Helas ausdrücklich,<br />
von dem Totschlagargument,<br />
die BRD sei viel antisemitischer gewesen<br />
<strong>als</strong> die DDR, verschont zu bleiben,<br />
es ist aber doch merkwürdig, dass Israel<br />
sich gegenüber der DDR strikt antikommunistisch<br />
verhielt, aber offenbar keinerlei<br />
Bedenken daran hatte, dass beispielsweise<br />
ein Hans Globke in der BRD<br />
eine hohe staatliche Funktion ausübte,<br />
um nur eine herausragende Figur mit<br />
nazistischer Vergangenheit zu benennen.<br />
Juden erhielten allerdings im obersten<br />
Leitungsgefüge der BRD kein Betätigungsfeld.<br />
Demgegenüber waren – um<br />
nur dieses Beispiel zu nennen –, zwei Juden,<br />
Albert Norden und Hermann Axen,<br />
Mitglieder des Politbüros der SED. Jedenfalls<br />
wurde die BRD offiziell und <strong>als</strong><br />
Staat nie <strong>als</strong> antisemitisch charakterisiert.<br />
Wenn man dies zweifelnd überdenken<br />
würde, stellte man sich schon<br />
die Frage, ob dabei eine Rolle spielte,<br />
dass die BRD Israel mit erklecklichen<br />
Summen unterstützte, die keineswegs<br />
zwingend für die direkte Entschädigung<br />
von Opfern des deutschen Faschismus<br />
eingesetzt sein mussten.<br />
Asher Ben Nathan konstatiert, die Sowjetunion<br />
habe massive Waffenlieferungen<br />
an arabische Staaten geleistet.<br />
»Strauß’ Ziel war, Israel zu einem Bollwerk<br />
gegen den sowjetischen Einfluss<br />
zu machen. Soweit war er auch Gründer<br />
der Globalpolitik.« 6 Kurz gesagt: Wir befanden<br />
uns mitten im Kalten Krieg. An<br />
dieser Tatsache kommt niemand vorbei,<br />
der Geschichte objektiv schreiben will.<br />
Es ist nicht meine Absicht, hier eine Geschichte<br />
der Beziehungen zwischen Israel<br />
und der DDR darzulegen. Mein Anliegen<br />
ist es, jenem Ansinnen Paroli zu<br />
bieten, das verkündet, die DDR sei antisemitisch<br />
gewesen. Wohlgemerkt: Es<br />
geht nicht um gelegentliche antisemitische<br />
Exzesse einzelner Personen oder<br />
von Personengruppen, auch nicht um<br />
Handlungen, die <strong>als</strong> antisemitisch bewertbar<br />
sind, wie das beispielsweise<br />
bei der Schändung von Friedhöfen anzunehmen<br />
ist. In den Unterlagen des MfS<br />
ist die Zahl derartiger Untaten nachzulesen.<br />
Allerdings bestand durchaus<br />
keine Notwendigkeit, einen propagandistischen<br />
oder/und strafrechtlichen<br />
Feldzug zu eröffnen. Dazu waren die<br />
Fakten selbst zu geringfügig gegenüber<br />
der sozialistischen »Staatsräson« der<br />
DDR, der sich die DDR verpflichtet fühlte,<br />
um diesen aktuellen Begriff einmal<br />
zu verwenden.<br />
Besonders gern wird heutzutage dargelegt,<br />
dass Menschen jüdischer Herkunft<br />
von ihren Eltern in der DDR oft nicht erfuhren,<br />
dass sie jüdischer Abstammung<br />
waren. Das hätte sie überrascht und bestürzt<br />
gemacht. Abgeleitet aus solchen<br />
den Eltern angelasteten Beispielen wird<br />
dann geschlussfolgert, man habe es mit<br />
Antisemitismus zu tun, weil die Eltern<br />
aus unterschiedlichem Interesse ihre<br />
Abstammung nicht offen verbreitet hätten.<br />
Einige Kinder solcher Eltern verbreiten<br />
in ihrem heutigen Auftreten oft den<br />
Eindruck stärkster Betroffenheit, was<br />
gern <strong>als</strong> Beweis für einen schändlichen<br />
DDR-Antisemitismus gewertet wird.<br />
Dass die Eltern es dam<strong>als</strong> für wichtiger<br />
hielten, <strong>als</strong> Sozialisten/Kommunisten<br />
an der Gestaltung der sozialistischen<br />
DDR mitzuwirken, statt die jüdische Abstammung<br />
zu betonen, die für sie nur<br />
eine sekundäre Rolle spielte, zählt bei<br />
diesen Kindern dann nicht. Mit dem Untergang<br />
der DDR hat nun bei manchen<br />
Personen die Erinnerung an das Judentum<br />
Konjunktur. Dabei wird heute so getan,<br />
<strong>als</strong> hätten sie isoliert und einsam<br />
in der DDR gelebt und wären völlig unwissend<br />
bezüglich einer jüdischen Abkunft<br />
gewesen. Ihr jüdisches ICH habe<br />
sich de facto erst nach dem DDR-Untergang<br />
entfalten können. Dabei setzen<br />
sie den Beginn ihrer Zerrissenheit<br />
in der gelebten DDR-Realität immer früher<br />
an. Herauskommen soll ein von der<br />
DDR zu verantwortendes Zwanghaftes<br />
83
und das Jüdischsein Unterdrückendes.<br />
Man kann schlecht dagegen sprechen,<br />
wenn solche Gefühle behauptet werden,<br />
es ist nur merkwürdig, wie diese<br />
Gefühle immer zunehmender den Vorwurf<br />
einer Repression artikulieren, so<br />
dass am Ende nur ein verdammenswürdiges<br />
Dasein, das sich sozialistischer<br />
Staat nannte, der zudem antisemitisch<br />
gefärbt gewesen sei, übrig bleibt. Womit<br />
Klaus Kinkel in Jubelschreie ausbrechen<br />
könnte: Wieder ist ein Teil an DDR-Delegitimierung<br />
im Gange.<br />
In einem kann man Horst Helas durchaus<br />
folgen: Es ist nicht eindeutig zu beweisen,<br />
welche positiven (oder negativen)<br />
Wirkungen alle jene Bemühungen<br />
um das Vermitteln und Kennenlernen<br />
des Jüdischen und des Wissens von den<br />
Verbrechen gegen die Juden bei den<br />
Adressaten insbesondere der Werke<br />
von Kunst und Literatur gehabt haben.<br />
Bestenfalls kann man aus dem nachweisbaren<br />
Interesse an den Werken<br />
schlussfolgern, dass positiv-menschliche<br />
Beeinflussungen des Bewusstseins<br />
vieler Bürgerinnen und Bürger der DDR<br />
erreicht werden konnten. Millionen Käufer<br />
und Leser des Buches »Nackt unter<br />
Wölfen« von Bruno Apitz, Millionen Besucher<br />
der gleichnamigen Filmvorführung<br />
und die spürbare Sympathie, <strong>als</strong><br />
84<br />
Stefan Jerzy Zweig, das »Buchenwaldkind«<br />
7 , gefunden wurde und die DDR<br />
besuchte, sind keine Fiktion. Niemand<br />
wurde gezwungen, sich mit dem Schicksal<br />
eines jüdischen Kindes zu befassen.<br />
Es ist schandbar, wenn, um es vorsichtig<br />
zu formulieren, stalinistische Dogmatiker<br />
sich damit befassten, beispielsweise<br />
Friedrich Wolf und seinen »Professor<br />
Mamlock« politisch/ideologisch zu verdächtigten.<br />
Was bei den damaligen Verhältnissen<br />
in der UdSSR durchaus lebensgefährliche<br />
Folgen haben konnte.<br />
Was aber im Geheimen geschah und<br />
in den nun zugänglichen Akten dokumentiert<br />
ist, hat nicht zwingend auf die<br />
Adressaten solcher dramatischen Werke<br />
wie »Professor Mamlock« gewirkt. <strong>Die</strong>se<br />
wussten ja von dem nichts, was sich<br />
hinter den Kulissen abspielte und konnten<br />
das Kunstwerk/den Roman auf sich<br />
einwirken lassen und beeindruckt sein.<br />
Sie erlebten im Gegenteil, dass Friedrich<br />
Wolf im August 1949 in Weimar einen<br />
Nationalpreis 2. Klasse erhielt, wobei<br />
»Professor Mamlock« ausdrücklich<br />
erwähnt wurde. 8 Jedenfalls ist es nicht<br />
akzeptabel, aus solchen Tatsachen »hinter<br />
den Kulissen« auf die gesamtgesellschaftlichen<br />
Zustände zu schlussfolgern.<br />
Interner Streit, interne Intrigen,<br />
politische Diffamierungen gab es bedauerlicherweise.<br />
Das Üble besteht darin,<br />
dass aus den Aktenfunden generalisiert<br />
und am Ende, gewürzt durch eigene Erfahrungen<br />
<strong>als</strong> Schüler der DDR-Schule,<br />
heute eben die Behauptung akzeptiert<br />
werden soll, die DDR, um die es hier<br />
konkret geht, habe beispielsweise in der<br />
Schule ideologisch nicht gegen Antisemitismus<br />
wirksam sein können. <strong>Die</strong> »logische«<br />
Schlussfolgerung – und was zu<br />
beweisen war: <strong>Die</strong> DDR sei selbst antisemitisch<br />
gewesen.<br />
Dr. sc. Detlef Joseph<br />
1 Vgl. Horst Helas, Fast zwanzig Jahre später: Zur<br />
»linken« Streitkultur in Deutschland, in: Rundbrief,<br />
Heft 4/2008 (hrsg. von der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus<br />
beim Bundesvorstand der<br />
Partei DIE LINKE), S. 20 ff.<br />
2 Außerordentlicher Parteitag der SED-PDS. Protokoll<br />
der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember<br />
1989 in Berlin, Berlin 1990, S. 154.<br />
3 Außerordentlicher Parteitag der SED-PDS. Protokoll<br />
der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember<br />
1989 in Berlin, Berlin 1990, S. 438 f.<br />
4 Autorenkollektiv, Deutsche Geschichte, Bd. 9: <strong>Die</strong><br />
antifaschistisch-demokratische Umwälzung, der<br />
Kampf gegen die Spaltung Deutschlands und die<br />
Entstehung der DDR von 1945 bis 1949, Berlin/<br />
DDR 1989, S. 206.<br />
5 Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 18, S. 301.<br />
6 Richard Chaim Schneider, Hg., Wir sind da! <strong>Die</strong> Geschichte<br />
der Juden in Deutschland von 1945 bis<br />
heute, Berlin 2000, S. 212.<br />
7 Stefan Jerzy Zweig. Der große Bericht über das Buchenwaldkind.<br />
Sonderdruck (2. Auflage) der Zeitung<br />
»BZ am Abend, Februar 1964.<br />
8 Neues Deutschland, 26. August 1949.
<strong>Die</strong> »<strong>Linke</strong>n« und ihre Geschichte<br />
Nachdenken über die eigene Geschichte<br />
und deren Platz im historischen Prozess<br />
ist eine unerlässliche Voraussetzung<br />
für das aktuelle Selbstverständnis<br />
sowie die Erarbeitung einer alternativen<br />
politischen Strategie und Taktik einer<br />
Linkspartei. Das gilt um so mehr, <strong>als</strong> diese<br />
Partei auf mehr <strong>als</strong> 150 Jahre politischen<br />
Kampfes der verschiedensten<br />
linken Strömungen zurüc<strong>kb</strong>licken kann.<br />
<strong>Die</strong>se Geschichte umfasst nicht nur Erfolge<br />
und positive Seiten ihres Wirkens,<br />
sondern die geschichtliche Gesamtbilanz<br />
weist auch Fehlentwicklungen, Versagen<br />
und Vergehen gegen die eigenen<br />
Grundsätze auf, die unnachsichtig<br />
analysiert werden müssen, um daraus<br />
Schlußfolgerungen für die heutige und<br />
zukünftige Tätigkeit ziehen zu können.<br />
<strong>Die</strong> Verständigung darüber erfordert einen<br />
breiten sachorientierten Diskurs .<br />
<strong>Die</strong> jüngst veröffentlichte Wortmeldung<br />
des Ältestenrates der Partei DIE<br />
LINKE kann meines Erachtens <strong>als</strong> eine<br />
Wortmeldung dazu angesehen werden.<br />
1 Sie stellt Existenz und Wirken<br />
der heutigen <strong>Linke</strong>n in die Gesamtgeschichte<br />
des. Kampfes um eine sozial<br />
gerechte und menschenwürdige Gesellschaft<br />
und geht davon aus, dass sie<br />
für die Bewährung unter neuen gesellschaftlichen<br />
Bedingungen sich der Gesamtheit<br />
der dabei erwachsenen Erfahrungen<br />
versichern muss. Richtig wird<br />
dabei die Notwendigkeit unterstrichen,<br />
sich mit Fehlern und geschichtlichem<br />
Versagen auseinanderzusetzen, ohne<br />
dabei die Legitimität und die Leistungen<br />
des Kampfes namentlich der Arbeiterbewegung<br />
infrage zu stellen. Das Papier<br />
des Ältestenrates ist nicht <strong>als</strong> abschließende<br />
und endgültige »linke« Antwort<br />
auf die Frage nach dem Umgang mit der<br />
Geschichte anzusehen – so war es auch<br />
nicht gedacht.<br />
Mir scheint es nach der Lektüre des Papiers<br />
angebracht, bevor einzelne Etappen<br />
und Entwicklungsstränge auf ihre<br />
Bedeutsamkeit für die aktuelle Positionsbestimmung<br />
abgeklopft werden,<br />
einige Grundsätze zu formulieren, die<br />
für die Geschichtsdebatte der <strong>Linke</strong>n<br />
durchgängig zu beachten wären.<br />
Darunter würde ich zum Beispiel erstens<br />
verstehen, an der Vision einer<br />
sozial gerechten und menschenwürdigen<br />
Gesellschaft mit ökologisch verträglicher<br />
Wirtschaftsweise und einer<br />
grundsätzlichen friedfertigen Außenpolitik<br />
festzuhalten. Sie ergibt sich daraus,<br />
dass trotz partiell dauerhafter sozialer<br />
Verbesserungen die bestehenden kapi-<br />
86<br />
talistischen Verhältnisse nach wie vor<br />
diesen genannten Ansprüchen nicht gerecht<br />
zu werden vermögen. Auf dieser<br />
unumstößlichen geschichtlichen Tatsache<br />
beruht die Existenzberechtigung<br />
und –notwendigkeit alternativer Bewegungen<br />
und Parteien, <strong>als</strong> deren eine<br />
sich die Partei »DIE LINKE« versteht.<br />
Zum Zweiten: Eine glaubhafte Bezugnahme<br />
auf die Geschichte der eigenen<br />
Bewegung in diesem Sinne muss nach<br />
dem Scheitern des in der Sowjetunion<br />
und danach in anderen osteuropäischen<br />
Ländern eingeschlagenen Weges<br />
zur Verwirklichung einer sozialistischen<br />
Gesellschaft auch klar Position dazu beziehen,<br />
wovon DIE LINKE sich bei Verfolgung<br />
einer alternativen Politik ein für<br />
allemal abgrenzt, was <strong>als</strong>o weder <strong>als</strong> Inhalt<br />
noch <strong>als</strong> Methode sozialistischer<br />
Politik nicht mehr infrage kommt. In<br />
wenigen Worten gesagt: <strong>Die</strong> Verwirklichung<br />
von sozialistischen Zielen darf<br />
niem<strong>als</strong> demokratischen Formen ihrer<br />
Durchsetzung gegenübergestellt werden.<br />
Ein Monopolanspruch auf den Besitz<br />
der allein richtigen Kenntnis der<br />
einzuschlagenden Wege für eine Partei<br />
gibt es nicht. Gesellschaftliche Veränderungen<br />
bedürfen der Akzeptanz von Bevölkerungsmehrheiten,<br />
um die linke Bewegungen<br />
ringen müssen. Dazu gehört<br />
die Bereitschaft, die eigene Politik einer<br />
ständigen kritischen Überprüfung zu unterziehen,<br />
ob sie den angestrebten Zielen<br />
gerecht wird. Wenn sie diese Anforderung<br />
nicht erfüllt, muss sie korrigiert<br />
oder modifiziert werden.<br />
Ich würde mir auch wünschen, deutlicher<br />
<strong>als</strong> im Papier des Ältestenrates<br />
auszudrücken, dass die Ursachen für<br />
das Scheitern des Sozialismus in erster<br />
Linie im Versagen der Bewegung<br />
selbst gesucht werden müssen. Selbstverständlich<br />
haben die Gegner einer<br />
sozialistischen Erneuerung der Gesellschaft,<br />
die herrschenden Klassen der<br />
kapitalistischen Welt und besonders<br />
auch der Faschismus, kein Mittel unversucht<br />
gelassen, um den Sozialismus<br />
zu diskriminieren, zu schädigen und zu<br />
beseitigen, kriminelle und aggressiv-militärische<br />
Machenschaften eingeschlossen.<br />
Aber das ist nun einmal so: Neues<br />
stößt immer auf Gegenwehr des Alten.<br />
Für DIE LINKE ist jedoch wichtig zu erkennen,<br />
dass die Gegenseite nur einen<br />
solchen durchschlagenden Erfolg erringen<br />
konnte, weil er durch unser Versagen<br />
begünstigt wurde. Deshalb muss<br />
es in dem Umgang mit unserer eigenen<br />
Geschichte darum gehen, sorgsam auf-<br />
zudecken, worin die Ursachen für Fehlentscheidungen<br />
und Verstöße gegen<br />
die Grundsätze der Errichtung einer sozial<br />
gerechten und menschenwürdigen<br />
Ordnung bestanden, damit sichergestellt<br />
wird, das solche Fehler nicht<br />
wieder begangen werden. Und noch<br />
eines ist wichtig. Fehlentscheidungen,<br />
Misserfolge und Versagen bleiben keiner<br />
Bewegung, keiner Partei erspart,<br />
die in der Gesellschaft agieren. Deswegen<br />
gilt es aus der Geschichte der sozialistischen,<br />
insbesondere der kommunistischen<br />
Bewegung zu lernen, dass<br />
ein ehrlicher Umgang mit Fehlern unerlässlich<br />
ist. <strong>Die</strong> Losung, »Keine Fehlerdiskussion<br />
zuzulassen«, hat nicht nur<br />
keinen Nutzen gebracht, sie hat irreparablen<br />
Schaden zugefügt. Fehler machen<br />
ist menschlich, sie nicht einzugestehen<br />
und zur Korrektur nicht bereit zu<br />
sein, zieht schädliche Folgen nach sich,<br />
wie wir drastisch erleben mussten..<br />
Solche Präliminarien voranzustellen,<br />
halte ich für sehr sinnvoll. Damit könnte<br />
auch dem rationellen Kern der Bedenken,<br />
wie sie Michael Wolff in seinem Leserbrief<br />
massiv äußert, Rechnung getragen<br />
werden. 2 Allerdings gibt sein Beitrag<br />
auch Anlass, auf eine Unsitte linker Diskussionskultur<br />
zu sprechen zu kommen.<br />
Offenbar fällt es linken Kräfte immer<br />
noch schwer, sich von den unseligen<br />
Gepflogenheiten jenes Umgangs mit Ihresgleichen<br />
zu lösen, die dazu geführt<br />
haben, dass in der sozialistischen und<br />
vor allem kommunistischen Bewegung<br />
des 20. Jahrhunderts kein kreativer Diskurs<br />
zustande kommen konnte.<br />
Es ist auffällig: Wenn <strong>Linke</strong> miteinander<br />
diskutieren, werden, was bedauerlicherweise<br />
auch heute noch so ist, wie<br />
der Leserbrief von Michael Wolff erkennen<br />
lässt, Meinungsdifferenzen dazu<br />
benutzt, um sofort Abweichungen<br />
von einer imaginären vorgegebenen Linie<br />
vorzuwerfen. Statt von den gemeinsamen<br />
Positionen auszugehen und sich<br />
auf deren Grundlage argumentativ um<br />
Annäherung zu bemühen, werden in erster<br />
Linie die strittigen Positionen einander<br />
so gegenübergestellt, dass der<br />
unbefangene Leser den Eindruck gewinnen<br />
muss, hier liefern sich unversöhnliche<br />
Gegner ein Gefecht. Dann wimmelt<br />
es von »Fragwürdigem« in den Äußerungen<br />
der anderen und es wird »ein<br />
Vorbeimogeln an Tatsachen« unterstellt,<br />
um die Wortwahl des Leserbriefschreibers<br />
zu wählen.<br />
Viel sinnvoller wäre es doch, sachliche<br />
Einwände zu formulieren, die an die
Sachargumente des kritisierten Textes<br />
anschließen, dann würde sich zeigen,<br />
dass die Diskutanten oft gar nicht so<br />
weit auseinander liegen. Nehmen wir<br />
nur den Einwand von Michael Wolf gegen<br />
die Feststellung des Ältestenrates,<br />
dass die sozialistische Bewegung im<br />
20.Jh. einen »Höhepunkt« erreicht hatte.<br />
<strong>Die</strong> Tatsache, dass am Ende des<br />
Jahrhunderts die sozialistische Bewegung<br />
eine schwere Niederlage erlitten<br />
hat und die von ihr vertretene Konzeption<br />
einer sozialistischen Gesellschaft<br />
gescheitert ist, bedeutet ohne Frage<br />
einem Tiefpunkt. Andererseits schafft<br />
das die Tatsache nicht aus der Welt,<br />
dass die organisierte Arbeiterbewegung<br />
noch nie einen solchen Höhepunkt ihres<br />
Einflusses auf die gesellschaftliche Entwicklung<br />
verbuchen konnte, wie dies im<br />
20. Jahrhundert der Fall war. Bekanntlich<br />
haben Höhepunkte es an sich, zu<br />
Ausgangspunkten des Niedergangs zu<br />
werden, wenn politische Kräfte nicht fähig<br />
sind, durch eine flexible, auf neue<br />
Herausforderungen reagierende Politik<br />
die erreichten Positionen zu sichern.<br />
Im Volksmund sagt man nicht umsonst,<br />
dass man sich »tot siegen« kann. Ein<br />
Schicksal, dass übrigens nicht nur der<br />
sozialistischen Bewegung passiert ist,<br />
wenn ein Seitenblick auf aktuelle Erscheinungen<br />
erlaubt ist.<br />
Das aber ist gerade unserer Bewegung<br />
und namentlich ihren Führungskräften<br />
passiert. Im Vollgefühl der Macht wurde<br />
unterlassen, ständig ein ehrliche Bilanz<br />
über den durchschrittenen Weg zu ziehen<br />
und zu überprüfen, ob die verfolgte<br />
Strategie und die angewandten Mittel<br />
im Einklang mit den Zielstellungen standen:<br />
Vor allem bestimmte Krisensituationen<br />
hätten unbedingt der Anlass sein<br />
müssen, um unnachsichtig die Frage<br />
nach Ursachen der entstandenen Krisen<br />
zu stellen. Stattdessen wurde nur an<br />
Symptomen herumgedoktert und nicht<br />
bis zu »Systemfehlern« vorgedrungen.<br />
Das kann man aber heute nur produktiv<br />
machen, wenn man den geschichtlichen<br />
Weg der sozialistischen Bewegung in<br />
seiner Gesamtheit analysiert. Nur so<br />
lässt sich die Frage beantworten, warum<br />
trotz beachtlicher Erfolge und großer<br />
Möglichkeiten die sozialistische Alternative<br />
so kläglich gescheitert ist und<br />
damit auch richtige und wichtige Errungenschaften<br />
letztlich ihrer Wirkung beraubt<br />
wurden.<br />
Dem kann man aber nicht gerecht werden,<br />
wenn man der Geschichtssicht der<br />
<strong>Linke</strong>n eine undialektisch einseitige Negativ-Darstellung<br />
der Geschichte der<br />
sich sozialistisch verstehenden Länder<br />
einschließlich der DDR aufnötigen will,<br />
wie das Michael Wolff offenbar für richtig<br />
hält. Er begründet das damit, dass<br />
die realen Verhältnisse in diesen Ländern<br />
mit sozialistischen Idealen nichts<br />
zutun gehabt hätten. Ich kann dieser<br />
These nichts abgewinnen. Wenn, wie<br />
ich vermute, diese These verteten wird,<br />
um damit die Belastung heutiger alternativer<br />
politischer Bewegungen zu mindern,<br />
weil sie sich von den Geschehnissen<br />
dieser geschichtlichen Periode<br />
lossagen, so kann man nur sagen, dass<br />
sie einem kolossalen Irrtum unterliegen.<br />
Gegner des Sozialismus werden sich davon<br />
nicht beeindrucken lassen.<br />
Aber es stimmt auch sachlich nicht,<br />
dass eine breite Bewegung im vergangenen<br />
Jahrhundert große Opfer in<br />
Kauf nahm, um aus dem kapitalistischen<br />
System, das sie aus praktischem Erleben<br />
zu Recht für wirtschaftliche Ausplünderung,<br />
soziale Benachteiligung, für<br />
die Entstehung ökonomischer Krisen,<br />
von Kriegen und politischer Unterdrückung<br />
verantwortlich machten, auszubrechen,<br />
und die Vision einer freien, sozial<br />
gerechten und menschenwürdigen<br />
Gesellschaft zu verwirklichen. <strong>Die</strong>ser<br />
humanistischen Vision darf man wohl<br />
auch dann die Legitimation nicht versagen,<br />
wenn diese Entwicklung nicht zu<br />
dem angestrebten Ergebnis geführt hat.<br />
Solche rigorosen pauschalen Abwertungen<br />
sind aber nichts anderes <strong>als</strong> die<br />
Verweigerung der Legitimität von Gesellschaftsveränderungen,<br />
was sicherlich<br />
den heute Herrschenden durchaus<br />
Recht sein kann, aber nicht denjenigen<br />
Kräften, die an der Notwendigkeit<br />
festhalten, die Gesellschaft weiter zu<br />
demokratisieren und die verhängnisvollen<br />
Folgen kapitalistischer Profitgier<br />
zu beseitigen. Es ist <strong>als</strong>o mit dem Geschichtsverständnis<br />
einer Linkspartei<br />
schlichtweg unvereinbar, eine solche nihilistische<br />
Haltung gegenüber der Geschichte<br />
des Sozialismus zu kultivieren.<br />
Vielmehr müsste man dieser Periode mit<br />
dem schuldigen Respekt gegenübertreten,<br />
der sowohl die Anstrengungen und<br />
Leistungen würdigt, <strong>als</strong> auch die Ursachen<br />
und Entscheidungssituationen aufdeckt,<br />
die zu Misserfolgen, Fehlern und<br />
auch zu Verbrechen des Stalinismus geführt<br />
haben.<br />
Im Leserbrief von Michael Wolff sind <strong>als</strong>o<br />
Positionen zum Umgang mit der Geschichte<br />
formuliert, die einer produktiven<br />
Aneignung der geschichtlichen<br />
Erfahrungen nicht sonderlich dienlich<br />
erscheinen.. Das wird sofort deutlich,<br />
wenn man einige Thesen zu Ende denkt.<br />
Dazu gehört das sehr vordergründige<br />
Bemühen, die <strong>Linke</strong> zu veranlassen, sich<br />
möglichst nicht mit der DDR-Vergangen-<br />
heit und der Geschichte des Kampfes<br />
der Arbeiterbewegung in Verbindung zu<br />
bringen. So schreibt er beispielsweise:<br />
»<strong>Die</strong> guten Absichten und der oft Kräfte<br />
zehrende Einsatz vieler DDR-Bürger<br />
und SED-Mitglieder (der Autor dieser<br />
Zeilen eingeschlossen) hat letztlich weder<br />
den Zusammenbruch noch die Fehlentwicklungen<br />
und die im Namen des<br />
Sozialismus begangenen Verbrechen<br />
verhindern können. … Schlimmer noch,<br />
durch unseren Einsatz haben wir auch<br />
die Herrschaftsverhältnisse der DDR<br />
(Ich bleibe mal bei dieser) stabilisiert<br />
und damit vieles (z. b. auch den Mauertoten)<br />
billigend in Kauf genommen. Ein<br />
Bekenntnis zu unserer Verantwortung,<br />
Schuld bzw. Mitschuld ist kein Kniefall<br />
vor wem auch immer, sondern Verantwortung<br />
für einen ehrlichen Neuanfang<br />
linker Politik.« 3<br />
<strong>Die</strong>se Bemerkungen besagen eigentlich<br />
nichts anderes, <strong>als</strong> dass eigentlich alle<br />
DDR-Bürger, übrigens sogar die Mehrzahl<br />
der Oppositionellen, die ihrer Arbeit<br />
nachgegangen sind, auch wenn sie<br />
sich den sozialistischen Idealen nicht<br />
verpflichtet gefühlt haben, für alles und<br />
jedes, was in der DDR geschehen ist,<br />
verantwortlich sind. Denn sie haben<br />
alle auf die eine oder andere Art dazu<br />
beigetragen, die Funktionsweise des<br />
»Systems« aufrecht zu erhalten. Nach<br />
Wolff müssten sie dieses Verhalten auf<br />
das schärfste verurteilen und könnten<br />
nur <strong>als</strong> »reuige Sünder« eventuell die<br />
Berechtigung erwerben, sich heute <strong>als</strong><br />
»<strong>Linke</strong>« zu bezeichnen.<br />
Im Grunde genommen läuft ein solches<br />
Herangehen an die Geschichte darauf<br />
hinaus, dass jeder, der zum Beispiel in<br />
dieser Gesellschaft der Bundesrepublik<br />
Deutschland seiner Arbeit nachgeht, eine<br />
beliebige Verantwortung ausübt und<br />
überhaupt am öffentlichen Leben teilnimmt,<br />
eigentlich in einer linken Partei<br />
fehl am Platze ist; denn er hält das bestehende<br />
System mit all seinen Unzulänglichkeiten,<br />
seiner Krisenhaftigkeit,<br />
seiner sozialen Kälte, seiner Ausplünderung<br />
der Dritten Welt und seinen Kriegsabenteuern<br />
am Laufen, wogegen ja wohl<br />
eine Linkspartei in Opposition steht. Um<br />
auf diesen »starken Tobak« ebenso rigoros<br />
zu reagieren, bedeutet dies, dass eigentlich<br />
nur unschuldige Kinder und so<br />
genannte Aussteiger <strong>als</strong> Mitglieder für<br />
eine Partei infrage kommen, die eine alternative<br />
Politik vertritt.<br />
Wolff verwahrt sich zwar dagegen, mit<br />
seiner Haltung einen Kniefall vor »wem<br />
auch immer« zu begehen! Dass das<br />
nicht seine Absicht ist, will ich ihm gern<br />
zugestehen. Aber objektiv bewegt er<br />
sich nun einmal unbestritten auf Pfa-<br />
87
den, wie diejenigen Politiker und Journalisten,<br />
die unter anderem dem sächsischen<br />
Ministerpräsidenten Tillich zum<br />
Vorwurf machten, <strong>als</strong> stellvertretender<br />
Vorsitzender des Rates des Kreises Kamenz<br />
für Handel und Versorgung durch<br />
eventuell gute Amtsführung besonders<br />
verwerflich gehandelt zu haben, weil er<br />
dadurch das SED-Herrschaftssystem<br />
befestigt habe. <strong>Die</strong>ses Vorgehen zeigt,<br />
dass solcherlei Argumentationen nichts<br />
mit Wahrheitsfindung und Aufarbeitung<br />
von Geschichte zu tun haben, sondern<br />
politische Instrumentalisierung von Geschichte<br />
sind, indem sie Werkzeuge für<br />
eine politische Disziplinierung und Ausgrenzung<br />
schaffen. Dabei tut es nichts<br />
zur Sache, dass im Falle Tillich diesmal<br />
ein Angehöriger der herrschenden politischen<br />
Klasse durch diese Verfahrensweise<br />
in Verlegenheit gebracht werden<br />
sollte.<br />
Nun möchte ich noch einen letzten Gedanken,<br />
angeregt durch das Papier des<br />
Ältestenrates, äußern. <strong>Die</strong> Linkspartei<br />
ist auf dem Wege, eine gesamtdeutsche<br />
Partei zu werden, wozu es hohe Zeit ist.<br />
Das erfordert auch, bei der Bilanzierung<br />
der eigenen Geschichte diese Tatsache<br />
zu beherzigen.<br />
Zu unserer Geschichtsbilanz muss<br />
auch die Analyse des Wirkens aller lin-<br />
88<br />
ken Kräfte in Westdeutschland seit<br />
1945/1949 gehören. Im Papier des Ältestenrates<br />
wird durchaus auf die geschichtlichen<br />
Erfahrungen der SPD hingewiesen,<br />
aber das allein reicht nicht.<br />
Es geht um die vielen alternativen Ansätze<br />
und Anläufe, die teilweise in kritischer<br />
Distanz zu der Entwicklung in<br />
der DDR entstanden sind. Es gehört sich<br />
dabei nicht nur, deutliche Worte dafür<br />
zu finden, dass Fehler und Versagen,<br />
Repressionsakte und Vergehen der Partei-<br />
und Staatsorgane in der DDR dazu<br />
beigetragen haben, um alternative Bewegungen<br />
zu diskreditieren, sondern es<br />
gilt auch die Frage zu untersuchen, was<br />
an Aktionen in der BRD geeignet war, alternative<br />
Entwicklungen zu inaugurieren<br />
und was sie behindert hat.<br />
Man kann an der Tatsache nicht vorübergehen,<br />
dass alle diese Bewegungen<br />
letztlich auch gescheitert sind.<br />
Für eine unter heutigen Bedingungen<br />
zu entwickelnde alternative Politik ist<br />
es wichtig, sich der Erfahrungen zu bemächtigen,<br />
die unter kapitalistischen<br />
Verhältnissen von linken Kräften gesammelt<br />
wurden. Auch hier geht es sowohl<br />
um positive <strong>als</strong> auch negative Erfahrungen.<br />
Auch hier muss Stellung dazu<br />
bezogen werden, woran man anknüpft,<br />
und was man <strong>als</strong> total verfehlt ansieht.<br />
Es sei nur an die Aktionen der RAF erinnert.<br />
4 Nach meinem Dafürhalten gibt<br />
es dieser Hinsicht erheblichen Nachholbedarf.<br />
Abschließend möchte ich noch einmal<br />
unterstreichen, dass ich eine kontroverse<br />
Diskussion befürworte; denn nur<br />
dadurch können die verschiedensten<br />
Meinungen und Aspekte zur Geltung<br />
gebracht werden. Aber es sollte eine<br />
Suche unter Gleichgesinnten sein, die<br />
sich auch in der Form manifestieren<br />
muss, das heißt, sie muss allen Teilnehmern<br />
das Bestreben zubilligen, einen<br />
Beitrag zu einem tragfähigen Umgang<br />
mit der eigenen Geschichte leisten zu<br />
wollen.<br />
Professor Dr. Helmut Meier<br />
1 Siehe: Anregungen des Ältestenrates der Partei<br />
DIE <strong>Linke</strong> zum Umgang mit der Geschichte. In:<br />
Rundbrief. AG Rechtswextremismus/Antifaschismus<br />
beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE.<br />
4/08, S. 41 ff.<br />
2 Siehe: Michael Wolf: An Tatsachen nicht vorbeimogeln,<br />
in: ebenda, S. 45.<br />
3 Ebenda<br />
4 Vgl. hierzu die folgenden Beiträge im »Rundbrief«:<br />
Reiner Zilkenat, Christian Klar, Inge Viett, die RAF<br />
und die <strong>Linke</strong>, in: H. 1–2/2007, S. 37 ff; Birgit Wulf,<br />
Leserbrief, in: ebenda, H. 3–4/2007, S. 49 u. die<br />
»Anmerkungen« hierzu von Reiner Zilkenat, ebenda.
LESERBRIEFE<br />
Leserbrief zu Beiträgen im Heft 4/2008:<br />
Der Artikel »Zur linken Streitkultur in<br />
Deutschland…« von Dr. Horst Helas war<br />
für mich Anlass, einiges zu durchdenken<br />
und schriftlich festzuhalten.<br />
Zur Stalinismus-Problematik:<br />
Erstens: Ein Problem dürfte sein, dass<br />
die Mehrheit unserer Mitglieder eine<br />
Diskussion für nicht notwendig hält, sie<br />
auch keinen Bezug mehr zur Problematik<br />
Stalinismus und auch nicht das Wissen<br />
darüber haben. Ich meine, dass es<br />
auch unter uns <strong>Linke</strong>n Erscheinungen<br />
gibt, die ich dem Wesen des Stalinismus<br />
zuordnen würde (Glorifizierung der<br />
DDR, Negierung richtiger Erfahrungen<br />
und Tatsachen aus der DDR, keine objektive<br />
Geschichtsbewertung, Unsachlichkeit<br />
beim Streit, unbedingt recht haben<br />
wollen usw.).<br />
Zweitens: Stalinismus wird von vielen<br />
unserer Mitglieder sehr häufig <strong>als</strong> unmittelbare<br />
Politik Stalins bis 1953 betrachtet.<br />
Ich meine, dass der Stalinismus<br />
ein System darstellt, welches<br />
unmittelbar nach der Oktoberrevolution<br />
sich auszuprägen begann und sich<br />
in den folgenden Jahrzehnten in der<br />
UdSSR zu Machtmissbrauch, zur Politik<br />
des Verbrechens und der Diskriminierung<br />
der Ideen des Sozialismus/<br />
Kommunismus führte (geistige und physische<br />
Vernichtung Andersdenkender,<br />
Kollektivierungszwang, Hungersnot in<br />
der SU, sinnloses in den Tod treiben der<br />
eigenen Soldaten im II. Weltkrieg usw.).<br />
Stalin hätte aber niem<strong>als</strong> seine Maßnahmen<br />
durchsetzen können, wenn er<br />
nicht willige Vollstrecker gefunden hätte<br />
(Speichellecker, Karrieristen).<br />
Leider – und das ist die Tragik – waren<br />
auch viele Menschen von der Richtigkeit<br />
seiner Maßnahmen überzeugt (»Stalin<br />
wird schon wissen, was er macht«,<br />
»Unser Väterchen Stalin«). Hinzu kam<br />
auch, dass sich unter Stalin für viele Sowjetbürger<br />
die Lebensbedingungen verbesserten<br />
und Stalin <strong>als</strong> der Kopf des<br />
Sieges über die deutschen Faschisten<br />
galt.<br />
Drittens: In der Internationalen Arbeiterbewegung<br />
hat der Stalinismus<br />
meines Erachtens seine Ursachen darin;<br />
dass die SU das Vorbild für die Möglichkeit<br />
des Sieges der Unterdrückten<br />
wurde, die KPdSU die erste Macht ausübende<br />
kommunistische Partei war, die<br />
Kommunistischen Parteien den Marxismus-Leninismus<br />
nicht verarbeitet<br />
hatten, unkritisch sich verhielten, alles<br />
gläubig übernahmen was vom »Großen<br />
Vaterland aller Arbeiter« kam und in der<br />
Endkonsequenz jegliche stalinistische<br />
Handlungsweisen bedingungslos <strong>als</strong><br />
richtig und notwendig und im Interesse<br />
der Sowjetunion und der eigenen Partei<br />
betrachteten.<br />
Frage: Konnte man es überhaupt unter<br />
den Bedingungen des damaligen Entwicklungsstandes,<br />
der ständig größer<br />
werdenden faschistischen Gefahr, des<br />
konkreten Widerstandes usw. anders<br />
sehen? Waren die Fehler der einzelnen<br />
Parteien in der Kommunistischen Internationale<br />
»objektiv« hervorgerufen<br />
durch den großen Einfluss der KPdSU?<br />
Wir haben es heute leichter. Sprichwort<br />
»Der Abend ist klüger <strong>als</strong> der Morgen«.<br />
Viertens: Ich glaube, dass in unserer<br />
Entwicklung in der DDR der Stalinismus<br />
durch die Tatsache des Sieges im<br />
II. Weltkrieg, deieRolle der Besatzungsmacht,<br />
das Exil führender KPD-Funktionäre<br />
in der UdSSR, die unkritische Übernahme<br />
von »Erfahrungen« aus der SU in<br />
Ideologie, Politik, Kultur, Wirtschaft, der<br />
Einfluss der KPdSU auf SED usw. gefördert<br />
wurde und sich dann eine deutsche<br />
Erscheinungsform des Stalinismus<br />
herausbildete (z. b.: Rolle des Politbüros<br />
und des Gener<strong>als</strong>ekretärs, Überbetonung<br />
des Zentralismus, Negierung<br />
der Demokratie, die Unterordnung der<br />
Staatsmacht, Haltung zur SPD, unsere<br />
eigene Unterordnung unter die Parteidisziplin)<br />
Wir haben aus Stalin eine Kultfigur gemacht<br />
(Wahl in das »Ehrenpräsidium«,<br />
»4. Klassiker«, uneingeschränkte Bejahung<br />
seiner theoretischen Auffassungen,<br />
nicht zuletzt seine Anschauung:<br />
je weiter die Entwicklung zum Sozialismus<br />
geht, um so schärfer werde der<br />
Klassenkampf. Für uns – und das galt<br />
auch für mich – brach mit dem 20. Parteitag<br />
der KPdSU 1956 eine Welt zusammen,<br />
denn meine Generation ist<br />
mit dem Namen Stalin erzogen worden.<br />
Ich habe einmal versucht, den Begriff<br />
»Stalinismus« zu definieren. Es ist mir<br />
nicht gelungen und ich glaube, man<br />
kann die Vielfältigkeit seiner Erscheinungen<br />
auch nicht in eine Definition<br />
pressen. Wäre aber nicht eine Abgrenzung<br />
doch notwendig? Neigen wir eventuell<br />
dazu, alles was uns an unserer Bewegung<br />
nicht gefällt, <strong>als</strong> Erscheinungen<br />
des Stalinismus zu bezeichnen? Wenn<br />
ja, dann würden wir damit unsere eige-<br />
nen Mängel und Unzulänglichkeiten entschuldigen!<br />
Zum Artikel des Ältestenrates<br />
zur Auseinandersetzung mit<br />
der Geschichte:<br />
Erste Bemerkung:<br />
»<strong>Linke</strong> … betreiben die Auseinandersetzung<br />
mit geschichtlichen Themen zuerst<br />
um ihrer selbst willen. Es muss …<br />
erlaubt sein, eigene früher für absolute<br />
Wahrheiten gehaltenen Ansichten kritisch<br />
und selbstkritisch neu zu befragen«<br />
Ich meine, dass in unserer Partei die<br />
Auseinandersetzung über geschichtliche<br />
Ereignisse, Bewertungen usw. viel<br />
zu gering entwickelt ist. Das beginnt<br />
aber bereits bei den Leitungen. <strong>Die</strong> Erklärung<br />
des Ältestenrates habe ich zustimmend<br />
gelesen, musste aber feststellen,<br />
dass sie weitgehend unbekannt<br />
ist und kaum Beachtung findet. Deswegen<br />
muss ich sogar von einer Ignoranz<br />
unter großen Teilen der <strong>Linke</strong>n zur Bewertung<br />
geschichtlicher Prozesse, Personen<br />
usw. Sprechen.<br />
Zweite Bemerkung:<br />
Als ehemaliger Geschichts- und Staatsbürgerkundelehrer<br />
musste ich 1989/90<br />
begreifen, dass ich viele Details in der<br />
Politik der DDR f<strong>als</strong>ch eingeschätzt und<br />
somit auch nicht »objektiv« meinen<br />
Schülern übermittelt habe.<br />
Das tat ich nicht bewusst, sondern entsprechend<br />
den mir übermittelten bzw.<br />
bekannten Tatsachen. Mit Zorn und Verbitterung<br />
musste ich feststellen, dass<br />
die Parteiorgane der SED und auch die<br />
Staatsorgane uns in vielen Dingen belogen<br />
hatten und auch viele Historiker<br />
nicht die ihnen bekannten Wahrheiten<br />
schrieben, sondern sich der »Parteimeinung«<br />
anpassten: da betraf zum Beispiel<br />
Katyn, die Geheimabkommen zwischen<br />
dem faschistischen Deutschland und<br />
der UdSSR. Sehr interessant war dabei<br />
für mich in diesem Zusammenhang das<br />
im letzten Jahr veröffentlichte Buch von<br />
Professor Kurt Pätzold »<strong>Die</strong> Geschichte<br />
kennt kein Pardon« und seine Rezension<br />
im »Rundbrief«. Ich musste <strong>als</strong>o nach<br />
1989/90 umdenken und vieles neu bewerten.<br />
Dafür schäme ich mich nicht,<br />
auch wenn manche meiner Weggefährten<br />
in mir nun einen »Abweichler« sehen.<br />
Dritte Bemerkung:<br />
Wir – und auch ich – sprechen oft von<br />
einer objektiven Bewertung der Ge-<br />
89
schichte. Ich glaube, das ist nur bedingt<br />
richtig, denn unsere Meinungsbildung<br />
beruht doch oftm<strong>als</strong> auf den Meinungen<br />
anderer bei der Durcharbeitung von Literatur,<br />
des eigenen Erlebens und so ist<br />
immer ein subjektiver Faktor vorhanden.<br />
Sollten wir nicht besser von einer<br />
wahrheitsgemäßen Bewertung entsprechend<br />
des gegebenen Kenntnisstandes<br />
sprechen?<br />
Zur Problematik des<br />
Antisemitismus:<br />
Was verstehen wir unter Antisemitismus?<br />
Ich habe bisher keine wissenschaftlich<br />
begründete Erklärung dafür<br />
gefunden und meine, dass »Judenfeindlichkeit«<br />
zu wenig aussagt, denn der Antisemitismus<br />
tritt meines Erachtens in<br />
vielen Variationen auf.<br />
Ich denke, dass es in der DDR keinen offenen,<br />
aber einen versteckten Antisemitismus<br />
gab. Das zeigte sich in der Nichtbereitschaft,<br />
sich mit der Geschichte<br />
des Judentums öffentlich zu befassen,<br />
der Haltung zu bestimmten Persönlichkeiten<br />
jüdischer Abstammung, der Reduzierung<br />
der Jüdischen Geschichte in<br />
Lehrbüchern, wissenschaftlichen Abhandlungen<br />
usw. auf ein Minimum und<br />
auf die Nichtakzeptanz des Staates Israels.<br />
Doch ob »versteckter oder offener«<br />
Antisemitismus, Antisemitismus bleibt<br />
Antisemitismus. Ich war der erste im<br />
Kreis Guben, der sich mit der Geschichte<br />
der dortigen Jüdischen Gemeinde befasste<br />
und dazu auch im Gubener Heimatkalender<br />
1988 meine Ergebnisse<br />
veröffentlichte.<br />
90<br />
Antifaschismus schloss nicht Antisemitismus<br />
aus, denn wir haben den Begriff<br />
des Antifaschismus fast ausschließlich<br />
auf die Haltung zur UdSSR, führender<br />
Politiker, des Widerstandes von KPD-<br />
Mitgliedern gegen den Faschismus usw.<br />
begrenzt. Unsere Kranzniederlegungen<br />
am 8. Mai und andere Veranstaltungen<br />
ähnlicher Art wurden hinsichtlich der<br />
Teilnahme »organisiert«, doch die wenigsten<br />
Teilnehmer fühlten sich <strong>als</strong> Antifaschisten,<br />
einfach deswegen nicht,<br />
weil sie kaum noch Erinnerungen an<br />
den Faschismus hatten bzw. sein Wesen<br />
einzuschätzen wussten. Doch das<br />
kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen,<br />
denn wir haben doch immer den<br />
»antifaschistischen Charakter« der DDR<br />
betont und den Charakter und die Politik<br />
des Faschismus fast nur von seiner<br />
diktatorischen Form versucht aufzuarbeiten.<br />
Große Probleme habe ich zur Zeit mit<br />
meiner Haltung zum Staat Israel. Ich<br />
anerkenne selbstverständlich das Recht<br />
der jüdischen Menschen auf einen selbständigen<br />
eigenen Staat und ich unterscheide<br />
zwischen der Haltung dieser<br />
jüdischen Staatsbürger und der aggressiven<br />
Außenpolitik ihrer Regierung. Ich<br />
betrachte diese Außenpolitik <strong>als</strong> inhuman<br />
und unmenschlich und lehne sie<br />
strickt ab. Frage: Bin ich deshalb antisemitisch?<br />
Ich habe mich in den letzten Jahren besonders<br />
mit der faschistischen Politik<br />
von 1933 bis 1945 in Guben befasst und<br />
dazu auch im Gubener Heimatkalender<br />
eine Anzahl Beiträge veröffentlicht. Ver-<br />
sucht habe ich auch, den antifaschistischen<br />
Widerstand in Guben aufzuarbeiten<br />
und schriftlich niederzulegen. Ich<br />
will damit nur andeuten, dass ich mich<br />
mit der Problematik des Antisemitismus,<br />
Antifaschismus und Faschismus<br />
stärker befasse, <strong>als</strong> viele andere in unserer<br />
Stadt.<br />
Trotz der neuen Erkenntnisse, die ich<br />
seit 1989/90 gewonnen habe, blieb die<br />
DDR meine Heimat. Ich bin in ihr – Jahrgang<br />
1930 – aufgewachsen, ich half, sie<br />
mit zu gestalten und bin nun über die<br />
oftm<strong>als</strong> f<strong>als</strong>che und einseitige Darstellung<br />
des Lebens in der DDR durch die<br />
Medien, durch Politik und Historiker –<br />
besonders aus den alten Bundesländern<br />
– empört.<br />
Überzeugt bin ich davon, dass im Jahr<br />
2009 die Flut der Verleumdungen über<br />
unser Leben in der DDR weiter anwachsen<br />
wird und ich frage mich, was tut die<br />
Partei, der ich angehöre, dagegen. Wiederholt<br />
habe ich – wie bereits erwähnt –<br />
versucht, örtliche Parteiorgane für eine<br />
ehrliche Geschichtsaufarbeitung zu gewinnen,<br />
doch das Ergebnis ist unbefriedigend.<br />
Ich spreche mich für eine »objektive«<br />
oder besser wahrheitsgemäße Darstellung<br />
der geschichtlichen Entwicklung<br />
in den beiden deutschen Staaten und<br />
in der jetzigen BRD aus und versuche<br />
dafür auf regionalem Gebiet durch bestimmte<br />
Veröffentlichungen und Veranstaltungen<br />
meinen bescheidenen Beitrag<br />
zu leisten.<br />
Manfred Augustyniak
Leserbrief zum Heft 4/2008 des »Rundbriefs«<br />
»<strong>Die</strong> Rundbriefe, die ich seit dem Jahr<br />
2004 erhalte, habe ich stets aufmerksam<br />
gelesen und auch einzelne Artikel<br />
daraus mit dem Fotokopiergerät in<br />
der Geschäftsstelle der LINKEN abgelichtet<br />
und an Vorstandsmitglieder des<br />
Kreisverbandes Elbe-Elster (im Süden<br />
Brandenburgs gelegend.Red.) gegeben.<br />
(…) Aus dem Rundbrief 4/08 habe ich<br />
den Artikel ›Anregungen des Ältestenrats<br />
der Partei zum Umgang mit der Geschichte‹<br />
in 10 Exemplaren abgelichtet<br />
und verteilt. Ich halte die Bekanntmachung<br />
dieser Erklärung für besonders<br />
notwendig, da von Mitgliedern des Bundesvorstandes<br />
schon oft Geschichtslügen<br />
verbreitet wurden oder in Doku-<br />
Antisemitismus<br />
ist in der deutschenGesellschaft<br />
eine seit<br />
vielen Jahren relativunveränderte<br />
Einstellung<br />
eines großen Teils<br />
der Bevölkerung.<br />
Trotz dieses Befundes<br />
ist die<br />
Hartnäckigkeit<br />
der vielen Akteure beim Kampf um die Zurückdrängung des<br />
Antisemitismus in Deutschland bewunderns- und unterstützenswert.<br />
Mehrere Beiträge in dieser Publikation belegen<br />
die lange Entwicklungsgeschichte von Antisemitismus. Andere<br />
beleuchten aktuelle Aspekte dieses Phänomens. Sie<br />
bekräftigen, dass der Kampf gegen Antisemitismus einen<br />
unverwechselbar eigenständigen Platz in der Bekämpfung<br />
von Phobien verschiedenster Art innehat, der nicht relativiert<br />
werden sollte.<br />
Im Zentrum des Buches stehen die Referate und ausgewählte<br />
Diskussionsbeiträge der Antisemitismus-Konferenz der<br />
Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 11. Januar 2007. Dort wurde<br />
das Bedürfnis bekräftigt, grundlegende Erfahrungen der<br />
Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus einem breiten<br />
Interessentenkreis zugänglich zu machen.<br />
<strong>Die</strong> Herausgeber möchten vier Aspekte ihrer grundsätzlichen<br />
Haltung benennen:<br />
1. Für Menschen, die sich zu „den <strong>Linke</strong>n“ zählen, ist der Antifaschismus<br />
ein unverzichtbarer Grundwert. Dass dieser Antifaschismus<br />
keinesfalls monolithisch zu verstehen ist, versteht<br />
menten der Partei Eingang fanden. Ich<br />
verurteile die Verschweigetaktik, da diese<br />
Erklärung des Ältestenrats nicht mal<br />
im »Disput« zu finden war.<br />
Das…Material über Rechtsextremismus<br />
halte ich für sehr wertvoll und wissenswert,<br />
vor allem für führende Genossen<br />
in unserer Kreisorganisation.<br />
Ablichtungen habe ich der Geschäftsstelle<br />
übergeben und je ein Exemplar<br />
den Kreisvorsitzenden und der Landtagsabgeordneten<br />
Carolin Steinmetzer-<br />
Mann zugestellt. Seit 1994 habe ich in<br />
den von mir erarbeiteten Wahlanalysen<br />
des Elbe-Elster-Kreises auf die Notwendigkeit<br />
des Kampfes gegen den Einfluss<br />
der rechtsextremen Parteien hingewie-<br />
Horst Helas, Dagmar Rubisch, Rainer Zilkenat (Hrsg.)<br />
sen. Bei der Kreistagswahl 2008 erhielt<br />
die DVU 5,1 Prozent der Stimmen<br />
(2003: 3,7 Prozent) und bekam 3 Sitze<br />
im Kreistag gegenüber 2 bei der vorherigen<br />
Wahl. Landesweit kam die DVU<br />
auf 1,6 Prozent. Im Elbe-Elster-Kreis<br />
ist es besonders das Schradenland im<br />
Altkreis Bad Liebenwerda, wo die DVU<br />
in manchen Orten mehr Stimmen hat,<br />
<strong>als</strong> die LINKE. Unser Kreisvorsitzender<br />
wohnt im Altkreis Bad Liebenwerda und<br />
beschäftigt sich seit einigen Jahren verstärkt<br />
mit dem Problem Rechtsextremismus/Antifaschismus.<br />
(…)«<br />
Gerhard Rohr,<br />
Finsterwalde (Brandenburg)<br />
Neues vom Antisemitismus:<br />
Zustände in Deutschland<br />
Texte 46 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Karl <strong>Die</strong>tz Verlag Berlin 2008,<br />
175 Seiten, Broschur, 14,90 Euro, ISBN 978-3-320-02142-9<br />
sich von selbst. In Deutschland hat es vor wie nach 1945 immer<br />
Antifaschismen gegeben. Das entsprechende Handeln<br />
von Menschen verschiedener Herkunft und Weltanschauung<br />
gründet sich auch in der Gegenwart auf unterschiedliche Motive.<br />
Zudem meint Antifaschismus heute immer auch ein PRO,<br />
das Eintreten für bestimmte Grundwerte der bestehenden Gesellschaft,<br />
ihre Verteidigung wie Ausgestaltung.<br />
2. „<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>“ muss sich fast 60 Jahre nach der Gründung<br />
zweier deutscher Staaten und fast 20 Jahre nach der erneuten<br />
Herstellung der Einstaatlichkeit mit allen Facetten ihrer<br />
Geschichte differenziert, kritisch und sachlich auseinandersetzen.<br />
Auch hier versteht es sich von selbst, die äußeren<br />
Aspekte, beispielsweise die Zwänge des Kalten Kriegs, zu<br />
berücksichtigen. <strong>Die</strong>s sollte aber nicht zur Entschuldigung<br />
für Unzulänglichkeiten, Fehlentwicklungen und auch Verbrechen<br />
im jeweiligen Deutschland. <strong>Die</strong>s gilt auch für eine solche<br />
Frage wie die, ob es in der DDR Antisemitismus gegeben<br />
habe. <strong>Die</strong>ses Spezialthema der Geschichte der DDR verdient<br />
Aufmerksamkeit.<br />
3. Staatliche Organe, Wissenschaftler wie Publizisten sollten<br />
aufhören, zwischen Rechtsextremismus und sogenanntem<br />
Linksextremismus ein Gleichheitszeichen zu setzen – auch<br />
hinsichtlich des Antisemitismus. In Theorie wie gesellschaftlicher<br />
Praxis sollte man den Trennungsstrich zwischen all<br />
jenen Kräften, die die demokratische Grundordnung in<br />
Deutschland <strong>als</strong> ihren Handlungsrahmen ansehen, und jenen,<br />
die das „ganze System“ und „alle Systemparteien“<br />
überwinden wollen, klar kenntlich lassen.<br />
4. In Publizistik wie wissenschaftlicher Debatte erleben wir<br />
immer wieder, dass ein beliebiger Autor mit seinen Aussagen<br />
von Vorgestern immer wieder neu konfrontiert wird. <strong>Die</strong>s<br />
geschieht manchmal in der Erwartung, der Zitierte möge<br />
sich rechtfertigen.<br />
91
<strong>Die</strong> Pogrome begannen am 7. November 1938<br />
Horst Helas und Reiner Zilkenat haben<br />
anlässlich des 70. Jahrestages der antisemitischen<br />
Pogrome eine verdienstvolle<br />
Dokumentation vorgelegt, die noch<br />
einmal in einem Querschnitt die wichtigsten<br />
Aspekte dieses faschistischen<br />
Verbrechens benennt. <strong>Die</strong>se Ergänzung<br />
soll nur im Detail eine Erweiterung der<br />
Blickrichtung und eine notwendige Korrektur<br />
der historischen Chronologie<br />
bringen. Es geht um die Anfänge der Pogrome<br />
und damit auch deren politische<br />
Bewertung.<br />
Völlig zurecht schreiben Helas und Zilkenat:<br />
»Keine zentrale Direktiven – weder<br />
von Goebbels oder gar von Hitler<br />
unterschrieben – lagen dem Novemberpogrom<br />
zu Grunde. Gleichwohl wähnten<br />
sich die Anführer vor Ort durch den<br />
Trend der allgemeinen Politik gedeckt,<br />
ja ermuntert.«<br />
<strong>Die</strong>s gilt auch und gerade für die ersten<br />
Pogrome, die bekanntlich in Nordhessen,<br />
nämlich in Kassel, Sontra und Bebra<br />
stattfanden. Dort starteten die Pogrome<br />
nicht erst am 8. November, <strong>als</strong><br />
die Morgenzeitungen vom Attentat in<br />
Paris berichteten, sondern die Pogrome<br />
wüteten dort bereits am Abend des 7.<br />
November. <strong>Die</strong> Nachricht über das Attentat<br />
auf den Legationsrat vom Rath<br />
wurde natürlich auch im Radio verbreitet.<br />
Und in Kassel startete am Abend –<br />
nach einer Versammlung der örtlichen<br />
NSDAP – unter aktiver Mitwirkung von<br />
SS-Angehörigen aus Arolsen, die in Zivil<br />
mitmischten, der Sturm auf das jüdische<br />
Cafe Heinemann, anschließend<br />
92<br />
auf die große jüdische Synagoge in der<br />
Bremer Straße (Untere Königstraße)<br />
und das jüdischen Schul- und Gemeindezentrum<br />
in der Großen Rosenstraße.<br />
<strong>Die</strong> Pogrome begannen um 21 Uhr<br />
45 und dauerten bis etwa 1 Uhr, wobei<br />
die Zahlenangaben der Beteiligten<br />
schwankten. Bestätigt ist, dass neben<br />
einem organisierten Kern von gut dreißig<br />
Anführern sich noch mehrere Hundert<br />
Mitwirkende und Schaulustige<br />
beteiligten. Bilanziert wurde die Zerstörung<br />
von 20 jüdischen Geschäften und<br />
die Tatsache, dass es bis zum Vormittag<br />
des 8. November zu »Plünderungen<br />
kleineren Umfangs« gekommen sei. Bereits<br />
im Laufe des 8. November berichtete<br />
die Stapostelle Kassel direkt an SS-<br />
Gruppenführer Reinhard Heydrich in<br />
Berlin über diese Vorgänge. Der Bericht<br />
über die Kasseler Aktion machte seine<br />
Runde bis in die Staatskanzlei und<br />
diente <strong>als</strong> Vorbild für ähnliche Aktionen<br />
in den folgenden Tagen.<br />
Dabei war dieser Bericht noch nicht einmal<br />
vollständig. Denn in der nordhessischen<br />
Provinz kam es ebenfalls in dieser<br />
Nacht zu weiteren Ausschreitungen.<br />
Für Bebra liegen mehrere Berichte vor.<br />
In den Unterlagen des Prozesses, der<br />
1946 gegen die Verantwortlichen der<br />
Pogrome in Bebra vor dem Landgericht<br />
Kassel geführt wurde, heißt es: »Bei einer<br />
Parteiversammlung, die am Abend<br />
des 7. November im hessischen Hof<br />
stattfand, hatte der stellvertretende<br />
Kreisleiter die Judenaktion angekün digt<br />
und zur Vergeltung aufgefordert. Um<br />
dieser so genannten Vergeltungsaktion<br />
die gewünschte Richtung und das erstrebte<br />
Ausmaß zu geben, hatte die Parteileitung<br />
auswärtige Einsatztrupps herangezogen«.<br />
Hierbei handelte es sich<br />
um Kasseler SS-Angehörige.<br />
Da die örtliche NSDAP auf diese Kräfte<br />
einige Zeit warten musste, begannen die<br />
Ausschreitungen erst um Mitternacht.<br />
Ungeachtet dessen wurden die Synagoge,<br />
die jüdische Schule sowie Wohn- und<br />
Geschäftshäuser demoliert. In einem<br />
Bericht des Bürgermeisters von Bebra<br />
vom 23. November 1938 wurde auch<br />
der zweite Beweggrund der Pogrome anschaulich<br />
deutlich, nämlich die »polizeiliche<br />
Sicherstellung« von Waren aus jüdischem<br />
Besitz. Zerknirscht musste der<br />
Bürgermeister eingestehen: »Zu vermeiden<br />
war nicht, dass mehrere <strong>Die</strong>bstähle<br />
begangen wurden. Zum teil konnte das<br />
<strong>Die</strong>besgut wieder herbeigeschafft werden.<br />
Von der Parteileitung sind Gold-<br />
und Silbergegenstände der Polizei zur<br />
Aufbewahrung übergeben worden.«<br />
Merke: Wenn einzelne Nazis sich bei<br />
den Pogromen jüdisches Eigentum aneignen,<br />
ist es <strong>Die</strong>bstahl, wenn der Staat<br />
es macht, ist es legal.<br />
Und dieser ökonomische Aspekt der<br />
antisemitischen Ausschreitungen hat<br />
ebenfalls von Anfang an eine Rolle gespielt,<br />
nicht erst nach der Verkündigung<br />
der kollektiven Sühnezahlung, auf deren<br />
Basis verbliebenes jüdisches Eigentum<br />
»arisiert« wurde.<br />
Dr. Ulrich Schneider, Kassel
LITERATURBERICHT<br />
Neue Veröffentlichungen zur Geschichte der<br />
»Sudetendeutschen«<br />
Dr. Reiner Zilkenat<br />
93
REZERNSIONEN UND ANNOTATIONEN<br />
Der »Generalplan Ost« und die »Kollaboration«<br />
bildungsbürgerlicher Eliten mit dem Naziregime<br />
Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik<br />
im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 2008<br />
(Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungs gemein schaft, hrsg. von Rüdiger vom<br />
Bruch, Ulrich Herbert und Patrick Wagner, Band 3).<br />
Der »Generalplan Ost« und die »Kollaboration«<br />
bildungsbürgerlicher Eliten mit<br />
dem Naziregime<br />
Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft<br />
zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik<br />
im Kontext von Autarkie,<br />
Aufrüstung und Krieg, Franz Steiner<br />
Verlag, Wiesbaden 2008 (Studien zur<br />
Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft,<br />
hrsg. von Rüdiger vom<br />
Bruch, Ulrich Herbert und Patrick Wagner,<br />
Band 3).<br />
<strong>Die</strong> Deutsche Forschungsgemeinschaft<br />
(DFG) hat seit 1965 schon drei Darstellungen<br />
zu ihrer Geschichte in Auftrag gegeben.<br />
Aber unabhängig davon, ob Kurt<br />
Zierold, Thomas Nipperdey und Ludwig<br />
Schmugge oder Notker Hammerstein<br />
zur Feder griffen, sie alle umgingen, verharmlosten<br />
oder rechtfertigten die Verantwortung<br />
der DFG für die Ausrichtung<br />
der Forschungen auf Rüstung und Krieg<br />
in der Nazizeit. 1 Der vierte Anlauf soll das<br />
korrigieren und eine kritische Geschichte<br />
dieser Institution erbringen. Das von Rüdiger<br />
vom Bruch und Ulrich Herbert geleitete<br />
Projekt umfaßt inzwischen mehr<br />
<strong>als</strong> zwanzig Einzelprojekte, unter anderem<br />
eine Serie von Konferenzen, eine eigene<br />
Schriftenreihe, Stipendien, Qualifizierungsschriften<br />
und Ringvorlesungen.<br />
Eine DFG-Wanderausstellung zum »Generalplan<br />
Ost«, die im Februar 2008 auch<br />
in Berlin zu sehen war, wurde dem historischen<br />
Gewicht dieser Verbrechensplanung<br />
jedoch noch nicht gerecht.<br />
Einen integralen Teil des Großprojekts<br />
bildet die kürzlich veröffentlichte Dissertation<br />
von Sören Flachowsky. Deren Gegenstand<br />
ist nicht unmittelbar die DFG,<br />
sondern der 1937 gebildete Reichsforschungsrat<br />
(RFR). <strong>Die</strong>ser verkörperte eine<br />
zweite Etappe bei der Orientierung<br />
der staatlichen Wissenschaftsförderung<br />
auf die Bedürfnisse der Diktatur und<br />
Kriegsvorbereitung und blieb an die DFG<br />
gebunden. <strong>Die</strong> Entscheidungskompetenzen<br />
fielen an den Rat, die DFG hatte<br />
die Mittel auszuzahlen. So verkümmerte<br />
die DFG zur Kassenabteilung des<br />
RFR. Der Autor arbeitet diesen Zusammenhang<br />
explizit heraus, stellt die Ge-<br />
schichte dieser Institution seit dem ersten<br />
Weltkrieg dar und beweist, dass den<br />
stärksten Hebel jeglicher Forschungsförderung<br />
die Bedürfnisse der naturwissenschaftlichen<br />
und technischen Grundlagenforschung<br />
für den Krieg bildeten. An<br />
die interinstitutionelle Kooperation und<br />
Steuerung der Forschung durch die zu<br />
diesem Zweck gegründete »Kaiser-Wilhelm-Stiftung<br />
für kriegstechnische Wissenschaft«<br />
mitten im Ersten Weltkrieg<br />
knüpften alle späteren Fortsetzungen an.<br />
Voraussetzungen für die Gründung des<br />
RFR schufen Görings Vierjahresplan, der<br />
den rüstungswirtschaftlichen Kurs auf<br />
die Vorbereitung des Krieges festlegte,<br />
und ein Bündnis der ansonsten wenig<br />
einflußreichen Wissenschaftsbürokratie<br />
des Reichserziehungsministeriums mit<br />
dem Heereswaffenamt. <strong>Die</strong>ses Ministerium<br />
hatte schon zu Beginn der Nazidiktatur<br />
mittels einer Reichsakademie die<br />
Forschung steuern wollen, war aber gescheitert.<br />
Jetzt jedoch konnten die führenden<br />
Männer von Forschungsgemeinschaft<br />
und Forschungsrat, Bernhard Rust<br />
und Rudolf Mentzel, das OKW, die Luftwaffe<br />
und die Vierjahresplanbehörde <strong>als</strong><br />
Entscheidungsträger in die Rüstungsforschung<br />
einbinden. Der RFR setzte das<br />
Führerprinzip an die Stelle von Fachausschüssen,<br />
Fachspartenleiter entschieden<br />
allein und diktatorisch über Anträge.<br />
Natürlich regulierte der RFR nicht die gesamte<br />
Rüstungsforschung, diejenige für<br />
die Luftwaffe blieb z. b. selbständig.<br />
Flachowsky korrigiert zwei Fehlurteile:<br />
erstens die Ansicht, die DFG hätte hauptsächlich<br />
die »normale Forschung« gefördert,<br />
zweitens die Ausrede, daß der<br />
Reichsforschungsrat so uneffektiv gearbeitet<br />
hätte, dass er kaum Bedeutung<br />
für die Kriegsforschung habe gewinnen<br />
können und gescheitert sei. In der These<br />
vom Scheitern trafen und treffen sich<br />
divergente Interessen, zunächst die von<br />
hohen Mitarbeitern des RFR an ihrer eigenen<br />
Entlastung, dann die mancher<br />
US-Kommissionen nach 1945 an der<br />
Abwertung der Konkurrenz, bei Autoren<br />
der verschiedenen Geschichten der<br />
DFG die Apologetik für einen Auftragge-<br />
ber, der sich »völlig herkömmliche, unideologische<br />
Forschungen« (Notker Hammerstein)<br />
bescheinigen ließ, gegenüber<br />
der Wissenschaftsfeindlichkeit und forschungspolitischen<br />
Konzeptionslosigkeit<br />
der Nazidiktatur, deren Stiefkind angeblich<br />
die natur- und technikwissenschaftliche<br />
Forschung gewesen sei (Karl Heinz<br />
Ludwig).<br />
Flachowsky rückt hier einiges zurecht.<br />
Unbestreitbar ist, daß die vom Reichsforschungsrat<br />
vergebenen Mittel der<br />
DFG der Kriegs- und Expansionspolitik<br />
nicht nur dort dienten, wo es um Menschenversuche<br />
an politisch und rassisch<br />
Verfolgten oder um (Um)Siedlungsplanungen<br />
für die besetzten Ostgebiete<br />
ging. Bereits mit der Gründung war entschieden<br />
worden, daß Forschungen für<br />
den Vierjahresplan Priorität erhalten<br />
sollten. Gefördert wurden die Entwicklung<br />
von Radargeräten, Torpedosprengköpfen,<br />
Gas- und Biokampfstoffen, von<br />
Metalllegierungen für Geschoßführungsringe<br />
und Flugzeugmotoren, die Erschließung<br />
neuer Rohstoffvorkommen ebenso<br />
wie die Züchtung winter- bzw. dürreresistenter<br />
Getreidesorten und die im »Generalplan<br />
Ost« verankerten Maßnahmen<br />
der Vertreibung, Umsiedlung und des<br />
Völkermords.<br />
Gestützt auf eine solide Quellengrundlage<br />
belegt Flachowsky, daß dem RFR<br />
bei der Koordinierung der Rüstungsforschung<br />
eine zentrale Rolle zukam und er<br />
in der Endphase des Zweiten Weltkrieges<br />
die rüstungsrelevante Forschung über alle<br />
Fächer hinweg auf breiter Front finanzierte.<br />
<strong>Die</strong> menschenfeindlichen Ziele<br />
mußten den Wissenschaftlern nicht aufgezwungen<br />
werden, sie schrieen geradezu<br />
danach. Seit den Tagen des Ersten<br />
Weltkriegs hatte eine große Zahl nationalkonservativer<br />
Wissenschaftler die<br />
entsprechenden Netzwerke geschaffen<br />
und sie nahezu nahtlos über die Weimarer<br />
Republik in die faschistische Diktatur<br />
überführt. Flachowsky nennt dies<br />
»Selbstindienstnahme« und spricht von<br />
»Kollaboration« bildungsbürgerlicher Eliten<br />
mit dem Naziregime.<br />
97
Professor Dr. Werner Röhr<br />
1 Vgl. Kurt Zierold: Forschungsförderung in drei Epochen.<br />
Deutsche Forschungsgemeinschaft. Geschiche<br />
– Arbeitsweise – Kommentar, Wiesbaden<br />
1968; Thomas Nipperdey, Ludwig Schmugge: 50<br />
Jahre Forschungsförderung in Deutschland. Ein Abriß<br />
der Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />
1920 – 1970, Berlin-West 1970; Notker<br />
Hammerstein: <strong>Die</strong> Deutsche Forschungsgemeinschaft<br />
in der Weimarer Republik und im Dritten<br />
Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur,<br />
München 1999; vgl. auch: Karl Heinz Ludwig:<br />
Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf<br />
1979.<br />
98
»Sie waren die Boys«. <strong>Die</strong> Geschichte von 732<br />
jungen Holocaust-Überlebenden.<br />
Martin Gilbert, Sie waren die »Boys«. <strong>Die</strong> Geschichte von 732 Holocaust-<br />
Überlebenden, Verlag für Berlin-Brandenburg, 560 Seiten.<br />
1996 war dieses Buch von Martin Gilbert<br />
in London erschienen, im Januar<br />
2008 konnte die deutsche Übersetzung<br />
präsentiert werden. Endlich!<br />
Seit 1968 gilt Martin Gilbert in Großbritannien<br />
<strong>als</strong> der »offizielle« Churchill-<br />
Biograf. Sein Buch über die »Boys« hat<br />
einen ganz anderen Gegenstand. Im<br />
Sommer 1945 erlaubte die britische Regierung,<br />
dass 1.000 jüdische Kinder und<br />
Jugendliche in das Land einreisen durften.<br />
Am Ende der Aktion waren es 732.<br />
<strong>Die</strong>se jungen Holocaust-Überlebenden<br />
hatten Grauenhaftes erlebt, sie waren<br />
zumeist Vollwaisen. Manche von ihnen<br />
hatten den Tod ihrer Eltern und Geschwister<br />
mit ansehen müssen. Worte<br />
wie »Ghetto«, »Arbeitslager« »Deportation«,<br />
»KZ«, »Todesmarsch«, waren für sie<br />
keine abstrakten Begriffe. Sie kannten<br />
sie aus eigenem Erleben. Nach Großbritannien<br />
kamen sie aus Auschwitz,<br />
Bergen-Belsen, Buchenwald, Theresienstadt<br />
und anderen Konzentrations-<br />
oder Zwangsarbeiterlagern.<br />
Sie waren schwer traumatisiert und<br />
brauchten viele Jahre, um wieder ein<br />
»normales Leben« führen zu können.<br />
Erwachsene, manche nicht viel älter <strong>als</strong><br />
die Betreuten und selbst jüdische Opfer<br />
des NS-Regimes, halfen ihnen durch<br />
Fürsorge und Zuwendung, mittels der<br />
Suche nach geeigneten beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten<br />
und mit vielfältigen<br />
Freizeitangeboten, sich allmählich<br />
im Alltag zurecht zu finden. <strong>Die</strong> 15 bis<br />
19 Jahre alten »Boys«, unter ihnen auch<br />
80 Mädchen, lernten es, wieder jung zu<br />
sein – mit allen Problemen von Heranwachsenden.<br />
Das Buch über die »Boys« besticht<br />
durch die Kompaktheit des Dargestellten.<br />
Eine persönliche Erinnerung nach<br />
der anderen wird vorgestellt, nur selten<br />
von zusammenfassenden Kommentaren<br />
begleitet. <strong>Die</strong> Nüchternheit und Fülle<br />
der wiedergegebenen Berichte über Erlebtes<br />
erschreckt in jedem der Einzelfälle.<br />
In der Summe lässt sich das ganze<br />
Ausmaß der Nazi-Verbrechen an den europäischen<br />
Juden dennoch nur erahnen.<br />
Das Wort »Kollektivbiografie« ist eigentlich<br />
der f<strong>als</strong>che Begriff für dieses Kompendium<br />
von Einzelschicksalen.<br />
Martin Gilberts Buch ist in 23 Kapitel unterteilt.<br />
Elf schildern Wege aus der Kindheit<br />
über das Erleben in der NS-Zeit bis<br />
zur Befreiung 1945. Der Leser bekommt<br />
im ersten Kapitel eine Vorstellung vom<br />
Leben in den jüdischen Gemeinden Polens,<br />
in Dörfern, kleinen und größeren<br />
Städten. Von Entbehrungen im Alltag<br />
und familiärer Geborgenheit ist ebenso<br />
die Rede wie davon, inwieweit jüdische<br />
Sitten und Bräuche befolgt wurden. All<br />
diese jüdischen Gemeinden (wie auch<br />
alle anderen in Ost- und Südosteuropa)<br />
existieren nicht mehr, ihre Mitglieder<br />
wurden zumeist ermordet.<br />
Und noch eines gehört zu den Kindheitserfahrungen<br />
der »Boys«. Perec Zylberberg<br />
aus Lodz resümiert: »Schon<br />
<strong>als</strong> Schulkind hatte ich viele Fälle von<br />
offenem oder verdecktem Antisemitismus<br />
seitens polnischer Kinder und Erwachsener<br />
erlebt; manchmal mehr von<br />
Seiten der Kinder, manchmal auch umgekehrt.<br />
Das Bewusstsein, dass dieser<br />
Antisemitismus existierte, begleitete<br />
uns ständig.« (S. 55).<br />
<strong>Die</strong> Hoffnung, dass für die Juden die<br />
deutsche Besatzungsmacht – wie in den<br />
Jahren des 1. Weltkrieges – ab September<br />
1939 wieder relativ mild vorgehen<br />
würde, erwies sich <strong>als</strong> trügerisch. Arek<br />
Hersch findet im Nachhinein die Worte,<br />
dass nach einer »allgemeinen Kampagne<br />
der Furcht«, was kommen würde,<br />
für Juden eine »neue Gestalt des Schreckens<br />
des Krieges« begann (S. 73). Geiselerschießungen;<br />
brennende Synagogen;<br />
Einrichtung von Ghettos in jedem<br />
kleinen Ort; schamlose Plünderungen<br />
und Denunziation, auch von früheren<br />
nichtjüdischen Nachbarn; Familientrennung;<br />
Deportation; Vergasungen<br />
oder Arbeitslager, nicht enden wollende<br />
Schläge und ständiger Hunger bestimmten<br />
für über fünf Jahre das Leben<br />
der »Boys«. Zum Zeitpunkt ihrer Befreiung<br />
waren »die wenigen Überlebenden<br />
an der äußersten Grenze ihrer Leidensfähigkeit<br />
angelangt.« (S. 258)<br />
In den Kapiteln elf bis zweiundzwanzig<br />
werden die verschiedenen Etappen<br />
des Ankommens der »Boys« in Großbritannien,<br />
die einzelnen Orte ihrer<br />
Unterbringung und Beispiele des Heimischwerdens<br />
in einem fremden Land<br />
beschrieben. <strong>Die</strong> meisten der »Boys«<br />
blieben in Großbritannien, aber auch die<br />
USA, Israel, Kanada, die Schweiz, Argentinien,<br />
Australien oder Brasilien wurde<br />
manchen von ihnen zur neuen Heimat.<br />
<strong>Die</strong> meisten der »Boys« lernten sich erst<br />
in Großbritannien kennen. Neue Freundschaften<br />
entstanden, die jahrzehntelang<br />
hielten. Nur wenige hatten das Glück,<br />
noch lebende Familienangehörige ausfindig<br />
zu machen oder Weggefährten<br />
wieder zu treffen, mit denen sie ein Teilstück<br />
ihres Leidensweges gegangen waren.<br />
Auch hier ist die Bilanz bitter – und<br />
sollte Nichtbetroffene immer wieder zu<br />
Sensibilität mit solchen »Zeitzeugen«<br />
mahnen. »Für die Überlebenden stellte<br />
es eine besondere Härte dar, dass das<br />
Schicksal ihrer Angehörigen niem<strong>als</strong><br />
vollständig aufgeklärt werden konnte.<br />
<strong>Die</strong> meisten Familienangehörigen wurden<br />
zwischen 1942 und 1944 ermordet,<br />
andere starben während der Todesmärsche<br />
des Jahres 1945. Doch die genauen<br />
Umstände ihres Todes sind unbekannt,<br />
da keinerlei Dokumente existieren. Nur<br />
die Asche, die in jedem Lager zuhauf zu<br />
finden ist, bezeugt das ganze Ausmaß<br />
der Vernichtung.« (S. 422)<br />
Das 23. Kapitel stellt die »’45 Aid Society«<br />
vor, die eigene Wohltätigkeitsorganisation<br />
der »Boys«, deren Mitglieder sich<br />
jährlich zum Wiedersehen und Gedankenaustausch<br />
treffen. Auch im hohen<br />
Alter verstehen sie sich und handeln<br />
<strong>als</strong> verschworene, solidarische Gemeinschaft.<br />
Ihr jährliches Gedenken an ihre<br />
Befreiung ist für die »Boys« dabei besonders<br />
wichtig.<br />
Komplettiert wird das Buch durch eine<br />
Liste der bis 1996 verstorbener »Boys«,<br />
historische Karten sowie ein Personen-<br />
und Ortsregister.<br />
Martin Gilbert wurde zu diesem Buchvorhaben<br />
von zwei »Boys« ermuntert<br />
und in den Mühen der Bearbeitung von<br />
über einhundertfünfzig Erinnerungsberichten<br />
zu einem einzigartigen Buch begleitet:<br />
Rabbi Hugo Gryn (1996 verstorben)<br />
und Ben Helfgott. Sie ermunterten<br />
Martin Gilbert zu dem Buchprojekt und<br />
begleiteten es bis zum erfolgreichen Abschluss<br />
1996.<br />
<strong>Die</strong>se beiden waren es auch, die ab<br />
1993 die anderen »Boys« dazu ermunterten<br />
Erinnerungen schriftlich festzuhalten,<br />
Verdrängtes noch einmal zu beschreiben,<br />
es völlig fremden Menschen<br />
mitzuteilen. Sie alle fällten auch diese<br />
Entscheidung, die Ihnen sehr viel abverlangte,<br />
jeder ganz für sich allein und<br />
schließlich sehr bewusst. Texte entstan-<br />
99
den, von denen manche zwanzig bis<br />
dreißig Seiten lang waren, alle ein eigenes<br />
Buch wert.<br />
<strong>Die</strong> »Boys« fanden darüber hinaus auch<br />
die Kraft, vor allem Jüngeren bei persönlichen<br />
Begegnungen von sich zu erzählen.<br />
Deren Aufmerksamkeit war ihnen<br />
eine große Genugtuung.<br />
<strong>Die</strong> »Boys« sind in der Geschichte des<br />
Holocaust und der Geschichte ihrer<br />
100<br />
Überlebenden etwas Besonderes. Das<br />
sehen sie selbst so. Der langjährige Vorsitzende<br />
der »’45 Aid Society« Ben Helfgott<br />
fand bei seinen Gefährten 1976 für<br />
folgende Worte lebhafte Zustimmung:<br />
»Wir haben bewiesen, dass das Elend<br />
und die Verzweiflung, die Brutalität und<br />
die Ungerechtigkeit, die wir zu erdulden<br />
hatten, nicht imstande waren, unseren<br />
Willen zu brechen. Wir haben uns nicht<br />
vom Hass verzehren lassen, sodass er<br />
am Ende uns selbst und andere zerstört<br />
hätte. Stattdessen haben wir uns daran<br />
gemacht, ein neues Leben aufzubauen.«<br />
(S. 493)<br />
Bleibt die Empfehlung: das Buch kaufen,<br />
lesen und andere zu ermuntern,<br />
Gleiches zu tun. empfehlen.<br />
Dr. Horst Helas
Reflexionen zum Rechtsextremismus in<br />
Ostdeutschland?<br />
Johanna Engelbrecht, Rechtsextremismus bei ostdeutschen Jugendlichen vor und<br />
nach der Wende, Peter Lang – Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt<br />
am Main 2008 (Res humanae. Arbeiten für die Pädagogik, hrsg. v. Hans-Joachim<br />
Plewig, Helmut Richter u. Horst Scarbath), 188 Seiten, 39 Euro.<br />
Das 2008 erschienene Buch von Johanna<br />
Engelbrecht »Rechtsextremismus bei<br />
ostdeutschen Jugendlichen vor und nach<br />
der Wende« ist vor allem für Pädagogen<br />
bestimmt. Es gliedert sich in elf Kapitel,<br />
von Begriffsdefinitionen bis hin zu der<br />
Frage, was man gegen Einfluss und Verbreitung<br />
des gegenwärtigen Rechtsextremismus<br />
unternehmen könnte. Dabei<br />
dienen die recht oberflächlich geratenen<br />
Kapitel zur Geschichte der DDR und der<br />
FDJ nur bedingt zur Klärung der im Buch<br />
aufgeworfenen Probleme.<br />
Entstanden ist die Publikation aus einer<br />
Abschlussarbeit an der Leuphana-Universität<br />
in Lüneburg, ihr Niveau überschreitet<br />
nicht das Niveau eines mittelmäßigen<br />
Seminarreferates. Inhaltlich werden bis<br />
auf einige Passagen zu den Erklärungsansätzen<br />
des heutigen Rechtsextremismus<br />
kaum neue Erkenntnisse geboten<br />
und seit langem bekannte fragwürdige<br />
Behauptungen wiederholt.<br />
Zumeist kommentiert die Autorin nur aus<br />
der umfangreich genutzten Sekundärliteratur<br />
bereits seit längerem bekannte Fakten<br />
und Analysen. Außer einigen Leipziger<br />
Publikationen werden Forschungen<br />
zum Rechtsextremismus aus den neuen<br />
Bundesländern kaum genutzt und auch<br />
nicht im umfangreichen Literaturverzeichnis<br />
aufgeführt. Theoretisch stützt<br />
sich Johanna Engelbrecht auf die Veröffentlichungen<br />
von Wilhelm Heitmeyer<br />
und im Schlussteil auf die Arbeiten von<br />
Franz Josef Krafeld.<br />
Der Schlüsselbegriff der Verfasserin für<br />
ihre Analyse des Rechtsextremismus in<br />
der DDR ist das dogmatisch-simple Axiom<br />
vom Autoritarismus. Wie bei vielen<br />
anderen Autoren von links bis rechtskonservativ<br />
werden alle gesellschaftlichen<br />
Prozesse in der DDR recht unterschiedslos<br />
damit in Verbindung gebracht. Da<br />
gibt es pauschalisierend die »autoritäre<br />
Persönlichkeit«, die »autoritäre Familie«,<br />
die »autoritäre Erziehung« usw. Dabei<br />
sind die diesen Begriffen zugrunde gelegten<br />
Fakten empirisch kaum belegbar.<br />
Autoritarismus kann Rechtsextremismus<br />
begünstigen, muss es aber nicht. Dort,<br />
wo 1990/91 Untersuchungen in Ostdeutschland<br />
zu dieser Thematik vorgenommen<br />
wurden, unterschieden sich die<br />
Ergebnisse kaum von solchen in West-<br />
deutschland. Viele seriöse Wissenschaftler,<br />
wie zum Beispiel Detlef Oesterreich,<br />
Walter Friedrich und Oskar Niedermeyer,<br />
lehnen deshalb die Kategorie »Autoritarismus«<br />
<strong>als</strong> verbindlichen Indikator für<br />
die gegenwärtige Rechtsextremismusforschung<br />
ab. Das Otto-Stammer-Institut<br />
der Freien Universität Berlin hat deshalb<br />
diesen Begriff aus seinem Kriterienkatalog<br />
zur Untersuchung des Rechtsextremismus<br />
herausgenommen.<br />
In den einleitenden Teilen des Buches<br />
(S. 36 ff.) kolportiert die Verfasserin viele<br />
der gängigen, simpel gestrickten Legenden<br />
zur Geschichte der DDR und zeichnet<br />
sich selbst durch eine diesbezüglich<br />
bemerkenswerte Unkenntnis aus. So<br />
ist für sie die SED schon seit 1946 eine<br />
kommunistische Partei, verkörpern die<br />
antifaschistischen Boden- und Industriereformen<br />
von 1945/46 in der damaligen<br />
Sowjetischen Besatzungszone durchweg<br />
eine »Entmachtung des Besitzbürgertums«,<br />
verlegt sie die Gründungsdaten<br />
der 1945/46 entstandenen Massenorganisationen<br />
FDGB und Kulturbund in<br />
das Jahr 1948 und der erste Ministerpräsident<br />
heißt bei ihr nicht Otto Grotewohl,<br />
sondern Walter Ulbricht. Unstimmig<br />
– um nicht zu sagen: unsinnig – ist<br />
gleichfalls ihre Behauptung, dass erst in<br />
den siebziger Jahren Erich Honecker auf<br />
Druck der Bevölkerung wirtschaftliche<br />
Beziehungen zu den westlichen Industriestaaten<br />
knüpfte.<br />
Der interessanteste Teil der vorliegenden<br />
Publikation sind die Kapitel zu den verschiedenen<br />
Theorien über die Ursachen<br />
des Rechtsextremismus in der DDR und<br />
den neuen Bundesländern. Eine zentrale<br />
Position nehmen dabei – wie schon<br />
erwähnt – die Aussagen des Bielefelder<br />
Soziologen und Jugendforschers Wilhelm<br />
Heitmeyer über Individualisierungstendenzen<br />
und die so genannten Modernisierungsverlierer<br />
ein. In diesem Kontext<br />
wird manches Zutreffende gesagt, aber<br />
auch manches Fragwürdige, was von Johanna<br />
Engelbrechten kaum kritisch reflektiert<br />
wird.<br />
Das Zweifelhafte trifft auch auf die Zustimmung<br />
der Verfasserin zu der abenteuerlichen<br />
»Töpchen-Theorie« des Hannoveraner<br />
Kriminologen Christian Pfeiffer zu (vgl.<br />
S. 132). <strong>Die</strong> vermeintlich wissenschaft-<br />
lichen »Erkenntnis« dieses Professors,<br />
der die Ursachen des DDR-Rechtsextremismus<br />
in der Reinlichkeitserziehung in<br />
den ostdeutschen Kindergärten verortet,<br />
stieß von Rügen bis zum Thüringer Wald<br />
auf heftigen Widerspruch und – weitgehend<br />
unabhängig von den weltanschaulich-politischen<br />
Affinitäten der sich Äußernden<br />
– auf eine einhellige Ablehnung.<br />
Als einen wesentlichen Mangel bei der<br />
Suche nach den Ursachen für den Rechtsextremismus<br />
sieht der Rezensent in der<br />
Unterbelichtung, zum Teil sogar in der<br />
Ablehnung einer Analyse solcher wesentlichen<br />
sozialökonomischen Faktoren wie<br />
der Massenarbeitslosigkeit, wachsender<br />
Armut, der um sich greifenden Zukunftsängste<br />
sowie in der weitgehenden Negation<br />
von politischen und sozialen Alltagserfahrungen<br />
in den neuen Bundesländern.<br />
Für sehr fragwürdig halte ich in diesem<br />
Zusammenhang auch die vom Herausgeber<br />
Hans-Joachim Plewig im Vorwort umrissene<br />
Position, dass nicht etwa »Armut,<br />
Arbeitslosigkeit und Desintegration die<br />
wesentlichen Ursachen für Rechtsextremismus<br />
seien. Das ist empirisch f<strong>als</strong>ch<br />
und politisch gefährlich.« (S. 8)<br />
<strong>Die</strong> Antworten der Autorin auf die Frage,<br />
was zur Zurückdrängung und Überwindung<br />
des Rechtsextremismus in<br />
den neuen Bundesländern getan werden<br />
könne, kreisen im Wesentlichen<br />
um die Theorie und Praxis der akzeptierenden<br />
Jugendarbeit des Bremer Wissenschaftlers<br />
Franz Josef Krafeld. Nach<br />
der »Wende« von 1989/90 führte deren<br />
Anwendung zu solchen überaus problematischen,<br />
ja unannehmbaren Erscheinungen,<br />
dass bekannte neonazistische<br />
Gewalttäter <strong>als</strong> staatsfinanzierte Betreuer<br />
bzw. Sozialarbeiter in neonazistischen<br />
Gruppen eingesetzt wurden. Bilanzierend<br />
kann man heute sagen, dass das Konzept<br />
der akzeptierenden Jugendarbeit in Ostdeutschland<br />
weitgehend gescheitert ist<br />
und deshalb nur noch von wenigen Politikern<br />
und Sozialbehörden bejaht wird.<br />
Abschließend sei vermerkt, dass der<br />
Preis des Buches im Vergleich zu ähnlichen,<br />
meistens umfangreicheren Publikationen,<br />
und vor allem angesichts dessen,<br />
was inhaltlich geboten wird, mit 39<br />
Euro bei weitem zu hoch bemessen ist.<br />
Dr. sc. Norbert Madloch<br />
101
<strong>Die</strong> NPD in den Parlamenten<br />
NiP-Redaktionskollektiv, Heinrich-<br />
Böll-Stiftung, weiterdenken –<br />
Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Hrsg.,<br />
<strong>Die</strong> NPD im sächsischen Landtag.<br />
Analysen und Hintergründe 2008,<br />
Druckhaus Dresden, Dresden 2008,<br />
96 Seiten.<br />
Projekt »Auseinandersetzung mit<br />
Rechtsextremismus in kommunalen<br />
Gremien Berlins – Dokumentation<br />
und Analyse«, Verein für Demokratische<br />
Kultur in Berlin e.V. (VDK),<br />
Hrsg., Berliner Erfahrungen. Zwei<br />
Jahre demokratische Ausein anderset<br />
z ungen mit Rechtsextremen in<br />
kommunalen Gremien, Berlin 2008,<br />
61 Seiten.<br />
Am 7. Juni werden die Sitze im Landtag<br />
des Freistaates Sachsen neu verteilt und<br />
auch die NPD stellt sich erneut zur Wahl.<br />
Nachdem sie 2004 mit zwölf Abgeordneten<br />
in das sächsische Parlament einzog,<br />
scheint ihr der Wiedereinzug sicher.<br />
Pünktlich zum so genannten »Superwahljahr«<br />
2009 legt das Redaktionskollektiv<br />
»Nazis in den Parlamenten« (NiP) Sachsen<br />
in Kooperation mit der Heinrich-Böll-<br />
Stiftung eine Publikation vor, die die Aktivitäten<br />
der NPD in Sachsen analysiert.<br />
In acht Beiträgen geben die Autor/innen<br />
einen Einblick in das Wirken der NPD inner-<br />
und außerhalb des Landtages und<br />
den Umgang der demokratischen Parteien<br />
sowie der Medien mit den rechtsextremen<br />
Abgeordneten. Gleichzeitig<br />
bietet der Sammelband einen Ausblick<br />
auf die kommende Wahlperiode.<br />
Beispielsweise kommt Chris Fisher zu<br />
der Erkenntnis, dass die NPD-Fraktion<br />
– wider Erwarten – trotz personeller<br />
Einbußen keineswegs in der Versenkung<br />
verschwunden ist. So stellten die NPD-<br />
Abgeordneten bis Sommer 2008 allein<br />
2.165 Kleine Anfragen, wie Michael<br />
Nattke in einer vergleichenden Analyse<br />
der NPD-Fraktionen in Sachsen und<br />
Mecklenburg-Vorpommern feststellt.<br />
Nattke zeigt zugleich aber auch Schwächen<br />
auf: So scheint es, entgegen den<br />
Erwartungen, keinen kontinuierlichen<br />
Austausch zwischen beiden Fraktionen<br />
zu geben. <strong>Die</strong>s zeigt sich bei Anträgen<br />
102<br />
der NPD, die sich in ihrer Stoßrichtung<br />
zwar durchaus ähneln, in Argumentation<br />
und Formulierung jedoch erhebliche<br />
Unterschiede aufweisen. Dabei wird allerdings<br />
unterschlagen, dass einige,<br />
meist besonders skandalträchtige, Anträge<br />
trotz allem den Weg durch Landesparlamente<br />
und kommunale Gremien<br />
finden. Als Beispiel sei nur der<br />
geschichtsrevisionistische Antrag für<br />
»Rote Stolpersteine gegen das Vergessen«<br />
genannt, der in einigen Berliner<br />
Bezirksverordnetenversammlungen für<br />
Aufregung sorgte, nachdem er bereits<br />
im Schweriner Schloss gestellt wurde.<br />
Kritisch beäugt wird der Umgang der demokratischen<br />
Parteien mit der NPD. Besonders<br />
CDU und FDP falle die Abgrenzung<br />
gegenüber den Rechtsextremen<br />
nicht immer leicht. »Auf kommunaler<br />
Ebene wird immer wieder von freundschaftlichen<br />
Kontakten einzelner Abgeordneter<br />
zu in den entsprechenden<br />
Parlamenten vertretenen Neonazis berichtet<br />
[…]« (S. 69).<br />
Mit einer weiteren Publikation, die sich<br />
mit den parlamentarischen Aktivitäten<br />
rechtsextremer Parteien befasst, stellt<br />
sich das Projekt »Auseinandersetzung<br />
mit Rechtsextremismus in kommunalen<br />
Gremien Berlins – Dokumentation und<br />
Analyse« vor. <strong>Die</strong> Broschüre analysiert<br />
Auftreten und Strategien der Rechtsextremen<br />
in den Bezirksverordnetenversammlungen<br />
Berlins. Seit 2006 sind<br />
dort Verordnete von NPD, DVU und »Republikanern«<br />
(REP) vertreten. So ziehen<br />
die Autor/innen zunächst eine Zwischenbilanz<br />
und stellen einerseits eine<br />
gewisse Stabilisierung der Präsenz der<br />
NPD fest. Andererseits hindern mangelnde<br />
kommunale Verankerung und der<br />
»Berliner Konsens« der demokratischen<br />
Parteien die NPD an einer Verstetigung<br />
ihrer Präsenz. Anträge der Rechtsextremen<br />
werden konsequent abgelehnt und<br />
in der Regel entgegnet nur ein/e Vertreter/in<br />
der demokratischen Parteien den<br />
rechtsextremen Initiativen. Trotz dieser<br />
Erfolge und der anhaltenden Stigmatisierung<br />
der Rechtsextremen in Berlin<br />
raten die Autor/innen, »die bisher ge-<br />
machten positiven und negativen Erfahrungen<br />
genauer in den Blick zu nehmen«<br />
und an einer »Weiterentwicklung demokratischer<br />
Handlungsweisen« (S. 37)<br />
zu wirken. Folglich wartet die Broschüre<br />
mit einem umfangreichen und nützlichen<br />
Anhang auf, in dem Praxisbeispiele<br />
aus der Auseinandersetzung mit<br />
Rechtsextremismus auf kommunaler<br />
Ebene sowie beispielhafte Anträge und<br />
Debatten dokumentiert sind.<br />
Trotz innerparteilicher Querelen ist die<br />
NPD auf dem Vormarsch: So verfügt sie<br />
bundesweit über dutzende Mandate und<br />
Kommunalparlamenten. Sie nutzt diese<br />
Möglichkeit, um ihr menschenverachtendes<br />
Gemeinschaftsmodell zu propagieren.<br />
An sachpolitischer Arbeit in den<br />
Kommunen jedoch zeigt sie kein Interesse.<br />
Trotzdem erfordert die Abgrenzung<br />
der demokratischen Parteien eine<br />
kontinuierliche Auseinandersetzung mit<br />
dem Rechtsextremismus. <strong>Die</strong> beiden<br />
vorliegenden Broschüren können Vertreter/innen<br />
aus Kommunal- und Landespolitik<br />
sowie zivilgesellschaftlichen<br />
Akteuren Anregungen und Hilfestellungen<br />
hierzu geben.<br />
Yves Müller<br />
Hinweis<br />
<strong>Die</strong> Broschüre »<strong>Die</strong> NPD im sächsischen<br />
Landtag. Analysen und Hintergründe<br />
2008« kann gegen Erstattung der Versandkosten<br />
über das Bildungswerk weiterdenken<br />
– Heinrich-Böll-Stiftung bezogen<br />
werden. Bestellungen bitte an<br />
schoenfelder@weiterdenken.de. Außerdem<br />
steht sie unter www.weiterdenken.<br />
de zum <strong>Download</strong> bereit.<br />
<strong>Die</strong> Broschüre »Berliner Erfahrungen.<br />
Zwei Jahre demokratische Auseinandersetzungen<br />
mit Rechtsextremen in kommunalen<br />
Gremien« kann über den Verein<br />
für Demokratische Kultur in Berlin<br />
e.V. (VDK) bestellt werden. Bestellungen<br />
bitte an doku-und-analyse@vdk-berlin.<br />
de. Sie kann auch unter www.mbr-berlin.de/Verein/Rechtsextremismus_in_<br />
den_BVVen heruntergeladen werden.
<strong>Die</strong> NPD in Mecklenburg-Vorpommern.<br />
Reihe DEMOKRATIEPOLITIK-<br />
(Politikwissenschaftliche Arbeitspapiere aus dem Arbeitsbereich Politische Theorie<br />
und Ideengeschichte)<br />
Herausgeber: Prof. Dr. Hubertus Buchstein, Universität Greifswald. Lehrstuhl für<br />
Politische Theorie und Ideengeschichte / Institut für Politikwissenschaft.<br />
In fortlaufender Folge (Hefte 2–4) sind<br />
bisher drei Broschüren in dieser Reihe<br />
erschienen, die sich explizit mit Problemen<br />
des Rechtsextremismus auseinandersetzen.<br />
Prof. Dr. Buchstein zeichnet<br />
<strong>als</strong> Herausgeber verantwortlich. Sie<br />
sind auch ins Internet eingestellt.<br />
Das Heft 2 von<br />
Benjamin Fischer:<br />
Ueckermünde – ein Refugium des<br />
Rechtsextremismus? (2006, 42 S.)<br />
untersucht, ob Ueckermünde, eine relativ<br />
kleine Stadt am Nordostende der<br />
Republik, in der ersten Hälfte des Jahrzehnts<br />
ein Refugium des Rechtsextremismus<br />
geworden ist. Es umfasst ein<br />
kurzes Lagebild der Kommune, die Aktivitäten<br />
der NPD im Ort, das Auftreten<br />
der Kameradschaften und vor allem<br />
von sogenannten Kulturkreisen wie dem<br />
HBP (Heimatbund Pommern). Zum späteren<br />
Einzug der NPD in den Schweriner<br />
Landtag auf Grund der Ansammlung<br />
entsprechenden Stimmenpotenti<strong>als</strong> der<br />
extremen Rechten trug vor allem das<br />
demagogische Wirken einer Bürgerinitiative<br />
»Schöner und sicherer wohnen in<br />
Ueckermünde« mit ihrer ausländerfeindlichen<br />
Hetze bei.<br />
Es sind nur wenige aber politisch profilierte<br />
Kader der NPD, die mit klaren<br />
Strategien für eine Verankerung des<br />
Rechtsextremismus in der gesellschaftlichen<br />
Mitte der Stadt sorgten. An zahlreichen<br />
Beispielen wird demgegenüber<br />
deutlich gezeigt, wie schwache demokratische<br />
Strukturen und Versagen<br />
kommunaler Behörden eine Mitschuld<br />
an der Entstehung eines solchen »Refugiums«<br />
tragen und die Notwendigkeit<br />
aktiver und offensiver politischer Auseinandersetzung<br />
mit den rechtsextremen<br />
Gruppen begründet.<br />
Das Heft 3 von<br />
Benjamin Barkow: <strong>Die</strong> Berichter stattung<br />
über die NPD in der regional en<br />
Presse Mecklenburg-Vorpommerns<br />
(2007, 51 S.)<br />
nimmt <strong>als</strong> Beispiele für die Untersuchung<br />
erstens die Anklamer Ausgabe<br />
des »Nordkurier« und zweitens die<br />
Str<strong>als</strong>under Ausgabe der »Ostseezeitung«.<br />
Im einzelnen erfährt man dabei<br />
etwas über die Anordnung dieser Berichterstattung<br />
in den Zeitungen, über<br />
den Umfang der Berichte zu den Ereignissen,<br />
Berichte über das Auftreten<br />
der NPD in der Stadtvertretung Anklam<br />
und im Kreistag OVP (Ostvorpommern)<br />
sowie in der Str<strong>als</strong>under Bürgerschaft.<br />
Dann erfolgt ein Vergleich der Berichterstattung<br />
in den beiden Zeitungen und<br />
eine Bewertung.<br />
Das Heft 4 von<br />
Laura Niemann: <strong>Die</strong> NPD im Landtag<br />
von Mecklenburg-Vorpommern.<br />
Ihre Parlamentsarbeit im ersten<br />
Jahr. (2008, 96 S.)<br />
ist das bisher umfangreichste Heft. Erfasst<br />
wird dabei das Geschehen im<br />
Schweriner Landtag von Ende 2006 bis<br />
Ende 2007. Vorangestellt ist eine Übersicht<br />
zum Auftreten rechtsextremer Parteien<br />
in Landtagen der Bundesrepublik<br />
in der Vergangenheit. Danach werden<br />
die Aussagen der NPD vor ihrem Einzug<br />
in den Landtag 2006 analysiert. Den<br />
Hauptteil bilden die Untersuchungen zu<br />
den von den NPD-Vertretern im Landtag<br />
gehaltenen Reden, die eingebrachten<br />
Entschließungs- und Gesetzesentwürfe<br />
sowie die Auseinandersetzungen der<br />
demokratischen Parteien im Landtag mit<br />
der NPD. <strong>Die</strong> faktenreiche und detaillierte<br />
Beschreibung von Laura Niemann<br />
ist zusätzlich durch Interviews gestützt.<br />
Für weiter reichende Schlussfolgerungen<br />
über Mecklenburg-Vorpommern<br />
hinaus ist hervorzuheben, dass die Autorin<br />
einerseits die Arbeit der NPD im<br />
Schweriner Landtag <strong>als</strong> vergleichsweise<br />
professionell und gut organisiert bewertet,<br />
dass zum anderen es aber auch den<br />
demokratischen Parteien vergleichsweise<br />
gut gelingt, die Provokationsstrategie<br />
der NPD ins Leere laufen zu lassen.<br />
103
Karl-Heinz Jahnke – Arbeiterbewegung und<br />
Antifaschismus: Bilanz eines Forscherlebens<br />
Karl-Heinz Jahnke, Gegen das Vergessen! Biographische Notizen. Forschungen zum<br />
Widerstand gegen die NS-Diktatur in Deutschland, Verlag Ingo Koch, Rostock 2008,<br />
203 Seiten.<br />
<strong>Die</strong>se Publikation des Rostocker Historikers<br />
Professor Karl-Heinz Jahnke ist sein<br />
persönlichstes Werk. Er hält umfassend<br />
Rückschau auf sein Wirken <strong>als</strong> engagierter<br />
Hochschullehrer und Forscher<br />
zur jüngsten deutschen Geschichte. Der<br />
Autor vermittelt den Lesern mehr <strong>als</strong> die<br />
Bilanz eines erfülltes Wissenschaftlerleben.<br />
Das Buch führt in die Vergangenheit<br />
und ist zugleich eine Reise in die<br />
Gegenwart und Zukunft.<br />
Zeitlebens hat Karl Heinz Jahnke in seinem<br />
wissenschaftlichen Wirken immer<br />
gegen »das Vergessen« geforscht<br />
und publiziert. Sehr treffend schreibt<br />
er, dass er, geprägt durch die Kriegsereignisse<br />
des Zweiten Weltkrieges, mithelfen<br />
wollte, eine neue Welt aufzubauen<br />
– frei von Völkermord, sozialer<br />
Ungleichheit und Verletzung der Menschenwürde.<br />
In diesem Sinne ist auch seine Rede<br />
<strong>als</strong> Vertreter der Studentenschaft anlässlich<br />
des Festaktes zur 500-Jahrfeier<br />
der Ernst-Moritz-Arndt-Universität am<br />
16. Oktober 1956 zu bewerten, in der<br />
er voller Stolz auf die großzügigen Ausbildungsmöglichkeiten<br />
für die Jugend,<br />
insbesondere für die Arbeiter- und Bauernkinder<br />
in der damaligen Deutschen<br />
Demokratischen Republik verwies.<br />
Knapp aber zugleich prägnant skizziert<br />
Karl Heinz Jahnke seine Schulzeit in Rostock,<br />
Grammow, Kavelstorf und in Bad<br />
Doberan. Bereits 1948 schloss sich der<br />
Autor der Kinderlandbewegung der FDJ<br />
und den Jungen Pionieren an. Freimütig<br />
schildert er, dass ihm die vier Schuljahre<br />
in Bad Doberan nicht leicht gefallen<br />
seien, da er kriegsbedingt erhebliche<br />
schulische Rückstände aufzuholen hatte.<br />
Sachlich beschließt der Autor diesen<br />
Lebensabschnitt mit der Feststellung,<br />
dass er einen politischen Reifeprozess<br />
durchlief und <strong>als</strong> Konsequenz dieser Erkenntnis<br />
in die SED eintrat.<br />
Einprägsam schildert der Autor die<br />
Etappen seines Studiums an der Ernst-<br />
Moritz-Arndt-Universität. Er betont dabei<br />
die fundierte Ausbildung zum Lehrer<br />
für Geschichte an Erweiterten Oberschulen.<br />
Zugleich verweist er darauf,<br />
dass am Historischen Institut in Greifswald<br />
Mediävisten die Forschung und<br />
Lehre prägten und dass das Gebiet der<br />
Neuzeit sich erst im Aufbau befand. We-<br />
104<br />
nig geschah auf dem Gebiet der Neuesten<br />
und Zeitgeschichte. Zielgerichtet<br />
wandte sich Karl-Heinz Jahnke dieser<br />
Thematik zu, indem er seine Diplomarbeit<br />
dem Thema »Zur Geschichte der<br />
SPD in Str<strong>als</strong>und« (1891–1914) widmete.<br />
Mit berechtigtem Stolz schreibt er,<br />
dass sein Staatexamen zu den Besten<br />
des Jahres 1957 gehörte und er die<br />
Möglichkeit erhielt, an der der Greifswalder<br />
Universität seine Studien und<br />
Forschungen fortzusetzen (vgl. S.22).<br />
Der Autor spart aber auch nicht die vielfältigen<br />
Schwierigkeiten in seinem damaligen<br />
Lebensweg aus. Der Leser erhält<br />
einen anschaulichen Einblick in die<br />
umfangreichen Aktivitäten <strong>als</strong> Forscher<br />
und <strong>als</strong> politisch engagierte Persönlichkeit<br />
in der FDJ-Hochschulleitung.<br />
Große Aufmerksamkeit widmet der Autor<br />
seinem Wirken <strong>als</strong> Historiker in Greifswald<br />
von 1957 bis 1968. Hier lotet er<br />
tiefgründig seine Erfolge, aber auch die<br />
ihm zugefügten Verleumdungen über sein<br />
Wirken in politisch bewegten Zeiten aus.<br />
Der Autor betont in seinem Rüc<strong>kb</strong>lick auf<br />
die Greifswalder Jahre, dass er sich hier<br />
vor allem auf die Erforschung des europäischen<br />
Widerstandes der Studenten gegen<br />
den Faschismus konzentrierte. Der<br />
Leser erfährt, dass unter seiner Federführung<br />
1957 die Idee zu dem Forschungsprojekt<br />
»Studenten Europas im Kampf<br />
gegen den Hitlerfaschismus« entwickelt<br />
wurde. Dazu fand er Partner in anderen<br />
Ländern. Im Oktober 1959 erschien<br />
zu dieser Thematik das Buch »Niem<strong>als</strong><br />
vergessen! Aus dem antifaschistischen<br />
Widerstandskampf der Studenten Europas«.<br />
Im Oktober des gleichen Jahres<br />
konnte unter seiner Leitung die erste<br />
wissenschaftliche Konferenz zum Thema<br />
»Europäische Jungend im Widerstand«<br />
in Greifswald durchgeführt werden. <strong>Die</strong><br />
Greifswalder Jahre des Historikers Karl-<br />
Heinz Jahnke sind seit seiner 1960 erfolgten<br />
Promotion und der im Frühjahr<br />
1966 verteidigten Habilitationsschrift vor<br />
allem dadurch gekennzeichnet, dass er<br />
<strong>als</strong> Forscher und Hochschullehrer sein<br />
selbst gewähltes Forschungsthema, den<br />
antifaschistischen Widerstand, und dabei<br />
vor allem den Anteil der Jugend nie verlassen<br />
hat; auch dann nicht, wenn andere<br />
Herausforderungen von ihm zu bewältigen<br />
waren.<br />
Völlig zu Recht stellt der Autor über diese<br />
Jahre fest: »Eine bedeutende Wegstrecke<br />
in der beruflichen Entwicklung<br />
war zurückgelegt. Mit 31 Jahren hatte<br />
ich habilitiert. Durch meine Leistungen<br />
in Forschung und Lehre erfuhr ich Annerkennung<br />
über Greifswald hinaus.«<br />
(S. 46)<br />
Im Ergebnis der gegen ihn erhobenen,<br />
ungerechtfertigen Verleumdungen musste<br />
der Autor 1968 zur Wilhelm-Pieck-<br />
Universität Universität nach Rostock<br />
wechseln. Begründet wurde dieser<br />
Wechsel unter anderem auch damit,<br />
dass nur noch in Rostock zur Jugendgeschichte<br />
geforscht und gelehrt werden<br />
sollte.<br />
Sein Wirken <strong>als</strong> Historiker in Rostock<br />
unterteilt der Autor in zwei Abschnitte.<br />
Im ersten skizziert er den neuen komplizierten<br />
Anfang am Historischen Institut<br />
der Rostocker Universität. Der gestandene<br />
Wissenschaftler mußte vertraute<br />
und bewährte Lehrveranstaltungen aufgeben<br />
und neue Kontakte zu den Studenten<br />
und Fachkollegen suchen. Es<br />
galt die Auszubildenden für sein Forschungsgebiet<br />
aufzuschließen und zu<br />
motivieren, nämlich für die Erforschung<br />
der deutschen Arbeiterbewegung und<br />
der Jugendgeschichte bis in die Gegenwart.<br />
Karl-Heinz Jahnke stand vor der Aufgabe,<br />
sich Grundlagen für eine systematische<br />
Forschungsarbeit zu schaffen.<br />
Der Autor schildert detailliert, wie er die<br />
zu bewältigenden Probleme meisterte.<br />
Wie viel Kraft und Zeit aufgewandt werden<br />
musste, um das von der politischen<br />
Führung geforderte Buch »Geschichte<br />
der Freien Deutschen Jungend« zu erarbeiten,<br />
kann man in diesem Kapitel<br />
nachlesen. <strong>Die</strong> Buchnutzer erfahren hier<br />
auch, wie groß die Freude aller Beteiligten<br />
war, <strong>als</strong> im Jahre 1982 das Werk<br />
endlich gedruckt vorliegen konnte.<br />
In der Zwischenzeit, nämlich am 1. September<br />
desselben Jahres, wurde Karl-<br />
Heinz Jahnke auch zum ordentlichen<br />
Professor für Geschichte der deutschen<br />
Arbeiterbewegung berufen. Lebendig<br />
und unterlegt mit aufschlussreichen<br />
Details beschreibt der Rostocker Historiker<br />
sein Wirken <strong>als</strong> Direktor der Sektion<br />
Geschichte in den Jahren von 1981<br />
bis 1986. <strong>Die</strong> letzen zwei Jahre skizziert
er <strong>als</strong> Jahre heftiger Auseinandersetzungen<br />
über den Niedergang der DDR<br />
und ihr schließliches Ende.<br />
Im Kapitel »Arbeit <strong>als</strong> Historiker in Rostock<br />
1991–2008« (S. 85–126) vermittelt<br />
und belegt der Verfasser durch eine<br />
Vielzahl von Episoden <strong>als</strong> Forscher<br />
und Publizist sowie aus dem liebevoll<br />
nachgezeichneten Familienleben, dass<br />
er selbst unter härtesten Lebensbedingungen<br />
an seiner Lebensmaxime »Gegen<br />
das Vergessen« tätig zu sein festgehalten<br />
hat.<br />
Ein Vorzug des Buches ist, dass der<br />
Autor mit zahlreichen Bild- und Textdokumenten<br />
seine wissenschaftlichen<br />
Weggefährten benennt und in seinen<br />
Ausführungen betont, dass er vor allem<br />
durch die Vielfalt seiner Kontakte im In-<br />
und Ausland so erfolgreich tätig sein<br />
konnte und auf ein erfülltes Leben <strong>als</strong><br />
Historiker verweisen kann.<br />
Typisch für ihn ist auch sein mahnender<br />
Hinweis auf offengebliebene Forschungs-<br />
und Publikationsvorhaben, die<br />
noch zu bewältigen sind<br />
Abgerundet wird die vorliegende Publikation<br />
durch das Kapitel »Dokumente«.<br />
Hier stellte er eine Fülle seiner veröffentlichten<br />
wissenschaftlichen Arbeiten<br />
vor und berichtet schonungslos über<br />
die Ereignisse an der Sektion Geschich-<br />
te der Rostocker Universität zwischen<br />
September 1988 bis Oktober 1990.<br />
Im Nachwort spürt man die Freude und<br />
Erleichterung des Autors dieses so persönlich<br />
angelegte Buch geschaffen zu<br />
haben. Jeder, der an der Geschichte der<br />
Arbeiter(jugend)bewegung interessiert<br />
ist und sich mit dem Antifaschismus in<br />
Geschichte und Gegenwart beschäftigt,<br />
sollte diesen lesenswerten Band, dem<br />
auch sehr aufschlussreiche Fakten zur<br />
Geschichte der DDR zu entnehmen sind,<br />
in die Hand nehmen.<br />
Dr. Günter Wehner<br />
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