01.11.2012 Aufrufe

Download als Pdf-Datei (899 kb) - Die Linke

Download als Pdf-Datei (899 kb) - Die Linke

Download als Pdf-Datei (899 kb) - Die Linke

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

INHALT<br />

EDITORIAL. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

Dr. Reiner Zilkenat<br />

DAS THEMA: GLOBALISIERUNG, WIRTSCHAFTSKRISE, RECHTSEXTREMISMUS<br />

Globalisierungskritik von rechts. Neofaschismus und die soziale Frage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Sevim Dagdelen, MdB<br />

Rassismus meint mehr <strong>als</strong> Rechtsextremismus.<br />

<strong>Die</strong> gesellschaftliche Normalität <strong>als</strong> Problem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Bernd Winter<br />

Weltweite Finanzkrise und die extreme Rechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Roland Bach<br />

Finanzkrise und Antifaschismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Heinz Engelstädter<br />

Bankrott des Neoliberalismus – Aufgaben der LINKEN. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Ralf Krämer<br />

AKTUELLES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS<br />

Konstruktion und Krise der Männlichkeit(en) in der »Neuen Rechten« –<br />

<strong>Die</strong> Wochenzeitung »Junge Freiheit«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Yves Müller<br />

Keine Nazis in Rosas Straße, gemeinsam gegen »Thor Steinar« –<br />

Ein Überblick zu den Aktivitäten der Initiative »Mitte gegen Rechts« in Berlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Roman Fröhlich<br />

HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND ANTIFASCHISMUS:<br />

Franz Mehring (1846–1919). Biographische Skizze anlässlich seines 90. Todestages. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Werner Ruch<br />

Berlin – das Zentrum der deutschen Revolution 1918/1919?<br />

Regionales und Biographisches zum 90. Jahrestag der Novemberrevolution.<br />

Mit einem biographischen Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Ingo Materna<br />

Historische Forschungen zur Revolution 1918/19 in Deutschland und ihre<br />

Rezeption in der Zeit der Außerparlamentarischen Opposition in der BRD und Westberlin. . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Reiner Zilkenat<br />

Der Arbeiterkinderklub »Nordost« in Berlin-Prenzlauer Berg1929 bis 1933. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Oliver Reschke<br />

Willi Scheinhardt. Ein sozialdemokratischer Funktionär des Fabrikarbeiter-Verbandes<br />

im antifaschistischen Widerstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Heide Kramer<br />

Der Bund der Freunde der Sowjetunion und der antifaschistische Widerstand:<br />

Neue Fakten aus den Akten des Bundesarchivs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Günter Wehner<br />

Leistungen und Fehlleistungen marxistischer Faschismustheorien aus heutiger Sicht.<br />

Einige Vorüberlegungen für eine neue materialistische allgemeine Theorie der Faschismen. . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Mathias Wörsching,<br />

Das antifaschistische Thema in der DDR-Literatur.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

<strong>Die</strong>ter Schiller<br />

1


BERICHTE UND INFORMATIONEN:<br />

2.Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Rechtsextremismus/<br />

Antifaschismus der LINKEN im Dezember 2008.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Roland Bach<br />

Bundestagsfraktion DIE LINKE, Kleine Anfrage zu den rechtsextremen<br />

Bestrebungen innerhalb der Partei »<strong>Die</strong> Republikaner«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

»Es brennt!« Eine Ausstellung zum antijüdischen Terror im November 1938. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Horst Helas<br />

»Stille Helden« – Noch eine Gedenkstätte in Berlin? Ja, und das ist gut so.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Horst Helas<br />

Bundestagsfraktion DIE LINKE, Kleine Anfrage zu den Kontakten zwischen<br />

Bundeswehr und Anzeigenkunden der im rechtsextremen<br />

Spektrum angesiedelten »Deutschen Militärzeitschrift« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

ZUR DISKUSSION:<br />

<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>n und ihre Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Professor Dr. Helmut Meier<br />

Anmerkungen zu einer strittigen Frage – Zu Horst Helas’ Artikel<br />

zum Antisemitismus im »Rundbrief« 4/2008. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Detlef Joseph<br />

LESERBRIEFE:<br />

<strong>Die</strong> Pogrome begannen am 7. November 1938. Zur Dokumentation<br />

von Horst Helas und Reiner Zilkenat im »Rundbrief« 4/2008.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Ulrich Schneider<br />

Kritisches und Zustimmendes zu mehreren Beiträgen im Heft 4/2008 des »Rundbriefs«.. . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Manfred Augustyniak<br />

Bemerkungen zum Heft 4/2008 des »Rundbriefs«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Gerhard Rohr<br />

LITERATURBERICHT:<br />

<strong>Die</strong> Aggressionen Hitlerdeutschlands gegen die Tschechoslowakei 1938/39. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Reiner Zilkenat,<br />

REZENSIONEN UND ANNOTATIONEN:<br />

Der »Generalplan Ost« und die »Kollaboration« bildungsbürgerlicher Eliten mit dem Naziregime.. . . . . . . . . . . . 14<br />

Werner Röhr<br />

»Sie waren die Boys« – <strong>Die</strong> Geschichte von 732 jungen Holocaust-Überlebenden.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Horst Helas<br />

Karl Heinz Jahnke – Arbeiterbewegung und Antifaschismus: Bilanz eines Forscherlebens. . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Günter Wehner<br />

Reflexionen zum Rechtsextremismus in Ostdeutschland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Norbert Madloch,<br />

<strong>Die</strong> NPD in den Parlamenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Yves Müller<br />

<strong>Die</strong> NPD in Mecklenburg-Vorpommern.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Roland Bach<br />

2


EDITORIAL<br />

3


DAS THEMA-GLOBALISIERUNG,<br />

WIRTSCHAFTSKRISE, RECHTSEXTREMISMUS<br />

Globalisierungskritik von rechts.<br />

Neofaschismus und die soziale Frage<br />

Nach wie vor stellt der Rassismus, stellt<br />

die Hetze gegen Migrantinnen und Migranten,<br />

den Kern des Neofaschismus<br />

in Deutschland dar. Vor allem Menschen<br />

mit Migrationshintergrund sind<br />

es, die zu Opfern neofaschistischer Gewalt<br />

in Deutschland werden. Täglich finden<br />

solche Gewalttaten in Deutschland<br />

statt. Nach der Statistik, die die LINKE<br />

monatlich von der Bundesregierung abfragt,<br />

sind es drei rechtsextreme Gewalttaten,<br />

die Tag für Tag in diesem Land zu<br />

verzeichnen sind. 1.047 rechtsextremistische<br />

Gewalttaten gab es 2006 (die in<br />

der letzten Woche vom Innenministerium<br />

veröffentlichten Zahlen für 2007 liegen<br />

auf fast dem gleichen Niveau, sind aber<br />

noch nicht aufgeschlüsselt) und fast die<br />

Hälfte dieser Gewalt richtete sich gegen<br />

Menschen mit Migrationshintergrund,<br />

die andere Hälfte gegen <strong>Linke</strong>, Obdachlose,<br />

Juden und andere Opfergruppen.<br />

Rassismus und Hetze gegen<br />

MigrantInnen<br />

Rassistische Übergriffe und Propaganda<br />

gehören <strong>als</strong>o zum Alltag dieser Republik.<br />

<strong>Die</strong> Meldungen zu diesem alltäglichen<br />

und gewalttätigen Rassismus der extremen<br />

Rechten finden sich zumeist nur<br />

noch in Kurzmeldungen der regionalen<br />

Presse. Während einzelne Ereignisse,<br />

wie etwa die rassistische Hetzjagd im<br />

sächsischen Müggeln – acht Inder wurden<br />

nach einem Dorffest durch den Ort<br />

gehetzt wurden – große Empörung hervorrufen,<br />

bleibt diese alltägliche rassistische<br />

Gewalt fast ohne öffentliche Reaktion.<br />

Seit 1990 hat es in Deutschland<br />

mehr <strong>als</strong> 130 Todesopfer neofaschistischer<br />

Gewalt gegeben, eine unvorstellbare<br />

Zahl.<br />

Der Verein Opferperspektive in Brandenburg<br />

verleiht eine Ausstellung mit<br />

dem Titel »Opfer rechter Gewalt« in der<br />

es gerade darum geht, diesen Opfern<br />

Name und Gesicht zu geben).<br />

Dennoch herrscht eine Gleichgültigkeit<br />

und Ignoranz gegenüber diesen Opfern<br />

des Neofaschismus vor, die für die betroffenen<br />

Menschen eine zweite Demütigung<br />

ist. Häufig werden die Täter, wenn<br />

sie denn überhaupt angeklagt werden,<br />

zu skandalös geringen Strafen verurteilt.<br />

Rassistische Gewalt von rechts hat die<br />

4<br />

klare Funktion, Menschen mit Migrationshintergrund<br />

zu zeigen: Ihr gehört<br />

nicht hierher, ihr seid uns nicht willkommen,<br />

verschwindet! <strong>Die</strong> Nazis fühlen<br />

sich hier oft <strong>als</strong> diejenigen, die den Willen<br />

einer so genannten schweigenden<br />

Mehrheit in reale Handlungen umsetzen.<br />

Und hier liegt, wie ich glaube, der<br />

Kern des Problems: Rassismus ist eben<br />

nicht auf die extreme Rechte begrenzt,<br />

Rassismus ist eine verbreitete Einstellung<br />

in der Mitte der Gesellschaft. <strong>Die</strong><br />

Nazis stehen – mindestens mit ihrer rassistischen<br />

Ideologie – nicht am Rande<br />

der Gesellschaft, sondern sie drücken<br />

Stimmungen aus, die wir auch bei einer<br />

(relativen) Mehrheit finden.<br />

Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen<br />

haben in den letzten Jahren<br />

gezeigt, dass die klassischen Themen<br />

der extremen Rechten – Rassismus,<br />

Ausländerfeindlichkeit, Autoritarismus<br />

und Nationalismus – bis weit in die Mitte<br />

der Gesellschaft auf Zustimmung stoßen.<br />

<strong>Die</strong> unter dem Titel »Deutsche Zustände«<br />

von einer Forschergruppe um Wilhelm<br />

Heitmeyer seit fünf Jahren regelmäßig<br />

vorgelegten Ergebnisse 1 zeigen<br />

eine konstant hohe Zustimmung zu verschiedenen<br />

Formen von Ausgrenzung,<br />

wobei die fremdenfeindlichen Einstellungen<br />

die höchsten Zustimmungswerte<br />

verzeichnen. Knapp 60 Prozent der Befragten<br />

stimmen der Aussage zu, dass<br />

zu viele Ausländer in Deutschland leben<br />

und 35 Prozent sind der Ansicht,<br />

bei knapper werdenden Arbeitsplätzen<br />

sollten die Ausländer in ihre Heimatländer<br />

zurückgeschickt werden. 2 Auch<br />

Obdachlose und Muslime sind aggressiven<br />

Formen der Ablehnung von 30 bis<br />

40 Prozent der Befragten ausgesetzt,<br />

gleichzeitig fordern mehr <strong>als</strong> 40 Prozent<br />

der Befragten mehr Rechte für diejenigen,<br />

die in Deutschland etabliert sind. 3<br />

Für Heitmeyer ist unter anderem besonders<br />

die Tatsache beunruhigend, dass<br />

die hier festgestellten Ausgrenzungsideologien<br />

nicht auf den Rand der Gesellschaft<br />

beschränkt, sondern auch in<br />

der gesellschaftlichen Mitte anzutreffen<br />

sind. Damit werden diese Einstellungen<br />

normalitätsbildend und können immer<br />

weniger problematisiert werden. Von<br />

dieser Form der Normalisierung von Ausgrenzung<br />

und Rassismus kann auch die<br />

extreme Rechte mit ihren Politikangeboten<br />

profitieren. Für Heitmeyer und andere<br />

Sozialwissenschaftler ist der Zusammenhang<br />

dieser Einstellungsentwicklung<br />

mit zunehmenden sozialen Desintegrationsprozessen<br />

offensichtlich.<br />

<strong>Die</strong> mit der Verschärfung der sozialen<br />

Lage einhergehenden Unsicherheitserfahrungen<br />

führen zu verstärkter Orientierungslosigkeit<br />

und zur Suche nach<br />

Sicherheiten, die sich in Werten wie Nation,<br />

Heimat aber auch »Rasse« und ethnischer<br />

Zugehörigkeit finden lassen.<br />

<strong>Die</strong> Untersuchungen von Heitmeyers<br />

Bielfelder Forschergruppe zeigen hier einen<br />

deutlichen Zusammenhang mit dem<br />

Thema Fremdenfeindlichkeit.<br />

Im neuesten Band seiner Studie »Deutsche<br />

Zustände« zeigen die AutorInnen,<br />

dass vermehrt auch soziale Schwache<br />

von Ausgrenzungen und Abwertungen<br />

betroffen sind. Heitmeyer spricht in diesem<br />

Zusammenhang von einer »Ökonomisierung<br />

des Sozialen«, d. h. immer<br />

mehr werden Nützlichkeitskriterien zum<br />

Maßstab der Bewertung von Menschen.<br />

Arbeitslose, Hartz IV- und Sozialhilfe-<br />

Empfänger werden verstärkt abgewertet,<br />

sie gelten <strong>als</strong> unnütz, die Gemeinschaft<br />

belastend und <strong>als</strong> selbst schuldig<br />

an ihrer Situation. <strong>Die</strong> neoliberale Ideologie<br />

zeigt hier ihre Früchte und führt zu einer<br />

autoritären Abgrenzung von den sozial<br />

Schwachen, bei denen es sich eben<br />

nicht nur um MigrantInnen handelt.<br />

<strong>Die</strong> von Heitmeyer und seinen MitarbeiterInnen<br />

vorgelegten Ergebnisse finden<br />

ihre Bestätigung in der weithin beachteten<br />

empirischen Studie von Oliver<br />

Decker und Elmar Brähler mit dem Titel<br />

»Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme<br />

Einstellungen und ihre Einflussfaktoren<br />

in Deutschland«. 4 <strong>Die</strong> von ihnen zutage<br />

geförderten Ergebnisse verdeutlichen<br />

die starke Verbreitung von rassistischen,<br />

ausländerfeindlichen und<br />

autoritären Einstellungen in größeren<br />

Teilen der Bevölkerung.<br />

So stimmen 37 Prozent der Befragten<br />

(43,8 Prozent in Ostdeutschland) der<br />

Aussage zu »<strong>Die</strong> Ausländer kommen nur<br />

hierher, um unseren Sozi<strong>als</strong>taat auszunutzen«;<br />

15 Prozent sind der Ansicht,


das Land sollte »einen Führer haben,<br />

der Deutschland zum Wohle aller mit<br />

starker Hand regiert« und 26 Prozent<br />

stimmen der Aussage zu: »Was Deutschland<br />

jetzt braucht, ist eine einzige starke<br />

Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt<br />

verkörpert.«<br />

Ich will mit diesen Zahlen darauf hinweisen,<br />

dass das Problem über das wir<br />

reden leider weitaus größer ist, <strong>als</strong> die<br />

die NPD oder auch die gesamte rechtsextreme<br />

Szene. Es handelt sich um ein<br />

Problem in der Mitte der Gesellschaft<br />

und es wird auch von hier aus verschärft.<br />

Ich erinnere nur an den letzten<br />

Landtagswahlkampf von Roland Koch<br />

in Hessen 2008, der geradezu ein Paradebeispiel<br />

rassistischer Hetze aus der<br />

bürgerlichen Mitte war. Koch ging es darum,<br />

mit dem Thema »Ausländer« an vorhandene<br />

Emotionen und Abwehrreflexe<br />

anzuknüpfen und sie zu verstärken. Bedenklich<br />

ist, dass Koch die Wahlen <strong>als</strong><br />

Ministerpräsident zwar nicht gewann,<br />

aber immerhin die meisten Stimmen in<br />

Hessen auf sich vereinen konnte.<br />

<strong>Die</strong> Diskussion zum Thema »Ausländer«<br />

ist seit vielen Jahren in Deutschland verbunden<br />

mit »Bedrohung«, »Kriminalität«,<br />

»kulturelle Überfremdung«, »Ausnutzung<br />

des Sozi<strong>als</strong>taates«. <strong>Die</strong>se einseitige,<br />

negative Thematisierung ist natürlich<br />

Wasser auf die Mühlen der Nazis.<br />

Von Seiten der Politik wird dieser Diskurs<br />

immer wieder verschärft und für<br />

Wahlkampfzwecke und Stimmungsmache<br />

genutzt.<br />

Eine wichtige Funktion solcher Debatten<br />

ist offensichtlich: Es sollen Verantwortliche<br />

und Sündenböcke für reale soziale<br />

Probleme präsentiert werden und<br />

es soll ein »Angebot« an die Mehrheitsbevölkerung<br />

gemacht werden. Wenn<br />

die soziale Einbindung über die fortlaufenden<br />

sozialen Härten nicht mehr funktioniert,<br />

dann bietet man den Menschen<br />

Zugehörigkeit über ihre Abstammung,<br />

die Nation, die »Rasse« an.<br />

Weil man Deutscher/Deutsche ist, hat<br />

man Anspruch auf Teilhabe. Wer dieses<br />

Kriterium nicht erfüllt, hat auch keine<br />

Rechte in diesem Land. Das ist zugespitzt<br />

die Logik, die hinter dieser Debatte<br />

steht. Klarer und zugespitzter finden<br />

wir die Logik des Rassismus und der<br />

Ausgrenzung bei den Nazis.<br />

Besetzung der sozialen Frage<br />

durch Rechte: Ein neues Phänomen?<br />

Seit einigen Jahren sehen wir, dass die<br />

Nazis verstärkt versuchen, mit traditionell<br />

linken Themen Einfluss zu gewinnen.<br />

<strong>Die</strong> soziale Frage, <strong>als</strong> zentrales Element<br />

linker Politik, wird auch von den Nazis<br />

immer mehr besetzt. »Antikapitalismus«<br />

<strong>als</strong> Propagandafeld der extremen Rechten<br />

in der Bundesrepublik erscheint vielen<br />

<strong>als</strong> Neuerung des Neofaschismus.<br />

Verblüfft stellen manche Beobachter<br />

der rechten Szene fest, dass in der Propaganda<br />

und in den Aktionen der Nazis<br />

die soziale Frage, die Kritik an Globalisierung<br />

und »One World« zu einem<br />

immer wichtigeren Thema wird. Es wäre<br />

jedoch f<strong>als</strong>ch, diese thematische Bezugnahme<br />

auf die soziale Frage und die<br />

Folgen lediglich <strong>als</strong> »Modeerscheinung«<br />

zu betrachten.<br />

Denn die Besetzung dieser Frage durch<br />

die extreme Rechte ist so alt wie der<br />

Faschismus selbst. Nur für die Propaganda<br />

der NPD ist die offene Thematisierung<br />

dieser sozialen Frage und die<br />

teilweise vehemente Kritik am kapitalistischen<br />

Wirtschaftssystem und der<br />

Globalisierung, wie sie sich in den letzten<br />

Jahren beobachten lässt, tatsächlich<br />

eine neue Ausrichtung. <strong>Die</strong> NPD<br />

reagiert damit auf die zunehmenden sozialen<br />

Verwerfungen, die durch den ungebremsten<br />

Kapitalismus hervorgerufen<br />

werden und antwortet darauf mit einer<br />

Kapitalismuskritik, wie wir sie aus der<br />

Geschichte des Faschismus in Deutschland<br />

und Europa kennen.<br />

Es handelt sich dabei um eine völkisch<br />

grundierte Kritik, die für einen Teil der<br />

faschistischen Bewegung kennzeichnend<br />

ist. Dass die extreme Rechte und<br />

die NPD mit einer solchen Form des<br />

»Antikapitalismus« in einem ersten Anlauf<br />

Wähler durchaus erfolgreich ansprechen<br />

können, belegen die Landtagswahlergebnisse<br />

der NPD in Sachsen<br />

und Mecklenburg-Vorpommern, sowie<br />

die eben angeführten zahlreichen Untersuchungen<br />

zu rechtsextremen Einstellungsmustern<br />

in größeren Teilen der<br />

Bevölkerung.<br />

Zu den Inhalten der sozialen Frage von<br />

rechts:<br />

Wenn NPD und Kameradschaften gegen<br />

Sozialabbau, gegen die steigende Macht<br />

der internationalen Konzerne, gegen einen<br />

Raubtierkapitalismus protestieren,<br />

dann treffen sie damit die Gefühlslage<br />

von relevanten Teilen der Bevölkerung,<br />

gerade auch in vielen abgehängten Regionen<br />

Ostdeutschlands. <strong>Die</strong> von der<br />

extremen Rechten im Zusammenhang<br />

mit der sozialen Frage angeprangerten<br />

Zustände sind real und die Kritik daran<br />

ist berechtigt. Jürgen Gansel, Abgeordneter<br />

der NPD im Sächsischen Landtag<br />

und einer der wichtigsten Vordenker der<br />

Partei, schreibt hierzu im Juli 2006 unter<br />

der Überschrift »Mitteldeutschland<br />

<strong>als</strong> Testfeld der Globalisierer«:<br />

Viele dortige Regionen drohen zu einem<br />

sozialen Niemandsland zu werden, in<br />

dem äußere und innere Not, d. h. materielles<br />

und immaterielles Elend, eine<br />

tragische Einheit bilden. Es seien<br />

Landstriche entstanden, in denen wegen<br />

chronischer Massenarbeitslosigkeit<br />

selbst die Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen<br />

dem sozialen Siechtum verfielen.<br />

Es gebe ganze Familien, die in die Armut<br />

hineinwachsen, ohne jede Aussicht<br />

auf ein Leben in sozialer Sicherheit, in<br />

menschlicher Würde und in Zukunftsgewissheit.<br />

Der Verlust des Lebenswillens<br />

könne die Endkonsequenz dieses<br />

Höllentrips durch die neokapitalistische<br />

Wolfsgesellschaft sein, die den Menschen<br />

im Zeitalter globaler, volkswirtschaftlich<br />

entkoppelter Finanzströme<br />

selbst <strong>als</strong> ausbeutbare Profitquelle immer<br />

seltener braucht. Soweit Gansel.<br />

Entscheidend für den Kern des »Antikapitalismus«<br />

von rechts ist <strong>als</strong>o die Frage,<br />

worin die extreme Rechte die Gründe für<br />

die soziale Misere erkennt und wie ihre<br />

Lösungsvorschläge aussehen. Hier sind<br />

die Antworten recht eindeutig und altbekannt.<br />

»Antikapitalismus« und Kritik<br />

an den sozialen Zuständen erfolgen bei<br />

den Nazis immer aus einer völkischen,<br />

einer rassistischen Perspektive. Nicht<br />

der Kapitalismus <strong>als</strong> universales Ausbeutungsverhältnis<br />

wird kritisiert. Nicht<br />

die universelle Profitlogik, die die sozialen<br />

Bedürfnisse der Menschen hinter<br />

die Fragen nach Gewinn, Rendite und<br />

Wachstum zurückdrängt, wird in Frage<br />

gestellt. Kritisiert wird vor allem ein<br />

Kapitalismus, der sich von seinen nationalen<br />

Wurzeln entfernt hat, der ein<br />

globaler Kapitalismus ist und dessen<br />

negative Seiten auch die abhängig beschäftigten<br />

Deutschen treffen. <strong>Die</strong> dem<br />

kapitalistischen System immanente Konkurrenzlogik<br />

trifft sich dagegen genau<br />

mit dem Menschenbild der Nazis, für die<br />

es einen ständigen Kampf ums Dasein<br />

gibt, für die die Einteilung in Höher- und<br />

Minderwertige die Norm ist, die das alleinige<br />

Überleben des Stärkeren propagieren.<br />

Verändert werden soll der Kapitalismus<br />

nur da, wo er auch auf die<br />

vermeintlich höherwertigen arischen<br />

Deutschen negative Auswirkungen hat.<br />

So gilt den Nazis das Konkurrenzverhältnis<br />

dort <strong>als</strong> schlecht, wo es über<br />

die Konkurrenz mit billigen Arbeitskräften<br />

aus dem Osten auf deutsche Arbeiter<br />

und Arbeiterinnen zurückschlägt.<br />

Wenn dagegen das deutsche Kapital,<br />

geschützt vor ausländischer Konkurrenz,<br />

andere Länder durchdringt und<br />

den Menschen dort die Bedingungen<br />

diktiert, dann haben die Nazis nichts dagegen<br />

einzuwenden. <strong>Die</strong> von den Nazis,<br />

ganz in der Tradition des Faschismus<br />

propagierte »raumorientierte Volkswirt-<br />

5


schaft«, ist das Modell für einen solchen<br />

nationalen Kapitalismus.<br />

Auch in ihrer Globalisierungskritik adaptieren<br />

die heutigen Nazis in aller Offenheit<br />

ihr historisches Vorbild. Sie beziehen<br />

sich dabei auf die im NSDAP-Programm<br />

von 1920 gebrauchte Unterscheidung<br />

in »raffendes« und »schaffendes Kapital«<br />

sowie auf die dort propagierte Forderung<br />

nach einer »Brechung der Zinsknechtschaft«.<br />

5 Das nationale Kapital,<br />

die deutschen Kapitalisten, gelten in<br />

dieser Logik <strong>als</strong> »schaffende« Kapitalisten,<br />

während internationale Kapitalverbünde,<br />

Großbanken und Hedgefonds<br />

<strong>als</strong> »raffendes Kapital« definiert werden,<br />

die wiederum mit einer geographischen<br />

Herkunft (»Ostküsten-Kapital«) charakterisiert<br />

werden. In einem aktuellen<br />

Schulungsmaterial der NPD für Wahlkämpfe<br />

heißt es dazu wörtlich:<br />

»Der Kapitalismus ist aufgrund seines<br />

nomadischen Händlergeistes, seiner vagabundieren,<br />

grenzenlosen Profit- und<br />

Spekulationssucht, seiner Verachtung<br />

von Volk und Heimat sowie seiner Missachtung<br />

des Volkswohls ein vaterlandsloser<br />

Geselle und damit das antinationale<br />

Prinzip schlechthin.«<br />

In beiden Stichworten findet man bereits<br />

die Verbindungslinien zu einem<br />

Grundelement faschistischer Ideologie,<br />

den rassistischen Antisemitismus.<br />

Der »nomadische Händlergeist«, der »vagabundiert«,<br />

gilt in der faschistischen Ideologie<br />

<strong>als</strong> Synonym für Judentum. Auch<br />

der Begriff »Ostküste« – gemeint sind US-<br />

Banken in New York und anderen Metropolen<br />

des Ostens der USA – gilt <strong>als</strong> Code<br />

nicht nur für amerikanisches bzw. internationales<br />

Kapital, sondern für die angeblich<br />

jüdische Kontrolle über die globalen<br />

Finanzmärkte. Statt über Profitlogik und<br />

Kapitalinteressen zu sprechen, wird das<br />

Handeln von Investmentfonds <strong>als</strong> »von jüdischen<br />

Dunkelmännern bestimmt« charakterisiert,<br />

die ein Interesse am »Aussaugen«<br />

nationaler Ökonomien haben.<br />

Vor diesem Hintergrund ist auch die politische<br />

Antwort der extremen Rechten<br />

auf die Globalisierung in sich schlüssig.<br />

Sie fordern keine gerechte Weltwirtschaft,<br />

sondern propagieren: »National<br />

statt global!« Und da der »nomadisierende<br />

Kapitalismus« angeblich ein Interesse<br />

an der ungehemmten Zuwanderung<br />

von billigen Arbeitskräften in unser<br />

Land hat, verbindet sich Kapitalismus-<br />

und Globalisierungskritik ganz ungebrochen<br />

mit der rassistischen Propaganda<br />

von NPD und anderen Rechten.<br />

Das rassistische Gegeneinander von<br />

Deutschen und Nichtdeutschen ist der<br />

Kern bei der Thematisierung der sozialen<br />

Frage.<br />

6<br />

Jürgen Gansel macht das in zahlreichen<br />

Beiträgen immer wieder deutlich:<br />

<strong>Die</strong> Nationalisierung der sozialen Frage<br />

und die Vision eines solidarischen<br />

Volksstaates, in dem die soziale Teilhaberschaft<br />

eines jeden Deutschen garantiert<br />

sei, werde dem Nationalismus<br />

soviel Zulauf bescheren, so dass »die<br />

morschen Knochen der Volks- und Vaterlandsabwickler«<br />

noch gehörig zittern<br />

würden. <strong>Die</strong> Ethnisierung des Sozialen<br />

(wir Deutschen oder die Fremden)<br />

ist eine Aktualisierung und sozialpolitische<br />

Durchformung von Carl Schmitts<br />

Freund-Feind-Unterscheidung <strong>als</strong> Essenz<br />

des Politischen- und eben auch<br />

<strong>als</strong> Essenz des Sozi<strong>als</strong>taatsprinzips.<br />

In diesem Sinne seien die Gegensatzpaare:<br />

Sozi<strong>als</strong>taat oder Einwanderungsstaat,<br />

solidarische Wir-Gemeinschaft<br />

oder materialistische Ich-Gesellschaft,<br />

staatszentrierter Nationalverband oder<br />

marktzentrierte Weltzivilisation. Es dürfte<br />

nach Ansicht Gansels klar sein, wofür<br />

sich die meisten Deutschen <strong>als</strong> Abwehrreaktion<br />

gegen die Wohlstands-, Wert-<br />

und Gemeinschaftserosion in naher Zukunft<br />

entscheiden werden. 6<br />

Warum kann die extreme Rechte mit<br />

der sozialen Frage Erfolge erzielen?<br />

<strong>Die</strong> soziale Frage ist keine Erfindung<br />

der NPD – sie ist ein täglich drängendes<br />

Problem für Millionen Menschen hier<br />

und heute.<br />

Vereinfacht gesagt kann die extreme<br />

Rechte mit diesem Thema deshalb Einfluss<br />

gewinnen, weil eine größer werdende<br />

Zahl von Bürgerinnen und Bürgern<br />

der etablierten Politik und dem<br />

politisches System keine Lösung dieser<br />

Frage mehr zutraut. <strong>Die</strong> NPD findet ihre<br />

Anhänger sowohl bei den realen Verlierern<br />

der sozialökonomischen Entwicklung,<br />

aber auch bei solchen, die Sorge<br />

haben, demnächst zu diesen Verlierern<br />

gehören zu können. <strong>Die</strong>ses Phänomen<br />

konnte in den 80 er Jahren auch in der<br />

alten BRD beobachtet werden, <strong>als</strong> die<br />

Partei »<strong>Die</strong> Republikaner« und die Deutsche<br />

Volks-Union (DVU) mit vergleichbaren<br />

Parolen auf soziale Ängste und<br />

politische Verunsicherungen reagierten.<br />

<strong>Die</strong> extreme Rechte kann aber auch deshalb<br />

mit der sozialen Frage und mit ihrer<br />

Variante des »Antikapitalismus« erfolgreich<br />

sein, weil ihr diese Frage von größeren<br />

Teilen der <strong>Linke</strong>n überlassen wurde.<br />

Insbesondere die Sozialdemokratie<br />

hat die soziale Frage <strong>als</strong> zentrales Element<br />

ihrer Politik aufgegeben und sich<br />

der neoliberalen<br />

»Modernisierung« zugewandt. <strong>Die</strong>s ist<br />

im übrigen kein rein deutsches Phänomen,<br />

sondern in zahlreichen euro-<br />

päischen Ländern seit dem Ende der<br />

neunziger Jahre zu beobachten. Überall<br />

hat dies auch zu einem Aufschwung von<br />

Parteien der extremen Rechten geführt.<br />

In seinem Artikel unter der Überschrift<br />

»Der Abschied der <strong>Linke</strong>n von der sozialen<br />

Frage« schreibt Jürgen Gansel hierzu:<br />

»<strong>Die</strong> sozialen Interessen der Deutschen<br />

kommen in der Gedankenwelt von SPD<br />

und Grünen, WASG und PDS nicht mehr<br />

vor. <strong>Die</strong> soziale Frage, an der sich die <strong>Linke</strong><br />

historisch abarbeitete und die für sie<br />

einmal identitätsstiftend war, wird heute<br />

zugunsten eines inhaltsleeren Machtopportunismus<br />

und eines manischen Minderheitenkultes<br />

fallengelassen.<br />

Damit räumt die <strong>Linke</strong> das Themenfeld,<br />

auf dem die politischen Schlachten der<br />

Zukunft geschlagen werden.«<br />

Wie müsste die <strong>Linke</strong> mit dem »Antikapitalismus«<br />

von rechts umgehen?<br />

Muss man der extremen Rechten die soziale<br />

Frage von links streitig machen?<br />

Es ist heute unstrittig, dass der Kapitalismuskritik<br />

von rechts eine antifaschistische<br />

Antwort entgegengesetzt werden<br />

muss. In verschiedenen Analysen<br />

von Gewerkschaften und antifaschistischen<br />

Strukturen wird diese Frage<br />

behandelt, wobei die Antworten naturgemäß<br />

unterschiedlich sind. Zu Recht<br />

wird deutlich gemacht, dass der Anti-<br />

Kapitalismus von rechts keine wirkliche<br />

Systemopposition ist, da diese Kritik<br />

die kapitalistische Wirtschaftsordnung<br />

nicht aufheben will, sondern nur unter<br />

nationalistischen Vorzeichen zu gestalten<br />

plant. Daher wird in manchen Veröffentlichungen<br />

der Anti-Kapitalismus <strong>als</strong><br />

reine Propaganda bezeichnet.<br />

Daraus würde sich <strong>als</strong> antifaschistische<br />

Strategie ableiten, die Widersprüche in<br />

der Propaganda zu entlarven und den<br />

potenziellen Anhängern und Wählern<br />

deutlich zu machen, dass ihre antikapitalistischen<br />

Wünsche und Sehnsüchte<br />

von der extremen Rechten prinzipiell<br />

nicht umgesetzt werden können.<br />

In einigen – verkürzten – Argumentationen<br />

heißt es daher: Eine gute Sozialpolitik<br />

sei die beste antifaschistische<br />

Strategie. Bundes- und Landesregierungen<br />

haben daher schon einige Male<br />

verkündet, ihre Maßnahmen gegen Jugendarbeitslosigkeit<br />

seien ein Beitrag<br />

gegen die extreme Rechte. Das »Ergebnis«<br />

sieht man in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern.<br />

Offenkundig reicht es nicht, kurzfristige<br />

Beschäftigungsformen zu organisieren,<br />

um die – tatsächliche oder empfundene<br />

– prekäre gesellschaftliche Lage<br />

aufzuheben. Zudem ist bekannt, dass


sich viele Anhänger der extremen Rechten<br />

in Ausbildung oder in gesicherten<br />

Beschäftigungsverhältnissen befinden.<br />

Offenkundig bedarf es anderer Antworten<br />

im Rahmen antifaschistischer Strategien<br />

in der sozialen Frage.<br />

Wenn die rassistische Durchdringung<br />

der Kapitalismuskritik und der sozialen<br />

Frage der ideologische Kern der extremen<br />

Rechten ist, dann muss eine linke<br />

Antwort darauf das rassistische Prinzip<br />

durchbrechen. Internationale Investmentfonds<br />

<strong>als</strong> »Heuschrecken« zu<br />

bezeichnen, die wie eine Plage über Betriebe<br />

in unserem Land herfallen, sie<br />

aussaugen und »verbrannte Erde« hinterlassen,<br />

mag zwar in populistischer<br />

Verkürzung hilfreich sein, die Globalisierungskritik<br />

darauf zu reduzieren, liefert<br />

jedoch Stichworte für rassistische<br />

Denkschemata. Auch wenn linke Kritik<br />

damit zu »kopflastig« erscheint, ohne<br />

Erkenntnis der Profitlogik des Kapit<strong>als</strong>ystems<br />

wird hieraus keine tatsächliche<br />

Systemalternative.<br />

Und ein zweites Element antifaschistischer<br />

Kapitalismuskritik grenzt extrem<br />

rechtes Denken aus: Es muss in<br />

sozialen Auseinandersetzungen immer<br />

wieder deutlich gemacht werden, dass<br />

es um Arbeit, soziale Sicherheit, Gesundheit<br />

und Versorgung aller hier lebenden<br />

Menschen geht, nicht nur derjenigen,<br />

die durch einen deutschen Pass<br />

privilegiert sind.<br />

Eben hatte ich gesagt, dass allein der<br />

Verweis auf eine gute linke Sozialpolitik<br />

<strong>als</strong> antifaschistische Strategie zu kurz<br />

greift. Aber natürlich ist die Thematisierung<br />

der sozialen Frage durch die <strong>Linke</strong><br />

ein zentraler Punkt. <strong>Die</strong> aktuellen<br />

Erfolge der LINKEN sind sicherlich ein<br />

Grund für die aktuellen Misserfolge der<br />

extremen Rechten. Wichtig für die <strong>Linke</strong><br />

ist es aber, die soziale Frage in einer<br />

Form zu thematisieren, die sich von<br />

den Nazis jederzeit klar und deutlich<br />

unterscheidet. Dass es hier manchmal<br />

Probleme gibt, haben die Montagsdemonstrationen<br />

gegen »Hartz IV« deutlich<br />

gemacht, wo nicht nur im Osten<br />

Nazis versucht (und manchmal auch<br />

geschafft) haben, die Proteste für sich<br />

zu vereinnahmen. In der Vergangenheit<br />

waren oftm<strong>als</strong> Kampagnen, Demonstrationen<br />

und Kundgebungen. die von<br />

der <strong>Linke</strong>n und Gewerkschaften ausgingen,<br />

deswegen von Neonazis so leicht<br />

zu besetzten, weil nicht genau genug<br />

darauf geachtet wurde, dass völkische<br />

und rassistische Interpretationen von<br />

vornherein unmöglich sind. Es ist ein<br />

Unterschied ob gefordert wird »Soziale<br />

Rechte für alle« oder nur »Verteidigt den<br />

Sozi<strong>als</strong>taat«/«Weg mit Hartz IV«.<br />

<strong>Die</strong> Verbindung eines universellen humanistischen<br />

Menschenbildes mit sozialer<br />

Teilhabe an den gesellschaftlichen<br />

Reichtümern für »Alle«, unabhängig von<br />

ihrer Hautfarbe und geographischen<br />

Herkunft, macht die Soziale Frage nicht<br />

anschlussunfähig für die, die nur Verbündete<br />

für ihren Rassismus suchen.<br />

Wenn die Kampagne dann auch noch<br />

einen internationalistischen Ansatz hat,<br />

im Sinne von: »<strong>Die</strong> Grenzen verlaufen<br />

zwischen oben und unten, und nicht zwischen<br />

den Völkern«, gruseln sich Neonazis<br />

und die Gefahr einer »feindlichen<br />

Übernahme« der betreffenden Veranstaltung<br />

ist gering.<br />

Aber neben dieser Thematisierung der<br />

sozialen Frage <strong>als</strong> Möglichkeit, den Nazis<br />

das Wasser abzugraben, gibt es eine<br />

ganze Reihe von Feldern, auf denen<br />

auch DIE LINKE konkret gegen rechts<br />

vorgeht. Ich will exemplarisch nur drei<br />

Bereiche nennen, die man vielleicht mit<br />

»Analyse, Prävention, Repression« überschreiben<br />

könnte.<br />

Analyse: Um die Alltagsgefahr des Neofaschismus<br />

überhaupt deutlich zu machen,<br />

ist es wichtig zu wissen, was auf<br />

Seiten der Nazis passiert. DIE LINKE<br />

fragt regelmäßig nach rechten Straf-<br />

und Gewalttaten, nach Konzerten und<br />

Musikveranstaltungen der Nazis die, wie<br />

viele sicher wissen, eine Art Einstiegsdroge<br />

für viele Jugendliche in die Szene<br />

sind und wir fragen nach rechten Aufmärschen<br />

und Demonstrationen – kurz,<br />

wir versuchen, öffentliche Aufmerksamkeit<br />

für das Thema zu schaffen.<br />

Prävention: DIE LINKE hat sich nachdrücklich<br />

für den Erhalt und den Ausbau<br />

der vom Bund finanzierten Projekte gegen<br />

Rechtextremismus eingesetzt. <strong>Die</strong>se<br />

Projekte standen vor etwas mehr <strong>als</strong><br />

einem Jahr auf der Kippe, weil die CDU/<br />

CSU sie nicht länger fördern wollte. Nur<br />

dem Druck von Opposition, Medien und<br />

der engagierten Öffentlichkeit ist es gelungen,<br />

die Projekte zu erhalten und ihre<br />

Finanzierung zu sichern. An der konkreten<br />

Ausgestaltung haben wir nach<br />

wie vor Kritik, dennoch ist ihr Erhalt ein<br />

wichtiger Erfolg.<br />

Ein Thema, zu dem ich selbst intensiv<br />

arbeite: <strong>Die</strong> Bundesrepublik hat einen<br />

Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus<br />

vorgelegt, der meines Erachtens<br />

am eigentlichen Problem vorbei geht.<br />

Rassismus und Ausgrenzung von MigrantInnen<br />

werden hier nur <strong>als</strong> ein Problem<br />

des rechten Randes beschrieben<br />

und nur hier sieht die Bundesregierung<br />

die Notwendigkeit, aktiv zu werden. Den<br />

strukturellen Rassismus in der Mitte der<br />

Gesellschaft, auf staatlicher Ebene, in<br />

den Behörden, nimmt dieser Plan noch<br />

nicht einmal in den Blick. Zusammen<br />

mit zahlreichen Nicht-Regierungsorganisationen<br />

(NGOs) kämpfen wir für eine<br />

grundlegende Überarbeitung dieses<br />

Plans.<br />

Repression: Hier steht von neuem die<br />

Frage des NPD-Verbots auf der Tagesordnung.<br />

<strong>Die</strong>se Debatte ist leider nur eine<br />

Scheindebatte, weil weder SPD noch<br />

CDU bereit sind, die vom Verfassungsgericht<br />

genannten Voraussetzungen für<br />

ein solches Verbot umzusetzen: <strong>Die</strong> Abschaltung<br />

aller V-Leute in der NPD. DIE<br />

LINKE hatte und hat jetzt erneut einen<br />

Antrag zur Abschaltung der V-Leute in<br />

den Bundestag eingebracht. Beim ersten<br />

Versuch haben alle anderen Parteien<br />

diesen Antrag abgelehnt, womit es<br />

für mich fraglich ist, ob man hier wirklich<br />

ein Verbot erreichen will.<br />

Aber natürlich ist der Bundestag nicht<br />

die zentrale Ebene der Auseinandersetzung<br />

mit der extremen Rechten. <strong>Die</strong> alltägliche<br />

Auseinandersetzung findet in<br />

den Städten und Gemeinden, in den Vereinen<br />

und Verbänden, in Schulen, Betrieben<br />

und anderen Institutionen statt.<br />

Aus meiner Sicht ist es dabei von besonderer<br />

Wichtigkeit, dass die Thematisierung<br />

des gesellschaftlichen Alltagsrassismus<br />

nicht aus dem Blick gerät.<br />

Residenzpflicht, Abschiebungen, Diskriminierung<br />

von MigrantInnen am Arbeitsplatz,<br />

in Behörden und bei der Polizei,<br />

um nur diese Beispiele zu nennen, sind<br />

für mich ein unabdingbarer Bestandteil<br />

des Kampfes gegen Rechts. Denn<br />

schließlich ist es dieser Alltagsrassismus,<br />

auf den die Nazis ihr Weltbild und<br />

ihre Ideologie aufbauen.<br />

Sevim Dagdelen MdB<br />

1 Vgl. die Rezensionen der von dieser Forschungsgruppe<br />

herausgegebenen Bände im »Rundbrief«:<br />

H.1–2/2005, S. 76 f. (Roland Bach); H. 1–2/2007,<br />

S. 89 ff. (Rolf Richter) u. H. 1–2/2008, S. 88 f.;<br />

(Rolf Richter).<br />

2 Interessanterweise hieß es im Punkt 7 des am<br />

24. Februar 1920 verabschiedeten Parteiprogramms<br />

der NSDAP: »Wir fordern, dass sich der<br />

Staat verpflichtet, in erster Linie für die Erwerbs-<br />

und Lebensmöglichkeit der Staatsbürger zu sorgen.<br />

Wenn es nicht möglich ist, die Gesamtbevölkerung<br />

des Staates zu ernähren, so sind die<br />

Angehörigen fremder Nationen (Nicht-Staatsbürger)<br />

aus dem Reiche auszuweisen.« Gottfried Feder,<br />

Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen<br />

Grundlagen, 41.–50. Aufl., München<br />

1931, S. 20.<br />

3 Vgl. Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände 2007,<br />

Frankfurt a. M. 2008, S. 23 ff.<br />

4 Vgl. die Rezension im »Rundbrief«, H. 1–2/2007,<br />

S. 89 (Rolf Richter).<br />

5 Vgl. Gottfried Feder, Das Programm der NSDAP<br />

und seine weltanschaulichen Grundlagen, S. 20 f.,<br />

24 ff., 29 ff., 45 ff.<br />

6 Vgl. Jürgen Gansel MdL, Der Abschied der <strong>Linke</strong>n<br />

von der sozialen Frage, in: Deutsche Stimme,<br />

Nr. 12, Dezember 2006.<br />

7


Rassismus meint mehr <strong>als</strong> Rechtsextremismus:<br />

<strong>Die</strong> gesellschaftliche Normalität <strong>als</strong> Problem.<br />

Der Bielfelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer<br />

hat einmal sehr treffend das zentraler<br />

Ergebnis der sozialwissenschaftlichen<br />

Forschung zu Rechtsextremismus<br />

zusammengefasst. Er sagte: »Rechtsextreme<br />

sind keine Sonderfälle in einer intakten<br />

Gesellschaft«. Daraus abgeleitet<br />

lautet meine Grundthese, dass Rechtsextremismus<br />

kein Jugendphänomen und<br />

kein Randgruppenphänomen ist, sondern<br />

in der Mitte der Gesellschaft entsteht.<br />

So möchte ich die Aufmerksamkeit in<br />

meinen Ausführungen auf diese ganz<br />

normale Mitte lenken. Das zu beackernde<br />

Feld ist bekanntlich groß. Ich<br />

werde mich auf Rassismus in Bezug<br />

zur Migration beschäftigen, ein konstituierender<br />

politischer Bereich von Rassismus.<br />

Ich werde versuchen zu klären,<br />

was Rassismus überhaupt bedeutet, fragen,<br />

warum und wie er sich hartnäckig<br />

reproduziert und dabei das Wechselverhältnis<br />

von Rassismus und Rechtsextremismus<br />

ansprechen. Abschließend<br />

versuche ich politische Basisausgangspunkte<br />

zur Bekämpfung von Rassismus<br />

und damit langfristig auch von Rechtsextremismus<br />

aufzuzeigen.<br />

»Ich werd’ eh Hartz IV«<br />

Der Autor dieser Zeilen stammt aus<br />

Freiburg, einer liberalen Stadt im äußersten<br />

Südwesten der Republik mit einer<br />

Arbeitslosigkeit von nicht mehr <strong>als</strong> circa<br />

fünf Prozent. Es gibt vergleichsweise<br />

kaum Probleme mit rechtsradikalen<br />

Schlägern auf den Straßen aber sehr<br />

wohl und nachhaltig mit Rassismus.<br />

Seit zweieinhalb Jahren führe ich regelmäßig<br />

antirassistische Projekttage<br />

an Schulen durch, und zwar zumeist<br />

an Berufsschulen und dort mit Berufsvorbereitungsklassen.<br />

In diesen biografischen<br />

Warteschleifen werden jene<br />

jungen Leute untergebracht, die keinen<br />

Schulabschluss geschafft oder keinen<br />

Praktikums- oder Ausbildungsplatz bekommen.<br />

Es ist nun so, dass eigentlich<br />

immer gut zwei Drittel der betreffenden<br />

Schüler und Schülerinnen migrantischer<br />

Herkunft sind. Fragt man diese nun erstens,<br />

ob Sie Erfahrungen mit rassistischer<br />

Diskriminierungen kennen, bejahen<br />

einheitlich alle diese Frage und<br />

erzählen viele Bespiele aus ihrem Alltag:<br />

So erzählen sie, dass sie in bestimmte<br />

Clubs <strong>als</strong> »AusländerInnen« nicht hinein<br />

gelassen werden. Sie erzählen über Beschimpfungen<br />

auf der Straße, über Ungleichbehandlung<br />

bei der Polizei nach<br />

8<br />

dem Erwischtwerden beim <strong>Die</strong>bstahl<br />

oder über das Ausgeschlossensein bei<br />

der Vergabe von Praktikumsplätzen.<br />

Wenn man sie zweitens fragt, was sie<br />

denn gerne machen möchten und was<br />

sie denken, was sie wirklich werden, bekommt<br />

man klar und resigniert zur Antwort<br />

»Ich werde eh‘ Hartz IV«.<br />

<strong>Die</strong>se Klassen sind für mich die verschämten<br />

Abstellkammern unserer Gesellschaft,<br />

für vor allem ausgezählte migrantische<br />

Jugendliche, die kaum eine<br />

Chance auf einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz<br />

haben, da diese – ebenso wie<br />

die Praktika – über lokale Netzwerke der<br />

Alteingessenen vergeben werden. <strong>Die</strong>se<br />

Klassen sagen meiner Meinung nach<br />

wesentliches über unsere Gesellschaft<br />

und deren Rassismus aus.<br />

Was meint Rassismus?<br />

<strong>Die</strong> Bundesrepublik hinkt nicht nur integrationspolitisch<br />

anderen westlichen<br />

Einwanderungsländern weit hinter<br />

her, sondern auch in der Debatte über<br />

Rassismus. <strong>Die</strong>se Diskussion wird in<br />

Deutschland fast ausschließlich in Expertenkreisen<br />

geführt und erreicht nur<br />

selten das Gesichtsfeld der Öffentlichkeit<br />

oder gar der Politik. So wird in<br />

Deutschland der Begriff »Rassismus«<br />

sehr selten verwendet und verfügt in<br />

der öffentlichen Debatte über wenig<br />

analytische Tiefenschärfe und impliziert<br />

lediglich moralische Eindeutigkeit. Ganz<br />

im Gegensatz zu anderen Ländern wie<br />

beispielsweise in Großbritannien und in<br />

den USA, in denen Rassismus ein recht<br />

klar umrissenes Phänomen beschreibt,<br />

dass gesellschaftliche Auseinandersetzungen<br />

darüber erst fundiert und somit<br />

in der Breite ermöglicht.<br />

Rassismus wird in Deutschland häufig<br />

hinter Begriffe wie »Ausländerfeindlichkeit«<br />

und »Fremdenfeindlichkeit« versteckt.<br />

<strong>Die</strong>se Wörter geben zwar vor,<br />

dasselbe Phänomen zu beschreiben, gelangen<br />

aber durch ihre Suggestion oder<br />

Schwerpunktsetzung zu vollkommen<br />

unterschiedlichen Analysen.<br />

Nehmen wir <strong>als</strong> Beispiel eine schwarze<br />

Frau. Sie würde in Deutschland auf der<br />

Straße von vielen Menschen der deutschen<br />

Mehrheitsgesellschaft <strong>als</strong> Ausländerin<br />

wahrgenommen. Nehmen wir an,<br />

dass sie nun aber in Hamburg geboren<br />

und aufgewachsen ist und schon immer<br />

einen deutschen Pass besitzt. Obwohl<br />

sie Deutsche ist, würde sie – im Vergleich<br />

zu einem niederländischen hellhäutigen<br />

Mann – auf der Straße mit ho-<br />

her Wahrscheinlichkeit <strong>als</strong> Ausländerin<br />

stigmatisiert werden. Der hellhäutige<br />

Niederländer, solange er nicht redet,<br />

allerdings nicht. Es geht <strong>als</strong>o nicht um<br />

Ausländerfeindlichkeit, denn wem sieht<br />

man an, ob er oder sie deutsch ist oder<br />

nicht? Darüber hinaus wird die Tatsache<br />

verschleiert, dass auch Inländer zu<br />

Fremden gemacht werden können, so<br />

wie deutsche Juden, Punks, Homosexuelle<br />

und andere.<br />

Wenn diese Afrodeutsche angefeindet<br />

werden würde, spricht man allgemein<br />

auch von Fremdenfeindlichkeit, obwohl<br />

sie ja keine Fremde ist. Sie wird aber<br />

sehr wohl durch Diskurse der Mitte der<br />

Gesellschaft, durch ein von der Wirklichkeit<br />

vollkommen überholtes Bild,<br />

wer deutsch ist und wer nicht, zu einer<br />

Fremden gemacht. »Fremdenfeindlichkeit«<br />

beschreibt eher individuelle Verhaltensweisen<br />

und Einstellungen. <strong>Die</strong><br />

strukturelle Dimension von Rassismus<br />

tritt in den Hintergrund und wird nicht<br />

benannt und erkannt. Rassismus hingegen<br />

verweist über individuelle Einstellungen<br />

hinaus & betont die gesellschaftliche<br />

Dimension. Dabei verknüpft<br />

Rassismus gesellschaftliche Vorurteile<br />

immer mit Diskriminierungen z. b. auf<br />

dem Arbeitsmarkt oder im Bildungssystem.<br />

<strong>Die</strong> dafür verantwortlichen Ausgrenzungsmechanismen<br />

können individuell,<br />

strukturell und institutionell sein.<br />

Sie können intendiert – <strong>als</strong>o bewusst<br />

forciert, oder auch unbewusst und ungewollt<br />

sein. Unsere heutige Situation<br />

– vor allem in Westdeutschland und<br />

Berlin – ist geprägt von Einwanderung<br />

und historisch sich wandelnden rassistischen<br />

Diskriminierungen. Der Sozialwissenschaftler<br />

Georg Lutz hat das<br />

daraus resultierende Ergebnis einmal<br />

sehr treffend formuliert, indem er konstatierte:<br />

Wir leben in einer »multikulturellen<br />

Gesellschaft der besonderen<br />

Art«. 1<br />

Besonderheiten der multikulturellen<br />

Gesellschaft in der BRD<br />

<strong>Die</strong>se Besonderheit möchte ich vor<br />

allem für die alte BRD beschreiben. In<br />

der DDR gab es eine andere, in Bezug<br />

auf Stigmatisierungsprozesse gegenüber<br />

MigrantInnen ebenfalls sehr schlimme<br />

Geschichte, die es sich lohnt an anderer<br />

Stelle gesondert anzuschauen.<br />

In den 50 er und 60 er Jahren – der Zeit<br />

des Fordismus – kamen die meisten MigrantInnen<br />

aufgrund der wachsenden<br />

Arbeitskräftenachfrage in die rasant


wachsenden Industriezentren des Westens,<br />

so auch nach Westdeutschland.<br />

Gefragt waren überwiegend junge Männer.<br />

Ob diese eine Ausbildung hatten<br />

oder nicht, spielte keine so große Rolle,<br />

da die wenigen Handgriffe am Fließband<br />

in der Fabrik, die Arbeit in der Schwerindustrie<br />

oder bei der Müllabfuhr schnell<br />

zu lernen waren. Auf den Schultern dieser<br />

Menschen war es überhaupt für<br />

viele Eingesessene erst möglich, bessere<br />

Jobs zu bekommen. Der Sozialwissenschaftler<br />

Friedrich Heckmann<br />

spricht von ca. 2,3 Millionen Westdeutschen,<br />

die zwischen 1960 und 1970<br />

von Arbeiter- in Angestelltenpositionen<br />

aufgestiegen sind. <strong>Die</strong>ser Prozess der<br />

ethnischen Unterschichtung könnte in<br />

Bezug auf Frauen auch folgendermaßen<br />

illustriert werden: Aus einer deutschen<br />

Putzfrau ist eine türkische geworden.<br />

<strong>Die</strong>se durch Familiennachzug<br />

und Kinder zahlenmäßig stark gewordene<br />

Einwanderungsgruppe baute sich<br />

ein Leben in Deutschland auf und blieb,<br />

statt – wie von der Politik zunächst forciert<br />

– wieder zurück in ihre Herkunftsländer<br />

zu kehren. Daraus resultierte eine<br />

gesamteuropäische Situation der<br />

»inneren Ausschließung«: <strong>Die</strong> europäischen<br />

Gesellschaften stigmatisieren<br />

die EinwanderInnen rassistisch, obwohl<br />

sie in den gleichen Städten leben. So ist<br />

in allen westlichen Industrienationen eine<br />

multikulturelle Underclass entstanden,<br />

innerhalb deren die nationalen<br />

zusammen mit den ausländischen Arbeitern<br />

in Konkurrenz um Arbeitsplätze<br />

stehen. <strong>Die</strong>ses Strukturphänomen<br />

schürt die Spannungen, bei der soziale<br />

Unterschiede in zunehmendem Maße<br />

ethnisiert werden. Eingebettet ist diese<br />

Entwicklung in den Prozess steigender<br />

Arbeitslosigkeit seit Mitte der siebziger<br />

Jahre, in dessen Verlauf immer mehr<br />

Menschen in Konkurrenz um Arbeit und<br />

Anerkennung stehen.<br />

Seit den achtziger Jahren gewann zudem<br />

der Neoliberalismus an gesellschaftlicher<br />

Relevanz. <strong>Die</strong>se Idee des Marktradikalismus<br />

ist ja weit mehr <strong>als</strong> eine Wirtschaftstheorie.<br />

<strong>Die</strong>ses quasi religiöse<br />

Heilsversprechen wurde zur Handlungsmaxime<br />

einer Politik, die soziale Sicherungssysteme<br />

erst in Frage stellte, dann<br />

sukzessive abbaute und nicht zuletzt<br />

die Absicherungen gegen Lebensrisiken<br />

(zum Beispiel Krankheit, Invalidität, Altersarmut)<br />

zunehmend privatisierte. <strong>Die</strong><br />

Bewertung und damit auch die Wertigkeit<br />

eines Menschen reduzierte sich bei<br />

dieser Entwicklung vermehrt auf seinen<br />

ökonomischen Nutzen oder eben<br />

auf seinen volkswirtschaftlichen Schaden.<br />

In diesem Fahrwasser entbrannte<br />

eine Diskussion über den unterstellten<br />

Missbrauch von Sozialleitungen, die dezidiert<br />

gegen sozial Schwache gerichtet<br />

war. Soziale Empathie, Mitleid und daraus<br />

erwachsene Zustimmung für die<br />

Unterstützung von Kranken, Langzeitarbeitslosen,<br />

Alten usw. wurden unpopulär<br />

– nicht zuletzt war dies den massiven<br />

publizistischen Kampagnen geschuldet,<br />

die das neoliberale Gedankengut systematisch<br />

in der Mehrzahl der Medien verbreiteten<br />

.<br />

Durch den Zusammenbruch der Staaten<br />

des »realen Sozialismus« hatte die neoliberale<br />

Interpretation und der damit<br />

verbundene Umbau der Gesellschaften<br />

quasi historisch gesiegt. So wurden die<br />

neunziger Jahre zum Jahrzehnt der Ideologisierung<br />

von Konkurrenz. Kooperation<br />

<strong>als</strong> Gesellschaftsidee war weitgehend<br />

disqualifiziert. Nicht nur die Individuen<br />

wurden gegeneinander gesetzt, sondern<br />

auch Nationen. So hieß es, der Standort<br />

Deutschland müsse gegen den Rest<br />

de Welt verteidigt werden. Dafür müsse<br />

man den Gürtel enger schnallen. <strong>Die</strong>ser<br />

nunmehr nationale Wettbewerbsstaat<br />

etablierte einen Standortnationalismus,<br />

der nicht losgelöst vom ethnischen Nationalismus<br />

betrachtet werden kann.<br />

Auch die »rot-grüne Regierung« diskutierte<br />

beispielsweise Einwanderung<br />

fast ausschließlich unter der utlilitaristischen<br />

Doktrin, wer unter welchen Bedingungen<br />

einwandern dürfe. Rot-Grün<br />

hat die Einwanderungspolitik insofern<br />

modernisiert, indem sie halbwegs dem<br />

westlichen Niveau angepasst wurde, allerdings<br />

ohne dabei auch nur annähernd<br />

eine aktive Gleichstellungspolitik anzugehen.<br />

<strong>Die</strong> bei dieser gesellschaftlichen<br />

Abwärtsbewegung aufsteigende sozialdarwinistische<br />

Konkurrenzideologie erhöht<br />

nun ebenso die Marktchancen für<br />

rechtsradikale und autoritäre Gesellschaftsentwürfe.<br />

Dabei ist – wie der Politikwissenschaftler<br />

Christoph Butterwegge<br />

betont – zu beachten, dass die<br />

Verschärfung des Konkurrenzprinzips<br />

nicht unbedingt zu mehr fremdenfeindlichen<br />

Einstellungen führen müsste. Politische<br />

Traditionen entscheiden darüber,<br />

wie eine Krise interpretiert wird und<br />

auf welche Muster zurückgegriffen wird.<br />

In Deutschland ist diese politische Tradition<br />

von Autoritarismus und einem ungemein<br />

ethnischen Verständnis von Nation<br />

verbunden, sodass Rassismus hier<br />

verstärkt zu Tage tritt.<br />

Aus dieser skizzierten Entwicklung resultierte<br />

dann die »multikulturelle Gesellschaft<br />

der besonderen Art«. Besonders<br />

deshalb, weil Ausgrenzungsmechanismen<br />

Barrieren tief in unsere Gesellschaft<br />

verankert haben, die rassistisch<br />

organisiert sind. <strong>Die</strong> Rassimusexpertin<br />

Birgit Rommelspacher spricht dabei von<br />

einer Dominanzkultur der Bevölkerungsmehrheit,<br />

die vier unterschiedliche Segregationlinien<br />

aufrecht erhält: So die<br />

politische Segregation, das meint allen<br />

voran die gesetzliche Ungleichbehandlung<br />

durch das Ausländergesetz,<br />

den schweren Zugang zur deutschen<br />

Staatsbürgerschaft, das Inländerprimat<br />

bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, die<br />

Residenzpflicht von Flüchtlingen, die<br />

Nicht-Legalisierung von den 500.000<br />

bis 1 Millionen Illegalen in Deutschland<br />

sowie die endlosen Sonderfälle in den<br />

Ausländergesetzen.<br />

<strong>Die</strong> ökonomische Segregation zeigt sich<br />

durch die doppelt so hohe Arbeitslosigkeit<br />

und das damit einhergehende<br />

deutlich höhere Armutsrisiko für MigrantInnen<br />

gegenüber der deutschen<br />

Mehrheitsbevölkerung. <strong>Die</strong> Gesellschaft<br />

gibt zwar ein Gleichheitspostulat vor,<br />

nämlich das der Leistungsgerechtigkeit.<br />

<strong>Die</strong>s ist allerdings Unsinn. <strong>Die</strong> persönliche<br />

Leistung steht fast in gar keinem<br />

Bezug zum tatsächlich Erreichten. Erfolg<br />

und Misserfolg wird vielmehr sozial<br />

vererbt, sprich die soziale Herkunft bestimmt<br />

im Wesentlichen die Startbedingungen<br />

im Wettbewerb um Arbeit und<br />

Anerkennung in der Gesellschaft. Damit<br />

verbunden ist der Bildungsbereich.<br />

Der schulische Erfolg ist laut PISA- und<br />

OSZE-Studien besonders in Deutschland<br />

extrem stark von der sozialen Herkunft<br />

abhängig und forciert somit ethnische<br />

Ungleichheiten.<br />

Zur sozialen Segregation zählt der Umgang<br />

der Bevölkerung miteinander. So<br />

verwundert es nicht, dass der Anteil<br />

fremdenfeindlichen Einstellungen dort<br />

besonders hoch ist, wo der Anteil der MigrantInnen<br />

sehr gering ist, so vor allem<br />

ländlichen Raum. Man bleibt lieber unter<br />

sich. Wie wirkungsmächtig dies sein<br />

kann, sieht man an vor allem jungen Kindern,<br />

die sich ihrer ethnischen Herkunft<br />

schon bewusst sind. Sie wissen, das<br />

sie keine Ausländer sind. Umgekehrt<br />

wissen auch MigrantInnenkinder meist<br />

sehr früh, dass sie eine kollektive Signatur<br />

tragen und zwar die des Fremden.<br />

So gaben 80 Prozent der arabischen Jugendlichen<br />

2004 bei einer repräsentativen<br />

Umfrage an: »Egal was Du tust, nie<br />

wirst Du ganz dazu gehören«. Aber auch<br />

der Anteil der binationalen Ehen ist ein<br />

Indikator zur Messung der sozialen Segregation.<br />

<strong>Die</strong>ser Anteil ist in Deutschland<br />

im Vergleich zu anderen Ländern<br />

mit 12 Prozent erstaunlich hoch.<br />

<strong>Die</strong> letzte Segregationslinie ist die kulturelle:<br />

Hier geht es um die Organisierung<br />

von Prestige: Wer hat das sagen, wem<br />

9


wird überhaupt zugehört, wer wird ernst<br />

genommen, wer wird ignoriert, wer wird<br />

nie gefragt? <strong>Die</strong>ses Anerkennungsmanagement<br />

ist besonders hartnäckig und<br />

effektiv. Eine der wichtigsten Kategorien<br />

ist hierbei die ethnische Grenzziehung.<br />

Der Gegensatz vom außen und Innen,<br />

von Eigenem und Fremden wird hierbei<br />

ethnisch definiert. So wird verhandelt,<br />

wer dazugehört und wer nicht. So ist der<br />

zentrale Dreh und Angelpunkt bei rassistischen<br />

Diskursen fast immer die so<br />

genannte Ausländerfrage: Gesellschaftliche<br />

Konflikte um Anerkennung, um Arbeitsplätze<br />

und Arbeitsbedingungen,<br />

um Kriminalität und Drogen werden dabei<br />

durch eine ethnische Brille gesehen.<br />

So heißt es dann, »die Deutschen« stünden<br />

in Konkurrenz zu »den Ausländern«,<br />

die uns »unsere« Jobs wegnähmen. Von<br />

dieser Ethnisierung des Sozialen ist<br />

es nicht weit zur rassistischen Formel<br />

»Ausländer raus«, die im Alltag in den<br />

verschiedensten Ausformulierungen bis<br />

weit in die Mitte der Gesellschaft zu finden<br />

ist. Das Wort Ausländer meint in<br />

diesem Sinne alles was <strong>als</strong> Fremd angefeindet<br />

wird, auch unabhängig davon<br />

wie die Staatsangehörigkeit wirklich ist.<br />

Wie stark diese Abgrenzung gehen kann,<br />

zeigte sich im letzten Jahrzehnt, bei der<br />

Verschärfung der Asyldebatte und Asylpolitik.<br />

<strong>Die</strong> massiven Diskriminierungen<br />

von Flüchtlingen und deren sozialräumliche<br />

Segregation vor allem durch deren<br />

Unterbringung waren begleitet von<br />

einer beispiellosen Hetzkampagne der<br />

Massenmedien gegen AsylbewerberInnen<br />

– hier auch von der linksliberalen<br />

Presse und der Politik. <strong>Die</strong>se Politik inszenierte<br />

ein nationalistisches Untergangszenario<br />

unter den Parolen »Das<br />

Boot ist voll«, »<strong>Die</strong> Grenzen der Belastung<br />

sind erreicht« usw., und stilisierte<br />

die Flüchtlingspolitik zur Überlebensfrage<br />

der Deutschen hoch. Im Rauch der<br />

Brandsätze wurde diese Politik bewusst<br />

fortgeführt bis faktisch der Artikel 16<br />

des Grundgesetzes abgeschafft wurde.<br />

Der Name Rostock-Lichtenhagen wurde<br />

in diesem Zusammenhang zu einem erschreckenden<br />

und warnenden Synonym<br />

für Rassismus in Deutschland, dem ein<br />

mörderischer Mix aus politischem Kalkül,<br />

weit verbreiteten rassistischen Einstellungen<br />

in der Bevölkerung, hetzerischer<br />

Medienberichterstattung sowie<br />

struktureller Diskriminierung von Minderheiten<br />

zugrunde liegt. Wenn Rassismus<br />

gewalttätig eskaliert, dann trifft es<br />

alle potentiellen Opfer von Rassismus.<br />

So traf es nach Rostock beispielsweise<br />

auch schnell MigrantInnen die schon<br />

lange in Deutschland lebten, wie zum<br />

Beispiel in Mölln.<br />

10<br />

<strong>Die</strong> mediale und politische Aufmerksamkeit<br />

bei Rechtsextremismus und<br />

Rassismus ist dabei defensiv. Sie hechelt<br />

den rechtsextremen Gruppen und<br />

rechten Gewalttaten hinterher, da diese<br />

zumeist nur dann zum Thema werden,<br />

wenn eine besonders schlimme Grausamkeit<br />

passiert ist.<br />

Ich teile hier die Einschätzung von Christoph<br />

Butterwegge, dass diese Art der<br />

Aufmerksamkeit den Blick allein auf die<br />

sichtbare Phänomene reduziert. So werden<br />

analytische Erkenntnisse in Bezug<br />

auf das Ursache-Wirkungs-Verhältnis<br />

rechtsextremer Agitation verhindert.<br />

Rechtsextremismus ist die Spitze<br />

des Rassismus<br />

<strong>Die</strong> zu Tage tretende rechtsextreme Gewalt<br />

ist nämlich nur die Spitze dieses<br />

skizzierten recht gewöhnlichen Rassismus.<br />

Schlagwörter wie »Asylanten«,<br />

»Sozi<strong>als</strong>chmarotzer« und »Überfremdung«<br />

finden sich in vielen Köpfen,<br />

in den Medien und in Politikerreden<br />

weit über die <strong>als</strong> rechtsextrem Klassifizierten<br />

hinaus. Bei einer repräsentativen<br />

Umfrage im Jahr 2007 stimmten<br />

55 Prozent der befragten dem Satz »Es<br />

leben zu viele Ausländer in Deutschland«<br />

»eher« oder »voll und ganz« zu.<br />

<strong>Die</strong> Aussage »Wenn Arbeitsplätze knapp<br />

werden, sollte man die in Deutschland<br />

lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat<br />

zurückschicken«, stimmten wurde<br />

im selben Jahr von knapp 30 Prozent<br />

der Befragten »eher« oder »voll und<br />

ganz« geteilt.<br />

<strong>Die</strong> potenziellen Opfer von Rassisten<br />

sind darüber hinaus nicht ziellos ausgesucht.<br />

Sie stehen fast alle am unteren<br />

Ende der gesellschaftlichen Hierarchie.<br />

Sie sind faktisch die am meisten Ausgegrenzten:<br />

Obdachlose, Behinderte,<br />

MigrantInnen, denen man ihr Mirgant-<br />

Innendasein ansieht, Flüchtlinge und<br />

Punks. Rechtsextreme Agitation bezieht<br />

sich immer auf den normalen Rassismus<br />

der Mitte der Gesellschaft, deren<br />

inhaltliche Übergänge oft recht fließend<br />

sind. Aus dieser Mitte rekrutiert sich<br />

auch der rechtsextreme Nachwuchs.<br />

Rechtsextreme stehen folglich nicht außerhalb<br />

der Gesellschaft, sondern sind<br />

integraler Bestandteil von ihr. Rechtsextremismus<br />

kann man <strong>als</strong> die politisierte<br />

Form des Rassismus interpretieren. So<br />

kann es zwar Rassismus ohne Rechtsextremismus<br />

geben, aber keinen Rechtsextremismus<br />

ohne Rassismus. Der Ausländerdiskurs<br />

in Deutschland ist für<br />

mich eine gesellschaftsverträgliche Codierung<br />

von Rassismus.<br />

Überbewertung von Ideologie<br />

<strong>Die</strong> Bedeutung der rassistischen Ideologie<br />

wird meines Erachtens oft über-<br />

trieben. Darin steckt die sehr nachvollziehbare<br />

Hoffnung, Menschen würden<br />

vor allem nach einem geschlossenen,<br />

schlüssigen Weltbild handeln. Das<br />

meint: aus einem Gedanken folge eine<br />

Tat. Nach dieser Lesart muss man den<br />

rassistischen Gedanken nur erkennen,<br />

isolieren und schließlich widerlegen,<br />

damit man die Gesellschaft gegen rassistische<br />

Barbarei immunisiere. Dem<br />

ist nun leider nicht so. Rassismus ist<br />

unglaublich hartnäckig und gegen Aufklärung<br />

in gewisser Weise immun. Ich<br />

denke, exakt hier sind auch Grenzen der<br />

klassischen Aufklärung gezogen, ohne<br />

diese gering schätzen zu wollen. Rassismus<br />

leitet sich – wie der Sozialwissenschaftler<br />

Detlev Claussen argumentiert<br />

– eben nicht vorrangig aus einer<br />

Ideologie her, sondern aus einem politischen<br />

Bedürfnis, ein praktiziertes Programm<br />

von Diskriminierung, Unterdrückung<br />

und manchmal auch Gewalt <strong>als</strong><br />

Normalität durchzusetzen. <strong>Die</strong>s tut er<br />

in quasi religiöser Weise. Rassismus beginnt<br />

bei der Interpretation von Unterschieden<br />

und basiert auf einer tief verankerten<br />

Dominanzkultur. Es ist dabei<br />

bedeutungslos, ob die rassistischen Begründungen<br />

dabei aus der Biologie oder<br />

der Geisteswissenschaft kommen: Ein<br />

Rassist fragt nie nach argumentativer<br />

Stichhaltigkeit, sondern er fragt nach<br />

einer Autorität, die für diesen Unterschied<br />

zwischen ihm und dem Anderen<br />

bürgt. <strong>Die</strong> Autorität ist quasi immer die<br />

eigene »peer-group«, häufig das lokale<br />

Umfeld, es kann zudem die Politik oder<br />

die Massenmedien sein. Es ist aber immer<br />

die gesellschaftliche Sozi<strong>als</strong>truktur,<br />

die durch eine strukturelle Ungleichbehandlung<br />

die Unterschiede proklamiert.<br />

So ist Rassismus eine gesellschaftliche<br />

Praxis, von der eine rassistisch ausformulierte<br />

Theorie nur einen sehr kleinen<br />

Teil darstellt.<br />

Rassismus <strong>als</strong> gesellschaftliche Praxis<br />

in Deutschland<br />

Rassismus ist eine gesellschaftliche<br />

Praxis, die in Wort und Tat Menschen<br />

wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe<br />

diskriminiert. Er begründet sich in<br />

Deutschland auf vier Ebenen, die sich<br />

gegenseitig bedingen und ineinanderegreifen:<br />

Erstens sind die Menschen der Mehrheitsgesellschaft<br />

mit latenten oder<br />

dezidierten fremdenfeindlichen Einstellungen<br />

Basis und Träger der gesellschaftlichen<br />

rassistischen Praxis. Seit<br />

Anfang der neunziger Jahre steigen sowohl<br />

die Anzahl rassistischer Einstellungen<br />

und Übergriffe. Parallel dazu<br />

sinkt das demokratische Potential in der<br />

Gesellschaft.


<strong>Die</strong> zweite Ebene sind die staatlichen<br />

Strukturen der Diskriminierung. <strong>Die</strong>se<br />

stigmatisiert MigrantInnen <strong>als</strong> minderwertig<br />

durch spezielle Ausländergesetze<br />

und ganz besonders durch die Flüchtlingspolitik.<br />

Dadurch wird die Rechtsgleichstellung<br />

mit Deutschen verweigert.<br />

<strong>Die</strong> ethnische Schichtung auf dem Arbeitsmarkt<br />

und im Sozialgefüge ist <strong>als</strong><br />

dritte Ebene zu nennen: Sie normalisiert<br />

ebenfalls die Vorstellung der eigenen<br />

Überlegenheit und zementiert die<br />

vermeintliche Minderwertigkeit von MigrantInnen.<br />

Auch diese Entwicklung verschlechtert<br />

sich relativ parallel zum Anstieg<br />

von rassistischen Einstellungen in<br />

der deutschen Bevölkerung. Zum Teil<br />

wird ethnische Stigmatisierung auch<br />

staatlich institutionalisiert, wie zum<br />

Beispiel durch das dreigliedrige Schulsystem<br />

und dem Inländerprimat des<br />

deutschen Arbeitsmarktes. Selbst das<br />

Bundesfamilienministerium sprach zumindest<br />

im Jahr 2000 von einem sich<br />

selbst stabilisierendem System der Ungleichheit<br />

zwischen Einwanderer und<br />

Einheimischen.<br />

Der vierte wesentliche Aspekt ist die<br />

<strong>als</strong> Besonderheit zu bezeichnende politische<br />

Kultur in Deutschland: Aufgrund<br />

einen ethnischen Nationalismus<br />

tut sich speziell Deutschland schwer,<br />

mit kulturellen Differenzen umzugehen.<br />

MigrantInnen werden gerade in<br />

dieser Tradition nicht <strong>als</strong> gleichberechtigte<br />

Gesellschaftsmitglieder anerkannt,<br />

sondern ständig misstrauisch beäugt.<br />

<strong>Die</strong>ser Sichtweise fehlt es an demokratischer<br />

Gelassenheit und macht MigrantInnen<br />

entweder zu Fremden, die im<br />

konservativen Assimilierungsdiskurs angefeindet<br />

werden oder, wie im Bereich<br />

des Multikulturalismus, zu Fremden, die<br />

man paternalistisch tolerieren oder betreuen<br />

solle.<br />

So greifen <strong>als</strong>o für den heutigen Rassismus<br />

gegenüber MigrantInnen Normalitätsvorstellungen,Stigmatisierungsprozesse,<br />

die politische Kultur, das<br />

ökonomische System und das politischrechtliche<br />

System ineinander, um Ausgrenzungsprozesse<br />

zu legitimieren und<br />

durchzusetzen. <strong>Die</strong>ser Prozess stützt<br />

sich auf die Gesellschaftsmitglieder der<br />

Mehrheit und deren Dominanz, wie Birgit<br />

Rommelspacher dies pointiert zusammenfasst.<br />

<strong>Die</strong> geschilderte strukturelle<br />

Dimension von Rassismus macht<br />

MigrantInnen erst zu Minderheiten und<br />

zu Diskriminierungsobjekten, sodass<br />

die beschriebene gesellschaftliche Ungleichbehandlung<br />

und soziale Hierarchie<br />

entlang von zugeschriebenen ethnischen<br />

Grenzen wiederum im Wechsel<br />

Rassismus hervorbringt, legitimiert und<br />

schürt. <strong>Die</strong>se normale, weil viele Jahrzehnte<br />

andauernde Wechselbeziehung,<br />

ist die Folie, auf der sich seit Beginn der<br />

neunziger Jahre rassistische Gewalt ausgebreitet<br />

und stabilisiert hat. Der gesellschaftliche<br />

Rahmen war darüber hinaus<br />

von steigender Arbeitslosigkeit und<br />

einem chauvinistischen Dominanzschub<br />

seit der Vereinigung gesetzt.<br />

Ich stimme der Auffassung vom Politikwissenschaftler<br />

Christoph Butterwegge<br />

zu, der folgende soziale Formel aufgestellt<br />

hat: Je mehr sich durch die Politik<br />

des »nationalen Wettbewerbstaates«<br />

die soziale Ungleichheit verschärft und<br />

damit den Resonanzboden für Marginalisierungs-<br />

und Ethnisierungsprozesse<br />

vergrößern wird, desto stärker verbinden<br />

sich Kulturrassismus und Standortnationalismus.<br />

Wie verbreitet und<br />

wirkungsmächtig dies eine Entwicklungstendenz<br />

und Option in allen Industrienationen<br />

West- und Mitteleuropas<br />

ist, zeigen die großen Wahlerfolge der<br />

so genannten rechtspopulistischen Parteien,<br />

allen voran in Frankreich, Italien,<br />

Österreich und der Schweiz.<br />

Was ist zu tun in der Auseinandersetzung<br />

mit dem Rassismus?<br />

Daraus ergibt sich für mich folgende<br />

Handlungsmaxime: Um Rassismus<br />

grundlegend zu bekämpfen, muss<br />

ganz wesentlich die ethnische Schichtung<br />

und Segregation der bundesdeutschen<br />

Sozi<strong>als</strong>truktur durchbrochen<br />

werden. Erst dann könnten sich Normalitätsvorstellungen<br />

der Deutschen<br />

entwickeln, deren Bezugskoordinaten<br />

sich nicht mehr so leicht an ethnischen<br />

Ungleichheitsgefällen orientieren<br />

könnten. Deutschland ist noch<br />

weit davon entfernt eine aktive Gleichstellungspolitik<br />

in der Bildung und auf<br />

dem Arbeitsmarkt überhaupt zu diskutieren.<br />

<strong>Die</strong> vor allem von den Mobilen Beratungsteams<br />

propagierte Parole: »Mehr<br />

Demokratie hilft gegen Rassismus und<br />

Rechtsextremismus!« bringt es für mich<br />

sehr gut auf den Punkt: Gleiche Rechte<br />

für alle hier lebende Menschen sind<br />

somit die wichtigste Ausgangsbasis einer<br />

antirassistischen Politik. Wer macht<br />

wen unter welchen Umständen zu Fremden?<br />

<strong>Die</strong>s zu untersuchen und kritisch<br />

zu hinterfragen, wäre meiner Meinung<br />

nach Aufgabe einer kritischen Wissenschaft<br />

und einer kritischen Politik. <strong>Die</strong><br />

verschiedene Themenkomplexe wie Migration,<br />

Globalisierung, soziale Gerechtigkeit,<br />

multiethnische Gesellschaft<br />

müssten wieder vermehrt repolitisiert<br />

und vor allem mit der demokratischen<br />

statt der nationalen Option verknüpft<br />

werden. <strong>Die</strong> Betonung eines Oben-Unten-Gegensatz<br />

gegenüber eines Innen-<br />

Außen-Gegensatzes macht soziale Konflikte<br />

überhaupt wieder erkennbar und<br />

lösbar.<br />

Im Kern geht es um die Frage, wie das<br />

Zusammenleben der Menschen in der<br />

Gesellschaft organisiert werden soll:<br />

Wollen wir in einer Gesellschaft leben,<br />

die von Mehrheit und Dominanz geprägt<br />

ist? Oder streben wir eine an, die an<br />

Pluralität und Gleichheit der Menschen<br />

ausgerichtet ist?<br />

Bernd Winter<br />

1 Richard Gebhardt hat in der anschließenden<br />

Diskussion zu Recht darauf hingewiesen, dass hier<br />

eigentlich nicht von einer »multikulturellen Gesellschaft«<br />

geredet werden sollte, sondern vielmehr<br />

von einer »multiethnischen«: Kulturelle Milieus<br />

gibt es ja auch zwischen Frommen und Nicht-<br />

Frommen, Katholiken, Protestanten und Atheisten,<br />

Punks und Kegelclubs, Kaffeekränzchen und Dark<br />

Rooms. Hier geht es ja in der Tat um die Benennung<br />

der ethnische Schichtung.<br />

Weiterführende Literaturhinweise:<br />

Rassismus<br />

- Christoph Butterwegge, Christoph,<br />

Rechtsextremismus, Rassismus und<br />

Gewalt. Darmstadt 1996.<br />

- Etienne Balibar, Gibt es einen ‚neuen<br />

Rassismus, in: Das Argument, Heft<br />

175,.1989, S. 369–380<br />

- Detlev Claussen, Was heißt Rassismus?«,<br />

in: derselbe, Was heißt Rassismus?<br />

Darmstadt 1994, S. 1–24<br />

- Forschungsinstitut der Friedrich-<br />

Ebert-Stiftung, Abt. Arbeits- und Sozialforschung,<br />

Hrsg. Ethnisierung gesellschaftlicher<br />

Konflikte. Eine Tagung der<br />

Friedrich-Ebert-Stiftung am 11. Oktober<br />

1995 in Erfurt, Bonn 1996.<br />

- Kein Nghi Ha, Ethnizität und Migration.<br />

Münster 1999.<br />

- Wilhelm Heitmeyer, Hrsg. Deutsche<br />

Zustände – Folge 1 bis 7, Frankfurt am<br />

Main 2002 ff.<br />

- Birgit Rommelspacher, Dominanzkultur.<br />

Texte zu Fremdheit und Macht.<br />

Berlin 1995.<br />

- <strong>Die</strong>selbe, Anerkennung und Ausgrenzung.<br />

Deutschland <strong>als</strong> multikulturelle<br />

Gesellschaft. Frankfurt am Main, New<br />

York 2002.<br />

- Bernd Winter, Gefährlich fremd.<br />

Deutschland und seine Einwanderung.<br />

Freiburg 2004.<br />

Diskriminierung im Bildungswesen<br />

- Mechthild Gomolla u. Frank-Olaf/Radtke,<br />

Institutionelle Diskriminierung –<br />

<strong>Die</strong> Herstellung ethnischer Differenz in<br />

der Schule. Opladen 2002.<br />

11


- Werner Schiffauer u. a., Staat – Schule<br />

– Ethnizität. Politische Sozialisation<br />

von Immigrantenkindern in vier europäischen<br />

Ländern. Münster 2002.<br />

Rechtsextremismus<br />

- Renate Bitzan, Hrsg., Rechte Frauen.<br />

Berlin 1997<br />

- Thomas Grumke u. Thomas Wagner,<br />

Hrsg., Handbuch Rechtsextremismus.<br />

Opladen 2002.<br />

- Burkhard Schröder, Nazis sind pop.<br />

Berlin 2002.<br />

- Der Tagesspiegel (Berlin), Todesopfer<br />

rechter Gewalt seit der Vereinigung<br />

– eine Bilanz. Sonderdruck, Berlin<br />

2001.<br />

Mediendiskurse<br />

- Christoph Butterwegge u. Alexander/<br />

Häusler, Alexander, Themen der Rechten<br />

– Themen der Mitte. Rechtsex-<br />

12<br />

treme Einflüsse auf Debatten zu Migration,<br />

Integration und multikulturellem<br />

Zusammenleben, Köln 2001.<br />

- Christoph Butterwegge u. Gudrun<br />

Hentgens, Hrsg., Massenmedien, Migration<br />

und Integration, Wiesbaden<br />

2006.<br />

- DISS, SchlagZeilen – Rostock: Rassismus<br />

in den Medien. Duisburg 2001.<br />

- Siegfried Jäger, BrandSätze. Rassismus<br />

im Alltag, Duisburg 1993.<br />

Ausländerpolitik<br />

- Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik<br />

in Deutschland – Saisonarbeiter,<br />

Zwangsarbeiter, Gastarbeiter,<br />

Flüchtlinge, München 2001.<br />

- Christoph Butterwegge u. Christoph/<br />

Hentgens, Hrsg., Zuwanderung im Zeichen<br />

der Globalisierung – Migrations-,<br />

Integrations- und Minderheitenpolitik.<br />

Opladen 2000.<br />

Illegalität<br />

- Jörg Alt, Leben in der Schattenwelt.<br />

Problemkomplex »illegale« Migration,<br />

Karlsruhe 2003.<br />

Pädagogik/Bildung/Strukturarbeit<br />

- DGB-Bildungswerk Thüringen, Hrsg.,<br />

(2005) Baustein zur nicht-rassistischen<br />

Bildungsarbeit, Erfurt 2005.<br />

- Ulrike Hormel u. Albert Scherr, Bildung<br />

für die Einwanderungsgesellschaft,<br />

Wiesbaden 2005.<br />

- Lynen von Berg u. a., Interventionsfeld<br />

Gemeinwesen. Evaluation zivilgesellschaftlicher<br />

Strategien gegen Rechtsextremismus.<br />

Weinheim 2005.<br />

- Zentrum Demokratische Kultur, Hrsg.,<br />

Gegen Rechtsextremismus hilft mehr<br />

Demokratie. Community Coaching-<br />

Kommunalanalyse und Demokratieentwicklung<br />

im Gemeinwesen, Berlin<br />

2003.


Weltweite Finanzkrise und die extreme Rechte<br />

Kein Zweifel: die internationale Finanzkrise<br />

hat inzwischen alle Länder erfasst,<br />

in Nord und Süd, in West und Ost. Immer<br />

neue Hiobsbotschaften jagen um<br />

den Erdball, zeigen die Tiefe der Erschütterungen,<br />

die sich vor Jahresfrist noch<br />

kaum jemand vorzustellen vermochte.<br />

Spekulationsblasen riesigen Ausmaßes<br />

sind geplatzt, die Vernichtung Hunderter<br />

Millionen Vermögenswerte und Gewinne<br />

hat nicht nur einzelne Aktienbesitzer,<br />

Banken und Immobilienhändler<br />

erfasst, sondern ganze Volkswirtschaften<br />

in den Strudel gerissen. Island,<br />

Ungarn, Lettland und die Ukraine befanden<br />

sich kurz vor dem Staatsbankrott<br />

und mussten durch groß angelegte Stützungsaktionen<br />

des Internationalen Währungsfonds<br />

vor der Zahlungsunfähigkeit<br />

bewahrt werden.<br />

Kein Zweifel mehr: immer stärker<br />

schlägt die Finanzkrise auf die Produktionssphäre,<br />

auf die Rohstoffmärkte und<br />

Handelsströme durch, riesige Absatzhalden<br />

gibt es inzwischen zum Beispiel<br />

bei Kraftfahrzeugen. Millionen Werktätige<br />

sind zur Kurzarbeit gezwungen, werden<br />

in die Arbeitslosigkeit gedrängt, in<br />

den USA hat die Erwerbslosigkeit den<br />

höchsten Stand seit über vierzig Jahren<br />

erreicht. <strong>Die</strong> Auswirkungen für Familien,<br />

Sozialhilfeempfänger sind dramatisch.<br />

Kein Zweifel auch, dass es die Entwicklungsländer,<br />

die Ärmsten der Armen,<br />

wieder am härtesten trifft.<br />

Nichts kann mehr darüber hinwegtäuschen,<br />

dass all das nicht nur die Schuld<br />

einzelner Personen oder Firmenvorstände<br />

ist, dass die Verantwortung für das<br />

entstandene Chaos nicht nur bei einzelnen<br />

Banken, sondern auch bei Regierungen,<br />

Wirtschaftsverbänden und anderen<br />

politisch Zuständigen liegt, deren<br />

wirtschaftliche und gesellschaftliche<br />

Prognosen, deren Beruhigungspillen<br />

und verzweifelte Rettungsversuche sich<br />

<strong>als</strong> gigantische Fehleinschätzungen beziehungsweise<br />

untaugliche Konzepte erwiesen<br />

haben. <strong>Die</strong> in hektischer Eile in<br />

den USA und Europa geschnürten »Rettungspakete«<br />

in einem Gesamtumfang<br />

von mehreren Billionen Dollar müssen<br />

ihre Wirksamkeit erst noch beweisen.<br />

In welcher Weise reagiert nun die extreme<br />

Rechte auf diese tiefen Erschütterungen?<br />

Ist das die Stunde der schon immer<br />

grundsätzlich gegen »das System« hetzenden<br />

Neonazis? Ist es ihre Chance,<br />

endlich die immer wieder erhoffte und<br />

immer wieder verlorene Aufmerksamkeit<br />

bei den Massen zu erlangen, sich<br />

mit wirtschafts- und sozialpolitischen<br />

Kompetenzen »auf der politischen Bühne<br />

zurückmelden« zu können, wie es<br />

schon 1996 ein Autor in der NPD-Zeitung<br />

»Deutsche Stimme« erträumte? Ist<br />

es die Möglichkeit, eine im Lande »bisher<br />

richtungslose antikapitalistische<br />

Sehnsucht«, wie sie vor Jahresfrist Jürgen<br />

Gansel diagnostizierte, in »nationale<br />

Protestbahnen zu lenken«, »konsequent<br />

gegen Zuwanderung, EU-Fremdbestimmung<br />

und Globalisierung zu richten, wie<br />

es ihm vorschwebte? Wir wollen das im<br />

Folgenden etwas genauer untersuchen.<br />

Allgemein kann man feststellen, dass<br />

die Parteien und meinungsbildenden Organe<br />

der extremen Rechten in Deutschland<br />

(wie auch in anderen Ländern) von<br />

Tempo und Ausmaß der entstandenen<br />

Krisen in ähnlicher Weise wie andere gesellschaftliche<br />

Akteure überrascht wurden<br />

und sich auch jetzt mit Antworten<br />

auf die gewaltigen Veränderungen und<br />

ihren Folgen schwer tun. Aber selbstverständlich<br />

halten sie an ihrer prinzipiellen<br />

Ablehnung von »Globalisierung« fest,<br />

versuchen sie die neue Lage zur Rechtfertigung<br />

ihrer Anti-Globalisierungs-Propaganda,<br />

ihrer nationalistischen Tiraden<br />

und ihrer ausländerfeindlichen Hetze zu<br />

nutzen. Dass dies mit vehementem Antiamerikanismus<br />

und nicht zuletzt Antisemitismus<br />

einhergeht, verwundert<br />

nicht. Im übrigen sind es die bekannten<br />

Redner und Schreiber besonders aus<br />

der NPD, die sich äußern, neue theoretische<br />

Glanzlichter sind auch bei dieser<br />

Thematik nicht zu erkennen.<br />

Soweit es sich um die Beschreibung der<br />

Tatsachen handelt, haben es Rechtsextreme<br />

aller Couleur nicht schwer. Sie<br />

brauchen nicht zu frisieren. <strong>Die</strong> Zusammenbrüche<br />

der Banken in den USA im<br />

Gefolge der Immobilienkrise, die Folgen<br />

des Skand<strong>als</strong> um die Lehman Brothers<br />

Bank weltweit, die Krisen der Hypo Real<br />

Estate und mehrerer Landesbanken<br />

in Deutschland, der faktische Staatsbankrott<br />

in Island – alles Wahrheiten,<br />

die schlimmer sind, <strong>als</strong> es die Rechtsextremen<br />

hätten voraussagen können.<br />

Sie brauchen nur abzuschreiben, was<br />

andere veröffentlichen. Als Ausnahme<br />

darf sich der stellvertretende NPD-Vorsitzende<br />

Sascha Roßmüller anrechnen<br />

lassen, dass er noch vor vielen bürgerlichen<br />

Journalisten und Wissenschaftlern<br />

die bestürzenden Entwicklungen<br />

offenlegte. Bereits im April 2008 überschrieb<br />

er seinen Artikel in der »Deutschen<br />

Stimme« über die Auswirkungen<br />

der amerikanischen Hypothekenkrise<br />

auf Deutschland und hiesige Landesbanken<br />

mit »Weltweite Finanzkrise« und<br />

klagte die hochbezahlten Manager und<br />

die etablierte Politik gemeinsam an, die<br />

Rahmenbedingungen für die Finanzmarktkrise<br />

geschaffen zu haben.<br />

Im Herbst 2008 fanden sich abgeleitet<br />

von den offiziellen Verlautbarungen und<br />

Warnungen auch bei anderen rechtsextremen<br />

Politikern und Autoren dann<br />

zahlreiche weitere Beschreibungen und<br />

Anklagen, so von Jürgen Gansel, Per<br />

Lennart Aae, Holger Apfel und anderen<br />

Funktionären der NPD aus dem sächsischen<br />

Landtag. Mehr und mehr traten<br />

dabei Hinweise hinsichtlich der sozialpolitischen<br />

Auswirkungen auf die Bevölkerung<br />

in den Vordergrund. Es fehlten<br />

aber auch nicht die antisemitischen<br />

Töne, die Verweise auf die Ursachen in<br />

der Raffgier der »amerikanischen Ostküste«,<br />

dem bei den Neonazis gebräuchlichen<br />

Synonym für die international<br />

agierende jüdische Hochfinanz. Dass<br />

dabei immer auch der Rückgriff auf das<br />

direkte faschistische Vokabular mit der<br />

Unterscheidung von »schaffendem«<br />

(arischen) und »raffendem« (jüdischen)<br />

Kapital erfolgte, überrascht nicht.<br />

Jüngst beschäftigten sich NPD-Vertreter<br />

auch mit den sogenannten »Konjunkturpaketen«<br />

der Bundesregierung,<br />

die man <strong>als</strong> unzureichend und teilweise<br />

zusammengeschustert charakterisierte<br />

(auch dabei konnte man natürlich<br />

auf ähnliche Beschreibungen der Opposition<br />

im Bundestag zurückgreifen).<br />

Das vielfach kritisierte Versagen der<br />

Bundespolitik beim Gegensteuern gegen<br />

die wirtschaftlichen Einbrüche wurde<br />

am Beispiel der Gesundheitsreform<br />

von der sozialpolitischen Sprecherin<br />

der NPD, Antje Niekisch, <strong>als</strong> »politische<br />

Schaumschlägerei im Wahlkampf« und<br />

<strong>als</strong> Bestätigung der Aussagen der NPD<br />

gewertet. Auch Sascha Roßmüller meldete<br />

sich wieder zu Wort. Unter der<br />

Überschrift »Das dicke Ende kommt erst<br />

noch« analysierte er in der »Deutschen<br />

Stimme« (Nr. 1/2009) umfangreich die<br />

Entwicklung von der Finanzkrise über<br />

die Wirtschaftskrise zur Politikkrise, die<br />

verschärften Bedingungen für die Kreditvergabe,<br />

die »Zeitbombe Kreditkartenblase«,<br />

die Auftragsrückgänge in der<br />

deutschen Exportwirtschaft und f<strong>als</strong>che<br />

Strategien der Bundesregierung in der<br />

Bankenwelt.<br />

In altgewohnter Manier bleibt man<br />

Rechtsaußen aber nicht einfach bei der<br />

Beschreibung der Tatsachen stehen, sondern<br />

versucht diese zu überspitzen und<br />

13


mit den entsprechenden Vokabeln zu<br />

Horrormeldungen umzugestalten. Beispiele<br />

dafür finden sich zuhauf. Holger<br />

Apfel glaubte mit seiner Rede im sächsischen<br />

Landtag im Oktober 2008 zum<br />

»Finanzmarktstabilisierungsgesetz« der<br />

Bundesregierung mit dem Umfang von<br />

einer halben Billion Euro ins Schwarze<br />

zu treffen, in dem er dieses zum »Finanzmarktermächtigungsgesetz«<br />

erhob<br />

und den Vorgang <strong>als</strong> »finanzpolitischen<br />

Reichstagsbrand« auflodern ließ. Aber er<br />

zeigte damit doch wieder nur, in welchen<br />

der Nazizeit verhafteten Bahnen sich<br />

sein Denken vollzieht (Vgl. dazu die vom<br />

Pressesprecher der NPD-Fraktion am<br />

16. 10. 2008 herausgegebene Mitteilung).<br />

Im November 2008, noch zu Zeiten des<br />

jetzt abgedankten DVU-Vorsitzenden<br />

Frey, titelte seine »Nationalzeitung«:<br />

»Weltwirtschaftskrise: Deutschlands<br />

Untergang?« und beklagte das »Unheil<br />

der systematischen Verarmung des<br />

deutschen Volkes«. Der NPD-Stadtverordnete<br />

in Cottbus, Ronny Zasowk, wies<br />

im Internet die Schuld den »Finanzhaien«,<br />

»gierigen Bankmanagern« und »abgebrühten<br />

Wertpapier-Zockern«, dem<br />

»globalistischen Teufelssystem«, den<br />

»Spielkasinos der internationalen Hochfinanz«,<br />

besonders der »US-Heuschrecke<br />

Lone Star« zu und folgerte, dass<br />

»Kapitalismus in seiner Endkonsequenz<br />

Völkermord bedeutet«. Jürgen Gansel<br />

wollte sich nicht zurückhalten und attackierte<br />

die »Blutsauger der Nation«.<br />

Kersten Radzimanowski, früherer CDU-<br />

Funktionär und jetzt begeisterter Kommentator<br />

bei der NPD, verlautbarte angesichts<br />

möglicher Kaufzurückhaltung<br />

der Bürger beim Weihnachtseinkauf:<br />

»Wir spüren den Untergang«.<br />

Welche Schlussfolgerungen aus den<br />

Lagebeschreibungen ziehen nun die extremen<br />

Rechten, welche Auswege bieten<br />

sie an bzw. welche Forderungen erheben<br />

sie?<br />

Erstens: Es ist nicht überraschend, dass<br />

die Politiker aus den Reihen von NPD,<br />

DVU oder Republikanern, da generell<br />

staatsfixiert, einen ganzen Katalog formulieren,<br />

was der Staat, was Bundesregierung<br />

und Landesregierungen tun<br />

müssten, um der Probleme Herr zu werden.<br />

Auffällig aber ist, auf welch’ unterschiedliche<br />

Art und Weise und wie konzeptionslos<br />

sie das tun. Während sie wie<br />

Holger Apfel in seinen Landtagsreden<br />

immer wieder tönen: »Das System hat<br />

keine Fehler, das System ist der Fehler!«<br />

überbieten sie sich mit Vorschlägen,<br />

was in diesem System verbessert oder<br />

verändert werden sollte und liegen dabei<br />

oft auf einer Linie mit den Vertretern<br />

eben dieses Systems.<br />

14<br />

Mit einem Paukenschlag versuchte sich<br />

Jürgen Gansel <strong>als</strong> Vorreiter der Kapitalismuskritik<br />

in Szene zu setzen. Auf der<br />

Internetseite des NPD-Parteivorstandes<br />

verlangte er am 20. 11. 2008, »die eiserne<br />

Faust des Staates statt der unsichtbaren<br />

Hand des Marktes« in Anwendung<br />

zu bringen. Man sah förmlich<br />

die zarte Schlaghand der Bundeskanzlerin<br />

auf die mächtigen Konferenztische<br />

der Spitzen von Banken, Konzernen<br />

und Handelsriesen niedersausen, wo<br />

sie doch sonst eher die smarten Töne<br />

bevorzugte und in Hinterzimmern einträchtig<br />

mit den Ackermann, Hundt, Piech,<br />

Wedeking und von Pierer ihre Talkrunden<br />

drehte.<br />

Zweitens: Das schnell herbeigeholte<br />

Zauberwort in der neuen Situation war<br />

für die NPD: »Banken verstaatlichen!«<br />

Damit aber sprang sie nur auf ein Pferd<br />

auf, das zuvor andere längst gesattelt<br />

hatten. Auf diesen Rettungsanker in<br />

höchster Not war man in den USA, Frankreich<br />

und weiteren Ländern schon zuvor<br />

gekommen, aber auch in Deutschland<br />

hatte die Debatte längst begonnen.<br />

Ganz zu schweigen davon, dass die <strong>Linke</strong>n<br />

hier die Überführung des Banken-<br />

und Kreditgewerbes in die öffentliche<br />

Hand mit weitgehender demokratischer<br />

Kontrolle schon längst im Programm<br />

hatten. NPD-Vorsitzender Udo Voigt<br />

brauchte sich auch keine große Mühe<br />

machen, eine Liste von Forderungen<br />

aufzureihen, die Treiben und Skrupellosigkeit<br />

von Bankern und Fondsmanagern<br />

begrenzen sollten. Forderungen<br />

nach Haftung der Bankmanager im Falle<br />

der Insolvenz auch mit privatem Vermögen,<br />

nach Begrenzung der Managergehälter,<br />

Forderungen, die »Zockerinstitute«<br />

in die Insolvenz zu schicken und<br />

wertlose Papiere in einem ordentlichen<br />

Bankrottverfahren abzuschreiben, konnte<br />

er auch schon bei der SPD ablesen.<br />

Mit einer »breit angelegten Kampagne«<br />

wollte die NPD dann über die Hintergründe<br />

und »Alternativen« aufklären. Angesichts<br />

ihrer eigenen Schwäche und Krise<br />

reichte es aber gerade für ein Themenflugblatt<br />

unter der Überschrift »Banken<br />

verstaatlichen!« und zu einem »Aktionstag«<br />

mit Infoständen und einigen Reden<br />

in mehreren Städten am 10. November<br />

2008. Das dürftige Flugblatt, das ein<br />

paar NPD-bekannte Phrasen, wiederholte<br />

Schmähungen der Linkspartei und eine<br />

Werbung für die NPD enthielt, brachte<br />

<strong>als</strong> »Alternative« lediglich die Parole<br />

»Wir wollen unser Geld Zurück«, um die<br />

Bürger aufzustacheln. Darunter wurde<br />

aber lediglich die alte NPD- Losung verstanden,<br />

den Euro abzuschaffen und die<br />

D-Mark wieder einzuführen.<br />

Der »Neuigkeitswert« der NPD-Parole<br />

zur Bankenverstaatlichung war endgültig<br />

verflogen, <strong>als</strong> die Bundesregierung<br />

nun selber, wenn auch in kleinen Schritten,<br />

begann, Anteile von Banken zu<br />

übernehmen (jüngst schließlich bei der<br />

Hypo Real Estate mehr <strong>als</strong> 50 Prozent)<br />

und sich selbst <strong>als</strong> Retter darzustellen.<br />

Insgesamt blieb so die NPD weit von ihrem<br />

Ziel entfernt, aus der Finanzkrise<br />

Kapital für die Erhöhung ihres gesellschaftlichen<br />

Einflusses zu schlagen und<br />

die kapitalismuskritischen Stimmungen<br />

in der Bevölkerung zu nutzen. Ein Beweis<br />

dafür war die hessische Landtagswahl<br />

am 18. Januar 2009, wo die NPD<br />

auf dem gleichen Anteil von 0,9 Prozent<br />

der Stimmen hängenblieb wie ein Jahr<br />

zuvor.<br />

Drittens: Als weiteres Thema lag für die<br />

»nationalen Erretter« das Thema Steuern<br />

auf der Propagandastraße. <strong>Die</strong> unglaublichen<br />

Fälle von Steuerkriminalität<br />

aus Kreisen der bundesdeutschen »Elite«<br />

(etwa eintausend Prominente wie<br />

der Postchef Zumwinkel hatten durch<br />

Transaktionen nach Liechtenstein den<br />

deutschen Fiskus um etwa 3,4 Milliarden<br />

Euro geprellt) wurden im Frühjahr<br />

2008 aufgedeckt und natürlich sofort<br />

von den rechtsextremen Parteien aufgegriffen<br />

und angeprangert. Sascha<br />

Roßmüller fand, dass angesichts der<br />

neuen zugespitzten Situation die NPD<br />

sich nun »<strong>als</strong> Anwalt« des Steuerzahlers<br />

profilieren müsse. Denn die Tatsachen,<br />

dass die Millionen einfacher Steuerzahler<br />

jetzt all die verzockten Milliarden von<br />

den Landesbanken bis zur Autoindustrie<br />

bezahlen sollen, indem der Staat sie <strong>als</strong><br />

so genannte Rettungspakete den Verantwortlichen<br />

hinterherwirft, liegen auf<br />

dem Tisch. Und eine Reihe Fragen, die<br />

in diesem Zusammenhang in der Öffentlichkeit<br />

gestellt werden, formulieren<br />

auch die NPD-Publizisten richtig, so zum<br />

Beispiel, wieso nur der Steuerzahler in<br />

die Pflicht genommen werden soll und<br />

nicht die Privatbanken, oder weshalb<br />

die Frage nach der Haftung der Verantwortlichen<br />

mit ihrem umfangreichen<br />

Privatvermögen weitgehend ausgespart<br />

bleibt.<br />

Da man auch in NPD-Kreisen weiß, dass<br />

mit solchen Forderungen zur Zeit nicht<br />

durchzukommen ist, schloss man sich<br />

im November den die Massen der Bevölkerung<br />

eher interessierenden Forderungen<br />

aus Wirtschaftskreisen nach<br />

einer Senkung der Mehrwertsteuer an,<br />

die unter anderem der Chef des Handelskonzerns<br />

Metro, Cordes, in der gegenwärtigen<br />

Situation <strong>als</strong> »wirksamen<br />

Schritt« bezeichnete, weil damit die Binnennachfrage<br />

und indirekt das Investi-


tionsklima angekurbelt werde. Mit der<br />

Forderung nach Steuersenkungen befanden<br />

sich nun aber die Rechtsextremen<br />

plötzlich auf gleicher Straße mit<br />

der »Steuersenkungspartei« FDP und<br />

mit der CSU. <strong>Die</strong>se hatte mit dem Thema<br />

monatelang ihre Schwesterpartei<br />

CDU genervt, bis schließlich Frau Merkel<br />

auch in dieser Frage umfiel, wobei<br />

sie sich dennoch weiter sträubt, vor<br />

allem von der Mehrwertsteuer etwas<br />

abzurücken.<br />

Damit noch etwas Profil erkennbar bleiben<br />

sollte, stieg der wirtschaftspolitische<br />

Berater der sächsischen NPD-<br />

Landtagsfraktion Per Lennart Aae in die<br />

Debatte und rief »Steuersenkung jetzt,<br />

aber selektiv!« (Internetseite der NPD,<br />

28. 11. 2008). Unter selektiver Auswahl<br />

bei der Steuersenkung versteht Aae<br />

den Kampf gegen die massenhafte Einfuhr<br />

von Importwaren, die deutsche Produkte<br />

aus den Regalen der Supermärkte<br />

verdrängen, eine deutliche Senkung der<br />

Mehrwertsteuer, um damit heimische<br />

Hersteller und <strong>Die</strong>nstleister zu begünstigen.<br />

<strong>Die</strong> Kritik der EU-Wettbewerbshüter<br />

wegen des Verstoßes gegen da<br />

EU-Wettbewerbsrecht will Aae in Kauf<br />

nehmen. <strong>Die</strong>ses werde angesichts der<br />

Krise ohnehin bald auf der Müllhalde<br />

der Geschichte landen. Ergänzend erwägt<br />

er, die generelle Mehrwertsteuersenkung<br />

durch eine zusätzliche Senkung<br />

für Produkte und <strong>Die</strong>nstleistungen,<br />

die in einer Region in Deutschland hergestellt<br />

beziehungsweise von einheimischen<br />

Unternehmen angeboten und in<br />

derselben Region angeboten werden,<br />

noch zu erweitern. Hinter den Befürwortern<br />

einer umfangreichen Steuerentlastung<br />

der Bürger sind inzwischen auch<br />

die Spitzen der anderen rechtsextremen<br />

Partei, der DVU, zu finden, die vor allem<br />

das Zögern der Kanzlerin in dieser Frage<br />

kritisieren, wie zum Beispiel der Abgeordnete<br />

Wetzel aus Potsdam. Sie stellen<br />

sich an die Seite von Prof. Hans-Werner<br />

Sinn, dem Präsidenten des Münchener<br />

Ifo-Instituts, der den Solidaritätszuschlag<br />

abgeschafft haben will und fordern,<br />

die Effekte der Progression des<br />

Einkommensteuertarifs zu neutralisieren.<br />

Und hinsichtlich des »Konjunkturpakets<br />

II« der Bundesregierung schließt<br />

sich die NPD natürlich der Kritik an,<br />

dass auch mit diesem Programm keine<br />

wirkliche Entlastung für den Mittelstand<br />

und die Bürger erfolgt. Vor allem<br />

die mit dem Paket verbundene Zumutung<br />

für den Steuerzahler, nun auch die<br />

marode Commerzbank mit Milliarden zu<br />

sanieren, fordert die Empörung heraus.<br />

<strong>Die</strong> Erklärung, eine »wirkliche Steuer-<br />

reform« beziehungsweise die Absenkung<br />

der Mehrwertsteuer zurück auf 16<br />

Prozent wären sinnvoller gewesen, die<br />

derzeitige Unternehmensbesteuerung<br />

vor allem zugunsten des Mittelstandes<br />

hätte nachgebessert werden müssen<br />

(Wirtschaftsredaktion der »Deutschen<br />

Stimme« in der Januar-Ausgabe 2009),<br />

erscheint jedenfalls wiederum nicht <strong>als</strong><br />

originelles NPD-Produkt und verfehlt<br />

auch dieses Mal die beabsichtigte Wirkung.<br />

Spagat zwischen der Forderung nach<br />

Systemveränderung und dem Mühen<br />

um einen verstärkten sozialen Touch<br />

<strong>Die</strong> wiederholte Feststellung, so könne<br />

es nicht bleiben und so könne es nicht<br />

weitergehen, wie sie seit Ausbruch der<br />

weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise<br />

überall bei der NPD zu finden ist,<br />

zwingt natürlich die Partei, ihr Vokabular<br />

zu durchforsten und nach der zugkräftigen<br />

Parole für den Ausweg zu suchen.<br />

Dabei zeigt sich, dass es gar nicht<br />

so leicht ist, ausgehend von der Formel<br />

»Systemwechsel« <strong>als</strong> Phrase jetzt konkreteren<br />

Inhalt hineinzubringen und dabei<br />

noch den Anschein einer Partei für<br />

die kleinen Leute zu wahren. <strong>Die</strong> Suche<br />

gerät unversehens in die erbitterte<br />

Schlammschlacht, die gegenwärtig<br />

um Kurs und Führungspersonen in<br />

der NPD ausgetragen wird. Roßmüller<br />

sucht weiter nach der »nationalen Alternative«,<br />

nach einem NPD-Finanzkonzept,<br />

das die Finanzmärkte regulieren<br />

könnte, Aae belässt es beim Wunsch<br />

nach einem »Paradigmenwechsel« und<br />

der Brandenburger NPD-Landesparteitag<br />

folgte den Floskeln vom Cottbuser<br />

Zasowk, hat von ihm die Parole »Dritter<br />

Weg – raumorientierte Volkswirtschaft<br />

jetzt!« in eine Resolution geschrieben.<br />

Grundsätzlich ist bekannt, dass Udo<br />

Voigt und andere unter dem »dritten<br />

Weg« einen zwischen Kapitalismus und<br />

»internationalen Sozialismus« verstehen<br />

– dass ihnen <strong>als</strong>o ein »nationaler<br />

Sozialismus« vorschwebt. Freilich ist<br />

die Naziforderung nicht nur strafbewehrt,<br />

sondern gegenwärtig auch nicht<br />

massenwirksam an den Mann/die Frau<br />

zu bringen, deshalb braucht man <strong>als</strong>o<br />

diverse Umschreibungen. <strong>Die</strong> NPD<br />

Brandenburg mochte auch aus diesem<br />

Grund nicht zu deutlich werden, beschränkte<br />

sich auf die Erweiterung der<br />

Forderungen nach Verstaatlichung der<br />

Banken, indem sie zusätzlich die Versicherungsgesellschaften<br />

verstaatlichen<br />

will. Außerdem verlangte sie eine nationale<br />

Prüfungskommission, die sich<br />

mit dem Aufbau einer mittelfristigen<br />

(!) Volkswirtschaft zu befassen habe,<br />

über eine Neuorientierung der Zinspoli-<br />

tik bzw. deren Abschaffung und »Ersatz<br />

durch menschenfreundlichere Finanzinstrumente«<br />

nachdenken solle. Den<br />

Widerspruch zwischen »mittelfristig«<br />

und »jetzt« nahm sie dabei nicht sonderlich<br />

ernst.<br />

Jürgen Gansel beobachtet richtig, dass<br />

die politische Klasse in der Bundesrepublik<br />

erkannt hat: »Es muss sich (politisch)<br />

etwas ändern, damit (wirtschaftlich)<br />

alles beim Alten bleibt. Weil die<br />

Deutschen wegen einer Wirtschaftskrise<br />

nie wieder die Systemfrage stellen<br />

sollen, überschlägt sich die etablierte<br />

Politik mit Vorschlägen zu einer<br />

Re-Regulierung des Kapitalmarktes<br />

und zur besseren Kontrolle von Bankvorständen«<br />

(Deutsche Stimme, Dezember<br />

2008). Daraus möchte er den<br />

Spielraum gewinnen, die Forderung der<br />

NPD nach Unterordnung des Finanzkapit<strong>als</strong><br />

unter die Wirtschaftsautorität des<br />

Staates wieder in die Debatte zu bringen<br />

und zwar damit, dass über unterschiedlichste<br />

Eigentumsformen zwischen Privat-<br />

und Gemeinwirtschaft im Rahmen<br />

einer »gemischten Wirtschaftsordnung«<br />

nachgedacht wird, der Begriff des Volksvermögens<br />

eingeworfen und eine neue<br />

»Bankenphilosophie« angestrebt wird.<br />

Man sieht, zu scharf möchte auch er<br />

nicht gleich den »Haien« und »Bossen«<br />

ans Leder. Aber dieses Zögern eben verträgt<br />

sich nicht mit dem radikalen Krawallflügel<br />

in der Neonaziszene, der lieber<br />

mit superrevolutionären Parolen auf<br />

die Straßen zieht, »Nationaler Sozialismus<br />

jetzt!« schreit und Bürgerschreck<br />

mit schwarzen Kapuzen treibt. Oder solche<br />

»autonome Nationalisten«, die auf<br />

ihren Websites wie »Media pro Patria«<br />

fordern: »Steh endlich auf gegen dieses<br />

System, das das Elend unseres Volkes<br />

verwaltet!« Davon grenzt sich Gansel ab<br />

und warnt davor, die Chancen zu verspielen,<br />

die sich jetzt auftun, die bisher<br />

richtungslose antikapitalistische<br />

Sehnsucht breiter Massen in »nationale<br />

Protestbahnen« zu lenken. <strong>Die</strong>se Vereinnahmung<br />

gelinge nur, » wenn die nationale<br />

Solidar- und Gerechtigkeitsbewegung<br />

vernünftig im Ton und zivil im<br />

Auftreten ist und jedes sektiererhafte<br />

oder pubertäre Bürgerschreck-Gehabe<br />

unterlässt. ‚Autonome Nationalisten‘<br />

mit ihrem antifaschistischen Krawall –<br />

Habitus schwächen dabei nur die Position<br />

des nationalen Antikapitalismus, weil<br />

dessen normaldeutsche Adressaten<br />

massiv verschreckt werden.« (Internetseite<br />

der NPD, 3. 1. 2008)<br />

<strong>Die</strong> Bemühungen der Rechtsextremen,<br />

ihre Kapitalismus- und Globalisierungskritik<br />

mit mehr sozialem Touch zu versehen,<br />

sind nicht neu. Sie erlebten<br />

15


mit den Anti-Hartz-Kampagnen einen<br />

deutlichen Aufschwung und zeitweise<br />

konnten sie auch auf diesen Zug aufspringen.<br />

Bestimmte Erfolge bei den<br />

Kommunalwahlen waren aber nur teilweise<br />

dem Image <strong>als</strong> soziale Protestparteien<br />

zuzurechnen. Ähnlich ist es<br />

in der Gegenwart. Natürlich setzt die<br />

NPD weiter auf »Hartz IV muss weg!«,<br />

aber es gelingt ihr nicht, im allgemeinen<br />

Strom der Anklagen gegen die Finanzmarktkrisen<br />

ihr soziales Profil zu<br />

schärfen. So bleibt es beim deklamatorischen<br />

»Stoppt die Finanzhaie –<br />

Schützt die Sparer!« Welche minimalen<br />

Forderungen für die kleinen Leute daraus<br />

erwachsen, haben wir weiter oben<br />

am Beispiel der Losungen zur Verstaatlichung<br />

der Banken gezeigt. Seither ist<br />

nicht viel dazu gekommen, sieht man<br />

von Forderungen nach Preiskontrollen,<br />

Krediten der öffentlichen Hand für<br />

die Versorgung der Haushalte und Hilfe<br />

für einkommensschwache Personen<br />

ab, die inzwischen auch zum Vokabular<br />

in der Regierung und der Fraktionen<br />

im Bundestag gehören. Dass auch der<br />

neue DVU-Vorsitzende Faust die Losung<br />

der Abschaffung von Hartz IV im<br />

Munde führt, macht ihn ebenfalls nicht<br />

interessanter. Kommt doch dahinter<br />

auch nur die Leerformel, man müsse<br />

ein neues Konzept zur Bekämpfung der<br />

Arbeitslosigkeit verlangen.<br />

So bleibt die NPD bei ihrer ebenso stereotypen<br />

wie f<strong>als</strong>chen Formel »Sozial geht<br />

nur national!« Gerade das trifft nicht zu,<br />

wie Dutzende Beispiele jeden Tag bestätigen,<br />

ob es sich um den Zusammenbruch<br />

in der Automobilindustrie oder<br />

beim Chiphersteller Quimonda, um die<br />

Entlassungen bei BASF oder in der Hafenwirtschaft<br />

handelt. In unserer Welt<br />

können soziale Problemlagen von Größenordnungen<br />

nur auf allen Ebenen, lokal,<br />

regional, national und international<br />

angegangen werden. <strong>Die</strong> NPD kommt<br />

nicht aus der Gefangenschaft ihres Nationalismus<br />

und Rassismus heraus. Ihr<br />

einziges »soziales« Rezept bleibt wieder<br />

die Forderung nach »Ausländerstop«<br />

und »Ausländerrückführung«. Aus einer<br />

fremdenfeindlichen Politik der Abschiebung<br />

und ethnischen Segregation soll<br />

die Rettung kommen.<br />

16<br />

Perspektiven und Alternativen<br />

Gerät die extreme Rechte so immer wieder<br />

an den Rand des Geschehens und<br />

nicht wie erhofft ins Zentrum der Aufmerksamkeit,<br />

erfasst sie in ihrer Enttäuschung<br />

und in ihrem eigenen krisengeschüttelten<br />

Dasein dann schließlich<br />

aufs Neue die Lust an der Provokation.<br />

Denn die Auseinandersetzung um Finanz-<br />

und Wirtschaftskrise bedeutet<br />

nicht, dass sie auf die Themen verzichten<br />

würde, mit denen sie es dann doch<br />

in die Spalten der Presse und in die Fernsehbilder<br />

schafft. Und entgegen Gansels<br />

Wünschen sind es eben doch die Krawallnazis,<br />

die mobil machen und Aufmerksamkeit<br />

erheischen. Sie bedienen<br />

den dumpfen Volkszorn mit ihren Rufen<br />

nach der Todesstrafe bei jedem Verbrechen<br />

von Kinderschändern, sie schreiten<br />

zum »Heldengedenken«, provozieren bei<br />

Veranstaltungen zu Ehren der Opfer faschistischer<br />

Judenvernichtung. Nazi Axel<br />

Reitz, ehem<strong>als</strong> selbsternannter Nazi-<br />

Gauführer von Köln, holte schon mal die<br />

Zuchtrute <strong>als</strong> Weihnachtsmann heraus,<br />

um am Heiligabend gegen die Verbote<br />

seiner Hetzveranstaltungen zu protestieren.<br />

Und dass JLO, JN, NPD und die anderen<br />

Gruppierungen der extremen Rechten<br />

aus dem In- und Ausland alljährlich<br />

wieder zum »Trauermarsch« anlässlich<br />

des Tages der Bombardierung Dresdens<br />

1945 rufen, hat schon rituellen Charakter.<br />

Oft genug zeigt sich dabei auch, dass<br />

die »Freien« und »Autonomen«, die sogenannten<br />

»Aktionsbüros« der Neonaziszene,<br />

die zu »biederen« NPD-Leute abhängen,<br />

selber die Führung an sich reißen.<br />

Noch hofft die extreme Rechte auf die<br />

»ganz große« Krise und noch tiefere gesellschaftliche<br />

Erschütterungen. Während<br />

Sascha Roßmüller das ganz dicke<br />

Ende herankommen sieht, rechnet Per<br />

Lennart Aae in der Januar-Ausgabe der<br />

»Deutschen Stimme« schon mal vor,<br />

wann nach dieser Krise die nächste kapitalistische<br />

Krise fällig wird, da diese<br />

Krisen jetzt in immer kürzeren Zeitabständen<br />

ausbrechen. Nach seiner Rechnung<br />

werde das jeweils etwa sieben Jahre<br />

dauern, weshalb er plant, jetzt erst<br />

einmal <strong>als</strong> Wahlkämpfer für die NPD in<br />

die krisengeschüttelte Region Oberlausitz<br />

zu gehen.<br />

Offen bleibt, ob das ganz »dicke Ende«<br />

erst einmal für die NPD <strong>als</strong> Partei<br />

kommt, die jetzt in ihrer eigenen Finanzkrise<br />

nicht nur mit dem Sammeln von<br />

Geldern für die zahlreichen Wahlkämpfe<br />

dieses Jahres sondern auch zur Begleichung<br />

von Strafen beschäftigt ist,<br />

die ihr die finanziellen »Vergehen« ihres<br />

ehemaligen Schatzmeisters Kemna eingebracht<br />

haben. <strong>Die</strong>ser »Experte«, der<br />

wohl bedeutende Summen aus NPD-<br />

Kassen »umgeleitet« hat, kann zumindest<br />

vorläufig die weltweiten Krisen von<br />

seinem Gefängnisfenster aus studieren.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> wird allerdings in der<br />

schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise<br />

seit achtzig Jahren nicht »auf dem<br />

Berg sitzend den Kampf der Tiger im<br />

Tal« – sprich den Streit der verschiedenen<br />

Flügel der extremen Rechten –<br />

teilnahmslos betrachten können. <strong>Die</strong><br />

<strong>Linke</strong> steht nicht nur wegen der bevorstehenden<br />

Wahlen vor gewaltigen Herausforderungen.<br />

Sie sieht nicht nur die<br />

Zahlen und die Unbeholfenheit von Regierungen.<br />

Sie erkennt auch die großen<br />

Gefahren für die Demokratie. Bereits<br />

jetzt geht sie über die Zustandsbeschreibung<br />

und die Analyse von Ursachen<br />

hinaus. Sie zeichnet gleich am<br />

Jahresanfang 2009 Grundlinien für einen<br />

»wirtschaftspolitischen Neuanfang«<br />

vor. Zu diesen gehören Aussagen<br />

zur Stärkung der Binnenwirtschaft, die<br />

mit dem Vorschlag eines Zukunftsinvestitionsprogramms<br />

weit über die Vorstellungen<br />

der Regierung hinausreichen,<br />

die Forderungen nach höheren<br />

Einkommen, mehr Arbeitslosengeld<br />

und höheren Renten. Zu den Forderungen<br />

gehören auch eine Millionärssteuer<br />

und unabdingbar die Übernahme<br />

der Banken in öffentliche Kontrolle und<br />

die Organisierung des Bankgeschäfts<br />

<strong>als</strong> Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge.<br />

Und all das, so beschreibt es der<br />

Bundesausschuss der Partei »<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>«<br />

in seinem Beschluss vom 11. Januar<br />

2009, erfordert eben mehr Demokratie,<br />

auch mehr Wirtschaftsdemokratie, Ausweitung<br />

von Elementen direkter Beteiligung<br />

der Bevölkerung und demokratische<br />

Kontrolle.<br />

Dr. sc. Roland Bach


Finanzkrise und Antifaschismus<br />

Seit einigen Monaten hält die Finanz-<br />

und Wirtschaftskrise die Welt in Atem.<br />

Konferenzen der politisch und ökonomisch<br />

Herrschenden sollen die Krise<br />

einer Lösung zuführen, oder aber einer<br />

solchen Lösung nahe kommen. Jeder<br />

Vernünftige hofft, dass dies gelingt,<br />

denn unübersehbar entstehen mit<br />

der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise<br />

qualitativ neue Gefahren<br />

für die Menschheit, zugleich aber auch<br />

verantwortungsvolle Aufgaben für alle<br />

Antifaschisten: Es muss verhindert<br />

werden, dass – es wäre dies nicht das<br />

erste Mal in der Geschichte – Auswege<br />

aus der Krise in Richtung Krieg und<br />

Faschisierung beschritten werden.<br />

Finanziell-strukturelle Maßnahmen allein<br />

genügen nicht, um das zu bewirken.<br />

Entscheidend sind veränderte<br />

Inhalte des Handelns von Menschen<br />

und Gemeinschaften in der Welt. Unterschiedliche<br />

Wertsetzungen erweisen<br />

erst dann ihren wahren humanen<br />

Wert.<br />

Aus diesem Grunde sind komplexe<br />

Strategien vonnöten, die Politik, Wirtschaft<br />

und Banken gemeinsam verfolgen.<br />

Im Ergebnis der Finanzkrise<br />

scheint diese schwierige Aufgabe in<br />

den Staaten und Regionen differenziert<br />

und ein Stück weit lösbar. Dazu<br />

können die Europäische Union und<br />

Deutschland dank ihres wirtschaftlichen,<br />

politischen und kulturellen Potenti<strong>als</strong><br />

maßgeblich beitragen. Was<br />

folgt daraus für die Überlegungen von<br />

Antifaschisten?<br />

Aristoteles hielt es für vernünftig,<br />

»künstliche« Finanzwirtschaft wieder<br />

durch »natürliches« Wirtschaften<br />

zu ersetzen, aber wahrscheinlich, so<br />

schrieb er, sei es schon zu spät. Heute<br />

zwingt die globale Krise des Finanzsystems,<br />

dies neu zu bedenken und langfristige<br />

Entscheidungen und Strategien<br />

zu finden, die möglichst jeder Person<br />

Sicherheit gewähren und ihr Leben<br />

menschenwürdig wandeln.<br />

Dabei erfüllen Märkte, auch der Finanzmarkt,<br />

eine lebenswichtige Funktion.<br />

Sie zirkulieren das gesellschaftliche<br />

Gesamtprodukt und ermöglichen<br />

dessen erweiterte Reproduktion. Löst<br />

sich finanzieller Gewinn jedoch davon,<br />

wird dieser normale Zyklus in Ländern<br />

und Regionen der Welt empfindlich<br />

gestört. Denn die erweiterte ökonomische<br />

und soziale Reproduktion ist<br />

das Fundament jeder Kulturentwicklung.<br />

Ihre Konflikte erscheinen dann<br />

<strong>als</strong> »Kampf der Kulturen«.<br />

<strong>Die</strong> gegenwärtige Finanzkrise in der<br />

Welt war folglich vorherzusehen. <strong>Die</strong><br />

Freiheit hemmungsloser Hochfinanz<br />

begann die demokratische Ordnung zu<br />

untergraben. Sicherheit und Existenz<br />

offener Gesellschaften wurden leichtfertig<br />

aufs Spiel gesetzt, unverantwortlichen<br />

politischen Folgen zum Trotz.<br />

Deswegen bedürfen Unternehmen der<br />

Realwirtschaft dringend Kredite. Es<br />

geht dabei weniger um das Schicksal<br />

kapitalistischer Unternehmen <strong>als</strong> um<br />

die millionenfachen Schicksale der<br />

dort Arbeitenden. Staatliche Maßnahmen<br />

sollen diesen Geldfluss fördern.<br />

Aber das Verhältnis von Realproduktion,<br />

Banken und Staat muss in der<br />

Welt generell neu geordnet werden.<br />

Veränderte Rechtsbestimmungen und<br />

Finanzstrukturen gewährleisten das<br />

noch nicht, jedenfalls nicht auf Dauer;<br />

auch keine Realproduktion, die lediglich<br />

gewinnorientiert bleibt.<br />

Nötig ist ein inhaltlicher Wandel aller<br />

Strukturen der Geldwirtschaft, die auf<br />

eine menschenwürdige ökonomische<br />

und soziale Reproduktion konzentriert<br />

werden müssten. Banken erfüllen dann<br />

ihren Zweck, wenn sie Investitionen für<br />

die arbeitsteilige Produktion von Gebrauchsgütern<br />

fördern und nicht mehr<br />

offene und strukturelle Gewalt über<br />

Menschen finanzieren. Erst auf diesem<br />

Weg werden Krisen des Weltfinanzsystems<br />

lösbar und neofaschistischen<br />

Gefahren begegnet.<br />

Denn das vielstimmige Rufen nach<br />

dem Staat ist janusköpfig. Starke Banken<br />

treiben Zentralisierung voran, vereinnahmen<br />

Unternehmen und wollen<br />

dafür staatliche Mittel, ohne sich größerem<br />

demokratischen Einfluss auszusetzen.<br />

So geschehen zum Beispiel in<br />

Großbritannien, wo staatliche Beteiligungen<br />

an maroden Kreditinstituten in<br />

Form von stimmrechtslosen Vorzugsaktien<br />

organisiert wurden. Dabei handelt<br />

es sich um Aktien, die dem Eigentümer<br />

zwar bevorzugte Rechte bei der<br />

Verteilung des Gewinns, der Dividende,<br />

gewähren, aber keinen Einfluss auf den<br />

Hauptversammlungen der Aktionäre<br />

ermöglichen. Auf solche Weise ist keine<br />

durchgreifende Initiative der Weltfinanz<br />

zu erkennen, ihre eigene Krise<br />

auch mit eigenen Mitteln zu beheben.<br />

Ferner besteht in der Bevölkerung berechtigter<br />

Vorbehalt gegen zu starke<br />

Eingriffe des Staates in persönliche<br />

Belange. <strong>Die</strong> Menschenschicksale des<br />

20. Jahrhunderts zwingen dazu. Für<br />

eine sichere Zukunft müssen sie neu<br />

durchdacht werden, dann offenbart<br />

sich die Janusköpfigkeit jedes staatsmonopolistischen<br />

Dirigismus. den die<br />

Hochfinanz seit eh und je anstrebt. Sie<br />

erlangte erstm<strong>als</strong> um 1900 volle wirtschaftliche<br />

Souveränität, aber nun benötigte<br />

sie politische und geistig-kulturelle<br />

Macht. Geeignete Personen<br />

und Institutionen fanden sich. <strong>Die</strong> soziale<br />

Evolution erreichte weltweit ihre<br />

staatsmonopolistische Dimension.<br />

Im Ergebnis gelangen sprunghafte wissenschaftlich-technische<br />

Fortschritte.<br />

Unternehmerische Rekordgewinne<br />

wurden erreicht. Dafür stehen Weltkriege,<br />

der rassistische Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

und der Kalte Krieg gegen die<br />

andere Form von Staatsmonopolismus,<br />

den stalinistischen Kommunismus.<br />

Es besteht eine historische Eigendynamik<br />

von Staatsmonopolismen.<br />

Sie verdeutlicht, wie sehr ihnen sowohl<br />

Verbrechen, <strong>als</strong> auch eine gewisse Tendenz<br />

zu Sozialismus innewohnen.<br />

Damit ist die Gefahr staatsmonopolistischer<br />

»Experimente« generell gekennzeichnet.<br />

Ohne demokratische<br />

Selbstkontrolle gebiert jedes Gesellschaftssystem<br />

früher oder später Unmenschliches,<br />

schon durch Betrug<br />

und Administration über Menschenschicksale<br />

hinweg. Finanz-staatliche<br />

Monopolisierung bewirkt deshalb eine<br />

Selbstgefährdung jeder offenen<br />

Gesellschaft. Weiterblickende soziale<br />

Kräfte, auch konservative oder religiöse,<br />

erstreben daher seit Jahrzehnten<br />

ein immer wieder neu ausgewogenes<br />

Verhältnis von Freiheit, Gerechtigkeit<br />

und Solidarität in der Welt.<br />

So ist die aktuelle Krise des Weltfinanzsystems<br />

janusköpfig. Sie birgt Existenzgefährliches<br />

für Menschen und<br />

Gemeinschaften, aber zugleich eine unvergleichliche<br />

historische Chance: Sie<br />

öffnet Wege zu einer kulturellen, friedlichen<br />

Gestaltung der globalen Wirklichkeit<br />

des Menschen, ohne schrankenlose<br />

Herrschaft der Hochfinanz.<br />

Darin besteht der in der Welt heute realisierbare<br />

Schritt zu einer humanen<br />

Balance von Politik, Wirtschaft und<br />

Finanzsystem. Er bedarf der strategisch<br />

lenkenden Hand demokratischer<br />

Staaten und Gemeinschaften. Es liegt<br />

daher im Interesse eines jeden Antifaschismus<br />

im 21. Jahrhundert, nicht nur<br />

früheren Formen finanzoligarchischer<br />

Vorherrschaft zu widerstehen, sondern<br />

auch neue zu vereiteln, die internationale<br />

staatsmonopolistische Kooperation<br />

anstreben.<br />

17


Konkret bedeutet das:<br />

1. Handeln gegen alle faschistoiden Bestrebungen<br />

vor Ort, in Gemeinschaften<br />

und Staaten, besonders wenn sie persönliche<br />

Sicherheit gefährden.<br />

2. Einlenken aller sozialen Kräfte und<br />

Staaten auf die humanen Ziele der<br />

UNO.<br />

3. Gemeinsamer Kurs auf ökonomischökologische<br />

und soziale<br />

18<br />

Reproduktion der Nationen und Nationalitäten.<br />

4. Entsprechende Investitionen der nationalen<br />

und transnationalen<br />

Finanzinstitutionen.<br />

5. Gemeinschaftliche soziale Effektivität<br />

von Wissenschaften und Technologien.<br />

5. Selbstbewusste Identität humaner<br />

Bildung und Kultur in allen Gruppen der<br />

Bevölkerung.<br />

<strong>Die</strong>s sind Brennpunkte globaler<br />

menschlicher Existenz. In ihnen werden<br />

sich die antifaschistischen Initiativen<br />

des 21. Jahrhunderts entwickeln<br />

und den Weg zu einer Ethik des freiwilligen<br />

Handelns für den Anderen bahnen.<br />

Professor Dr. Heinz Engelstädter


Ralf Krämer, Mitglied des BundessprecherInnenrates des Sozialistischen <strong>Linke</strong>n und<br />

der Programmkommission der Partei DIE LINKE, Dezember 2008.Diskussions the se n:<br />

Bankrott des Neoliberalismus – Aufgaben<br />

der LINKEN<br />

1. Krise des Kapitalismus<br />

In der aktuellen Krise verbinden sich<br />

eine Konjunkturkrise und eine Krise<br />

der internationalen Finanzmärkte zur<br />

schwersten kapitalistischen Weltwirtschaftskrise<br />

seit den Jahren ab 1929.<br />

Hintergrund ist der gewaltige Überschuss<br />

an Anlage suchendem Kapital,<br />

der zur Entwicklung gigantischer Spekulationsblasen<br />

führt, die irgendwann<br />

platzen müssen. Gleichzeitig spitzt sich<br />

die weltweite Klimakrise zu. Hunger und<br />

Armut nehmen zu. Das kapitalistische<br />

Wachstumsmodell insgesamt ist der<br />

Krise. Immer mehr Menschen sind skeptisch<br />

und stellen sich die Frage nach Alternativen<br />

zu dem zerstörerischen System<br />

des Kapitalismus, das sie in den<br />

letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt<br />

haben.<br />

Dennoch: <strong>Die</strong> Grundlagen der kapitalistischen<br />

Welt sind stabil und keine<br />

Entwicklungen erkennbar, sie zu überwinden:<br />

das Privateigentum an Produktionsmitteln,<br />

die ökonomischen<br />

Freiheiten des Kapit<strong>als</strong> in seinen verschiedenen<br />

Formen, der bürgerlichdemokratische<br />

Staat, die internationalen<br />

Institutionen des kapitalistischen Weltmarktes<br />

sowie die Europäische Union.<br />

Es verschieben sich Kräfteverhältnisse<br />

und es vollzieht sich ein Übergang zu einer<br />

neue Phase der Entwicklung der kapitalistischen<br />

Welt.<br />

2. Neoliberalismus in der Krise:<br />

Herrschaft ohne Hegemonie<br />

Der ideologische und politische Bankrott<br />

des Neoliberalismus ist offenkundig.<br />

Doch der Neoliberalismus hat sich<br />

tief in den staatlichen Strukturen eingeschrieben<br />

und die kapitalorientierten<br />

Kräfte sitzen weiterhin fest im Sattel<br />

und an den Schalthebeln der Politik.<br />

Der Staat <strong>als</strong> »ideeller Gesamtkapitalist«<br />

wird für die Notrettung des Finanzsystems<br />

eingesetzt.<br />

<strong>Die</strong> Bundesregierung unternimmt weder<br />

auf der internationalen noch auf der nationalen<br />

Ebene ernsthafte Versuche einer<br />

demokratischen Neuordnung der Finanzmärkte.<br />

Auch das vorgelegte so genannten<br />

»Maßnahmenpaket Beschäftigungssicherung<br />

durch Wachstumsstärkung« ist<br />

völlig unzureichend dimensioniert und<br />

soll überwiegend mit Steuer- und Kreditvergünstigungen<br />

Unternehmen fördern<br />

soll. Es ist nur zum kleinen Teil ein wirkliches<br />

Konjunkturprogramm, das drängende<br />

Defizite beseitigt, die Binnennachfrage<br />

und öffentliche Investitionen<br />

ausweitet und Arbeitsplätze schafft.<br />

Stattdessen wird mit der Politik der<br />

Staatsintervention die neoliberale Umverteilungspolitik<br />

von unten nach oben<br />

fortgesetzt.<br />

Dennoch: <strong>Die</strong> Bewusstseinslage weiter<br />

Teile der Bevölkerung und das Klima in<br />

den öffentlichen Diskussionen, die ideologischen<br />

und insoweit auch die politischen<br />

Kräfteverhältnisse sind heute<br />

wesentlich günstiger <strong>als</strong> Anfang des<br />

Jahrzehnts. Auch die neue Partei DIE<br />

LINKE hat die Bedingungen wesentlich<br />

verbessert. Es wird vorherrschend über<br />

Konjunkturprogramme, eine neue Weltfinanzordnung<br />

und einen internationalen<br />

»Green New Deal« diskutiert statt<br />

über Lohnkostensenkung und Sozialabbau.<br />

Jedenfalls bis zur Bundestagswahl<br />

2009.<br />

3. Perspektiven der Krise – autoritäre<br />

Krisenbewältigung<br />

oder sozialer und ökologischer<br />

zweiter »New Deal«?<br />

Wie es weitergeht, ist offen. Mit Schärfe<br />

und Dauer der ökonomischen Krise<br />

werden Arbeitslosigkeit und soziale<br />

Krise sich zuspitzen. <strong>Die</strong> Auseinandersetzungen<br />

werden sich verschärfen,<br />

ein Rückfall in autoritäre Krisenbewältigung<br />

zu Lasten der breiten Schichten<br />

der Bevölkerung ist möglich, aber keineswegs<br />

ausgemacht. Entscheidend ist<br />

der Druck aus den Gewerkschaften und<br />

sozialen Bewegungen sowie den öffentlichen<br />

Diskursen und von der LINKEN.<br />

<strong>Die</strong> Möglichkeiten, demokratische<br />

und soziale und ökologische Alternativen<br />

wirksam einzubringen und<br />

Schritte in diese Richtung durchzusetzen,<br />

sind durch die gegenwärtige Krise<br />

gewachsen. Es geht zunächst um<br />

die ideologische und materielle Auseinandersetzung<br />

für um eine neue, sozial<br />

kontrollierte Regulation des Kapitalismus<br />

der kommenden Zeit. <strong>Die</strong><br />

ökonomischen Spielräume und sogar<br />

Notwendigkeiten für einen anderen<br />

Entwicklungspfad sind gegeben, auch<br />

aus Sicht von Teilen des Kapit<strong>als</strong>. <strong>Die</strong> in<br />

den letzten 25 Jahren wieder deutlich<br />

erhöhten Profitraten ermöglichen eine<br />

neue Phase lohngetriebener Akkumulation,<br />

bei der sinkende Rate durch steigende<br />

Masse des Profits kompensiert<br />

wird. In den USA wird der bisherige<br />

Pfad durch private Verschuldung getriebenen<br />

Wachstums so nicht dauerhaft<br />

fortgeführt werden können. Wenn<br />

die USA aber künftig nicht mehr wie<br />

bisher die weltweiten Waren- und Kapitalüberschüsse<br />

absorbieren können,<br />

müssen die gigantischen Überschüsse<br />

Deutschlands, Japans und Chinas reduziert<br />

werden. <strong>Die</strong>s geht nur mit einer<br />

stärker binnenwirtschaftlich orientierten<br />

Entwicklung, und dies erfordert<br />

eine stärkere Entwicklung der Masseneinkommen<br />

und der öffentlichen Nachfrage<br />

<strong>als</strong> in den vergangenen Dekaden.<br />

Auch die Notwendigkeit einer Umgestaltung<br />

der Energiebasis erkennen<br />

angesichts tendenziell steigender Energiepreise,<br />

problematischer Abhängigkeiten<br />

von ölexportierenden Ländern<br />

und des Klimawandels auch Teile<br />

der herrschenden Klassen in den kapitalistischen<br />

Zentren.<br />

<strong>Die</strong> Chiffre, auf die sich breite Kräfte<br />

für eine Umorientierung der Politik<br />

und einen neuen Entwicklungspfad<br />

beziehen, ist die eines zweiten, sozial-ökologischen<br />

oder grünen »New Deal«.<br />

Also eine neue Phase verstärkter<br />

staatlicher Investitionen, Regulierung<br />

und Mobilisierung von Ressourcen zur<br />

Überwindung der Wirtschaftskrise und<br />

Umsetzung öffentlicher Entwicklungsprojekte<br />

– konkret einer ökologischen<br />

Modernisierung der Infrastruktur und<br />

Produktionstechnologien und der Begrenzung<br />

und Minderung sozialer Spaltungen<br />

und Katastrophen.<br />

Bei einer solchen Entwicklung wären<br />

stärker <strong>als</strong> in der neoliberal geprägten<br />

Phase der letzten Jahrzehnte auch Interessen<br />

der Lohnabhängigen und ihre Organisationen<br />

in die Politik einbezogen.<br />

Aber der Kompromiss bliebe asymmetrisch,<br />

das Kapital bliebe dominant.<br />

Eine solche Perspektive wäre eine neue<br />

Entwicklungsphase des Kapitalismus,<br />

gezeichnet durch die entsprechenden<br />

Widersprüche und Kämpfe, Krisen und<br />

Probleme.<br />

19


<strong>Die</strong> SozialistInnen und DIE LINKE hätten<br />

ein kritisches Verhältnis zu dieser neuen<br />

Entwicklungsphase, hätten unter neuen<br />

Bedingungen die Kämpfe für soziale Interessen<br />

und die sozialistische Überwindung<br />

dieser Gesellschaft zu führen.<br />

Es ist eine Frage der Kräfteverhältnisse,<br />

wie die Reaktion auf die Krise<br />

letztlich aussieht. Und zwar nicht nur in<br />

Deutschland, sondern weltweit. Es wird<br />

dafür eine entscheidende Rolle spielen,<br />

welchen Kurs die neuen Obama-Administration<br />

in den USA einschlagen wird.<br />

In Europa geht die Durchsetzung einer<br />

anderen Politik nur auf dem Wege der<br />

Durchsetzung einer anderen politischen<br />

Orientierung in Deutschland und möglichst<br />

vielen anderen Nation<strong>als</strong>taaten<br />

in Europa. Und das erfordert, die Verantwortung<br />

und Veränderungsmöglichkeiten<br />

der nationalen Politik in den Mittelpunkt<br />

zu stellen.<br />

So lässt sich am wirksamsten Druck<br />

entwickeln, auch für eine andere Politik<br />

im internationalen Rahmen.<br />

4. DIE LINKE: Reformismus und Antikapitalismus<br />

– realistisch und radikal<br />

<strong>Linke</strong>, sozialistische Strategie und Politik,<br />

jedenfalls wenn sie zugleich realistisch<br />

und radikal sein sollen, geht nicht darum,<br />

was man sich gerne wünschen würde,<br />

sondern wie in einer internationalen, gesellschaftlichen<br />

und politischen Situation<br />

möglichst viel an Veränderung im Sinne<br />

linker, sozialistischer Ziele durchgesetzt<br />

und zugleich die Bedingungen für weitergehende<br />

Veränderungen verbessert werden<br />

können. <strong>Die</strong> sozialistische <strong>Linke</strong> und<br />

die Partei DIE LINKE haben dabei besondere<br />

Aufgaben. Immer weiter zu drängen,<br />

aber sich dabei nicht von den realen<br />

Kämpfen zu entfernen, sondern die eigenen<br />

Kräfte darin positiv wirksam zu machen,<br />

auch wenn das, um was es dabei<br />

geht, hinter dem, was letztlich nötig wäre,<br />

weit zurück bleibt.<br />

Marx und Engels haben im Kommunistischen<br />

Manifest die Aufgabe beschrieben:<br />

»Sie stellen keine besonderen Prinzipien<br />

auf, wonach sie die proletarische<br />

Bewegung modeln wollen. … [Sie] unterscheiden<br />

sich … dadurch, dass sie in<br />

den verschiedenen Entwicklungsstufen,<br />

welche der Kampf zwischen Proletariat<br />

und Bourgeoisie durchläuft, stets das<br />

Interesse der Gesamtbewegung vertreten.<br />

[Sie] sind <strong>als</strong>o praktisch der entschiedenste,<br />

immer weiter treibende<br />

Teil der Arbeiterparteien aller Länder.«<br />

»Sie kämpfen für die Erreichung der unmittelbar<br />

vorliegenden Zwecke und Interessen<br />

der Arbeiterklasse, aber sie vertreten<br />

in der gegenwärtigen Bewegung<br />

zugleich die Zukunft der Bewegung.«<br />

20<br />

Eine Haltung, die sich orientierte auf eine<br />

Zuspitzung der Krise des Kapitalismus<br />

und einen daraus resultierenden<br />

unmittelbaren Übergang zum Sozialismus,<br />

wäre illusionär, würde diese Aufgabe<br />

verfehlen und die LINKE isolieren.<br />

Genauso f<strong>als</strong>ch wäre eine Haltung, die<br />

auf die weiter treibende Kritik und die<br />

kämpferische Vertretung der Interessen<br />

der ArbeiterInnenklasse verzichtete und<br />

sich nur noch <strong>als</strong> Teil eines breiten vermeintlichen<br />

rot-rot-grünen Reformlagers<br />

verstünde.<br />

DIE LINKE ist die Partei einer neuen<br />

Entwicklungsstufe der Arbeiterbewegung,<br />

in der die Spaltung nicht verläuft<br />

zwischen Reformismus und Antikapitalismus.<br />

Sondern zwischen eigenständiger<br />

kämpferischer Vertretung der Interessen<br />

der Mehrheit der Bevölkerung<br />

und sozialistischer Ziele oder der Ein-<br />

und Unterordnung dieser Interessen<br />

und Kämpfe unter ein illusorisches klassenübergreifendes<br />

Allgemeininteresse,<br />

dessen Inhalt letztlich im Kern dominiert<br />

wird durch die herrschenden gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse und Interessen<br />

des Kapit<strong>als</strong>.<br />

DIE LINKE muss zugleich reformistisch<br />

und antikapitalistisch sein. Reformistisch<br />

nicht im Sinne einer Beschränkung<br />

der Forderungen und Perspektiven<br />

auf den Rahmen des kapitalistischen Systems<br />

und der Vermeidung des Kampfes<br />

gegen die Herrschaft des Kapit<strong>als</strong>. <strong>Die</strong>se<br />

Art von Reformismus hat in der Unterordnung<br />

der sozialdemokratischen<br />

Parteien unter den Neoliberalismus ein<br />

unrühmliches Ende gefunden. Sondern<br />

im Sinne eines entschiedenen Kampfes<br />

für soziale Reformen und gegen Herrschaftspositionen<br />

des Kapit<strong>als</strong> hier und<br />

jetzt und der Verbindung und Ausrichtung<br />

dieses Kampfes auf die Überwindung<br />

des Kapitalismus und den Aufbau<br />

einer demokratischsozialistischen Gesellschaft.<br />

DIE LINKE muss Menschen zusammenfassen,<br />

die sich <strong>als</strong> links-reformistisch<br />

und die sich <strong>als</strong> revolutionär-sozialistisch<br />

verstehen. Sie muss zugleich Opposition<br />

gegen die Herrschaft und Politik<br />

des Kapit<strong>als</strong> sein und die Fähigkeit<br />

haben, <strong>als</strong> linker Flügel eines zu entwickelnden<br />

gesellschaftlich-politischen<br />

Blocks für einen sozial-ökologischen<br />

Umbau zu wirken. Also die Kräfte der<br />

<strong>Linke</strong>n wirksam zu machen und mit einzubringen<br />

für die Überwindung des Neoliberalismus<br />

und die Durchsetzung<br />

und Linksverschiebung eines »New Deal«.<br />

Es geht darum, die Bedingungen zu<br />

schaffen für einen echten Politikwechsel,<br />

das ist etwas ganz anderes <strong>als</strong> jetzt<br />

auf Rot-Rot-Grün zu setzen. Es geht da-<br />

rum, real-politisch die Macht und Bewegungsmöglichkeiten<br />

des Kapit<strong>als</strong> einzuschränken<br />

– und zugleich die Mängel<br />

und Begrenztheiten einer solchen Politik<br />

zu kritisieren, für eine sozialistische<br />

Perspektive zu argumentieren und Kräfte<br />

und Druck für weitergehende Veränderungen<br />

zu mobilisieren.<br />

<strong>Die</strong> strategischen Aufgaben der <strong>Linke</strong>n<br />

bestehen darin, in den konkreten Kämpfen<br />

zugleich den Kampf um die politischkulturelle<br />

Hegemonie zu führen und zur<br />

Bildung sozialer und politischer Bündnisse<br />

in diesem Sinne beizutragen.<br />

5. Klassenformierung, soziale und<br />

politische Bündnisse bilden<br />

Bei der Betrachtung der Bedingungen<br />

und Möglichkeiten radikaler Reformpolitik<br />

geht es zentral um die Frage der Formierung<br />

der sozialen und politischen<br />

Kräfte gegen den Neoliberalismus und<br />

für Alternativen. Im Kern ist das die Frage<br />

der Klassenformierung und der Einschreibung<br />

politischer Orientierungen<br />

in diesen ständigen Prozess. Da geht es<br />

etwa um massenwirksame ideologische<br />

Auseinandersetzung und um Fragen der<br />

gewerkschaftlichen und politischen<br />

und anderen zivilgesellschaftlichen Organisation<br />

und die realen Kämpfe und<br />

politischen Prozesse und ihre Wirkung<br />

auf die Beteiligten und die gesellschaftlichen<br />

Gruppen und Milieus. Das ist ein<br />

zentraler Punkt, weil er den Kern der politischen<br />

Handlungsmöglichkeiten der<br />

LINKEN betrifft. Auch politische Bildung<br />

und Theorieaneignung und -produktion<br />

ist dabei bedeutsam. Auch die Frage,<br />

was Projekte und Forderungen sind, die<br />

sinnvollerweise mit sozialistischer Perspektive<br />

jetzt betrieben werden sollten,<br />

erschließt sich dann erst wirklich. Weil<br />

ein entscheidendes Kriterium ist dabei<br />

immer, wie sich das auswirkt auf die<br />

Entwicklung von Hegemonie und Kräfteverhältnissen<br />

inkl. Organisationen<br />

und ihre Stärke und Kampfkraft.<br />

Dabei muss DIE LINKE eine aktive Rolle<br />

spielen und sich <strong>als</strong> möglichst starke<br />

Partei breiter, tendenziell klassenbewusster<br />

Teile der Lohnabhängigen und<br />

der gesellschaftlichen <strong>Linke</strong>n entwickeln.<br />

Dabei sind insbesondere bestimmte<br />

Widersprüche in Richtung von<br />

Bündnisbildung zu bearbeiten und programmatisch<br />

wie in der Praxis zu berücksichtigen:<br />

- die sozialen und habituellen und einstellungsmäßigen<br />

Widersprüche zwischen<br />

verschiedenen Teilen der<br />

Arbeiterklasse (im weiten Sinne), insbesondere<br />

zwischen der Masse der abhängig<br />

Beschäftigten und den prekär<br />

Beschäftigten und den Erwerbslosen,


sowie gegenüber prekären oder von<br />

Prekarität bedrohten Selbstständige<br />

und Kleinunternehmern, insbesondere<br />

im Osten;<br />

- die Widersprüche zwischen der »sozialen«<br />

<strong>Linke</strong>n, deren gesellschaftliche<br />

Hauptstruktur die Gewerkschaften<br />

sind, und der sogenannten »kulturellen«<br />

<strong>Linke</strong>n. Oder allgemeiner formuliert<br />

den Teilen der <strong>Linke</strong>n, bei deren<br />

politischer Orientierung nicht die<br />

sozialen Fragen und Interessen der<br />

Lohnabhängigen (ausdrücklich einschließlich<br />

der sozialen Interessen der<br />

großen Mehrheit der Frauen) im Mittelpunkt<br />

stehen, sondern andere politische<br />

Anliegen und kulturelle Einstellungen.<br />

6. Profil und Positionen der LINKEN<br />

Dabei sind ausschlaggebend für die<br />

Stärke der <strong>Linke</strong>n (und speziell der<br />

LINKEN) und die realen kräftemäßigen<br />

Möglichkeiten radikaler Reformen und<br />

sozialistischer Umgestaltungen das soziale<br />

Profil und die Stärke der »sozialen<br />

<strong>Linke</strong>n«. Also dass die soziale Frage klar<br />

und auch populär von links besetzt und<br />

dominiert wird und damit kein Raum für<br />

Rechte gelassen wird. <strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> muss<br />

mithelfen mit kollektiven Kämpfen einen<br />

Pol der Hoffnung und der Solidarität gegen<br />

Verzweiflung, Rassismus und rechte<br />

Ideologien zu schaffen. Das Bewusstsein<br />

der Menschen ist widersprüchlich<br />

und es ist gut und notwendig, wenn dabei<br />

auch viele Menschen auf DIE LINKE<br />

orientiert werden und sie wählen, die dies<br />

trotz und nicht wegen unserer linken<br />

Positionen in anderen Feldern tun.<br />

<strong>Die</strong> weitergehende Aufgabe besteht hier<br />

dann darin, darauf aufbauend auch darüber<br />

hinausgehende linke Orientierungen<br />

zu vermitteln und verankern.<br />

Das linke soziale Profil muss daher immer<br />

im Mittelpunkt der gesellschaftpolitischen<br />

Position und der Wahlkämpfe<br />

der LINKEN stehen. Gesellschaftliche<br />

Emanzipation und sozialistische Perspektive<br />

gibt es nur mit und nie ohne<br />

die Unterstützung der Massen der Lohnabhängigen<br />

und ihrer sozialen Organisa-<br />

tionen, und die gibt es nur auf der Basis<br />

der Vertretung ihrer sozialen Interessen<br />

durch die <strong>Linke</strong>. Dazu gehört neben<br />

sozialpolitischen Alternativen verstärkt<br />

auch eine klare wirtschafts- und finanzpolitische<br />

Alternativposition.<br />

Dazu müssen selbstverständlich klare<br />

Positionen in anderen wichtigen Politi<strong>kb</strong>ereichen<br />

kommen.<br />

Aktuell muss DIE LINKE klare Forderungen<br />

für eine soziale Antikrisenpolitik<br />

formulieren und dafür mobilisieren:<br />

Ein massives Konjunktur- und<br />

Zukunftsinvestitionsprogramm, Millionärssteuer,<br />

Mindestlohn und Kampf<br />

gegen Lohndumping, Rücknahme von<br />

Hartz IV, von Rente mit 67 und Rentenkürzungen,<br />

demokratische Neuordnung<br />

der Finanzmärkte und der Weltwirtschafts-<br />

und Währungsordnung, öffentliche<br />

Kontrolle und Entmachtung der<br />

Banken und Konzerne, öffentliche Hilfen<br />

nur für Eigentumsanteile und mit sozialen<br />

und Beschäftigungsbedingungen,<br />

Stärkung des Sozi<strong>als</strong>taats und des öffentlichen<br />

Sektors statt Privatisierung.<br />

Dafür ist eine andere EU notwendig.<br />

Gleichzeitig sollte DIE LINKE ihre Kritik<br />

des Kapitalismus betonen und ihre<br />

Vorstellung einer demokratisch- sozialistischen<br />

Gesellschaft konkretisieren<br />

und Wege in die Diskussion bringen,<br />

wie eine solche Gesellschaft erreicht<br />

werden kann.<br />

7. Politisches Handeln und<br />

Aktionsorientierung im Super-<br />

Wahlkampfjahr 2009<br />

<strong>Die</strong> LINKE muss sich entwickelnde Abwehrkämpfe<br />

gegen die Auswirkungen<br />

der Krise das Abwälzen der Folgen auf<br />

die Bevölkerung unterstützen. <strong>Die</strong> regierenden<br />

Parteien, insbesondere die SPD,<br />

haben kein Interesse an Abwehrkämpfen<br />

während der Wahlkämpfe.<br />

Es ist zu befürchten, dass die SPD versuchen<br />

wird, gewerkschaftliche Mobili6<br />

sierungen vor den Wahlen zu verhindern<br />

oder klein zu halten. Umso wichtiger ist<br />

es und bietet Chancen, dass DIE LINKE<br />

hier mit klaren Positionen und Forderungen<br />

aktiv ist.<br />

1. DIE LINKE sollte sich dafür einsetzen,<br />

dass gemeinsam mit anderen dezentrale<br />

Aktivitäten und Aktionstage für<br />

eine soziale Politik gegen die Krise<br />

und für einen grundlegenden Politikwechsel<br />

durchgeführt werden. Dazu<br />

gehört eine Aufklärungs-, Schulungs-<br />

und Argumentationskampagne der<br />

LINKEN zur kapitalistischen Krise und<br />

unseren Alternativen, dazu ist geeignetes<br />

Material zu erstellen. <strong>Die</strong> Sozialistische<br />

<strong>Linke</strong> wird ihren Beitrag dazu<br />

leisten. Insbesondere werden wir die<br />

Sommerakademie der Sozialistischen<br />

<strong>Linke</strong>n 2009 zu einem »Krisengipfel«<br />

machen.<br />

2. Weitere gemeinsame Aktivitäten bis<br />

hin zu einer bundesweiten Demonstration,<br />

möglichst in Abstimmung<br />

mit Aktivitäten in anderen europäischen<br />

Ländern oder europäisch gemeinsame<br />

Aktionen, sind mit außerparlamentarischen<br />

Kräften zu<br />

diskutieren und dann umzusetzen.<br />

DIE LINKE sollte sich dafür einsetzen,<br />

dass dazu eine breit angelegte<br />

bundesweite Aktionskonferenz mit<br />

VertreterInnen von Gewerkschaften<br />

und anderen sozialen Bewegungen<br />

und Organisationen sowie kritischen<br />

Wissenschaftlern durchgeführt wird<br />

bzw. sich an entsprechenden Bestrebungen<br />

und Konferenzen aktiv beteiligen.<br />

3. Das bereits bestehende Bündnis gegen<br />

den Nato-Gipfel im April 2009 ist<br />

inhaltlich und in der Mobilisierung zu<br />

unterstützen.<br />

4. Ebenso sind die Bildungsstreiks der<br />

Schülerinnen und Schüler und Studierenden<br />

im Mai/Juni zu unterstützen.<br />

Notwendig sind Bemühungen<br />

um die Bildung breiter Bündnisse und<br />

gemeinsam getragener Aktionen mit<br />

Gewerkschaften, Sozialverbänden,<br />

aktiven Schülerinnen und Schülern<br />

sowie Studierenden und andere Kräften<br />

der sozialen Bewegungen.<br />

5. Fortführung und Einbringen dieser<br />

Aktivitäten in die Wahlkämpfe, deren<br />

wichtigstes Resultat die Stärkung der<br />

LINKEN sein muss.<br />

21


AKTUELLES ZU RECHTSEXTREMISMUS UND<br />

ANTIFASCHISMUS<br />

Konstruktion und Krise der Männlichkeit(en)<br />

in der »Neuen Rechten« – <strong>Die</strong> Wochenzeitung<br />

»Junge Freiheit« der extremen Rechten <strong>als</strong> selbstver-<br />

Obwohl derzeit keine rechtsextreme<br />

Partei Wahlerfolge auf Bundesebene<br />

erringen kann oder gar mehrheitsfähig<br />

wäre, ist Rechtsextremismus ein gesellschaftlich<br />

ernst zu nehmendes Problem.<br />

Insbesondere die so genannte »Neue<br />

Rechte« ist keineswegs so isoliert, wie<br />

es oft erscheint. So sammeln sich hier<br />

neben Rechtsextremen auch Rechtskonservative<br />

und Nationalliberale aus<br />

den großen, etablierten Parteien. <strong>Die</strong><br />

»Neue Rechte« fällt weniger durch rassistisch<br />

oder antisemitisch motivierte<br />

Straftaten auf, sondern findet sich in<br />

intellektuellen Organisationen wie dem<br />

»Institut für Staatspolitik‘«(IfS), in Burschenschaften<br />

zusammen oder gruppiert<br />

sich um ihre zahlreichen Publikationen.<br />

<strong>Die</strong> Wochenzeitung »Junge Freiheit« ist<br />

ohne Zweifel eine der bedeutendsten<br />

Publikationen der »Neuen Rechten« in<br />

Deutschland. Ihre Gefahr für ein auf<br />

Menschenrechte und Gleichheit orientiertes<br />

Zusammenleben von Menschen<br />

in einer pluralistischen Gesellschaft erwächst<br />

aus dem Versuch, Einfluss in der<br />

»Mitte der Gesellschaft« zu erlangen. So<br />

verfolgt die »Junge Freiheit« das Ziel, die<br />

»kulturelle Hegemonie« – gemäß der<br />

Konzeption des italienischen Marxisten<br />

Antonio Gramsci – und innerhalb gesellschaftlicher<br />

Diskurse die Deutungshoheit<br />

zu erobern. »Erst durch die Eroberung<br />

des kulturellen Überbaus, der die<br />

Mentalität und Wertewelt eines Volkes<br />

bestimmt, wird die Basis für den Angriff<br />

auf die eigentlich politische Sphäre geschaffen.«<br />

1 , so Winfrid Knörzer in der<br />

»Jungen Freiheit«.<br />

Während die Rechtsextremismusforschung<br />

etliche Studien hervorbringt,<br />

die sowohl einzelne Organisationen <strong>als</strong><br />

auch grundsätzliche Einstellungsmuster<br />

untersucht, gerät das Geschlecht in<br />

diesem Zusammenhang meist aus dem<br />

Blick. Erst seit den neunziger Jahren beleuchten<br />

feministisch orientierte Rechtsextremismusforscherinnen<br />

wie Birgit<br />

Rommelspacher oder Michaela Köttig<br />

Rolle und Einstellungen von Frauen im<br />

organisierten Rechtsextremismus. Hingegen<br />

gilt die Existenz von Männern in<br />

22<br />

ständlich und wird daher selten diskutiert.<br />

Eine der wenigen Untersuchungen,<br />

die sich mit Männlichkeit im Kontext von<br />

Rechtsextremismus befassen, ist die<br />

Arbeit von Oliver Geden zu »Männlichkeitskonstruktionen<br />

in der Freiheitlichen<br />

Partei Österreichs«. 2 So sind Männlichkeitskonstruktionen<br />

ein wichtiger und<br />

doch oft vergessener konstitutiver Ideologiestrang.<br />

Männlichkeit(en) werden<br />

im Rechtsextremismus – und nicht nur<br />

dort – stets interdependent mit anderen<br />

Kategorien wie Klasse und Ethnizität verknüpft.<br />

Dementsprechend möchte ich<br />

im Folgenden die verschiedenen Stränge<br />

der Männlichkeitskonstruktion sowie<br />

die Inszenierung von Männlichkeit(en)<br />

in der »Neuen Rechten« zunächst allgemein<br />

und im folgenden am Beispiel der<br />

‚Jungen Freiheit‘ analysieren. Es stellt<br />

sich die Frage: Wie wird Männlichkeit<br />

diskursiviert?<br />

Trotzdem kann nicht von einer »rechtsextremen<br />

Männlichkeit« gesprochen<br />

werden. Sowohl Konstruktion <strong>als</strong> auch<br />

»Krise der Männlichkeit« sind gesellschaftlich<br />

relevant. Sie konstituieren<br />

das soziale Leben und vergeschlechtlichen<br />

es. <strong>Die</strong> Thematisierung von<br />

Männlichkeit durch die »Neue Rechte«<br />

in der »Jungen Freiheit« ist daher nicht<br />

<strong>als</strong> isoliert, sondern im Kontext der gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse, in denen<br />

sich immer neue Männlichkeiten ausformen<br />

und männliche Dominanz zunehmend<br />

delegitimiert wird, zu betrachten.<br />

<strong>Die</strong> Wochenzeitung »Junge Freiheit«<br />

<strong>als</strong> Organ der »Neuen Rechten«<br />

<strong>Die</strong> Geschichte der »Jungen Freiheit«<br />

Als im Juni 1986 die erste Ausgabe der<br />

»Jungen Freiheit« mit einer Auflage von<br />

400 Exemplaren <strong>als</strong> Publikation der Jugendorganisation<br />

der »Freiheitlichen<br />

Volkspartei« erscheint, weiß noch niemand,<br />

welche Bedeutung die Zeitung<br />

für die »Neue Rechte« in der Bundesrepublik<br />

Deutschland erlangen soll. Seit<br />

1990 im gesamten Bundesgebiet im<br />

Zeitschriftenhandel erhältlich, erreicht<br />

sie eine Auflage von bis zu 35.000 Exemplaren<br />

im Jahr 1991.<br />

<strong>Die</strong> im Sommer 1990 gegründete »Junge<br />

Freiheit Verlag GmbH« wird 1994 in<br />

eine Kommanditgesellschaft umgewandelt,<br />

an der Chefredakteur <strong>Die</strong>ter Stein<br />

bald 71 Prozent der Anteile hält. Neben<br />

der »Junge Freiheit Verlag GmbH<br />

& Co.« schart sich in dem bereits 1988<br />

gegründeten und 1991 umbenannten<br />

gemeinnützigen »Verein zur Förderung<br />

der Toleranz auf dem Gebiet des Völkerverständigungsgedankens<br />

bei allen<br />

Deutschen Unitas Germanica e.V.« ein<br />

Kreis von Unterstützer/innen. Der Verein<br />

macht 1991 unter anderem mit einer<br />

Kampagne »Freiheit für Königsberg‘« auf<br />

sich aufmerksam.<br />

Nach einem geschichtsrevisionistischen<br />

Artikel von Armin Mohler entbrennt ein<br />

Richtungsstreit in der ‚Jungen Freiheit‘,<br />

in dessen Folge der heutige NPD-Politiker<br />

und ehemalige Gymnasiallehrer Andreas<br />

Molau sowie Götz Meidinger, bis<br />

dahin Geschäftsführer des Fördervereins,<br />

aus der Redaktion geworfen werden.<br />

Während die ‚Junge Freiheit‘ ihren Redaktionssitz<br />

1995 in das wiedervereinigte<br />

Berlin verlegt, erscheint »in Österreich<br />

(…) eine eigene Ausgabe der JF unter<br />

Leitung des FPÖ-Politikers und Publizisten<br />

Andreas Mölzer« 3 .<br />

Im Jahr 1996 sucht die »Junge Freiheit«<br />

erstmalig die juristische Auseinandersetzung<br />

mit der Verfassungsschutzbehörde<br />

des Bundeslandes Nordrhein-<br />

Westfalen. <strong>Die</strong> Verfassungsschutzämter<br />

von Nordrhein-Westfalen und Baden-<br />

Württemberg erwähnen zu dieser Zeit<br />

die Wochenzeitung in ihren jährlichen<br />

Verfassungsschutzberichten und attestieren<br />

ihr eine Nähe zum Rechtsextremismus.<br />

Nachdem die »Junge Freiheit«<br />

vor Gericht zunächst scheitert, gibt das<br />

Bundesverfassungsgericht der Klage im<br />

Mai 2005 statt. Seitdem darf die Zeitung<br />

nicht mehr in den Verfassungsschutzberichten<br />

genannt werden. Trotzdem fühlt<br />

sie sich stetig diskriminiert: So wendet<br />

sie sich 2001 mit einem »Appell für die<br />

Pressefreiheit« gegen die Kündigung ihrer<br />

Konten bei der Postbank und opponiert<br />

2006 gegen ihren Ausschluss von<br />

der Leipziger Buchmesse. Heute hat die


wöchentlich erscheinende »Junge Freiheit«<br />

nach eigenen Angaben eine Auflage<br />

von 18.500 Exemplaren. Nach realistischen<br />

Einschätzungen liegt die<br />

Auflage aber sehr viel niedriger, nämlich<br />

bei 10.000 bis 12.000. 4<br />

<strong>Die</strong> Ideologie der »Jungen Freiheit«<br />

Als eines der bedeutendsten Blätter der<br />

intellektuellen »Neuen Rechten« bewegt<br />

sich die »Junge Freiheit« in »Grauzonen<br />

zwischen klar verfassungsfeindlichem<br />

Rechtsextremismus und im Sinne der<br />

freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung<br />

(FDGO) grenzwertigem Rechtsradikalismus«<br />

5 . So wird der Zeitung<br />

die Aufgabe der Vermittlerin zwischen<br />

einem demokratischen Konservativismus<br />

und einem anti-demokratischen<br />

Rechtsextremismus zuteil. Bei dieser<br />

Gegenüberstellung ist jedoch anzumerken,<br />

dass die Grenzen zwischen einem<br />

sich demokratisch gebenden Konservativismus<br />

und dem Rechtsextremismus<br />

durchaus fließend sind. 6<br />

<strong>Die</strong> »Junge Freiheit« sieht sich in der Tradition<br />

der so genannten Konservativen<br />

Revolution, die sich in den zwanziger<br />

Jahren des letzten Jahrhunderts aus der<br />

strikten Ablehnung der Weimarer Republik<br />

manifestierte. Aufgrund der Delegitimierung<br />

des Nation<strong>als</strong>ozialismus nach<br />

1945 wurde ein Rekurs auf die weniger<br />

NS-belastet scheinende »Konservative<br />

Revolution« nötig.<br />

So arbeitet die »Junge Freiheit« an der<br />

»Wiederbelebung der konservativ-revolutionären<br />

Ideen (…), denen (…) nicht<br />

das Stigma des Nation<strong>als</strong>ozialismus anhaftete«<br />

7 . Nichtsdestotrotz gelten die<br />

Vertreter/innen der »Konservativen Revolution«<br />

heute <strong>als</strong> »ideologische Wegbereiter<br />

des Nation<strong>als</strong>ozialismus« 8 . Hier<br />

wird deutlich, dass die Bezeichnung<br />

»Neue Rechte« zu kurz greift: »Einerseits<br />

distanziert sich auch die JF von<br />

der Alten Rechten, sofern diese einer<br />

Rehabilitation des Hitlerfaschismus huldigt,<br />

andererseits begibt die sich jung<br />

und modern gebende Wochenzeitung<br />

für Politik und Kultur, mit ihrem Rekurs<br />

auf die so genannte ›Konservative Revolution‹,<br />

eine heterogene ideologische<br />

Strömung der Weimarer Republik von<br />

rechtsintellektuellen, präfaschistischen<br />

Zirkeln und Denkern, in eine 200 Jahre<br />

alte völkisch-nationalistische Tradition.<br />

In diesem Sinne ist die JF eher ein Projekt<br />

einer ›jungen Alten Rechten‹«. 9<br />

<strong>Die</strong> Vertreter/innen der »Konservativen<br />

Revolution« unterteilen sich in zwei Flügel:<br />

Dabei beruft sich der in der »Jungen<br />

Freiheit« hegemoniale jungkonservative<br />

Flügel unter anderem auf die Theoretiker<br />

Arthur Moeller van den Bruck und<br />

Edgar Julius Jung. Jung forderte eine hierarchische<br />

Gesellschaft mit einem Führer<br />

statt demokratischer Wahlen. Liberalismus<br />

und Menschenrechte lehnte er<br />

ab, da diese angeblich »zum Kampfe aller<br />

gegen alle, zum Zerfall des Ganzen« 10<br />

führen würden. Als weniger anschlussfähig<br />

ins bürgerliche Lager gilt die nationalrevolutionäre<br />

Strömung der »Konservativen<br />

Revolution«. Begründet unter<br />

anderem durch das Grundsatzpapier<br />

der »Aktion Neue Rechte« (ANR), von<br />

Henning Eichberg 1972 verfasst, verbindet<br />

der nationalrevolutionäre Flügel<br />

antiegalitäre mit sozialistisch-revolutionären<br />

Ideen. Heute beruft sich die »Nationaldemokratische<br />

Partei Deutschlands«<br />

(NPD) auf diese Strömung. Durch<br />

das Aufgreifen der »Sozialen Frage« sowie<br />

originär von links besetzter Themen<br />

verfolgt besonders dieser nationalrevolutionäre<br />

Flügel eine »Querfront‘-Strategie«<br />

11 und versucht somit eine intellektuelle<br />

»nationale <strong>Linke</strong>« zu etablieren.<br />

So konnte die »Junge Freiheit« mehrfach<br />

Personen <strong>als</strong> Interviewpartner/innen<br />

oder Autor/innen für sich gewinnen, die<br />

sich eigentlich <strong>als</strong> links verstehen oder<br />

aus der <strong>Linke</strong>n kommen. Eines der bekanntesten<br />

Beispiele hierfür ist der Politiker<br />

der Grünen und ehemalige Anführer<br />

der Studentenrevolte in Paris 1968,<br />

Daniel Cohn-Bendit.<br />

<strong>Die</strong> »Neue Rechte« fordert die Abkehr<br />

von Postmaterialismus, Liberalismus,<br />

Parlamentarismus und demokratischem<br />

Pluralismus. Stattdessen wird eine völkisch<br />

homogene Nation mit einem<br />

starken Staat propagiert. So habe jedes<br />

Volk Anspruch auf ein eigenes Territorium.<br />

Gleichzeitig sei Expansion, <strong>als</strong>o<br />

die Eroberung fremder Gebiete durch<br />

Kriege, völlig natürlich. Eine Naturalisierung<br />

des Volkes findet auch durch die<br />

Einführung des Begriffes »Volkskörper«<br />

statt. In der »Jungen Freiheit« vertreten<br />

einzelne Autor/innen ebenso einen Bio-<br />

Regionalismus, mit dem völkische Ideologeme<br />

in ökologische Diskurse aus der<br />

Alternativ-Bewegung und esoterischen<br />

Kreisen eingebettet werden sollen.<br />

Eines der wichtigsten rechtsextremen<br />

Ideologieelemente, das in der »Jungen<br />

Freiheit« Publizität findet, ist der Rassismus.<br />

<strong>Die</strong> Autor/innen der ‚Jungen<br />

Freiheit‘ bevorzugen das völkische Abstammungsrecht<br />

»ius sanguinis« (lat.:<br />

Recht des Blutes) und lehnen die Idee<br />

der »multikulturellen Gesellschaft« <strong>als</strong><br />

widernatürlich ab. Einen offen biologistisch<br />

argumentierenden Rassismus<br />

wird man in der »Jungen Freiheit« dennoch<br />

nur selten finden. So tarnt er sich<br />

gelegentlich <strong>als</strong> Wohlstandschauvinismus,<br />

der Glauben macht, es drohe eine<br />

»Einwanderungsflut« aus den Ländern<br />

der so genannten »Dritten Welt«, die den<br />

eigenen Reichtum gefährde. Statt eines<br />

biologisierenden Rassismus favorisiert<br />

die »Junge Freiheit« eine kulturalisierende<br />

Variante, die sich nicht mehr auf angebliche<br />

»Rassen« beruft, sondern die<br />

Kultur <strong>als</strong> das Ethnien trennende Element<br />

benennt.<br />

Einer der bedeutendsten Theoretiker<br />

dieses Ethnopluralismus ist der französische<br />

Rechtsextremist Alain de Benoist,<br />

der selbst regelmäßiger Autor der<br />

»Jungen Freiheit« ist. De Benoist geht<br />

zwar durchaus davon aus, dass es »Rassen«<br />

gebe, spricht ihnen aber das hierachisierende<br />

Element ab. Vielmehr beruft<br />

er sich auf die »natürliche Differenz der<br />

Identitäten« 12 . Anders <strong>als</strong> viele Vertreter/innen<br />

der »Neuen Rechten« erkennt<br />

de Benoist die Realität »multikultureller<br />

Gesellschaften« an, fordert jedoch die<br />

strikte Trennung der Kulturen und Identitäten<br />

und strebt somit ein segregierendes<br />

Apartheidsmodell an. Ein anderer<br />

»Junge Freiheit‘«-Autor erklärt: »Weit<br />

entfernt davon, tolerant zu sein, ist die<br />

Forderung einer multikulturellen Gesellschaft<br />

vielmehr eine Herabwürdigung<br />

des Menschen <strong>als</strong> Ideenträger, denn die<br />

Kultur ist kein Gemischtwarenladen.« 13<br />

Ein ungebrochen positiver Bezug auf die<br />

deutsche Geschichte ist aufgrund der<br />

Verbrechen des Nation<strong>als</strong>ozialismus unmöglich<br />

und so gilt: »Wer, wie die JF, von<br />

einem starken (totalen) Staat, der neuen<br />

Volksgemeinschaft, einer expansiven<br />

Außenpolitik, einer schlagkräftigen Armee<br />

und einer glorreichen Vergangenheit<br />

träumt, wer gleichzeitig Liberalismus, Pazifismus<br />

und multikulturelle Gesellschaft<br />

verdammt, der wird zwangsläufig von<br />

der jüngeren deutschen Geschichte eingeholt.«<br />

14 So ist der ‚Neuen Rechten‘<br />

ein Geschichtsrevisionismus immanent,<br />

der in der Relativierung und Negierung<br />

der nation<strong>als</strong>ozialistischen Verbrechen<br />

bis hin zur Holocaust-Leugnung mündet.<br />

<strong>Die</strong> Kriegsschuld des NS-Regimes<br />

wird in Frage gestellt. Folglich wird die<br />

Niederlage des NS-Regimes auch nicht<br />

<strong>als</strong> Befreiung, sondern <strong>als</strong> »Untergang«<br />

gesehen. Logischer Schluss dieses .Geschichtsbildes<br />

und des völkischen Nationalismus<br />

ist die revanchistische Forderung<br />

nach Rückgabe der ehemaligen<br />

deutschen Gebiete. Gerade hier bieten<br />

sich Anknüpfungspunkte zwischen<br />

rechtsextremem und konservativem Lager<br />

und so äußern sich auch Vertreter/<br />

innen der beiden christdemokratischen<br />

Parteien zu der Thematik in der »Jungen<br />

Freiheit«.<br />

Mit der Rückforderung ehem<strong>als</strong> deutscher<br />

Territorien geht ein Bild von einem<br />

23


Deutschland <strong>als</strong> Zentrum Mitteleuropas<br />

einher, mit dem man sich vom Westen<br />

abgrenzen will. Man strebt eine eigenständige<br />

Außenpolitik unabhängig von<br />

NATO und »Europäischer Union‘« an<br />

und wünscht sich letztlich eine völlige<br />

Neuordnung Europas. Es solle ein »pangermanisches<br />

Reich« entstehen, das<br />

sich über ganz Mitteleuropa erstreckt.<br />

So erfüllen die revanchistischen Bestrebungen<br />

in der Hauptsache den Zweck,<br />

die Staaten, über deren Gebiete man Ansprüche<br />

erhebt, beispielsweise Tschechien<br />

und Polen, zu destabilisieren.<br />

Jahrelang wurde die »Neue Rechte« und<br />

damit auch ihr wichtigstes Mitteilungsorgan<br />

»Junge Freiheit« von Politik, Medien<br />

und der demokratisch orientierten<br />

Zivilgesellschaft ignoriert beziehungsweise<br />

unterschätzt. Der »Jungen Freiheit«<br />

wurden intellektuelle Fähigkeiten<br />

abgesprochen. Man zweifelte ihre Anschlussfähigkeit<br />

an die »Mitte der Gesellschaft«<br />

an. Dabei gelingt es dem<br />

Blatt trotz oft eindeutig rechtsextremer<br />

Inhalte beispielsweise »durch Interviews<br />

mit Prominenten Reputierlichkeiten herzustellen<br />

und damit auch von Christdemokraten<br />

akzeptiert zu werden« 15 . So<br />

konnte die neurechte Wochenzeitung<br />

mehrfach Personen für Interviews gewinnen,<br />

die eine Nähe zu Rechtsextremismus<br />

oder der »Neuen Rechten« weit<br />

von sich weisen würden. Während <strong>als</strong>o<br />

andere Publikationen wie »Nation & Europa«<br />

oder »Criticón« vornehmlich innerhalb<br />

der »Neuen Rechten« wirken und<br />

ihr ein theoretisches Fundament bieten,<br />

versucht die »Junge Freiheit« Breitenwirkung<br />

weit über den Kreis dieser »Neuen<br />

Rechten« hinaus zu erlangen und auch<br />

das christlich-konservative sowie nationalliberale<br />

Umfeld zu erreichen.<br />

Protagonist/innen und<br />

Leser/innen der »Jungen Freiheit«<br />

In der rechtsextremen Publizistik schart<br />

sich ein Autor/innenstamm, der verhältnismäßig<br />

wenig fluktuiert. Trotz einer<br />

ansehnlichen Anzahl von Zeitschriften<br />

finden sich immer die selben Namen<br />

wieder. »Ultrarechte Publizisten nutzen<br />

die ›Zentralorgane‹ gern, um ihre eigene<br />

Bekanntnheit und damit auch ihren<br />

Einfluss zu erhöhen.« 16 Nicht so in der<br />

»Jungen Freiheit«: Zum Einen versucht<br />

die Zeitung, »ein eigenes Redaktionsteam<br />

aus noch unbekannten, in der Regel<br />

sehr jungen Mitarbeitern aufzubauen«<br />

17 Zum Anderen wird eine allzu große<br />

Nähe zu »vorbelasteten« Autor/innen<br />

vermieden.<br />

In der »Jungen Freiheit« finden sich<br />

kaum weibliche Redakteure. <strong>Die</strong> meisten<br />

der Redakteur/innen sind jung<br />

24<br />

und in den 60er Jahren des vorangegangenen<br />

Jahrhunderts geboren. Einige<br />

Redakteur/innen sind beziehungsweise<br />

waren Mitglieder in rechtsextremen<br />

Parteien wie zum Beispiel der derzeit<br />

in der Bedeutungslosigkeit versinkenden<br />

Partei »<strong>Die</strong> Republikaner« (REP).<br />

Andere lassen sich im rechten Flügel<br />

der »Christlich-Demokratischen Union<br />

Deutschlands« (CDU) verorten. Ein nicht<br />

geringer Teil der männlichen Redakteure<br />

war früher in einer Studentenverbindung<br />

aktiv. Besonderes Augenmerk gilt<br />

hier den oft rechtsextremen Burschenschaften<br />

des Dachverbandes »Deutsche<br />

Burschenschaft« (DB). Einige Redaktionsmitglieder<br />

wiederum fühlen sich<br />

den Vertriebenenverbänden verbunden<br />

oder sind dem nationalrevolutionären<br />

Spektrum zuzuordnen. Michael Paulwitz,<br />

seit einigen Jahren regelmäßiger<br />

Autor der «Jungen Freiheit«, gehörte in<br />

der Vergangenheit dem rechtsextremen<br />

»Witikobund« an und war Mitglied in der<br />

Burschenschaft »Danubia« in München.<br />

Es ist davon auszugehen, dass die Leser/innenschaft<br />

<strong>als</strong> ebenso heterogen<br />

eingeschätzt werden kann. Nach Felix<br />

Krebs liegt das Durchschnittsalter der<br />

Leser/innenschaft der »Jungen Freiheit«<br />

bei 33 Jahren.<br />

»Der durchschnittliche JF-Leser ist jung,<br />

männlich, verheiratet und studiert.« 18<br />

Essentieller Bestandteil der Strukturen<br />

der »Jungen Freiheit« sind die JF-Leserkreise,<br />

die in mehr oder weniger regelmäßigen<br />

Abständen Diskussionsabende<br />

mit bekannten Rechtsextremen abhalten.<br />

Aufgrund der teilweise allzu offensichtlichen<br />

Nähe dieser Leserkreise<br />

zum Rechtsextremismus musste sich<br />

die »Junge Freiheit« vor kurzem von diesen<br />

distanzieren.<br />

Männlichkeit(en) in der Forschung<br />

Hegemoniale Männlichkeit<br />

Nach Raewyn Connell, einer transsexuellen<br />

australischen Soziologin, die zuvor<br />

Robert W. Connell hieß, existieren in<br />

menschlichen Gesellschaften verschiedene<br />

Formen von Männlichkeit. Es gäbe<br />

keine »männliche Uniformität« 19 , wie<br />

Michael Meuser im Rückgriff auf Connell<br />

feststellt. Vielmehr kann von »einer<br />

Hierarchie von Autoritäten innerhalb<br />

der dominanten Genusgruppe« 20<br />

ausgegangen werden. Erneut Meuser:<br />

»<strong>Die</strong> homosoziale Männergemeinschaft<br />

agiert gleichsam <strong>als</strong> Konstruktion<br />

der hierarchisch strukturierten<br />

Geschlechterdifferenz und produziert<br />

im gleichen Zuge Hierarchien der Männer<br />

untereinander.« 21 Einer so genannten<br />

hegemonialen Männlichkeit werden<br />

untergeordnete – <strong>als</strong>o homosexuelle –,<br />

marginalisierte – beispielsweise migrantische<br />

oder »schwarze« – sowie komplizenhafte<br />

Männlichkeiten gegenübergestellt.<br />

So konstituiert sich hegemoniale<br />

Männlichkeit nicht nur in Relation zu<br />

Frauen, sondern gleichermaßen im Verhältnis<br />

zu anderen Formen von Männlichkeit:<br />

»Hegemonic Masculinity is always<br />

constructed in relation to various<br />

subordinated masculinities as well as in<br />

relation to women.«. 22<br />

Dabei wird das Konzept der hegemonialen<br />

Männlichkeit nicht <strong>als</strong> individuelle<br />

Eigenschaft, sondern <strong>als</strong> Resultat sozialen<br />

Handelns, des »Doing Masculinity«,<br />

verstanden. <strong>Die</strong> hegemoniale Männlichkeit<br />

dient der Aufrechterhaltung der<br />

gegebenen Geschlechterordnung sowie<br />

der Reproduktion der Machtrelationen.<br />

»Hegemoniale Praxis wird durch die soziale<br />

Praxis der gesellschaftlichen Elite<br />

bzw. gesellschaftlicher Eliten definiert,<br />

<strong>als</strong>o durch die Praxis einer zahlenmäßigen<br />

Minderheit der Bevölkerung(…).« 23<br />

Hierbei wird der Hegemonie-Begriff des<br />

italienischen Marxisten Antonio Gramsci<br />

angewandt: Demnach sei Hegemonie<br />

die Fähigkeit, eigene Interessen <strong>als</strong> gesellschaftliche<br />

Allgemeininteressen zu<br />

definieren und umzusetzen. Ohne politische<br />

und kulturelle Macht sowie ökonomische<br />

Teilhabe, erlangt man auch keine<br />

Hegemonie: »Hegemoniale Männlichkeit<br />

ist an gesellschaftliche Macht und Herrschaft<br />

gebunden.« 24 Zwar kann die hegemoniale<br />

Männlichkeit nur von wenigen<br />

verkörpert werden; trotzdem hat sie<br />

normativen Charakter und findet so etliche<br />

Unterstützer. <strong>Die</strong> komplizenhafte<br />

Männlichkeit strebt so nach einer Teilhabe<br />

an der hegemonialen Männlichkeit.<br />

Auch »die ernsten Spiele des Wettbewerbs«<br />

25 , die Männer untereinander austragen,<br />

dienen keineswegs der Trennung<br />

der Männer, sondern vielmehr der Vergemeinschaftung:<br />

»Wettbewerb und Solidarität<br />

gehören untrennbar zusammen.« 26<br />

<strong>Die</strong> Kategorien Ethnizität und Männlichkeit<br />

sind vielfältig verschränkt, zum Beispiel<br />

im Verhältnis zwischen marginalisierter<br />

und hegemonialer Männlichkeit.<br />

Obwohl marginalisierte Männlichkeiten<br />

in ihrem Habitus nach Hegemonie streben,<br />

werden sie den »Standards der Perfomanz<br />

hegemonialer Männlichkeit« 27<br />

der so genannten Mehrheitsgesellschaft<br />

nicht gerecht. Das »generative Prinzip«<br />

ist beiden jedoch gleich. 28 So kann<br />

ein Mann gleichzeitig innerhalb der eigenen<br />

Statusgruppe – zum Beispiel<br />

die türkischsprachige »Community« in<br />

Deutschland – die hegemoniale Männlichkeit<br />

verkörpern, während außerhalb<br />

dieser Gruppe eine subordinierte Position<br />

einnimmt.


Connell geht davon aus, dass hegemoniale<br />

Männlichkeit nicht statisch, sondern<br />

veränderbar sei, da sie sich durch soziales<br />

Handeln manifestiert. Von einer<br />

»Pluralisierung hegemonialer Männlichkeiten«<br />

29 in modernen Gesellschaften<br />

spricht gar Meuser. Trotzdem gebe es<br />

keine beliebige Anzahl solcher hegemonialen<br />

Männlichkeiten und nicht jede soziale<br />

Gruppe bildet eine entsprechende<br />

Männlichkeit aus.<br />

Mithilfe des Konzepts der hegemonialen<br />

Männlichkeit von Connell kann gezeigt<br />

werden, dass die »Neue Rechte« einer<br />

hegemonialen Männlichkeit zugerechnet<br />

werden muss beziehungsweise nach<br />

einer solchen strebt.<br />

»Krise der Männlichkeit«<br />

<strong>Die</strong> »Neue Rechte« bemängelt, Männlichkeit<br />

sei in der postmodernen Demokratie<br />

von Dekadenz und Überfluss<br />

bedroht. Egoismus und Drang zu<br />

Selbstverwirklichung würden zu Geschichtsvergessenheit<br />

führen und jegliches<br />

nationale Zusammengehörigkeitsgefühl<br />

zerstören: »Selbstverwirklichung<br />

<strong>als</strong> Chiffre für Konsum, Spaß und Geschichtsvergessenheit<br />

wird darin zum<br />

antinationalen Prinzip.« 30 Soldatische<br />

Tugenden wie Selbstbeherrschung, Disziplin,<br />

Kontrolle und Härte seien durch<br />

Pflichtvergessenheit und Nachgiebigkeit<br />

bedroht. Es scheint, <strong>als</strong> befände sich<br />

Männlichkeit in der »Neuen Rechten« in<br />

einer permanenten Krise.<br />

<strong>Die</strong> plakative Umschreibung »Krise der<br />

Männlichkeit« trifft Connell zufolge gar<br />

nicht zu, schließlich ist Männlichkeit<br />

kein System, sondern eine Konfiguration,<br />

die durch soziale Praxis hergestellt<br />

wird. Männlichkeit wird jedoch stetig<br />

erschüttert und transformiert. Statt von<br />

einer »Krise der Männlichkeit« kann von<br />

einer Krise der modernen Geschlechterordnung<br />

geredet werden. »Eine solche<br />

Krisentendenz wird immer auch Auswirkungen<br />

auf die Männlichkeiten haben.«<br />

31<br />

<strong>Die</strong> Geschlechterordnung konstituiert<br />

sich auf verschiedenen strukturellen<br />

Ebenen, die untersucht werden müssen,<br />

will man die Krisenanfälligkeit näher<br />

beleuchten: Auf der Ebene der<br />

Machtbeziehungen entstehen »Konflikte<br />

um Legitmationsstrategien« 32 zwischen<br />

Männern, infolge des Zusammenbruchs<br />

der »Legitimation der patriarchalischen<br />

Macht« 33 . Auch die Produktionsbeziehungen<br />

sind bis heute patriarchalisch<br />

organisiert. Connell spricht an anderer<br />

Stelle auch von der »Logik des vergeschlechtlichtenAkkumulationsprozesses<br />

im industriellen Kapitalismus« 34 .<br />

Als »Alternaive innerhalb des heterose-<br />

xuellen Systems« 35 etabliert sich zunehmend<br />

Homosexualität auf der Ebene der<br />

emotionalen Bindungsstrukturen:<br />

»<strong>Die</strong> enorme Zunahme tatsächlicher<br />

Macht von Männern in den Industrienationen<br />

brachte(…)auch eine zunehmende<br />

Krisenanfälligkeit der Geschlechterordnung<br />

mit sich.« 36 <strong>Die</strong> Krisenanfälligkeit<br />

des Geschlechterarrangements findet<br />

inzwischen bei mehr und mehr Männern<br />

in den westlichen Industrienationen<br />

Aufmerksamkeit, so Connell. Viele<br />

Männer hätten »das offensichtlich weit<br />

verbreitete Gefühl unkontrollierter Veränderungen<br />

und Erschütterungen des<br />

Geschlechterverhältnisses« 37 Eine stabile<br />

legitimierte Männlichkeit wird nicht<br />

oder nur implizit benannt. Sobald sich<br />

die Geschlechterordnung aber in der<br />

Krise befindet, findet eine Thematisierung<br />

von Männlichkeit(en) statt. Bisher<br />

allerdings bildeten Männer keine Interessengemeinschaft,<br />

um bestimmte<br />

Ziele durchzusetzen, so Connell, der<br />

gleichzeitig konstatiert: »Aber soweit diese<br />

Männer ein gemeinsames Interesse<br />

teilen, <strong>als</strong> Folge der ungerechten Verteilung<br />

der Ressourcen in der Welt, aber<br />

auch innerhalb der wohlhabenden Nationen,<br />

werden sie sich utopischen Veränderungen<br />

widersetzen und den Status<br />

Quo verteidigen.« 38<br />

Dass sich die Geschlechterordnung wandelt,<br />

hat man auch in der neurechten<br />

»Jungen Freiheit‘« festgestellt: »<strong>Die</strong> Rolle<br />

des Mannes in der westlichen Welt<br />

verändert sich rapide, und Eingeweihte<br />

Fragen sich: Hat das weibliche Zeitalter<br />

nicht schon längst begonnen?« 39 Hier<br />

beklagt man die zunehmende Unterdrückung<br />

von Männern durch Frauen und<br />

führt Beispiele an, in denen Männer Opfer<br />

häuslicher Gewalt werden. Trotzdem<br />

gäbe es in der Bundesrepublik keine Einrichtungen,<br />

in denen solche Männer Hilfe<br />

suchen könnten. Als positives Gegenbeispiel<br />

wird die von der zwischen 2000<br />

und 2002 regierenden »Freiheitlichen<br />

Partei Österreichs« (FPÖ) eingeführte<br />

und im »Ministerium für soziale Sicherheit«<br />

angesiedelte »Männerpolitische<br />

Grundsatzabteilung« angeführt. 40 . Auch<br />

in Bildung und Arbeitsleben seien Jungen<br />

und Männer zunehmend benachteiligt,<br />

so die »Junge Freiheit«: Mädchen<br />

und Frauen hätten oft die besseren Abschlüsse<br />

und Frauen würden in »männliche«<br />

Berufe drängen, während Männer<br />

in ursprünglich »weibliche« Sparten verdrängt<br />

würden. Nicht zuletzt könnten<br />

Männer die in sie gestellten und angeblich<br />

überzogenen Erwartungen nicht<br />

mehr erfüllen: Der Mann solle ein umsorgender<br />

Vater sein, der gleichzeitig<br />

viel verdiene. So schlussfolgert man in<br />

der neurechten Wochenzeitung, dass<br />

der Mann ein »Auslaufmodell der Evolution«<br />

41 sei.<br />

<strong>Die</strong> ‚Neue Rechte‘ und die<br />

Konstruktion von Männlichkeit(en)<br />

Der Mann <strong>als</strong> Soldat und »Held«<br />

In der Darstellung des Mannes <strong>als</strong> soldatischer<br />

Held tritt die dichotome Einteilung<br />

der Geschlechter und die geschlechtsspezifische<br />

Zuschreibung<br />

bestimmter Charaktereigenschaften<br />

besonders zu Tage. »Dem Mann kommt<br />

die kriegerisch und wehrhaft definierte<br />

Staatsmoral zu, der Frau die schützende<br />

und sorgende Familienmoral« 42 ,<br />

schreibt Gabriele Kämper in ihrer kritischen<br />

Analyse des neurechten Sammelbands<br />

»<strong>Die</strong> selbstbewusste Nation«.<br />

Während das Weibliche nach »innen«,<br />

ins Private, gerichtet ist, kehrt sich das<br />

Männliche nach »außen«. Da sich diese<br />

Symbolik auch in den Geschlechtsorganen<br />

widerspiegele, scheint die Einteilung<br />

natürlich. Während dem Mann das<br />

Soldatische zuerkannt wird, gilt der Pazifismus<br />

<strong>als</strong> weiblich.<br />

<strong>Die</strong> Inszenierung von Männlichkeit <strong>als</strong><br />

soldatisch und heldenhaft ist der Ideologie<br />

des Rechtsextremismus im Algemeinen<br />

sowie der »Neuen Rechten« im Besonderen<br />

immanent und zeigt sich unter<br />

anderem in der Realität von Burschenschaften<br />

und ähnlichen Männerbünden:<br />

Das Soldatische steht im Vordergrund<br />

und wird neben unzähligen Ritualen, Initiationsriten<br />

und Duellierungen durch<br />

die Unifomierung dargestellt. Trotzdem<br />

kann von einer von anderen Männlichkeiten<br />

abgetrennten und devianten<br />

rechtsextremen Männlichkeit keine Rede<br />

sein. Seit Jahrhunderten sind Armeen<br />

Bestandteil von Männlichkeiten. Erst die<br />

»Maschine Truppe« 43 verleiht »dem einzelnen<br />

Soldaten einen neuen Körperzusammenhang«<br />

44 , mit dem Ganzheit,<br />

Geschlossenheit, Stärke und Exaktheit<br />

symbolisiert werden kann. In den USA<br />

oder Australien ist das Tragen von Waffen<br />

ein von der Verfassung verbrieftes<br />

Recht. <strong>Die</strong> Beschneidung dieses Rechts<br />

stellt einen Angriff auf die hegemoniale<br />

Männlichkeit dar. <strong>Die</strong> Figur des männlichen<br />

Helden ist aus Literatur und Film<br />

kaum wegzudenken: »<strong>Die</strong> Figur des Helden<br />

nimmt in der westlichen Bilderwelt<br />

der Männlichkeit eine zentrale Stellung<br />

ein.« 45<br />

So lassen sich am soldatischen Mann<br />

»die ernsten Spiele des Wettbewerbs« 46<br />

aufzeigen, in denen der männliche Habitus<br />

geformt wird.<br />

Der Mann und die Nation<br />

<strong>Die</strong> Verteidigung des Vaterlandes ge-<br />

25


hört untrennbar zu Männlichkeit(en) im<br />

Rechtsextremismus. So ist die Stärke<br />

von Männlichkeit(en) im Rechtsextremismus<br />

stets abhängig von der Stärke<br />

und Souveränität der Nation.<br />

Ähnlich wie das Volk im so genannten<br />

»Volkskörper« biologisiert wird, findet<br />

auch mit der Nation eine Naturalisierung<br />

und Vergeschlechtlichung statt. Begriffe<br />

wie Potenz und Kraft werden demzufolge<br />

regelmäßig in rechtsextremen Texten<br />

in Zusammenhang mit der Nation genannt.<br />

<strong>Die</strong> vermeintliche Bedrohung der<br />

Nation durch andere Nationen, durch<br />

Globalisierungseffekte, durch Einwanderung<br />

et cetera wird von rechtsextremen<br />

Männern <strong>als</strong> unmittelbare Gefährdung<br />

der »eigenen Männlichkeit sowie<br />

deren Dominanz wahrgenommen. Nur<br />

wenn er sich auf seine eigene »Rasse«,<br />

seine kulturellen Werte und Traditionen<br />

zurück besinne, sei der Mann und damit<br />

die Nation zu retten. Der Mann wird in<br />

einem »Kampf der Kulturen« – hier wird<br />

wiederum mit dem Begriff »Kampf«‚<br />

Rückgriff auf militärische Metaphorik<br />

genommen – zum Schlüssel bei der Bewahrung<br />

des »Abendlandes« vor dem<br />

Untergang. Tragende Säule sind hierbei<br />

insbesondere junge Männer, die <strong>als</strong><br />

»Söhne« des Vaterlandes, die Zukunft<br />

gestalten sollen: »Dass die jungen Männer<br />

die Zukunfts-Macher einer Nation<br />

sind, schlicht die Anzahl der Söhne etwas<br />

über die Dynamik eines Volkes aussagt,<br />

ist eine im kinderarmen Deutschland<br />

verdrängte Wahrheit.« 47 Letztlich<br />

bedarf es – wie bereits beschrieben –<br />

des männlichen Helden. Während die<br />

Söhne aktiv sind und Zukunft »machen«,<br />

spielen die Töchter keinerlei Rolle. Sie<br />

gelten <strong>als</strong> passiv und könnten trotz ihrer<br />

Funktion <strong>als</strong> Gebärerinnen weiterer<br />

Söhne die Zukunft nicht beeinflussen.<br />

Derartige, auf die Nation fixierte, Männlichkeiten<br />

speisen sich neben ihrem Nationalismus<br />

und Rassismus aus einem<br />

Antisemitismus, der das Judentum <strong>als</strong><br />

heimatlos ansieht und es somit efeminisiert.<br />

Der Mann und die Triebe<br />

Der völkische Mann widersteht der<br />

Triebhaftigkeit, wodurch er sich grundlegend<br />

von den »Anderen«, <strong>als</strong>o Frauen,<br />

Homosexuellen, »Ausländern«, »Schwarzen«,<br />

jüdischen Menschen und Kindern,<br />

unterscheide. Gerade der imaginierte<br />

»schwarze Mann« wird der Vergewaltigung<br />

an der »weißen Frau« bezichtigt.<br />

So bekommt die Thematisierung sexualisierter<br />

Gewalt im Rechtsextremismus<br />

stets eine ethnisierende Komponente.<br />

Dabei will »weiße« Männlichkeit beziehungsweise<br />

Männlichkeit im Rechtsex-<br />

26<br />

tremismus nur von der Täterperspektive<br />

ablenken und sich entschulden,<br />

denn: »Das Kokettieren mit dem Bösen<br />

<strong>als</strong> menschliches Potenzial gehört zu<br />

den grundlegenden Komponenten von<br />

Männlichkeitsentwürfen der Neuen intellektuellen<br />

Rechten, die darin eine anthropologische<br />

Fundierung männlicher<br />

Aggressivität sehen.« 48<br />

Das oder der »Andere« gilt <strong>als</strong> hypermaskulin,<br />

<strong>als</strong>o stark, und gleichzeitig <strong>als</strong><br />

triebhaft, <strong>als</strong>o schwach. <strong>Die</strong>ser Ambivalenz<br />

könne nur mit Hilfe eigener Potenz<br />

begegnet werden.<br />

Der Mann und die Elite<br />

Hegemoniale Männlichkeit ist zwar normativ,<br />

insofern viele Männer nach ihr<br />

streben. Gleichzeitig jedoch ist sie für<br />

die meisten Männer unerreichbar und<br />

wird immer einer elitären Minderheit<br />

vorbehalten bleiben. Auch neurechte<br />

Männer wollen sich von der Masse, die<br />

<strong>als</strong> ihr Gegenpol konstitutiver Bestandteil<br />

der Elite ist, abgrenzen. <strong>Die</strong> Masse<br />

sei undifferenziert und wankelmütig,<br />

dumpf, dumm und tot. Stetig ändere<br />

sie ihre Ansichten. Darauf könne keine<br />

Herrschaft fußen, schlussfolgert die<br />

»Neue Rechte« und lehnt die verhasste<br />

»Massendemokratie« ab. Im Wissen um<br />

die Wankelmütigkeit der Masse, hebt<br />

sich die neurechte Elite von eben jener<br />

ab und erlangt automatisch die Legitimität<br />

über die Herrschaft: »Legitimiert<br />

wird sie (gemeint: die Elite-Y.M.) durch<br />

das schmeichelhafte Bild männlicher<br />

Führung, die von der Masse nicht nur<br />

gebraucht, sondern auch gefordert, geradezu<br />

ersehnt wird.« 49 <strong>Die</strong> Masse sei<br />

hilflos ohne Führung und schwanke passiv<br />

umher: Sie ist weiblich konnotiert,<br />

was die Elite fast automatisch männlich<br />

»macht«. »Der Selbststilisierung <strong>als</strong> Elite<br />

im Zeichen individualisierter Männlichkeit<br />

korrespondiert das Konstrukt einer<br />

Masse, die <strong>als</strong> weiblicher Gegenpol zur<br />

Elite fungiert und kontinuierlich abgewertet<br />

wird.« 50 Frauen könnten demzufolge<br />

nie Teil der Elite sein.<br />

Um die Nation zu retten bedarf es (wieder)<br />

einer Elite – aber nicht irgendeiner:<br />

»Es braucht <strong>als</strong>o neue Eliten, die bereit<br />

sind zum rücksichtslosen Machen, die<br />

weder bürgerliche Harmonie noch linke<br />

Empfindlichkeit berücksichtigen und<br />

die auch keinen Wert darauf legen, dass<br />

es glimpflich abgeht. Unverhohlen wird<br />

hier ein martialischer Menschentyp verlangt,<br />

der…von männlicher Selbstbildlichkeit<br />

strotzt.« 51<br />

Solch rücksichtsloser, heldenhafter<br />

Männlichkeit wird auch in der »Jungen<br />

Freiheit« gehuldigt. Hier trauert man<br />

den osteuropäischen Politikern, die<br />

nach dem Fall des »Eisernen Vorhangs«<br />

wirkten, nach. <strong>Die</strong>se seien »Helden der<br />

ersten Stunde« 52 gewesen, »die so gar<br />

nicht in das übliche westliche Klischee<br />

vom ›Berufspolitiker‹ passen wollten« 53<br />

Den Politikern, die verehrt werden, weil<br />

sie sagen, was sie denken, Tabus brechen<br />

und, wie der ehemalige kroatische<br />

Staatschef Franjo Tuđmdan nationalistisch<br />

eingestellt sind 54 , nicht anpassungsfähig<br />

sind, dafür aber heroisch,<br />

und geschmäht werden, wird der westliche<br />

»Typ von Politikern« 55 gegenübergestellt.<br />

Bei diesem wiederum handele<br />

es sich um »stromlinienförmige, zumeist<br />

jüngere Herren (und Damen), die sehr<br />

schnell die politisch korrekten Vokabeln<br />

gelernt haben und die verstehen,<br />

dass man sich den großmächtigen Apparaturen<br />

anpassen (und unterwerfen)<br />

muss.« 56 <strong>Die</strong>ser Politiker-Typus ist unmännlich,<br />

wäre die logische Schlussfolgerung,<br />

zumal sich darunter auch<br />

Frauen befänden.<br />

<strong>Die</strong> in der »Neuen Rechten« favorisierte<br />

Elite muss sich keineswegs auf ihre soziale<br />

Herkunft berufen. Es wird vielmehr<br />

eine Bildungs- und Leistungselite propagiert,<br />

die aber ebenso eindeutig männlich<br />

besetzt ist. Denn dem Gedanken<br />

des Emporkömmlings geht ein Hauch<br />

von Abenteuer und Draufgängertum voraus,<br />

dem nur der bereits beschriebene<br />

heldenhafte Mann entsprechen kann.<br />

Männerbünde<br />

»Homosexualität meint zunächst die<br />

räumliche Separierung exklusiv-männlicher<br />

Sphären« 57 , so Meuser. Neben<br />

der räumlichen wird eine symbolische<br />

Dimension benannt, die die »Ausbildung<br />

moralischer Orientierung, politischer<br />

Einstellungen sowie von Wertsystemen<br />

primär im wechselseitigen Austausch<br />

der Geschlechtsgenossen untereinander«<br />

58 gewährleistet. Nach »außen«‚<br />

wird das Trennende gegenüber den<br />

Frauen akzentuiert, während nach »innen«<br />

das verbindende Element im Vordergrund<br />

steht. Beispiele für derartige<br />

homosoziale Männergemeinschaften<br />

sind das Militär, der katholische Klerus<br />

sowie Fußballmannschaften. Ihre<br />

Bedeutung ist eminent: »Homosexuelle<br />

Männergemeinschaften haben einen<br />

entscheidenden Anteil daran, dass sich<br />

trotz der Transformation der Geschlechterordnung<br />

und der wachsenden Kritik<br />

an männlichen Hegemonieansprüchen<br />

bislang keine generelle Krise des<br />

Mannes entwickelt hat.« 59<br />

Auch in der »Neuen Rechten« finden<br />

sich homosoziale Männergemeinschaften<br />

beziehungsweise Männerbünde:<br />

Neben den Burschenschaften, in


denen der Ausschluss von Frauen institutionalisiert<br />

ist, ließen sich unzählige<br />

weitere rechtsextreme Organisationen<br />

aufzählen, in denen der Frauenanteil<br />

marginal ist. Hier werden Frauen nicht<br />

durch ein Reglement, sondern durch<br />

symbolische Handlungen und Kodizes<br />

ausgeschlossen. Beispielsweise sind lediglich<br />

zwanzig Prozent der Mitglieder<br />

in rechtsextremen Parteien Frauen. 60<br />

Gerade Führungspositionen werden in<br />

rechtsextremen Organisationen zumeist<br />

von Männern besetzt.<br />

Kampf gegen »Political Correctness«<br />

Seit den 90er Jahren verwendet die extreme<br />

und konservative Rechte den Begriff<br />

»Political Correctness«, mit dem<br />

angebliche Denkverbote und Tabus beschrieben<br />

werden. Der Kampf gegen<br />

»Political Correctness« ist immanenter<br />

Teil der hegemonialen Männlichkeit in<br />

der »Neuen Rechten« und richtet sich damit<br />

stets auch gegen die Bestrebungen<br />

der Frauenbewegung(en). Hier müssten<br />

Tabus gebrochen werden, suggeriert die<br />

»Neue Rechte«: <strong>Die</strong>ses Sagen-Dürfen<br />

betrifft zu weiten Teilen die männliche<br />

Rede über Frauen.« 61 <strong>Die</strong> »Neue Rechte«<br />

möchte die Definitionsmacht behalten<br />

und sich nicht von denen, über die man<br />

diese Definitionsmacht ausübt, gemaßregelt<br />

werden: Sie (die Polemik gegen<br />

»Political Correctness«-Y.M.) motiviert<br />

jedoch männliche Subjekt- und Freiheitsvorstellungen<br />

sowie den erklärten<br />

Unwillen, Beschränkungen sprachlicher<br />

oder humoresker Manifestationen von<br />

Macht durch deren potenzielle Objekte<br />

hinzunehmen.« 62<br />

<strong>Die</strong> »Junge Freiheit«<br />

im Geschlechter-Diskurs<br />

Kritische Diskursanalyse<br />

Mit der Diskursanalyse werden nicht<br />

einzelne Texte untersucht. Vielmehr sollen<br />

Diskurse <strong>als</strong> »Flüsse von Wissensvorräten<br />

durch die Zeit« 63 rekonstruiert<br />

werden. Nach Siegfried Jäger geben Diskursw<br />

nicht einfach die Wirklichkeit wieder,<br />

sondern konstruieren sie wesentlich<br />

mit. rekonstruiert werden. Nach<br />

Siegfried Jäger geben Diskurse nicht<br />

einfach die Wirklichkeit wieder, sondern<br />

konstruieren sie wesentlich mit.<br />

Einzelne Texte – in diesem Fall die Artikel<br />

der »Jungen Freiheit« – gelten <strong>als</strong><br />

Diskursfragmente, während mehrere<br />

Texte zu einem Thema – hier Männlichkeit<br />

– <strong>als</strong> Diskursstrang bezeichnet<br />

werden. Wirken mehrere Diskusstränge<br />

aufeinander ein, liegt eine Diskursverschränkung<br />

vor. »Als diskursive Ereignisse<br />

werden solche Begebenheiten<br />

bezeichnet, die Richtung und Quali-<br />

tät des Diskursstrangs, (…), durch eine<br />

breite mediale Rezeption erheblich beeinflussen.«<br />

64 <strong>Die</strong> Diskussion um Eva<br />

Hermanns relativierende Äußerungen<br />

unter anderem zur Rolle der Frau im Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

kann <strong>als</strong> ein solches<br />

diskursives Ereignis bezeichnet werden.<br />

Von welchem sozialen Ort aus gesprochen<br />

wird, erklärt die Diskursebene. Im<br />

Falle der ‚Jungen Freiheit‘ können die<br />

Medien <strong>als</strong> Diskursebene benannt werden.<br />

Durch die Einbettung der Zeitung in<br />

die ‚Neue Rechte‘ sind hier ebenso Politik<br />

und Wissenschaft zu nennen. Durch<br />

die Diskursposition kann der inhaltliche<br />

Standpunkt des Akteurs verifiziert werden.<br />

Zeitungsanalyse: Vorüberlegungen<br />

und Herangehensweise<br />

Unter www.jf-archiv.de findet sich das<br />

ab dem Jahrgang 1997 gespeiste Online-Archiv<br />

der »Jungen Freiheit«. Über<br />

die Suchmaschine wurden verschiedene<br />

Begriffe eingegeben, mit denen<br />

sich Artikel, die für die Männlichkeitsdiskurse<br />

in der »Jungen Freiheit«<br />

relevant erscheinen, finden ließen.<br />

<strong>Die</strong>se Begriffe sind »Feminismus«, »Gender<br />

Mainstreaming«, »Geschlecht«,<br />

»schwul«(»Homosexualität« war nicht ergiebig),<br />

»Sexualität« und »Männer«. Der<br />

Begriff »Männlichkeit« hingegen erwies<br />

sich <strong>als</strong> wenig ergiebig, da Männlichkeit<br />

in der Regel nur implizit verhandelt<br />

wird. Einige der gefundenen Texte wurden<br />

ausgewählt und im folgenden analysiert.<br />

<strong>Die</strong> Auswahl ganz bestimmter<br />

Begriffe und Texte birgt die Gefahr der<br />

Vorstrukturierung der Ergebnisse. Allerdings<br />

erlaubt der gegebene Rahmen<br />

dieser Arbeit keine repräsentative Untersuchung<br />

des Männlichkeitsdiskurses<br />

in der »Jungen Freiheit«. Es werden allerdings<br />

Anhaltspunkte für eine tief greifende<br />

Analyse geboten.<br />

Mithilfe der Analyse einiger Artikel soll<br />

gezeigt werden, dass die »Junge Freiheit«<br />

sowohl das Konstrukt der hegemonialen<br />

Männlichkeit anstrebt <strong>als</strong><br />

auch ein damit verknüpftes rechtsextremes<br />

beziehungsweise neurechtes<br />

Weltbild verfolgt. Dabei stehen kollektive<br />

Akteure und nicht einzelne Autor/<br />

innen der »Jungen Freiheit« im Interesse<br />

der Untersuchung, da »Männlichkeit (…)<br />

<strong>als</strong> sozial verfasst und nicht etwa <strong>als</strong> individuell<br />

ausgeprägt verstanden wird.« 65<br />

<strong>Die</strong> »Junge Freiheit«<br />

gegen den Feminismus<br />

Der Feminismus, oder was die »Neue<br />

Rechte« darunter versteht, wird rundweg<br />

abgelehnt. Er rufe zum »Krieg zwischen<br />

den Geschlechtern« 66 auf und ver-<br />

gifte <strong>als</strong> »Geschlechterklassenkampf« 67<br />

»die Beziehungen zwischen Mann und<br />

Frau« 68 »die Beziehungen zwischen<br />

Mann und Frau« 69 . Er wird <strong>als</strong> totalitäre<br />

Ideologie dargestellt, die den demokratischen<br />

Staat gefährde, und gleichzeitig<br />

<strong>als</strong> »weiblich« verharmlost. Zudem wird<br />

er stets mit linken Ansichten in Verbindung<br />

gebracht. So wolle der Feminismus<br />

– ähnlich wie der Marxismus – den<br />

»neuen Menschen« erschaffen. Angeblich<br />

würde der Feminismus Männer und<br />

Heterosexualität grundsätzlich in Frage<br />

stellen. Zum Beweis werden lesbische<br />

oder radikale Feministinnen wie Simone<br />

de Beauvoir angeführt.<br />

Profeministische Männer gelten der<br />

»Jungen Freiheit« <strong>als</strong> Speerspitze des<br />

Feminismus, weil ihnen <strong>als</strong> Männer<br />

mehr zugetraut wird. Zugleich aber würdigt<br />

man sie aufgrund ihrer profeministischen<br />

Einstellung in ihrem Mann-<br />

Sein herab. »Wie einstm<strong>als</strong> bürgerliche<br />

Intellektuelle maßgeblich und führend<br />

in der ›Arbeiterbewegung‹ wirkten, so<br />

sind auch heute Männer oftm<strong>als</strong> die radik<strong>als</strong>ten<br />

FeministInnen.(…)so ist heute<br />

die besonders radikale Parteinahme<br />

für ›die Frauen‹ ein Mittel, um das Manko<br />

auszugleichen, mit dem f<strong>als</strong>chen Geschlecht<br />

zur Welt gekommen zu sein« 70 ,<br />

so Rainer Zitelmann in »<strong>Die</strong> Selbstbewusste<br />

Nation«.<br />

Doch auch hier wird deutlich, dass die<br />

Angst vor dem Feminismus keine Exklusivität<br />

neurechter Männlichkeit ist.<br />

Nach Connell »erleben westliche Mittelschichtsmänner<br />

den Feminismus <strong>als</strong><br />

eine Anklage« 71 und fühlen sich »zu Unrecht<br />

vom Feminismus angeklagt« 72 .<br />

<strong>Die</strong> »Junge Freiheit«<br />

gegen die »Sexuelle Revolution«<br />

<strong>Die</strong> »Junge Freiheit« sieht seit der »Sexuellen<br />

Revolution« einen Bruch der Gesellschaft<br />

im Umgang mit Sexualität.<br />

Verantwortlich für diese »Sexuelle Revolution«<br />

seien die »68er«, worunter die<br />

»Junge Freiheit« sämtliche soziale Bewegungen<br />

der 60er und 70er Jahre subsumiert.<br />

<strong>Die</strong>ser Personenzusammenhang<br />

»psychisch und moralisch gescheiterter<br />

Existenzen« 73 sei verantwortlich dafür,<br />

dass Mädchen und Jungen immer früher<br />

Geschlechtsverkehr hätten. Sex würde<br />

mehr und mehr zur »Triebbefriedigung<br />

und gleichsam Leistungssport« 74 .<br />

Auch würden Sex und Gewalt heutzutage<br />

mehr und mehr verquickt. Laut ‚«Junger<br />

Freiheit« gäbe es eine »Spirale der<br />

Gewaltverherrlichung« 75. So seien die<br />

»68er« letztlich auch für die steigende<br />

Zahl der Vergewaltigungen verantwortlich<br />

zu machen. Indirekt treffe sie auch<br />

die Verantwortung für die gestiegene<br />

27


Zahl der Fälle von Kindesmissbrauch:<br />

»<strong>Die</strong> 68er trifft an der Verharmlosung<br />

des Kindesmissbrauchs im übrigen ein<br />

gerütteltes Maß an Mitschuld.« 76<br />

Nicht zuletzt sei der Mann durch Viagra<br />

nicht mehr natürlich, sondern künstlich.<br />

Letztlich ist er »entmännlicht«: »Der<br />

Mann gerät dabei zur Kunstfigur: chemisch<br />

präpariert und artifiziell aufgepumpt<br />

vollzieht er im Schlafzimmer seinen<br />

<strong>Die</strong>nst.« 77<br />

Vor allem aber bedrohe die »Sexuelle Revolution«<br />

die bürgerliche Familie. Dabei<br />

seien Ehe und Familie <strong>als</strong> »Chiffren einer<br />

beglückenden patriarchalen Ordnung« 78<br />

nicht verhandelbar. Sie sind quasi natürlich<br />

vorbestimmt, wie man in der »Jungen<br />

Freiheit« zu wissen glaubt: »<strong>Die</strong>se<br />

Institutionen sind weniger Gegenstand<br />

politischer Optionen <strong>als</strong> vielmehr bildliche<br />

Garanten für zeitlose, durch Tradition,<br />

Natur oder Religion sanktionierte<br />

Gesellschaftszustände.« 79 So wird die<br />

Bedrohung durch Feminismus, »68er«<br />

und »Sexuelle Revolution« durchaus<br />

<strong>als</strong> real und allumfassend gesehen, wie<br />

Kämper feststellt: »Eine Abschaffung<br />

dieser Ordnung bedeutet für ihn die Infragestellung<br />

gemeinschaftlicher, familialer<br />

und nationaler Ordnung überhaupt.«<br />

80 Schnell wird deutlich, dass<br />

es keineswegs nur um die Familie geht.<br />

Vielmehr fühlt sich der neurechte beziehungsweise<br />

der rechtsextreme Mann<br />

<strong>als</strong> Bollwerk gegen die Auflösungstendenzen<br />

traditioneller Strukturen in postmodernen<br />

Gesellschaften. Schließlich<br />

sind traditionelle Geschlechtervorstellungen<br />

eng mit paternalistischen Herrschaftsmodellen<br />

verknüpft. Versagt die<br />

Familie <strong>als</strong> kleinstes Glied der (Volks-)<br />

Gemeinschaft beziehungsweise wird sie<br />

in Frage gestellt, ist die Nation unmittelbar<br />

in Gefahr. »Mithilfe der Bedrohungsformel<br />

Zersetzung (Hervorhebung im<br />

Original-Y.M.) wird diese Gemeinschaft<br />

militärisch und völkisch aufgeladen und<br />

das entsprechende antimoderne, antiindividualistische<br />

und anti-emanzipatorische<br />

Potenzial mobilisiert.« 81 Als absolutes<br />

Horrorszenario einer zerfallenden<br />

Gesellschaft gelten der »Neuen Rechten«<br />

die USA: Hier handele es sich um<br />

eine multikulturelle und multiethnische<br />

Gesellschaft, die in der Kriminalität versinke.<br />

Und die neurechte Männlichkeit<br />

braucht diesen Gegenpol: »<strong>Die</strong> beständige<br />

Beschwörung heiler Ehen und Familien,<br />

die in einer hohen Zeit des noch<br />

unerschütterten Patriarchalismus angesiedelt<br />

sind, kontrastiert mit dem apokalyptischen<br />

Bild der Moderne.« 82<br />

Seit der »Sexuellen Revolution« würden<br />

immer weniger Kinder geboren, weil Sex<br />

und Fortpflanzung nunmehr separiert<br />

28<br />

seien. <strong>Die</strong> »Junge Freiheit‘« sucht hiermit<br />

Anschluss an den Diskurs um den vermeintlichen<br />

demographischen Wandel<br />

in der BRD: »Was wird in zwanzig, dreißig<br />

Jahren sein, wenn die zahlreichen<br />

›Singles‹ ins Rentenalter kommen?« 83<br />

Dabei wird versucht, den Diskurs zu<br />

ethnisieren, indem das »Aussterben«<br />

der Familie in den westlichen Industrienationen<br />

prognostiziert wird, während<br />

sich die Menschen in der so genannten<br />

‚Dritten Welt‘ praktisch ungehemmt vermehren<br />

würden: »Dagegen steigen die<br />

Bevölkerungszahlen in den armen Regionen<br />

Asiens und Afrikas mit atemberaubender<br />

Geschwindigkeit.« 84 Es soll klar<br />

werden, dass einfach die »F<strong>als</strong>chen« die<br />

Kinder kriegen.<br />

Auch gelten Schwangerschaftsabbrüche<br />

in der extremen Rechten <strong>als</strong> verwerflicher<br />

und amoralischer Massenmord.<br />

Hegemoniale Männlichkeit kann<br />

nicht zulassen, dass Frauen selbst über<br />

ihren Körper und das Gebären von Kindern<br />

entscheiden. Realpolitische Diskussionen<br />

über Abtreibungen erübrigen<br />

sich damit. Ebenso bedroht der Staat<br />

<strong>als</strong> Wohlfahrtsstaat die Vorherrschaft<br />

des Mannes über die Familie. Staatliche<br />

Eingriffe in Ehe und Familie werden<br />

<strong>als</strong> Angriff auf Autorität und Gewaltmonopol<br />

des Mannes interpretiert: »<strong>Die</strong><br />

öffentliche Diskussion innerfamiliärer<br />

Gewaltverhältnisse ist aus dieser Perspektive<br />

ein Angriff auf eine Privatheit,<br />

die dem Mann einen vor staatlichen Eingriffen<br />

geschützten familiären Raum garantiert.«<br />

85<br />

<strong>Die</strong> »Junge Freiheit«<br />

gegen Gender Mainstreaming<br />

Wenn sich Autor/innen in der »Jungen<br />

Freiheit« mit dem Thema Geschlecht<br />

auseinander setzen, befasst sich ein<br />

Großteil der Artikel mit Gender Mainstreaming<br />

und Gleichstellungspolitik.<br />

Da das Konzept Gender Mainstreaming<br />

<strong>als</strong> Institutionalisierung des Feminismus<br />

angesehen wird, sind auch<br />

die Kritikpunkte ähnlich gelagert: Angeblich<br />

würden Frauen bevorzugt und<br />

Gender Mainstreaming diene der Abschaffung<br />

des Mannes. So sei Gender<br />

Mainstreaming nur ein anderes Wort für<br />

Frauenförderung. Letztlich sei Gender<br />

Mainstreaming gar noch bedrohlicher<br />

<strong>als</strong> der verhasste Feminismus, wie der<br />

neurechte Wirtschaftswissenschaftler<br />

Felix Stern in »<strong>Die</strong> Selbstbewußte Nation«<br />

moniert: »Sicher, der Feminismus<br />

ist längst nicht mehr so spektakulär wie<br />

in den 70er und 80er Jahren.(…)Aber<br />

genau das macht die zum ›Salonfeminismus‹<br />

gewandelte ›Frauenbefreiung‹<br />

viel unberechenbarer <strong>als</strong> beispielswei-<br />

se eine ›Autonomen-Demo‹, bei der die<br />

Fronten klar sind. Denn in dieser Etablierung<br />

und Normalisierung des meist<br />

gar nicht mehr <strong>als</strong> Sexismus empfundenen<br />

Geschlechter-Rassismus und in<br />

der Verfügbarkeit, hieraus politisches,<br />

berufliches und wirtschaftliches Kapital<br />

zu schlagen, liegt ja die eigentliche Gefahr<br />

dieser Bewegung.« 86<br />

Durch die Institutionalisierung des Feminismus<br />

und den »Vormarsch« von<br />

Frauen in originär »männliche« Sphären<br />

fühlt sich die männliche Herrschaft<br />

in ihrer Legitimität angegriffen. <strong>Die</strong>ser<br />

Angriff muss zurückgeschlagen werden:<br />

»<strong>Die</strong> Verletzung der männlichen Sphäre<br />

staatlicher Gewalt verlangt nach Genugtuung<br />

so wie die Schwächung des von<br />

einem Virus befallenen Körpers nach<br />

Heilung verlangt.« 87<br />

<strong>Die</strong> Autor/innen der »Jungen Freiheit«<br />

haben sich dem Kampf gegen Gender<br />

Mainstreaming verschrieben: Hämisch<br />

registrieren sie, dass der Begriff kaum<br />

inhaltlich gefüllt werden kann und wenig<br />

in der Praxis erprobt sei. <strong>Die</strong> meisten<br />

Menschen könnten mit dem Begriff<br />

nichts anfangen. Trotzdem sei<br />

durch das Konzept Gender Mainstreaming<br />

ein bürokratischer Apparat mit<br />

einer unüberschaubaren Zahl von Projekten<br />

entstanden, der etliche Millionen<br />

Euro Steuergelder verschlinge.<br />

»Gender Mainstreaming ist ein milliardenschweres<br />

Programm … mit dem vermessenen<br />

Ziel, einen ›neuen Menschen‹<br />

zu schaffen.« 88 Wie absurd das Konzept<br />

angeblich ist, will man mit Hilfe unwirklich<br />

erscheinender Beispiele wie der<br />

Einführung des »Ampelfrauchens« aufzeigen.<br />

Auch das Studienfach Gender<br />

Studies sei lediglich ein Trend, dem keine<br />

Zukunft beschieden ist. »An den Universitäten<br />

und Fachhochschulen sind<br />

die ›Gender Studies‹ groß in Mode, sogar<br />

in den Rang eines Magisterstudiengangs<br />

haben sie es geschafft.« 89 <strong>Die</strong><br />

Verwendung des Binnen-I in der Schriftsprache<br />

wird gleichfalls abgelehnt. Angeblich<br />

würden die Menschen dadurch<br />

unnötig verwirrt. Zudem konstruiere<br />

man so die Geschlechterdifferenz erst<br />

recht. <strong>Die</strong>ses Argument scheint vorgeschoben,<br />

wird doch in der »Neuen Rechten«<br />

die Geschlechterdifferenz <strong>als</strong> natürlich<br />

gegeben betrachtet.<br />

Dass das biologische Geschlecht – ähnlich<br />

wie das soziale Geschlecht – konstruiert<br />

sein könnte, wird in der »Jungen<br />

Freiheit« verneint. Und hier wähnt man<br />

die Wissenschaft auf seiner Seite: »Dass<br />

sie (die »Gender«-Theorie – Y.M.) in Widerspruch<br />

zu allen gängigen anthropologischen<br />

und naturwissenschaftlichen<br />

Erkenntnissen steht, von der Hirn- und


Verhaltensforschung bis zur Biologie<br />

und Evolutionstheorie, stört eingefleischte<br />

Ideologen nicht wirklich.« 90<br />

Dekonstruktivistische Ansätze, so heißt<br />

es, würden biologische »Erkenntnisse«<br />

ignorieren.<br />

<strong>Die</strong> meisten einschlägigen Artikel in<br />

der »Jungen Freiheit« Artikel zunächst<br />

sachlich: So werden Gleichstellung und<br />

Emanzipation befürwortet, um später<br />

um so besser die Kritik zu platzieren.<br />

Es ginge nun zu weit, suggeriert man in<br />

der »Jungen Freiheit«: Während sich die<br />

Frauen inzwischen eine lautstarke und<br />

einflussreiche Lobby aufgebaut hätten,<br />

seien Männer angeblich stimmlos. Der<br />

Gedanke, Männer hätten Privilegien,<br />

wird in der »Jungen Freiheit‘« abgelehnt.<br />

Um der Opposition gegen Gender Mainstreaming<br />

Ausdruck zu verleihen, verwenden<br />

die Autor/innen der »Jungen<br />

Freiheit« Begrifflichkeiten, die ganz bewusst<br />

Assoziationen mit dem Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

hervorrufen sollen. Man<br />

stilisiert sich <strong>als</strong> Opfer: Kritisiere man<br />

zum Beispiel offen Gender Mainstreaming,<br />

riskiere man die, zugegebenermaßen<br />

nicht physische, »Vernichtung« 91 ,<br />

so JF-Autor und Publizist Michael Paulwitz.<br />

Bei Gender Mainstreaming handele<br />

es sich um eine »gigantische(n)<br />

ideologische(n) Umerziehung« 92 Der<br />

Begriff »Umerziehung« ist im Zusammenhang<br />

mit den Ent-Nazifizierungen<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur<br />

in der extremen Rechten negativ besetzt.<br />

Nicht selten wird Gender Mainstreaming<br />

<strong>als</strong> »totalitäre Ideologie, die<br />

nach dem Kaderprinzip durch eine auserwählte<br />

Truppe Linientreuer von oben<br />

nach unten durchgesetzt werden soll« 93 ,<br />

diffamiert. Wiederum ist der Formel »totalitär«<br />

im deutschen Kontext eine ganz<br />

eigene Wirkung beschieden. Bezeichnet<br />

<strong>als</strong> »Genderismus« 94 wird Gender Mainstreaming<br />

dann schnell zur Ideologie<br />

und der Vergleich von Ursula von der<br />

Leyen mit Mao Zedong und Wladimir I.<br />

Lenin fällt nicht mehr schwer. 95 Gleichstellungsbeauftragte<br />

werden <strong>als</strong> »linientreue<br />

Kader« 96 tituliert und angeblich<br />

habe man es mit einer »Kulturrevolution«<br />

97 zu tun. Hier werden mittels Wortwahl<br />

Antifeminismus und Antikommunismus<br />

verknüpft.<br />

Besonders in die Kritik geraten sind<br />

die CDU und ihre Familienministerin<br />

von der Leyen, die die Politik des Gender<br />

Mainstreaming unterstütze. <strong>Die</strong><br />

CDU verfolge linksradikale Ziele, wettert<br />

man in der »Jungen Freiheit«. <strong>Die</strong><br />

neurechte Wochenzeitung verfolgt mit<br />

diesen Angriffen ein einfaches Ziel: Sie<br />

will die CDU beziehungsweise Teile ihrer<br />

Mitgliedschaft nach rechts rücken.<br />

<strong>Die</strong>se müssen sich gegen die Angriffe<br />

wehren, um sich gegen diese zu immunisieren.<br />

Gleichzeitig will man die CDU<br />

spalten: So würde Kritik innerhalb der<br />

Partei unterbunden, mutmaßt man in<br />

der »Jungen Freiheit«. Wer sich trotzdem<br />

äußere, würde »von feministischen<br />

Lobbygruppen unter Beschuss genommen«<br />

98 und »muss Sanktionen befürchten«<br />

99 .<br />

Letztlich kann sich die «Junge Freiheit«<br />

sogar kapitalismuskritisch gerieren: »<strong>Die</strong><br />

fatale Dynamik dieses Konzapts steckt<br />

dabei in der Interessenkoalition mit<br />

dem vorherrschenden platten Ökonomismus.<br />

<strong>Die</strong> schon von Alice Schwarzer<br />

geforderte und von ›Gender Mainstreaming‹<br />

in letzter Konsequenz anvisierte<br />

völlige Abschaffung der Hausfrau<br />

und Mutter <strong>als</strong> akzeptierter Lebensform<br />

trifft sich mit dem technokratischen Interesse<br />

an der totalen Mobilmachung<br />

aller ›menschlichen Ressourcen‹ zur abhängigen<br />

Vollzeit-Erwerbstätigkeit.« 100<br />

So wähnt sich die hegemoniale Männlichkeit<br />

der »Neuen Rechten« <strong>als</strong> Opfer<br />

eines Komplotts, mit dem Männer aus<br />

dem öffentlichen und privaten Leben<br />

verdrängt werden sollen.<br />

<strong>Die</strong> »Junge Freiheit‘«<br />

gegen Homosexualität<br />

Sucht man im Online-Archiv der »Jungen<br />

Freiheit« nach der Thematisierung von<br />

Homosexualität, wird man in der Regel<br />

enttäuscht. Einzig über die Suche nach<br />

dem Begriff »schwul« finden sich einige<br />

Artikel.<br />

Obwohl (männliche) Homosexualität <strong>als</strong><br />

randständig und anormal gesehen wird,<br />

sei sie laut »Junge Freiheit« heute gesellschaftlicher<br />

Maßstab. 101 <strong>Die</strong> heterosexuelle<br />

Familie würde <strong>als</strong> Norm negiert.<br />

In der Zeitung wird offen ausgesprochen,<br />

dass der »normale« Hetero-Mann<br />

von den »tuntigen« Schwulen abgestoßen<br />

ist. So berichtet »Junge Freiheit«-<br />

Autor Frank Liebermann über eine Sendung<br />

mit vier homosexuellen Männern<br />

auf einem Privatsender folgendes: »<strong>Die</strong><br />

Anfänge der Sendung sind strapaziös.<br />

In den ersten paar Minuten präsentieren<br />

sich die vier Hauptpersonen dermaßen<br />

tuntig, dass es große Überwindung<br />

verlangt, nicht abzuschalten.« 102<br />

Den vier Homosexuellen wird vorgeworfen,<br />

»einen Kauderwelsch aus Deutsch<br />

und Englisch« 103 zu sprechen. Aufgrund<br />

ihrer Homosexualität sind sie keine<br />

»richtigen« Männer; durch ihr »Kauderwelsch«<br />

sind sie keine »richtigen« Deutschen.<br />

Schwul-Sein schade <strong>als</strong>o der<br />

deutschen (Volks-)Gemeinschaft und<br />

dem gesunden Volkskörper, so der Tenor.<br />

Liebermann meint, dass Schwul-Sein<br />

im Trend liege und sich gut vermarkten<br />

lasse. Ebenso darf der obligatorische<br />

homophob angehauchte Verweis auf<br />

die Homosexualität des Berliner Regierenden<br />

Bürgermeisters Klaus Wowereit<br />

nicht fehlen: »Inzwischen sind wir ja allerhand<br />

gewohnt. Nach schwulen Rappern,<br />

Schwulen gegen Rechts, schwulen<br />

Ärzten und schwulen für Stoiber<br />

schockt uns nicht einmal mehr die Regenbogenfahne<br />

vor dem Berliner Rathaus.«<br />

104 In einem anderen Artikel wird<br />

gewarnt, Homosexuelle würden Jugendlichen<br />

ihre Sexualität aufdrängen, »da<br />

viele Homosexuelle ihre Lebensweise<br />

<strong>als</strong> ›die Normalere‹ betrachten« 105 . Homosexuellen<br />

wird vorgeworfen, sie würden<br />

sich lediglich »um die Rekrutierung<br />

von Nachwuchs bemühen« 106 .<br />

In ihrer Homophobie steht die »Junge<br />

Freiheit« keineswegs alleine da. Bereits<br />

in den 80er Jahren sorgte die Homosexualität<br />

des Neonazikaders Michael<br />

Kühnen für viel Verwirrung und homophobe<br />

Ausbrüche im bundesdeutschen<br />

Rechtsextremismus. Mit seiner Schrift<br />

»Nation<strong>als</strong>ozialismus und Homosexualität«<br />

brach Kühnen ein Tabu, indem er<br />

Homosexualität verteidigte. 107<br />

Fazit<br />

Das Beispiel »Junge Freiheit« zeigt, dass<br />

Männlichkeit in der »Neuen Rechten«<br />

durchaus diskursiviert wird. Dabei findet<br />

meist nur eine implizite Thematisierung<br />

über die Diffamierung von Feminismus,<br />

anderen Sozialen Bewegungen,<br />

Homosexuellen und nicht zuletzt allem<br />

»Fremden«, <strong>als</strong>o Migrant/innen sowie<br />

Jüdinnen und Juden, statt. Männlichkeit<br />

in der »Neuen Rechten« befindet sich in<br />

einem ständigen »Kampf« für die Nation,<br />

die heterosexuelle Familie und sich<br />

selbst. Eine gewisse Krisentendenz ist<br />

somit keineswegs ein Anzeichen für Zerfallsprozesse<br />

oder eine tatsächliche Bedrohung<br />

dieser Männlichkeit, sondern<br />

vielmehr konstitutives Element. Allerdings<br />

werden Transformations- und Modernisierungsprozesse<br />

im Geschlechterverhältnis<br />

bewusst aufgegriffen, um<br />

eigene Positionen entsprechend im Diskurs<br />

zu platzieren. Und die »Neue Rechte«<br />

ist mit ihrem Bild der hegemonialen<br />

Männlichkeit durchaus gesellschaftlich<br />

anschlussfähig. Aus Sicht einer transdisziplinärengeschlechterreflektierenden<br />

Rechtsextremismusforschung<br />

bietet der Versuch der Resouveränisierung<br />

von Männlichkeit durch die »Neue<br />

Rechte« ein enormes Gefährdungspotential.<br />

Yves Müller<br />

29


1 Winfried Knörzer, Eine kulturelle Hegemonie von<br />

recht, in: Junge Freiheit, 19. 8. 1994, S. 1; zit. nach:<br />

Michael Puttkamer, »Jedes Abo eine Konservative<br />

Revolution«. Strategie und Leitlinien der »Jungen<br />

Freiheit, in: Wolfgang Gessenharter u. Thomas Pfeiffer,<br />

Hrsg., <strong>Die</strong> Neue Rechte – eine Gefahr für Demokratie?,<br />

Wiesbaden 2004, S. 213.<br />

2 Vgl. Oliver Geden, Männlichkeitskonstruktionen in<br />

der Freiheitlichen Partei Österreichs. Eine qualitativ-empirische<br />

Untersuchung, Opladen 2004.<br />

3 Helmut Kellershohn, Kurzchronologie der »Jungen<br />

Freiheit« 1986 bis 2006, in: Stephan Braun u. Ute<br />

Vogt, Hrsg., <strong>Die</strong> Wochenzeitung »Junge Freiheit«.<br />

Kritische An<strong>als</strong>ysen, Autoren und Kunden, Wiesbaden<br />

2007, S. 48.<br />

4 Vgl. Stephan Braun, Alexander Geisler u. Martin<br />

Gerster, <strong>Die</strong> »Junge Freiheit« der »Neuen Rechten«.<br />

Bundes- und landespolitische Perspektiven<br />

zur »Jungen Freiheit« und den Medien der »Neuen<br />

Rechten«, in: Stephan Braun u. Utte Vogt, Hrsg.,<br />

<strong>Die</strong> Wochenzeitung »Junge Freiheit«, S. 18.<br />

5 Ebenda, S. 19.<br />

6 Vgl. Felix Krebs, Mit der konservativen Revolution<br />

die kulturelle Hegemonie erobern. Das Zeitungsprojekt<br />

»Junge Freiheit«, in: Jean Cremet, Felix<br />

Krebs u. Andreas Speit, Jenseits des Nationalismus.<br />

Ideologische Grenzgänger der »Neuen Rechten«<br />

– ein Zwischenbericht, Hamburg u. Münster<br />

1999, S. 54.<br />

7 Stephan Braun u. a., »<strong>Die</strong> »Junge Freiheit« der<br />

»Neuen Rechten«, S. 25.<br />

8 Felix Krebs, Mit der konservativen Revolution die<br />

kulturelle Hegemonie erobern, S. 72.<br />

9 Ebenda, S. 53 f.<br />

10 Edgar Julius Jung, <strong>Die</strong> Herrschaft der Minderwertigen.<br />

Nachdruck der 2. Aufl. von 1930, Struckrum<br />

1991. Zit. nach: Michael Putkammer, »Jedes Abo<br />

eine konservative Revolution«, S. 215.<br />

11 Hiermit ist die Bestrebung einer gemeinsamen Politik<br />

zwischen linkem und rechtem Spektrum auf<br />

der Basis vermeintlicher oder tatsächlicher gemeinsamer<br />

Ideologiefragmente gemeint.<br />

12 Peter Krebs, Mit der konservativen Revolution die<br />

kulturelle Hegemonie erobern, S. 79.<br />

13 Walter Hoeres, <strong>Die</strong> Herstellung der Heimatlosigkeit,<br />

in: Junge Freiheit, Nr. 43/1996, zit. nach: Jean<br />

Cremet u. a., Jenseits des Nationalismus.<br />

14 Ebenda.<br />

15 Hans Sarkowcz, Publizistik in der Grau- und Braunzone,<br />

in: Wolfgang Benz, Hrsg., Rechtsextremismus<br />

in Deutschland. Voraussetzungen, Zusammenhänge,<br />

Wirkungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 69.<br />

16 Ebenda, S. 72.<br />

17 Ebenda, S. 77<br />

18 Peter Krebs, Mit der konservativen Revolution die<br />

kulturelle Hegemonie erobern, S. 59.<br />

19 Michael Mauser, Wettbewerb und Solidarität. Zur<br />

Konstruktion von Männlichkeit in Männergemeinschaften,<br />

in: Silvia von Arx u. a., Hrsg., Koordinaten<br />

der Männlichkeit. Orientierungsversuche, Tübingen<br />

2003, S. 83.<br />

20 Derselbe, Hegemoniale Männlichkeit – Überlegungen<br />

zur Leitkategorie der Men’s Studies, in:<br />

Brigitte Aulenbacher u. a., Hrsg., FrauenMänner<br />

Geschlechterforschung. State of the Art, Münster<br />

2006, S. 162.<br />

21 Ebenda, S. 168.<br />

22 Robert W. Connell, Gender and Power. Society,<br />

the Person and Sexual Politics, Cambirdge 1987,<br />

S. 183, zit. nach: Michael Meuser, Wettbewerb und<br />

Solidarität, S. 183.<br />

30<br />

23 Ebenda, S. 169, Hervorhebung im Original.<br />

24 Ebenda, Hervorhebung im Original.<br />

25 Paul Bourdieu, <strong>Die</strong> männliche Herrschaft, in: Irene<br />

Dölling u. Beate Krais, Hrsg., Ein alltägliches Spiel.<br />

Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis,<br />

Frankfurt a. M. 1997, S. 203.<br />

26 Michael Meuser, Hegemoniale Männlichkeit,<br />

S. 163.<br />

27 Ebenda, S. 166.<br />

28 Vgl. ebenda, S. 164 ff.<br />

29 Ebenda, S. 169.<br />

30 Gabriele Kämper, <strong>Die</strong> männliche Nation. Politische<br />

Rhetorik der neuen intellektuellen Rechten, Köln<br />

2005, S. 205.<br />

31 Robert W. Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion<br />

und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden<br />

2006, S. 105.<br />

32 Ebenda. S. 106.<br />

33 Ebenda.<br />

34 Ebenda, S. 211.<br />

35 Ebenda, S. 107.<br />

36 Ebenda, S. 222.<br />

37 Ebenda.<br />

38 Ebenda, S. 223.<br />

39 Curd-Torsten Weick, Das verunsicherte »starke Geschlecht«.<br />

Auslaufmodell der Evoluiton? Männer<br />

können einpacken, in: Junge Freiheit, 14. 1. 2005.<br />

40 Vgl. ebenda.<br />

41 Ebenda.<br />

42 Gabriele Kämper. <strong>Die</strong> männliche Nation, S. 154.<br />

43 Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. II: Männerkörper<br />

– zur Psychoanalyse des weißen Terrors,<br />

Frankfurt a.M. u. Basel 2005, S. 155.<br />

44 Ebenda.<br />

45 Robert W. Connell, Der gemachte Macht, S. 235.<br />

46 Paul Bourdieu, <strong>Die</strong> männliche Herrschaft, S. 203.<br />

47 Götz Kubitschek, Es wird ernst. Kampf der Kulturen:<br />

Deutschland muss seine Zukunft <strong>als</strong><br />

selbstbewusste Nation wollen, in: Junge Freiheit,<br />

24. 2. 2006.<br />

48 Gabriele Kämper, <strong>Die</strong> männliche Nation, S. 159.<br />

49 Ebenda, S. 180.<br />

50 Ebenda, S. 179.<br />

51 Ebenda, S. 188.<br />

52 Carl Gustav Ströhm, Sag mir, wo die Männer sind.,<br />

in: Junge Freiheit, 23. 1. 2004.<br />

53 Ebenda.<br />

54 Dabei war Franio Tudman (1922–1999) nicht nur<br />

ein glühender Nationalist. Er äußerte sich auch zutiefst<br />

antisemitisch und verharmloste die Verbrechen<br />

der faschistischen Ustascha während des<br />

Zweiten Weltkrieges.<br />

55 Ebenda.<br />

56 Ebenda.<br />

57 Michael Meuser, Wettbewerb und Solidarität,<br />

S. 84.<br />

58 Ebenda.<br />

59 Ebenda, S. 88.<br />

60 Vgl. Birgit Rommelspacher, Geschlechterverhältnis<br />

im Rechtsextremismus, in: Wilfried Schubarth<br />

u. Richard Stöss, Hrsg., Rechtsextremismus in der<br />

Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz, Bonn<br />

2000, S. 207.<br />

61 Gabriele Kämper, <strong>Die</strong> männliche Nation, S. 166.<br />

62 Ebenda, S. 170.<br />

63 Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung,<br />

Duisburg 1999, S. 158.<br />

64 Ebenda, S. 55. Hervorhebung im Original-Y.M.<br />

65 Ebenda, S. 62.<br />

66 Felix Stern, Feminismus und Apartheid. Über den<br />

Krieg der Geschlechter, in: Heimo Schwilk u. Ulrich<br />

Schacht, Hrsg., <strong>Die</strong> Selbstbewusste Nation. »Anschwellender<br />

Bocksgesang« und weitere Beiträge<br />

zu einer deutschen Debatte, Frankfurt a.M. u. Berlin<br />

1994, S. 291. Zit. nach: Gabriele Kämper, <strong>Die</strong><br />

männliche Nation, S. 136.<br />

67 Johannes Rogalla von Bieberstein, Erbe des Klassenkampfes,<br />

in: Junge Freiheit, 20. 6. 2008.<br />

68 Ebenda.<br />

69 Ebenda.<br />

70 Rainer Zitelmann, Position und Begriff. Über eine<br />

neue demokratische Rechte, in: Heimo Schwilk u.<br />

Ulrich Schacht, Hrsg., <strong>Die</strong> Selbstbewusste Nation,<br />

S. 178. Zit. nach: Gabriele Kämper, <strong>Die</strong> männliche<br />

Nation, S. 138.<br />

71 Robert W. Connell, Der gemachte Mann, S. 231.<br />

72 Ebenda.<br />

73 Götz Eberbach, <strong>Die</strong> sexuelle Revolution und ihre<br />

Folgen, in: Junge Freiheit, 8. 5. 1998,<br />

74 Ebenda.<br />

75 Mathias von Gersdorff, Das Tabu der Sexuellen<br />

Freizügigkeit, in: Junge Freiheit, 24. 7. 1998.<br />

76 Ebenda.<br />

77 Oliver Geldszus, Gesellschaft: Liebe und Sexualität<br />

in den Zeiten der späten Kohl-Ära, in: Junge Freiheit,<br />

5. 6. 1998.<br />

78 Gabriele Kämper, S. 122.<br />

79 Ebenda, S. 121 f.<br />

80 Ebenda, S. 124.<br />

81 Ebenda, S. 128.<br />

82 Ebenda, S. 131.<br />

83 Götz Eberbach, <strong>Die</strong> sexuelle Revolution und ihre<br />

Folgen.<br />

84 Oliver Geldszus, Gesellschaft: Liebe und Sexualität<br />

in den Zeiten der späten Kohl-Ära.<br />

85 Gabriele Kämper, <strong>Die</strong> männliche Nation, S. 133.<br />

86 Zit. nach: ebenda, S. 148.<br />

87 Ebenda.<br />

88 »Geschlecht ist pure Einbildung«. Interview von<br />

Moritz Schwarz mit Arne Hoffmann, in: Junge Freiheit,<br />

12. 1. 2007.<br />

89 Christian Rudolf, Kampf den Knackpunkten, in:<br />

Junge Freiheit, 15. 12. 2006.<br />

90 Michael Paulwitz, Im Labor der Menschenzüchter,<br />

in: Junge Freiheit, 12. 1. 2007.<br />

91 Ebenda.<br />

92 Geschlecht ist pure Einbildung.<br />

93 Michael Paulwitz, Im Labor der Menschenzüchter.<br />

94 Ebenda.<br />

95 Ebenda.<br />

96 Geschlecht ist pure Einbildung.<br />

97 Johannes Rogalla von Bieberstein, Erbe des Klassenkampfes.<br />

98 Geschlecht ist pure Erfindung.<br />

99 Ebenda.<br />

100 Michael Paulwitz, Im Labor der Menschenzüchter.<br />

101 Vgl. ebenda.<br />

102 Frank Liebermann, RTL 2 und »Schwul macht<br />

cool«: Alle Klischees werden bedient. <strong>Die</strong> neue<br />

Langeweile, in: Junge Freiheit, 2. 1. 2004.<br />

103 Ebenda.<br />

104 Ebenda.<br />

105 Alexander Schmidt, In erster Linie zählt der Spaß.<br />

Bildung: In Nordrhein-Westfalen sollen Jugendliche<br />

ihre »typische männliche oder weibliche<br />

Verhaltensweise überdenken«, in: Junge Freiheit,<br />

12. 1. 2001.<br />

106 Ebenda.<br />

107 Vgl. Markus Bernhardt, Keine gemeinsame Linie.<br />

Neonazis und Homosexualität, in: LOTTA. Antifaschistische<br />

zeitung aus nrw, Winter 2007/2008,<br />

Ausgabe 29, S. 12 ff.


Keine Nazis in Rosas Straße, gemeinsam gegen<br />

»Thor Steinar« – Ein kurzer Überblick zu den<br />

Aktivitäten der Initiative »Mitte gegen Rechts«<br />

in Berlin<br />

<strong>Die</strong> Rosa-Luxemburg-Straße liegt im<br />

Zentrum Berlins. Der Namen der Straße<br />

und auch die BewohnerInnenklientel<br />

unterliegen einem steten Wandel.<br />

Über Jahrhunderte hinweg endete an<br />

dieser Straße die Berliner Pracht. 1 Es<br />

ließen sich vor allem jene hier nieder,<br />

die in der Stadt keinen Platz fanden. Es<br />

entstand eine große jüdische Gemeinde.<br />

Aus Scheunen, die an der Straße<br />

standen, wurden mit der Zeit ärmliche<br />

Wohnhäuser. Als die Stadt längst über<br />

das so genannte Scheunenviertel hinaus<br />

gewachsen war, begann Anfang<br />

des 20. Jahrhunderts die Umgestaltung<br />

des Viertels und eine erste Verdrängung<br />

der Bevölkerung setzte ein. <strong>Die</strong> BewohnerInnen<br />

des Scheunenviertels zogen<br />

zumeist in die anliegenden Straßen.<br />

Noch 1925 wohnten fast 18 Prozent der<br />

in Berlin lebenden JüdInnen in unserem<br />

Kiez. Ihre Zahl stieg weiter an, <strong>als</strong> sich<br />

ihre soziale Lage durch die antisemitische<br />

Politik der NSDAP in den 1930er<br />

Jahren verschärfte und JüdInnen aus<br />

anderen Stadtteilen verdrängte. Ihre Lebensverhältnisse<br />

erreichten im »Dritten<br />

Reich« ein unerträgliches Ausmaß. Israel<br />

Loewenstein, der bis zu seiner Deportation<br />

im Scheunenviertel wohnte und<br />

heute im Kibuz Yad Hannah in Israel<br />

lebt, berichtet zum Beispiel:<br />

»Dann kamen die Gesetze, dass man alles<br />

abgeben musste: Radio, Grammophon,<br />

Schallplatten, Schmuck. Meine<br />

Mutter hatte einen goldenen Ehering –<br />

musste man abgeben; eine Perlenkette<br />

– musste man abgeben. Aber das ist<br />

so eine Sache, die langsam kam. So gewöhnt<br />

man sich daran. (…)Irgendwann<br />

ist man nicht mehr aus dem Haus rausgekommen,<br />

es war alles für Juden verboten.«<br />

Am 18. Oktober 1941 begann die Deportation<br />

der jüdischen Bevölkerung<br />

Berlins. Rund zwanzig Monate später<br />

galt Berlin offiziell <strong>als</strong> »judenrein«. Das<br />

Scheunenviertel und ein Teil seiner BewohnerInnen<br />

waren ausgelöscht.<br />

In der DDR lag die Straße in einem Sanierungsgebiet.<br />

Dennoch wurden die<br />

Häuser bis zur Wende dem Verfall preisgegeben.<br />

Nahe am Alexanderplatz und<br />

Hackeschen Markt gelegen, entdecken<br />

seit den 1990er immer mehr Neu-BerlinerInnen<br />

die Attraktivität der Straße.<br />

In den letzten zwanzig Jahren wandelte<br />

sich die Bevölkerung so ein weiteres<br />

mal. <strong>Die</strong> Mieten steigen und junge Menschen<br />

aus dem In- und Ausland siedeln<br />

sich an. Exquisite Gastronomie, Galerien<br />

und DesignerInnen-Shops bestimmen<br />

heute das Bild der Straße. Am<br />

1. Februar 2008 eröffnete in der Rosa-<br />

Luxemburg-Straße 18 ein weiteres Modegeschäft:<br />

»TØNSBERG« ist über dem<br />

Eingang zu lesen. Es werden vor allem<br />

Kleider der Marke »Thor Steinar« angeboten.<br />

»Thor Steinar« ist ein Label, das vor<br />

allem von Rechtsextremen getragen<br />

wird. 2 Seit sechs Jahren vertreibt Uwe<br />

Meusel und die von ihm gegründete<br />

Protex GmbH die Textilien an bundesweit<br />

rund 170 HändlerInnen. Zweideutige<br />

Motive ermöglichen den TrägerInnen<br />

ihre neofaschistische Gesinnung<br />

offen darzustellen, ohne in Konflikt mit<br />

dem Gesetz und dessen HüterInnen zu<br />

geraten. In Magdeburg, Dresden, Leipzig<br />

und Berlin hat Uwe Meusel eigene<br />

Läden eröffnet. Drei Jahre befand sich<br />

die Berliner Filiale in einem Einkaufzentrum<br />

unweit des heutigen Standorts.<br />

Als die Vermieterin erkannte, wes (Un-)<br />

Geistes Kind ihre Mieter waren, wurde<br />

dem braunen Klamottenladen gekündigt.<br />

Ein neues Domizil fand sich schnell.<br />

Bereits bei der Eröffnung des Ladens<br />

regte sich erster Widerstand. Vor dem<br />

Laden wurde eine Kundgebung abgehalten.<br />

Einige LadenbesitzerInnen äußerten<br />

offen ihren Protest über den neuen<br />

Nachbarn. Sie dekorierten ihre Schaufenster<br />

mit Informationen über »Thor<br />

Steinar« und mit antifaschistischen<br />

Plakaten. Ein Anwohner klebte in der<br />

Straße Zettel gegen Nazis. Regelmäßig<br />

schaute die Antifa vorbei und gestaltete<br />

die Außenfassade des Geschäfts mit<br />

Farbbeuteln und Pflastersteinen neu.<br />

MieterInnen aus einem Nachbarhaus<br />

schrieben einen Beschwerdebrief an ihre<br />

Hausverwaltung und machten sich<br />

daran, den Eigentümer des Hauses ausfindig<br />

zu machen, der an das rechte Mode-Label<br />

vermietet hat.<br />

Viele der heutigen AktivistInnen waren<br />

schockiert darüber, ausgerechnet<br />

in ihrem Wohn- und Arbeitsumfeld ein<br />

Bekleidungsgeschäft zu finden, dessen<br />

Kundenstamm vorwiegend aus Neona-<br />

zis besteht. Schnell wurde deutlich, das<br />

dem Versuch rechte Meinungen und Gesinnungen<br />

in der Mitte der Gesellschaft<br />

zu etablieren, etwas entgegen gesetzt<br />

werden muss. Das »TØNSBERG« ausgerechnet<br />

im ehemaligen Scheunenviertel<br />

seine die NS-Zeit verherrlichenden<br />

Kleider anbietet, einem Stadtteil dessen<br />

Bevölkerung besonders stark unter dem<br />

menschenverachtenden Regime gelitten<br />

hatte, ist unerträglich. Kurz nach der<br />

Eröffnung begann sich die Stimmung in<br />

der Straße zu ändern. <strong>Die</strong> Bedrohung<br />

durch Rechtsextreme war plötzlich klar<br />

spürbar. AnwohnerInnen, die ihren Protest<br />

offen geäußert hatten, erhielten Besuch<br />

von dubiosen Gestalten oder bekamen<br />

Drohbriefe. Jeden Tag mehrere<br />

Male an einem Ladenlokal vorbei zugehen,<br />

dass für eine prinzipiell abzulehnende,<br />

menschenverachtende Ideologie<br />

steht, ist auf die Dauer anstrengend.<br />

Zudem führten die militanten Aktionen<br />

gegen den Laden zu täglicher Polizeipräsenz<br />

in der Straße.<br />

Kaum verwunderlich, dass sich die<br />

gleichgesinnten AnrainerInnen zu einer<br />

Initiative zusammenschlossen. Sie trägt<br />

mittlerweile den Namen »MITTE GEGEN<br />

RECHTS«. Gewerbetreibende, FreiberuflerInnen,<br />

Angestellte und StudentInnen<br />

haben sich in ihr zusammengefunden.<br />

<strong>Die</strong> Beweggründe für unser Engagement<br />

sind vielschichtig. Für alle ist klar, dass<br />

im Kiez kein Platz für Nazis ist, weder für<br />

Alte noch für Junge. Weltoffenheit und<br />

Toleranz prägen die Rosa-Luxemburg-<br />

Straße. <strong>Die</strong>ses internationale Flair ist<br />

für Berlin nicht überall selbstverständlich.<br />

Wir wollen klarstellen, dass es sich<br />

hier um etwas Besonderes, Schützens-<br />

und Erhaltenswertes handelt und dafür<br />

ein Bewusstsein schaffen. Wir wollen<br />

verdeutlichen, wohin Intoleranz und<br />

Menschenverachtung führen. <strong>Die</strong> Erinnerung<br />

an den Holocaust trägt dazu bei,<br />

eine tolerante und für alle offene Gesellschaft<br />

einzufordern und alles dafür<br />

zu tun, dass eine solche nicht nur in der<br />

Rosa-Luxemburg-Straße auf Dauer Bestand<br />

hat.<br />

Es gilt jenen entgegenzutreten, die genau<br />

das verhindern wollen, und das<br />

schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte<br />

glorifizieren. Uwe Meusel und<br />

die Protex GmbH gehen aber noch wei-<br />

31


ter. Sie instrumentalisieren das »Dritte<br />

Reich«, um kommerziell erfolgreich zu<br />

sein. Das Label »Thor Steinar« nutzt diese<br />

Kommerzialisierung <strong>als</strong> »banale und<br />

teuflische Strategie« um »Geschichtsklitterung<br />

und Revisionimsus« Tür und<br />

Tor zu öffnen, wie eine Aktivistin treffend<br />

feststellte. Der »TØNSBERG«-Shop<br />

fungiert hierbei <strong>als</strong> Rattenfänger, indem<br />

er einen niederschwelligen Einstieg in<br />

die rechte Szene anbietet und deren<br />

politische Inhalte verharmlost. Denn<br />

in einem Kiez, der weit über die Grenzen<br />

Deutschlands hinaus <strong>als</strong> liberal gilt,<br />

rechnet eigentlich niemand damit, auf<br />

ein Geschäft zu treffen, das menschenverachtendes<br />

Gedankengut in trendige<br />

Klamotten verpackt. So ging manch ahnungslose<br />

Laufkundschaft »TØNSBERG«<br />

ins Netz, dies war bereits Mitte Februar<br />

klar. Es war <strong>als</strong>o höchste Zeit, selbst<br />

aktiv zu werden, sich zu informieren, eine<br />

eigene Meinung zu bilden und diese<br />

Kund zu tun.<br />

»MITTE GEGEN RECHTS« wurde gegründet,<br />

um die Schließung des<br />

»TØNSBERG«-Ladens zu ereichen. Dabei<br />

profitierten wir von Anfang an von<br />

einer breiten Medienresonanz im In–<br />

und Ausland. Wir konnten seit Beginn<br />

des Protests auf ein breites Netzwerk<br />

von UnterstützerInnen zurückgreifen.<br />

<strong>Die</strong> Projektleiterin des nicht-kommerziellen<br />

Kunstraumes »:emyt« wurde von<br />

ihren Förderern (einer Hausverwaltung<br />

und einem Kunstverein) gebeten, einen<br />

Teil ihrer Arbeitszeit und die Räumlichkeiten<br />

der Galerie für die Initiative zur<br />

Verfügung zu stellen. In fachlichen und<br />

inhaltlichen Fragen steht der Initiative<br />

die »Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus«<br />

(MBR) zur Seite. Ihre Mitarbeiterinnen<br />

empfahlen uns Kontakt zum<br />

Integrationsbeauftragten des Landes<br />

Berlin aufzunehmen, um finanzielle Unterstützung<br />

zu bitten. Zeitgleich rief die<br />

Amedeo-Antonio-Stiftung zu Spenden<br />

auf und richtete dafür ein Konto ein.<br />

Innerhalb kürzester Zeit kamen rund<br />

12.000 Euro zusammen. <strong>Die</strong> finanzielle<br />

Basis des Protests war somit gesichert.<br />

Auch von bezirkspolitischer Seite wird<br />

der Protest gegen »TØNSBERG« unterstützt.<br />

Der Bürgermeister von Mitte, Dr.<br />

Christian Handke (SPD), ist Schirmherr<br />

der Initiative. Gemeinsam mit VertreterInnen<br />

der MBR und Sprechern von<br />

»MITTE GEGEN RECHTS« veranstaltete<br />

der Bezirk 19 Tage nach Eröffnung<br />

der »Thor Steinar«- Filiale einen Runden<br />

Tisch zu dem alle AnwohnerInnen eingeladen<br />

wurden. Bei dieser Versammlung<br />

meldete sich erstm<strong>als</strong> ein Vertreter der<br />

Hauseigentümer der Rosa-Luxemburg-<br />

Straße 18 zu Wort und stellte fest, dass<br />

32<br />

dem zwielichtigen Bekleidungsgeschäft<br />

bereits gekündigt worden sei. Drei Tage<br />

später einigte sich die Bezirksverordnetenversammlung<br />

Mitte auf einen<br />

Beschluss, der diese Kündigung begrüßte<br />

und zu weiteren friedlichen Protesten<br />

aufrief. Kurz darauf versammelten<br />

sich nach einem Aufruf mehrerer<br />

Berliner Antifa-Gruppen Hunderte, um<br />

ihrem Unmut gegen Herrn Uwe Meusel,<br />

seiner Marke »Thor Steinar« und seine<br />

KundInnen im Rahmen einer Demonstration<br />

lautstark Luft zu machen. Innerhalb<br />

eines Monats war es gelungen, eine<br />

breite Öffentlichkeit auf das Problem<br />

»TØNSBERG« in der Rosa-Luxemburg-<br />

Straße hinzuweisen. Auch die Norwegische<br />

Botschaft strengte eine Klage gegen<br />

Uwe Meusel und die Protex GmbH<br />

an, da auf der Kleidung der Marke »Thor<br />

Steinar« oft die norwegische Flagge zu<br />

finden war.<br />

Nach dem sich der erste Trubel gelegt<br />

hatte, ging es einerseits darum, eine<br />

angemessene Form des dauerhaften<br />

Protestes zu finden und anderseits das<br />

Thema weiter in der Öffentlichkeit zu<br />

halten. Ein Ideenfindungsprozess wurde<br />

eingeleitet, der aufgrund unterschiedlicher<br />

beruflicher Ausrichtungen der Initiativmitglieder<br />

sehr kreativ und produktiv<br />

war. Erst entstand erstens ein Blog<br />

im Internet, der über die Initiative und<br />

den Stand des Protestes informiert. Hier<br />

können kostengünstig und mit wenig<br />

Aufwand Informationen dezentral angeboten<br />

werden. Neben Informationsmaterialen<br />

zu »Thor Steinar«, der Protex<br />

GmbH und Uwe Meusel wird regelmäßig<br />

über den Protest gegen das Label in anderen<br />

Städten berichtet. Zudem findet<br />

sich ein Spendenaufruf und eine Kontaktadresse<br />

auf der Seite.<br />

Zweitens wurde ein Logo entworfen.<br />

Der Designer ist selbst bei »MITTE GE-<br />

GEN RECHTS« aktiv. Das Logo wurde<br />

ebenfalls von AktivistInnen die im Textilbereich<br />

tätig sind, auf Taschen gedruckt,<br />

die in mehreren Shops im Kiez zum Kauf<br />

ausliegen. <strong>Die</strong> daraus erzielten Einnahmen<br />

stehen der Initiative zur Verfügung.<br />

KundInnen sehen die Taschen und fragen<br />

oft, worum es sich bei »MITTE GE-<br />

GEN RECHTS« genau handle. Nicht nur<br />

dann kommt der dreisprachige Infoflyer<br />

zum Einsatz der kurz über »Thor Steinar«,<br />

die neue Rechte und unserer Initiative<br />

informiert. <strong>Die</strong> Vorderseite, die<br />

das Logo ziert, kann <strong>als</strong> kleines Protestplakat<br />

verwendet werden. Einige Läden<br />

haben den Flyer <strong>als</strong> Zeichen des Widerstands<br />

und der Solidarität in ihr Schaufenster<br />

gehängt. Auf den Flyern befinden<br />

sich ebenfalls die Kontaktadresse<br />

der Initiative und ein Spendenaufruf.<br />

Das Logo prangte auch übergroß auf<br />

einem weiteren Bestandteil des Protestkonzepts:<br />

den Protest-Containern. Am<br />

Beginn, in der Mitte und am Ende der<br />

Straße wurden drittens diese Transportcontainer<br />

aufgestellt.<br />

<strong>Die</strong>se »Eyecatcher« griffen massiv in<br />

den öffentlichen Raum ein und machen<br />

so auf unser Problem aufmerksam.<br />

Durch eine Verkleidung mit Holzplatten<br />

entstanden an den Containern Flächen,<br />

die für Informationstexte im Stile<br />

einer Wandzeitung genutzt werden. Auf<br />

einem Container wurde über die Geschichte<br />

der Rosa-Luxemburg-Straße<br />

berichtet und ein weiterer informierte<br />

über der »Rechten neue Kleider« sowie<br />

die rechtsextreme Szene. Alle Texte waren<br />

in deutscher und englischer Sprache<br />

abgefasst. Ein dritter Container<br />

stand direkt vor dem »TØNSBERG«-Laden<br />

auf der dortigen Parkfläche. JedeR<br />

war eingeladen, dort Protestplakate anzubringen.<br />

Bis Ende November 2008 erwiesen<br />

sich die drei schwarzen Quader<br />

<strong>als</strong> äußerst wetter- und beschädigungsresistente<br />

Protestform. Sie stellten ein<br />

effektives Medium zur Aufklärung dar.<br />

Täglich blieben viele BesucherInnen der<br />

Straße vor den Containern stehen und<br />

informierten sich. Wenn die Plakate auf<br />

ihnen ausgetauscht werden, kommen<br />

wir oft mit Interessierten ins Gespräch.<br />

Regelmäßig fanden Führungen zu den<br />

Containern statt, die von Mitgliedern<br />

der Initiative geleitet wurden. Wenn die<br />

Plakate auf den Informationsträgern<br />

ausgetauscht wurden, kamen wir oft mit<br />

Interessierten ins Gespräch.<br />

Am 31. Mai 2008 wurden die Container<br />

im Rahmen eines Straßenfestes eingeweiht.<br />

Wiederum stieß die Initiative<br />

auf ein breites Medienecho und nutzte<br />

die Chance, sich in der Öffentlichkeit zu<br />

präsentieren. Der bereits erwähnte Israel<br />

Löwenstein, dessen Zeitzeugenaussagen<br />

auf einem der Protestcontainer zu<br />

finden sind, äußerte sich anschließend<br />

sehr positiv zu unserer Aktion und begrüßte<br />

das Engagement der Initiative.<br />

An einem Wochenende im August 2008,<br />

und zur »<strong>Linke</strong>n Kinonacht« am 19. September<br />

2008, wurden zwei der bisher<br />

verschlossenen Container kurzzeitig<br />

Geöffnet, um die Kurzfilmreihe »Filme<br />

gegen Rechts« durchzuführen. Zu sehen<br />

waren verschiedene Dokumentationen,<br />

Kurzfilme, Animationen, Reportagen<br />

und Clips, die sich mit der Geschichte<br />

des Kiezes sowie mit dem Rassismus,<br />

Antisemitismus und rechtsextremismus<br />

beschäftigten. Ende November 2008 lief<br />

die Genehmigung für die Container<br />

aus. Zudem war die Holzverschalung<br />

der Container witterungsbedingt be-


schädigt. Wir bauten sie ab. <strong>Die</strong> Holzflächen<br />

wurden einem Jugendzentrum in<br />

Berlin-Karlshorst zur Verfügung gestellt,<br />

um sie beim Protest gegen eine Neonazidemonstration<br />

einzusetzen. Das Konzept<br />

»Protestcontainer« findet eventuell<br />

in Zossen erste NachahmerInnen. Dort<br />

wehrt sich die Initiative »Jüdisches Leben<br />

in Zossen« gegen das Internet-Café<br />

Medienkombin@t zum Link«, das vom<br />

Holocaustleugner Rainer Link betrieben<br />

wird.<br />

Dass Uwe Meusel wegen eines Containers<br />

vor seinem Laden nicht aufgibt,<br />

war allen AktivistInnen klar. So erhielt<br />

die »:emyt«-Galerie einige Male ungebetenen<br />

Besuch. Zuletzt kam Herr Meusel<br />

höchst persönlich. Er bedankte sich für<br />

die gute Werbung die »MITTE GEGEN<br />

RECHTS« für ihn mache, beleidigte die<br />

Anwesenden und riet der Pressesprecherin<br />

der Initiative, auf ihre Gesundheit<br />

zu achten. <strong>Die</strong> Betroffenen haben<br />

Herrn Meusel angezeigt. <strong>Die</strong>se Kurzschlusshandlung<br />

zeigt, dass dem Geschäftsführer<br />

das Wasser mittlerweile<br />

bis zum H<strong>als</strong>e steht. <strong>Die</strong> Laufkundschaft<br />

hat deutlich abgenommen. Ein erster Erfolg<br />

für uns.<br />

Rund eine Woche vor dem eben geschilderten<br />

Vorfall konnte ein weiteres<br />

Zeichen gesetzt werden, um zu verdeutlichen<br />

dass für die Verherrlichung<br />

des »Dritten Reiches« in unserer Gesellschaft<br />

kein Platz ist. Verschiedene<br />

Privatpersonen und Organisationen<br />

hatten Geld gesammelt, um Stolpersteine<br />

zu setzen. Jenny Glück, Jacob Joelsohn,<br />

Minna Joelsohn, Adolf Rosentreter,<br />

Klara Rosentreter, Hans Rosentreter<br />

und Jutta Ruth Rosentreter wohnten bis<br />

zu ihrer Deportation in den Wohnungen<br />

über dem »TØNSBERG«-Geschäft in<br />

der Rosa-Luxemburg-Straße 18. Mit<br />

den Stolpersteinen wird an ihr Schicksal<br />

erinnert und ihrer gedacht. Um einen<br />

kleinen Einblick über die verbrecherische<br />

NS-Politik zu geben, wollten<br />

wir im leerstehenden Ladengeschäft neben<br />

dem »Thor Steinar«-Store eine Ausstellung<br />

präsentieren, die sich intensiver<br />

mit dem Schicksal der Ermordeten<br />

auseinandersetzt. Der Hauseigentümer<br />

stellte uns die Location trotz mehrfacher<br />

Bitten nicht zur Verfügung, da er<br />

»unpolitisch« sei. Hat er deshalb an Uwe<br />

Meusel vermietet? Kurzentschlossene<br />

schufen temporär aufstellbare Schautafeln,<br />

die nun vor dem Haus stehen.<br />

Zur Segnung der Stolpersteine kamen<br />

über 80 Personen. Einen Tag nach Uwe<br />

Meusels provokantem Auftreten gegenüber<br />

einigen Initiativmitgliedern wurde<br />

deutlich, dass sich weit mehr BerlinerInnen<br />

an »TØNSBERG« stoßen, <strong>als</strong> nur<br />

die AnrainerInnen. Neben dem Bezirksbürgermeister<br />

Dr. Handke, der eine kurze<br />

Rede hielt, waren VerterInnen verschiedener<br />

Parteien und Institutionen,<br />

wie der Amadeu-Antonio-Stiftung, der<br />

Jüdischen Gemeinde Berlins und des<br />

Zentralrats der Juden in Deutschland<br />

anwesend. Das musikalische Rahmenprogramm<br />

wurde von dem bekannten<br />

Klezmersänger Mark Aizikovitsch gestaltet.<br />

Verschiedene SpenderInnen der<br />

Stolpersteine stellten anschließend kurz<br />

die Biographien der sieben ermordeten<br />

AnwohnerInnen vor. <strong>Die</strong> hierfür notwendigen<br />

Recherchen wurden von »STOL-<br />

PERSTEINE« durchgeführt und uns zur<br />

Verfügung gestellt. Das singen von je<br />

einem Psalm und des Kaddisch, dem jüdischen<br />

Totengebet, durch den Kantor<br />

der jüdischen Gemeinde Simon Zkorenblut,<br />

beschloss die Gedenkfeier.<br />

Einen weiteren Höhepunkt fand der<br />

Protest am 19. September 2008. Zusammen<br />

mit dem Bezirksverband von<br />

»<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>« in Berlin-Mitte veranstaltete<br />

»MITTE GEGEN RECHTS« die »<strong>Linke</strong><br />

Kinonacht« unter dem Motto »Schöner<br />

leben ohne Nazis« im »Babylon«, direkt<br />

am Rosa-Luxemburg-Platz gelegen.<br />

Mehrere hundert, meist junge Menschen<br />

kamen, um sich das antifaschistische<br />

Programm aus Musik, Film und<br />

Kabarett anzusehen. Unsere Initiative<br />

war mit einem Infostand vertreten und<br />

hielt einen kurzen Redebeitrag.<br />

Etwa zehn Tage später begann eine<br />

neue Runde des Widerstandes gegen<br />

Uwe Meusel, »TÖNSBERG« und seine<br />

Mediatex GmbH: Am Landgericht Berlin<br />

wurde die Räumungsklage des Eigentümers<br />

der Rosa-Luxemburg-Straße 18,<br />

der Impala GmbH, verhandelt. Nachdem<br />

ein vom Richter angestrebter Vergleich<br />

scheiterte, beschloss das Gericht, bis<br />

Mitte Oktober 2008 den Rechtsstreit zu<br />

entscheiden. Am 14. Oktober 2008 hat<br />

das Berliner Landgericht der Räumungsklage<br />

des Vermieters des »TONSBERG«-<br />

Ladens in der Rosa-Luxemburg-Straße<br />

stattgegeben. Nach Ansicht der Richter<br />

hätte der Betreiber dem Vermieter<br />

vor der Eröffnung darüber informieren<br />

müssen, welche Ware in dem Geschäft<br />

angeboten werde. Wie zu erwarten war,<br />

hat die Mediatex GmbH, die mittlerweile<br />

offiziell nach Dubai verkauft wurde,<br />

zum 29. November 2008 Berufung gegen<br />

dieses Urteil eingelegt. Im Frühjahr<br />

2009 soll der Fall dann vor dem Kammergericht<br />

Berlin erneut verhandelt werden.<br />

<strong>Die</strong> Chancen für eine Räumung des<br />

Ladenlok<strong>als</strong> stehen gut, doch kann es zu<br />

weiteren Verzögerungen kommen. <strong>Die</strong><br />

Mediatex GmbH wird in einem ähnlich<br />

gelagerten Fall in Magdeburg voraussichtlich<br />

bis zur letzten Instanz gehen:<br />

Dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe.<br />

Trotz all der verschiedenen Protestformen<br />

und zahlreicher Bemühungen von<br />

vielen Seiten besteht der »TØNSBERG«-<br />

Store weiter. Er ist sogar bekannter<br />

denn je. Allerdings nicht <strong>als</strong> ganz normales<br />

Bekleidungsgeschäft, sondern<br />

<strong>als</strong> mit rechtem Gedankengut symphatisierender<br />

»Nazi-Laden«. Es ist uns in<br />

den letzten Monaten gelungen, die Verknüpfung<br />

»Thor Steinar« – »TØNSBERG«-<br />

Rechtsextremismus deutlich zu machen.<br />

JedeR Interessierte kann sich beteiligen.<br />

Zum Beispiel bei den monatlichen Treffen<br />

oder <strong>als</strong> UnterstützerIn der verschiedenen<br />

Protestformen. Viele unterstützen<br />

»MITTE GEGEN RECHTS« im Rahmen ihrer<br />

Möglichkeiten; sie stellen kostenlos<br />

ihre Kopierer zur Verfügung, erledigen<br />

und finanzieren großformatige Drucke<br />

oder helfen mit Werkzeug aus. Seit Februar<br />

2008 ist rund um die Rosa-Luxemburg-Straße<br />

ein gut funktionierendes<br />

Netzwerk entstanden, das Uwe Meusel,<br />

der Protex GmbH und »TØNSBERG«<br />

so lange auf die Nerven gehen wird, bis<br />

er mit samt seinem braunen Laden verschwindet.<br />

Roman Fröhlich<br />

1 Vgl. zur Geschichte des Kiezes um die Rosa-Luxemburg-Straße:<br />

Eike Geisel, Im Scheunenviertel. Bilder,<br />

Texte und Dokumente, Berlin 1981; Horst<br />

Helas u. <strong>Die</strong>ter Weigert, Scheunenviertel Berlin.<br />

Stadtteilführer, Berlin 1993 u. ö.; Reiner Zilkenat,<br />

»Ostjuden« <strong>als</strong> Objekte gewalttätiger Aktionen<br />

im Berlin der Weimarer Republik. Der Pogrom im<br />

Scheunenviertel am 5. und 6. November 1923, in:<br />

Mario Kessler, Hrsg., Antisemitismus und Arbeiterbewegung.<br />

Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert,<br />

Bonn 1993, S. 29 ff.; Verein Stiftung Scheunenviertel,<br />

Hrsg., Das Scheunenviertel. Spuren eines verlorenen<br />

Berlins, Berlin 1994 u. ö.; Horst Helas, Juden<br />

in Berlin-Mitte. Biografien-Orte-Begegnungen,<br />

2. Aufl., Berlin 2001 (mit weiter führenden Quellen-<br />

und Literaturangaben).<br />

2 Vgl. Peter Conrady, Neonazistische Alltagsmode –<br />

die Bekleidungsmarke Thor Steinar, in: Rundbrief,<br />

Heft 3/2008, S. 43 f.<br />

33


HISTORISCHES ZU RECHTSEXTREMISMUS<br />

UND ANTIFASCHISMUS<br />

Vor 90 Jahren starb Franz Mehring<br />

Geboren am 27. Februar 1846 in Schlawe,<br />

dem heutigen Slawno in Polen,<br />

verstarb Franz Mehring am 28. Januar<br />

1919 in einem Krankenhaus im Berliner<br />

Grunewald. Bislang wird vom 29. Januar<br />

<strong>als</strong> dem Datum seines Todes ausgegangen.<br />

Der Mehring- Forscher Waldemar<br />

Schupp schrieb bereits am 27. Februar<br />

1996 im »Neuen Deutschland«, Mehring<br />

sei in der Nacht vom 28. zum 29. Januar<br />

1919 verstorben. Aus einer mir in der<br />

ständigen Ausstellung über Leben und<br />

Wirken Franz Mehrings von einem Besucher<br />

übergegebenen Urkunde des Standesamtes<br />

Steglitz vom 29. Januar 1919<br />

wird der 28. Januar 1919 <strong>als</strong> Todestag<br />

ausgewiesen.<br />

Seine Kindheit und frühe Jugendzeit<br />

verlebte Mehring im preußischen Hinterpommern,<br />

in der Kreisstadt Sclawno<br />

zwischen Köslin, (Koszalin) und Stolp<br />

(Slupsk), wenige Kilometer von der Ostsee<br />

entfernt. <strong>Die</strong>se hinterpommersche<br />

Kleinstadt zählte dam<strong>als</strong> circa 5.000<br />

Einwohner. Einige kleinere Industriebetriebe<br />

und das landwirtschaftliche<br />

Umfeld mit Gutsbesitzern, Großbauern<br />

mit dem dazu gehörenden Heer von Tagelöhnern<br />

sowie eine Vielzahl kleiner<br />

Landwirte gaben dem Landkreis ihr Gepräge.<br />

Der Vater, Wilhelm Mehring, ein ehemaliger<br />

preußischer Offizier, war nach<br />

seiner Militärzeit Steuereinnehmer<br />

des Kreissteueramtes seines Heimatortes.<br />

Aus Untersuchungen Waldemar<br />

Schupps ergibt sich eine weitere Korrektur<br />

der biographischen Angaben zur<br />

Mutter Mehrings. Sie ist nicht wie angenommen,<br />

eine geborene Henriette von<br />

Zitsewitz, sondern eine geborene Schulz<br />

aus dem hinterpommerschen Lauenburg.<br />

Bislang wurde auf eine adlige<br />

Herkunft geschlossen. Streng im Preußengeist<br />

und evangelisch-lutherischen<br />

Glaubens, wollten die Eltern, dass ihr<br />

Sohn in die Fußstapfen der Vorfahren <strong>als</strong><br />

Prediger treten sollte. Im Leben kommt<br />

es aber häufig anders <strong>als</strong> vorher gedacht.<br />

Niemand konnte dam<strong>als</strong> ahnen,<br />

dass Franz Erdmann Mehring schließlich<br />

in seinem zweiten Leben nach 1890<br />

in die sozialdemokratische Partei eintreten,<br />

und nach dem Tod von Friedrich<br />

Engels zu deren bedeutendsten Historiker,<br />

Journalisten und Literaturkritiker<br />

wird und <strong>als</strong> unbeugsamer sozialdemo-<br />

34<br />

kratischer <strong>Linke</strong>r zum Mitbegründer der<br />

Kommunistischen Partei Deutschlands<br />

werden sollte.<br />

Mehring verbrachte seine Schulzeit in<br />

Schlawe und den nahe gelegenen Kreisstädten<br />

Greifenberg und Stolp. Zum Erlangen<br />

der Hochschulreife schickten<br />

Mehrings Eltern ihren Sohn zunächst<br />

auf das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium<br />

in die benachbarte Kreisstadt Greifenberg<br />

(Gryhice). Mit dem Abitur und dem<br />

häufig erwähnten Schulaufsatz »Preußens<br />

Verdienste für Deutschland« in der<br />

Tasche, führte Mehrings Weg 1866 zum<br />

Studium in das Königreich Sachsen. an<br />

die altehrwürdige, 1409 gegründete Alma<br />

Mater zu Leipzig. Er besuchte Vorlesungen<br />

bei dem klassischen Philologen<br />

Georg Curtius. Ebenso gehören griechischen<br />

Grammatik und die vergleichende<br />

Grammatik altitalischer Sprachen<br />

zu seinen Hauptfächern. Auf sein<br />

zuweilen wohl auch lustiges Studentenleben<br />

blieben das Wirken demokratischer<br />

Persönlichkeiten, die den revolutionären<br />

Geist der Menschenrechte<br />

der 1848er Revolution vertraten und<br />

das Bürgertum zur Besinnung auf diese<br />

Werte aufriefen, wie zum Beispiel<br />

Johann Jacoby (1805–1875) und Guido<br />

Weiß (1822–1<strong>899</strong>) sowie die aufwärts<br />

strebenden sozialistischen Kräfte<br />

(Eisenacher) um August Bebel (1840–<br />

1913) und Wilhelm Liebknecht, nicht ohne<br />

Einfluss. In Leipzig begann Mehrings<br />

kritische Beschäftigung mit dem Preußentum,<br />

hier entzündete sich auch sein<br />

journalistisches Interesse. 1<br />

Mehrings langer Weg vom<br />

bürgerlichen Demokraten zum<br />

demokratischen Sozialisten<br />

Von Leipzig kommend, trug sich Mehring<br />

<strong>als</strong> Zweiundzwanzigjähriger in Berlin,<br />

am 28. November 1868, unter der<br />

Nummer 757 in die Matrikel der Kaiser<br />

Wilhelm-Universität ein und besuchte<br />

Vorlesungen in drei Seminaren. Erst 11<br />

Jahre später promovierte Mehring, wiederum<br />

an der Leipziger Universität, extern<br />

zum Doktor der Philosophie. 2 Noch<br />

<strong>als</strong> Student wurde Mehring 1869 in die<br />

Redaktion der Tageszeitung »<strong>Die</strong> Zukunft«<br />

und später die der »Waage«, von<br />

den radikalen Demokraten Johann Jacoby<br />

und Guido Weiß herausgegeben, aufgenommen.<br />

In seiner »Rechtfertigungsschrift; ein<br />

nachträgliches Wort zum Dresdner Parteitag«<br />

3 von 1903, geht Mehring auf seinen<br />

Lebensabschnitt zwischen 1868<br />

und 1876 ein und schreibt, er sei mit<br />

Bebel »durch seinen alten Lehrer Guido<br />

Weiß bekannt geworden … wie das<br />

Bebel in Dresden geschildert hat. An<br />

Guido Weiß, der meines Erachtens zu<br />

den feinsten Stilisten in der Literatur<br />

des 19. Jahrhunderts gehört, war ich<br />

von den ästhetisch-literarischen Seite<br />

gekommen; <strong>als</strong> Mitredakteur bin ich<br />

an seiner ›Zukunft‹ von 1869 bis 1971<br />

und <strong>als</strong> Mitarbeiter seiner ›Waage‹ von<br />

1873–1876 tätig gewesen; in der Zwischenzeit<br />

war ich mit Leopold Jacobi,<br />

nicht zu verwechseln mit Johann Jacobi,<br />

Mitarbeiter des Oldenburgischen<br />

Reichs- und Landtagsberichts.«<br />

Bebel erwähnt in seien »Lebenserinnerungen«<br />

gemütliche Treffen, an denen<br />

auch Mehring am Ende der sechziger<br />

Jahre des 19. Jahrhunderts teilnahm.<br />

»Es war in Berlin eine ziemlich starke<br />

Gruppe meist gut gestellter Bürger, die<br />

in Johann Jacobi ihr Idol sahen und mit<br />

uns sympathisierten. Sie gruppierten<br />

sich um Dr. Guido Weiß, den Redakteur<br />

der von ihm vorzüglich geleiteten »Zukunft«,<br />

eines großen demokratischen<br />

Tageblattes, das die vermögenden Jakobyten<br />

– wie wir die speziellen Anhänger<br />

Jacobys kurz nannten – im Jahr<br />

1867 gegründet hatten … Zugehörige<br />

dieser Gruppe waren William Spindler,<br />

der Sohn des Gründers des großen<br />

Färbereigeschäfts W. Spindler, van der<br />

Leeden, Dr. G. Friedländer, Morten Levy,<br />

Dr. Meierstein, Boas, Dr. Stephan, später<br />

Chefredakteur der »Vossischen Zeitung«<br />

und andere. Auch der dam<strong>als</strong> sehr<br />

junge Mehring den ich dam<strong>als</strong> durch Robert<br />

Schweichel hatte kennengelernt,<br />

gehörte zu diesem Kreis. Blieben Liebknecht<br />

und ich über Sonntag in Berlin,<br />

so trafen wir in der Regel mit mehreren<br />

der Genannten, unter denen sich auch<br />

öfter Paul Singer befand, in einer Weinstube<br />

zusammen.« 4<br />

Mehring gegen die Annexion<br />

Elsass-Lothringens<br />

1870/71 fand der von Bismarck provozierte<br />

Deutsch-Französische Krieg statt.<br />

Zeitweilig eingenommene national liberale<br />

Positionen, beeinflusst von den mi-


litärischen Siegen Preußens, man denke<br />

an die Schlacht bei Sedan, dürfen im<br />

Rüc<strong>kb</strong>lick nicht unberücksichtigt lassen,<br />

dass der junge Mehring im Oktober 1870<br />

zu den 100 Aufrechten gehörte, die den<br />

von August Bebel, Wilhelm Liebknecht<br />

und Guido Weiß formulierten Aufruf gegen<br />

die Annexion von Elsass-Lothringen<br />

durch Preußen unterzeichneten. Es war<br />

die Tageszeitung »<strong>Die</strong> Zukunft«, die diesen<br />

Protest veröffentlichte.<br />

<strong>Die</strong> von Mehring angeregte Auseinandersetzung<br />

mit dem an der Berliner Universität<br />

lehrenden Historiker Heinrich<br />

von Treitschke (1834–1896) und seinen<br />

Verleumdungen des Sozialismus,<br />

wurde von Guido Weiß aufgegriffen. Daraufhin<br />

veröffentlichte Mehring im Sommer<br />

1875 in der »Waage« mehrere Artikel<br />

gegen Treitschke, den Apologeten<br />

des preußischen Militarismus und der<br />

Hohenzollernmonarchie. Sie erschienen<br />

kurze Zeit später <strong>als</strong> Broschüre. 5<br />

Nach den auf dem Dresdner Parteitag<br />

1903 gegen Mehring erhobenen Vorwurf<br />

er habe sich vor zwanzig Jahren in<br />

den Artikeln <strong>als</strong> Sozialdemokrat ausgegeben,<br />

sie aber später gnadenlos angegriffen<br />

schrieb dieser: »Ich habe sie<br />

neulich (die Broschüre, W.R.), seit ein<br />

paar Jahrzehnten wieder durchgesehen<br />

und finde, dass sie der wissenschaftlichen<br />

Gedankenwelt des Sozialismus<br />

noch vollkommen fern steht. Sie trumpft<br />

eben nur, gleichviel mit welchem Maße<br />

von Witz, die ordinären Philistervorurteile<br />

gegen die moderne Arbeiterbewegung<br />

auf, zu deren Echo sich Treitschke<br />

gemacht hatte.«<br />

Seine damalige, sehr gefühlsmäßige<br />

Befürwortung der Sozialdemokratie<br />

darf nicht übersehen lassen, sie belegt,<br />

dass Mehring noch im bürgerlichradikalen<br />

Lager stand. Ihm bedeutete<br />

der Lassallsche Nachlass mehr <strong>als</strong> Forschungsergebnisse<br />

von Karl Marx und<br />

Friedrich Engels. So war sein Verhältnis<br />

zur modernen Arbeiterbewegung<br />

sehr pragmatisch von seinem ausgeprägten<br />

Gerechtigkeitsempfinden bestimmt.<br />

Später wurden auch antisemitische<br />

Äußerungen des Widerparts von<br />

Franz Mehring, Heinrich von Treitschke,<br />

bekannt: Er diffamierte Juden <strong>als</strong> »das<br />

fremde Element« im deutschen Volk<br />

und schrieb unter anderem: »<strong>Die</strong> Juden<br />

sind unser Unglück«; Anlass genug für<br />

die Nazis, ihn in die Galerie der »großen<br />

Deutschen« aufzunehmen. 7<br />

Enthüllungsjournalismus gegen<br />

Korruption und Geldgier mit<br />

unübersehbaren Folgen<br />

1876 geschah etwas, das Mehrings Hinwendung<br />

zur jungen deutschen Sozi-<br />

aldemokratie jäh unterbrach und ihn<br />

zeitweilig zu ihrem enttäuschten und<br />

verbitterten Gegner machte. Mehring<br />

veröffentlichte, gestützt auf ihm vorliegende<br />

Beweisstücke, am 21. Mai 1976 in<br />

der »Staatsbürger-Zeitung« seine Anklage<br />

gegen Leopold Sonnemann, Herausgeber<br />

und Chefredakteur der bekannten<br />

»Frankfurter Zeitung« und Reichstagsabgeordneter.<br />

Mehring schrieb:<br />

»Somit erheben wir Anklage gegen den<br />

Reichstagsabgeordneten zu Frankfurt<br />

a.M., Herrn Leopold Sonnemann, dass<br />

er während der Schwindelperiode (auch<br />

Gründerzeit genannt, W. Ruch) seine öffentliche<br />

Vertrauensstellung <strong>als</strong> Besitzer<br />

und Leiter der ›Frankfurter Zeitung‹ benutzt<br />

hat zu heimlichen Gewinnsten aus<br />

Gründungen, über welche sein Publikum<br />

in seinem Blatte ein unbestochenes und<br />

unparteiisches Urteil zu erwarten berechtigt<br />

war.« 8<br />

In der Sozialdemokratie löste diese<br />

Anklage ein Für und Wider aus. Bebel<br />

und Liebknecht zeigten sich besonders<br />

schockiert. Sie sahen in Mehrings Vorgehen<br />

einen unverzeihlichen politischen<br />

Fehler. Für sie war Herr Sonnemann<br />

zwar nicht »unbefleckt«, aber dessen<br />

Offerten und Neigungen zur Sozialdemokratie<br />

ließen sie über manches hinwegsehen.<br />

So sah man es auch 1876<br />

auf dem Gothaer Vereinigungsparteitag.<br />

Zeit seines Lebens ließ er nichts<br />

auf sich sitzen. Seinen steter Einsatz<br />

für den Schwächeren sah er angegriffen;<br />

enttäuscht und verbittert bezichtigte<br />

Mehring jetzt führende Sozialdemokraten<br />

des Wortbruchs. Sie würden<br />

»Wasser predigen und selbst heimlich<br />

Wein trinken.« Von einem »einrenken«<br />

war von beiden Seiten keine Seite Rede.<br />

Im Januar 1877 erschien von Mehring,<br />

kurz vor den Reichstagswahlen, seine<br />

gegen die Sozialdemokratie gerichtete<br />

Schrift: »Zur Geschichte der deutschen<br />

Sozialdemokratie; ein historischer Versuch.«<br />

Ein gefundenes Fressen für die<br />

knservative Presse. Dem folgte dann<br />

noch das Buch: »<strong>Die</strong> deutsche Sozialdemokratie,<br />

ihre Geschichte und ihre<br />

Lehre; eine historisch-kritische Darstellung«.<br />

Mit Letzterem promovierte<br />

Mehring schließlich am 9. August 1882<br />

an der Leipziger Universität.<br />

Zu dieser Zeit beginnt Mehring sich mit<br />

dem »Sozialistengesetzes« und seiner<br />

Anwendung auseinanderzusetzen. Er<br />

durchschaute Bismarcks »Sozialgesetzgebung«<br />

<strong>als</strong> Politik »mit Zuckerbrot und<br />

Peitsche«. Man hört von Mehring wieder<br />

anerkennende Worte für den mutigen<br />

Kampf der Sozialdemokraten, gemischt<br />

mit Bemerkungen über die SPD, die das<br />

Verhältnis zu ihr weiterhin belasteten.<br />

<strong>Die</strong> erlittenen Wunden waren noch nicht<br />

verheilt. Das bescherte Mehring nicht<br />

gerade angenehme Entgegnungen von<br />

Karl Marx und Friedrich Engels. Engels<br />

schrieb am 24. Juli 1885 an Bebel:<br />

»<strong>Die</strong> Artikel der »Berliner Volkszeitung«<br />

sind sicher von Mehring, wenigstens<br />

weiß ich keinen anderen in Berlin, der<br />

so gut schreiben kann. Der Kerl hat viel<br />

Talent und einen offenen Kopf, ist aber<br />

ein berechnender Lump und von Natur<br />

ein Verräter …«<br />

Wie so oft führen Klassenkämpfe zu<br />

besseren Einsichten. Während Mehring<br />

immer energischer das »Sozialistengesetz«<br />

bekämpfte und seine Aufhebung<br />

forderte, beschäftigte er sich intensiv<br />

mit dem wissenschaftlichen Werk von<br />

Marx und Engels. Mehring selbst gibt<br />

zwanzig Jahre später das Jahr 1883 <strong>als</strong><br />

Zeitpunkt seines »Gesinnungswandels«<br />

an. In der zweiten Hälfte der 80 er Jahre<br />

gewinnt er in der Sozialdemokratie<br />

wieder Achtung. Es kommt zu Gesprächen<br />

zwischen Mehring, Bebel und<br />

Liebknecht und anderen. 1888 erscheinen<br />

von Mehring erste Artikel in der seit<br />

1882 unter der Regie von Karl Kautsky<br />

monatlich erscheinenden theoretischen<br />

Zeitung der Sozialdemokratie »<strong>Die</strong> Neue<br />

Zeit«. Umgekehrt übernahmen Sozialdemokratische<br />

Blätter Artikel aus der<br />

»Volkszeitung«, deren Chefredakteur<br />

Mehring von 1885 bis 1890 war.<br />

Franz Mehring wird Mitglied der SPD<br />

1891 kommt es zum endgültigen Bruch<br />

mit dem bürgerlichen Lager. Franz<br />

Mehring wird jetzt, immerhin schon 45<br />

Jahre alt, Mitglied der Sozialdemokratischen<br />

Partei. Fortan stellt er ihr sein<br />

umfangreiches Wissen und das in zwei<br />

Jahrzehnten erworbene journalistische<br />

Können zur Verfügung. Mehring wird<br />

in die Redaktion der von Karl Kautsky<br />

geleiteten Zeitschrift »<strong>Die</strong> Neue Zeit« 10<br />

geholt und bekommt die Verantwortung<br />

für das Feuilleton übertragen, wird<br />

bald ihr Leitartikler und Mitherausgeber.<br />

Ab 1892 erscheint sein Name erstmalig<br />

auf dem Titelblatt neben August Bebel,<br />

Eduard Bernstein, Friedrich Engels,<br />

Paul Lafargue, Wilhelm Liebknecht, Max<br />

Schippel, F.R. Sorge u. a. <strong>als</strong> ständiger<br />

Mitarbeiter. Seine verdienstvolle Tätigkeit<br />

für die deutsche Sozialdemokratie<br />

<strong>als</strong> marxistischer Historiker, Literaturkritiker,<br />

Publizist und führender Kopf der<br />

<strong>Linke</strong>n hatte begonnen.<br />

Eine bibliographische<br />

Zwischenbemerkung<br />

Aus der kaum zu überblickenden Zahl<br />

von Publikationen, Artikeln, Broschüren<br />

und Büchern. erfuhr zunächst »<strong>Die</strong><br />

35


Lessing-Legende, eine Rettung, nebst<br />

einem Anhang über den historischen<br />

Materialismus« große Beachtung. Als<br />

Buch erschien sie 1893 erstmalig im<br />

Verlag J.H.W. <strong>Die</strong>tz, in der Internationalen<br />

Bibliothek, Band 17. Vom gleichen<br />

Verlag wurde sie neunmal herausgegeben,<br />

zuletzt 1926. 11 1897/98 gab der<br />

<strong>Die</strong>tz Verlag die von Heinrich <strong>Die</strong>tz in<br />

Auftrag gegebene mehrbändige Ausgabe<br />

»Geschichte der Sozialdemokratie<br />

Deutschlands«.<br />

In einem zum 125 Jahrestag des <strong>Die</strong>tz<br />

Verlages von der Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

herausgegebenen Buch liest man<br />

im Beitrag von Rüdiger Zimmermann:<br />

»Mehring war <strong>als</strong> Autor nicht immer<br />

unumstritten. Er genoss keine großen<br />

Sympathien.« Wer wollte wohl ausschließen,<br />

dass es zwischen zwei so<br />

starken Persönlichkeiten, zumal sie sich<br />

<strong>als</strong> Autoren und Verleger gegenüber traten,<br />

keine Reibereien gegeben haben<br />

sollte. Fast alle Buchtitel von Mehring<br />

erschienen noch zu Lebzeiten beider,<br />

im J.H.W. <strong>Die</strong>tz-Verlag, außer die 1918<br />

verlegte Karl-Marx-Biographie. Was<br />

den Menschen Franz Mehring anging,<br />

schrieb Clara Zetkin in ihrem Nachruf<br />

am 21. Februar 1919 in der Frauenbeilage<br />

der Leipziger Volkszeitung«:<br />

»Der Mensch Franz Mehring ist oft und<br />

scharf bekrittelt worden. Erklärlich ge-<br />

36<br />

nug, doch zu Unrecht. Gewiss: dieser<br />

allzeit gerüstete, rauflustige Degen war<br />

sowenig wie Marx. ›ein langweiliger Musterknabe‹<br />

Er war stark in seniem Groll,<br />

wie in seiner Überzeugung, in seinem<br />

ritterlicher Mitgefühl für Verkannte und<br />

Geächtete, in seiner Freundschaft«. <strong>Die</strong><br />

Größe dieser beiden Männer bestand<br />

wohl darin, dass beide immer wieder<br />

zusammen fanden. Zum 70. Geburtstag<br />

am 2. Oktober 1913, unmittelbar nach<br />

dem Tode August Bebels, übermittelte<br />

Mehring Heinrich <strong>Die</strong>tz herzliche Grüße<br />

und Glückwünsche. Tags zuvor waren<br />

sie in der »Leipziger Volkszeitung«<br />

zu lesen:« Sein Tagwerk steht in der<br />

Geschichte des proletarischen Emanzipationskampfes<br />

so groß da, wie das<br />

Tagwerk irgendeines von denen, die<br />

jahrzehntelang Schulter an Schulter<br />

mit ihm gearbeitet und gekämpft haben;<br />

ja, wenn er allzeit seinen Mann gestanden<br />

hat, wo immer die Parteipflicht<br />

heischend, an ihn herantrat, <strong>als</strong> Agitator,<br />

<strong>als</strong> Organisator, <strong>als</strong> Gewerkschafter,<br />

<strong>als</strong> Parlamentarier, so hat er doch<br />

einen großen und wichtigen Teil unseres<br />

Schlachtfeldes aus ureigenster Kraft<br />

verwaltet, lange Zeit allein und dann immer<br />

noch <strong>als</strong> Vorbild der jüngeren Kräfte,<br />

die ihm nacheiferten und die ihm nur<br />

nacheifern konnten, weil sie ihr Bestes<br />

von ihm gelernt hatten. Heinrich <strong>Die</strong>tz<br />

ist der Schöpfer der wissenschaftlichen<br />

Literatur, die die deutsche Arbeiterpartei<br />

zu ihren schönsten Ehren- und Ruhmestiteln<br />

zählen darf.«<br />

Eduard Fuchs (Universum–Bücherei Berlin)<br />

gab von Mehring eine sieben bändige<br />

Auswahl »Gesammelter Schriften<br />

und Aufsätze« in den Jahren von 1929<br />

bis 1933 heraus. Eine Werkauswahl in<br />

drei Bänden, herausgegeben von Fritz J.<br />

Raddatz, wurde von Luchterhand Darmstadt<br />

von 1974/1975 verlegt. Schließlich<br />

wurden die bisherigen Ausgaben<br />

gekrönt von der ersten umfassenden<br />

Ausgabe »Gesammelte Schriften« in<br />

der DDR; herausgegeben wurde sie von<br />

Thomas Höhle, Hans Koch und Josef<br />

Schleifstein, Band 1–15, <strong>Die</strong>tz Verlag<br />

Berlin, 1960 bis 1984. Einzelne Bände<br />

erschienen außerdem in mehreren Auflagen.<br />

Im Ausland erschienen Bücher von<br />

Mehring zum Teil in hohen Auflagen,<br />

in chinesischer, deutscher, englischer,<br />

französischer, japanischer, polnischer,<br />

rumänischer, serbischer, slowenischer,<br />

slowakischer, spanischer, tschechischer<br />

und ungarischer Sprache. Jüngst erhielt<br />

ich Kenntnis von einer indischen Ausgabe<br />

gesammelter Schriften in englischer<br />

Sprache. Herausgegeben 1998 erschien<br />

in Indiens Hauptstadt Delhi erneut eine<br />

Sammelausgabe.


Mehring im letzten Jahrzehnt des<br />

19. Jahrhunderts.<br />

Der Weltkapitalismus vollzieht an unterschiedlichen<br />

Fronten und mit unterschiedlichem<br />

Tempo den Übergang in<br />

sein imperialistisches Stadium. 1898<br />

beschließt der Reichstag das erste Programm<br />

zur Hochrüstung der Flotte. Sie<br />

sei notwendig, so der Kaiser, um in die<br />

Lage zu kommen den noch nicht erreichten<br />

Platz in der Welt zu erreichen.<br />

Der Rüstungskonzern versicherte dem<br />

Kaiser seine Überzeugung, dass seine<br />

Exellence sich dafür einsetzen werde für<br />

Deutschlands einen »Platz an der Sonne«<br />

zu sichern. 1898 vereinbarte der<br />

Kaiser Wilhelm II .mit dem türkischen<br />

Sultan den Bau der Bagdadbahn. Bereits<br />

1897 wurde Kiautschou am Gelben<br />

Meer annektiert. Deutschland nahm<br />

Teil am Wettlauf der Großmächte gegen<br />

China und beteiligt sich 1900 an der<br />

Niederschlagung des Boxeraufstandes.<br />

In dieser Zeit gelang es den deutschen<br />

Sozialisten ihren Einfluss nachhaltig zu<br />

erweitern und sich <strong>als</strong> Teil der internationalen<br />

Arbeiterbewegung zu definieren.<br />

Mehrings Herz schlug für die Idee des<br />

Internationalismus und das solidarische<br />

Zusammenstehen. Zahlreiche Beiträge<br />

Mehrings nach 1890 sind daher dem<br />

1. Mai und der internationalen Revolutionsgeschichte<br />

gewidmet.<br />

Von Mehrings Leistungen <strong>als</strong> Historiker<br />

und Literaturwissenschaftler im<br />

neunten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts<br />

sollen auf Anhieb drei genannt<br />

werden, erstens 1892/93 die Herausgabe<br />

der »Lessing-Legende«, zweitens<br />

die Wahl zum Vorsitzenden des Berliner<br />

Freien Volksbühne Vereins und drittens<br />

1887/88 die Fertigstellung jenes<br />

Werkes, das zu seinen bedeutsamsten<br />

gehört: »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie«.<br />

Zur »Lessing-Legende«<br />

Zunächst veröffentlicht »<strong>Die</strong> Neue Zeit«<br />

von Januar bis Juni 1892 »<strong>Die</strong> Lessing-<br />

Legende.« <strong>Die</strong>se Artikelfolge erscheint<br />

noch im gleichen Jahr. seiner Frau Eva<br />

gewidmet, <strong>als</strong> Buch im <strong>Die</strong>tz Verlag. Das<br />

war jenes Jahr, in dem am 22. September<br />

Friedrich Engels in den »Concordia<br />

Festsälen« im Berliner Bezirk Friedrichshain<br />

von 4 000 Besuchern stürmisch<br />

gefeiert wird. Neben den Mitgliedern<br />

des Parteivorstandes waren, wie aus<br />

Polizeiberichten hervorging, auch Bruno<br />

Schoenlank, Arthur Stadthagen und<br />

Franz Mehring anwesend. Ein Jahr später<br />

schrieb Engels an Mehring über die<br />

»Lessing-Legende«:<br />

»Es ist bei weitem die beste Darstellung<br />

der Genesis des preußischen Staates,<br />

die existiert, ja, ich kann wohl sagen, die<br />

einzig gute, in den meisten Dingen bis zu<br />

den Einzelheiten richtig die Zusammenhänge<br />

entwickelnd. Man bedauert nur,<br />

das sie nicht auch gleich die ganze Weiterentwicklung<br />

bis auf Bismarck haben<br />

hinein nehmen können, und hofft unwillkürlich,<br />

dass Sie dies ein andermal tun<br />

und das Gesamtbild im Zusammenhang<br />

darstellen werden vom Kurfürsten Friedrich<br />

Wilhelm bis zum alten Wilhelm.«<br />

Damit wird auch die gelegentliche Frage<br />

beantwortet, ob sich das Buch gegen<br />

Lessing richte. Das Gegenteil ist<br />

der Fall. Tatsächlich entlarvt es die Legende<br />

vom »aufgeklärten« Despotismus<br />

des »Alten Fritz«. Mehring sah in Lessing<br />

einen bedeutenden Aufklärer, der<br />

<strong>als</strong> Dichter und Literaturkritiker zum Begründer<br />

der bürgerlichen deutschen Nationalkultur<br />

wurde. Mehring ging es um<br />

eine Analyse der Geschichte Preußens<br />

und den Missbrauch Lessings für die reaktionäre<br />

Idealisierung des preußischen<br />

Despotismus. Mehring hat nie einen<br />

Zweifel daran gelassen, dass er Preußen<br />

<strong>als</strong> Teil der deutschen Geschichte<br />

sah, aber er sah Preußen nie nur aus der<br />

Sicht seiner Legenden und <strong>als</strong> Historiker<br />

ließ er sich nicht in die Grenzpfähle<br />

Preußens zwängen.<br />

<strong>Die</strong> »Lessing-Legende« und das<br />

Hohenzollern-Schloss in Berlin<br />

Ließt man die »Lessing-Legende«, stößt<br />

man sehr schnell auf die in den letzten<br />

Jahren geführte Debatten um das Berliner<br />

Hohenzollern-Schloss. So wenig<br />

wie es beim Abriss des Palastes des<br />

Volkes um Architekturauffassungen<br />

mit oder ohne Asbest ging, so wenig<br />

geht es beim Wiederaufbau des Stadtschlosses<br />

um die von den Protagonisten,<br />

teils blauäugig vertretene Auffassung,<br />

der Wideraufbau diene der<br />

Pflege deutschen Architekturerbes.<br />

Man sollte sich daran erinnern, dass es<br />

der Alliierte Kontrollrat war der es für<br />

nötig hielt per Gesetz 46 vom 25. Februar<br />

1947 den Staat Preußen mit der<br />

Begründung aufzulösen: »Der Staat<br />

Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus<br />

und der Reaktion in Deutschland<br />

gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu<br />

bestehen aufgehört. Geleitet vom Interesse<br />

der Aufrechterhaltung des Friedens<br />

und der Sicherheit der Völker<br />

und erfüllt von dem Wunsche, die weitere<br />

Widerherstellung des politischen<br />

Lebens in Deutschland auf demokratischer<br />

Grundlage zu sichern, erlässt<br />

der Kontrollrat das folgende Gesetz:«<br />

zur Auflösung des Staates Preußens. Eine<br />

geschichtsträchtige Debatte zur Rolle<br />

der Hohenzollernmonarchie in der<br />

deutschen Geschichte fand nicht statt.<br />

Das heutige konservative Preußenbild<br />

gab ihr keine Chance. Andere Lösungsvorschläge<br />

<strong>als</strong> Abriss des Palastes verfielen<br />

der Ablehnung. Der Preußengeist<br />

feiert neue Urständ. Einen Tag vor Sylvester,<br />

am 30. Dezember 2008 benutzt<br />

Bernhard Schulz 12 , der Preußensachverständige<br />

und Kolumnist des »Tagesspiegel«,<br />

die vorgelegte Jahresbilanz der<br />

»Stiftung Preußischer Kulturbesitz um<br />

seine geschichtsphilosophischen Dogmen<br />

an den Leser zu bringen: »Der Bundespräsident<br />

hielt die Festrede (2007 d.<br />

Verf.), aber man staunt auch im Nachhinein<br />

wie vorsichtig sich Horst Köhler<br />

der kulturellen Bedeutung Preußens näherte,<br />

<strong>als</strong> müsste man heute noch rituell<br />

Abbitte leisten für den Militärstaat,<br />

der Preußen zweifellos auch war. >Den<br />

Sonderweg der gradlinig in die Nazidiktatur<br />

mit ihren unsäglichen Verbrechen<br />

.führteWiderstand gegen Hitler«. Empfiehlt<br />

sich da nicht wieder, in Mehrings<br />

»Lessing-Legende« zu schauen?<br />

1910 schloss Mehring den Kreis seiner<br />

Untersuchungen zur deutsch-preußischen<br />

Geschichte mit dem Buch:<br />

»Deutsche Geschichte vom Ausgange<br />

des Mittelalters« bis zum Sturz Bismarcks.<br />

<strong>Die</strong>se Schrift, so Mehring in<br />

seinem Vorwort sei entstanden aus den<br />

Vorträgen die er seit vier Jahren an der<br />

Parteischule der SPD gehalten habe.<br />

<strong>Die</strong> erste Neuauflage dieses Werkes erfolgte<br />

1946, unmittelbar nach dem Vereinigungsparteitag<br />

von SPD und KPD in<br />

Berlin durch den <strong>Die</strong>tz Verlag der Sozialistischen<br />

Einheitspartei Deutschlands.<br />

Begründet wurde diese Veröffentlichung<br />

mit der Notwendigkeit die deutsche Geschichte<br />

zu bewältigen.<br />

Vorsitzender des Vereins der Freien<br />

Volksbühne<br />

Mehring zog es zu dem 1890 im Böhmischen<br />

Brauhaus in Friedrichshain<br />

gegründeten Theaterverein Freie<br />

Volksbühne Berlin. An der Gründungsversammlung<br />

hatten etwa 2000 Berliner<br />

teilgenommen von denen viele<br />

ihren Beitritt zu einem monatlichen<br />

Beitrag von 50 Pfennig erklärt hatten.<br />

»Kunst dem Volke« 14 war das im Gründungsaufruf<br />

verkündete Ziel dieser ersten<br />

selbstständigen Theaterorganisation<br />

der Arbeiterbewegung. In der,<br />

sofort nach Gründung des Vereins einsetzenden<br />

Debatte über die Konzeption<br />

des Spielplanes und über seine künst-<br />

37


lerische Umsetzung konnte sich Bruno<br />

Wille, dem Initiator aus dem Friedrichshagener<br />

Kulturkreis, im Vorstand<br />

nicht durchsetzen. Er wurde »gestürzt«.<br />

Am 11. September 1892 wählte die Mitgliederversammlung<br />

Franz Mehring<br />

zum neuen Vorsitzenden des Vereins.<br />

Sie sah in seiner Wahl die Möglichkeit,<br />

aus der konzeptionellen Krise<br />

der jungen Theatergemeinschaft heraus<br />

zu kommen. Der Verein verfügte<br />

über keine eigene Bühne. Das Gebäude<br />

der »Volksbühne« am heutigen Rosa-<br />

Luxemburg-Platz konnte erst 1914 fertig<br />

gestellt werden. Das Ostend-Theater<br />

in der Großen Frankfurter Straße 132<br />

Ecke Koppenstraße wurde gemietet.<br />

Henrik Ibsens Drama »Stützen der Gesellschaft«<br />

gehörte zu den Erstaufführungen..<br />

Unter dem Vorsitz von Mehring<br />

gelangte 1893 das mehrfach verbotene<br />

Schauspiel »<strong>Die</strong> Weber« von Gerhart<br />

Hauptmann zur Aufführung. 15 Mit regelmäßigen<br />

Beiträgen im Mitteilungsblatt<br />

des Vereins trug Mehring auch zu seiner<br />

geistigen Gestaltung bei. Im Dezember<br />

1893 schrieb Mehring: (…) <strong>Die</strong> »Weber«<br />

von Gerhart Hauptmann ist das einzige<br />

Bühnenstück der Gegenwart, das auf<br />

der Höhe des modernen Lebens steht<br />

und für das Ende des neunzehnten Jahrhunderts<br />

eine ähnliche Bedeutung in<br />

der deutschen Literatur beanspruchen<br />

kann wie Schillers Räuber Ausgangs<br />

des achtzehnten Jahrhunderts. (…) 16<br />

<strong>Die</strong> »Geschichte der deutschen<br />

Sozialdemokratie«<br />

Heinrich <strong>Die</strong>tz, Verlagschef des gleichnamigen,<br />

der SPD nahe stehenden<br />

Verlages, hatte Franz Mehring mit der<br />

Abfassung der Geschichte der Sozialdemokratischen<br />

Partei Deutschlands<br />

»beauftragt«. 17 Von 1893, dem Jahr des<br />

Erscheinens seines ersten literatur-historischen<br />

Werkes die »Lessing-Legende«,<br />

begann Mehring an der Parteigeschichte<br />

zu arbeiten. 1897/98 erschienen, war<br />

sie die erste umfassende Darstellung der<br />

Geschichte der deutzschen Sozialdemokratie<br />

und der Grundlagen des modernen<br />

wissenschaftlichen Kommunismus.<br />

<strong>Die</strong> Kenntnis der eigenen Wurzeln, der<br />

geistigen Ahnen von Marx und Engels,<br />

der internationalen Geschichte der sozialen<br />

Bewegungen des 19. Jahrhunderts,<br />

insbesondere der der Sozialdemokratie,<br />

halfen der Partei, sich selbst <strong>als</strong> die die<br />

Geschichte bewegende und verändernde<br />

Kraft zu erkennen. Mehring erwies sich<br />

nach dem Tode von Friedrich Engels<br />

<strong>als</strong> bedeutendster Historiker der sozialdemokratischen<br />

Partei. <strong>Die</strong> Schönfärber<br />

des Preußentums und Verehrer der<br />

Bourgeoisie verschiedener Couleurs tra-<br />

38<br />

ten sofort gegen Mehring auf den Plan.<br />

In Erwartung solcher Anwürfe schrieb<br />

Mehring 1897: » <strong>Die</strong> alte Erfahrung, dass<br />

jedes Buch sich selbst das Recht seines<br />

Daseins erkämpfen muss, trifft dreimal<br />

zu auf die Geschichte der Sozialdemokratie,<br />

die wissenschaftlichen Ansprüchen<br />

gerecht zu werden sucht.« 18 Heute<br />

lässt sich sagen: die drei Hauptwerke<br />

Mehring die »Lessing-Legende« die »Geschichte<br />

der deutschern Sozialdemokratie«<br />

und die im Mai 1918 erschienene<br />

Marx-Biographie haben ihr Daseinsrecht<br />

bewahrt.<br />

Franz Mehring und die<br />

»<strong>Die</strong> Leipziger Volkszeitung«<br />

Von Ostern 1902 bis 1907 währte die<br />

»Ära Mehring« <strong>als</strong> Chefredakteur der am<br />

1. Oktober 1894 gegründeten »Leipziger<br />

Volkszeitung« (LVZ).Er wurde zum Pendler<br />

zwischen Leipzig und seinem Hauptwohnsitz<br />

Berlin. Mehring setzte seine<br />

verantwortliche Tätigkeit in der Zeitschrift<br />

»<strong>Die</strong> Neue Zeit« und <strong>als</strong> Historiker<br />

und Literaturwissenschaftler fort. So<br />

spannte sich der Bogen seiner journalistischen<br />

Tätigkeit von der »Zukunft« bis<br />

zur »Roten Fahne«. Dazwischen liegen<br />

»<strong>Die</strong> Neue Zeit«, »<strong>Die</strong> Leipziger Volkszeitung«,<br />

der »Vorwärts«, Spartakusbriefe<br />

Bekanntheitsgrad wie dem Bremer und<br />

Stuttgarter Sozialdemokrat und der von<br />

Eugen Prager (1876–1942) redigierten<br />

Thüringer Zeitung »Zukunft«. und Veröffentlichungen<br />

in sozialdemokratischen<br />

Zeitungen mit einem reichsweiten<br />

1902 erschienen von Mehring im <strong>Die</strong>tz<br />

Verlag drei Bände aus dem literarischen<br />

Nachlass von »Karl Marx und Friedrich<br />

Engels und <strong>als</strong> vierter Band die Briefe<br />

Ferdinand Lassalles. In Leipzig war der<br />

Journalist Mehring kein Unbekannter.<br />

Schon im April 1897 hatte er sich in der<br />

LVZ mit Eduard Bernstein 19 auseinandergesetzt:<br />

Mehring schrieb: »Wollte die<br />

Sozialdemokratie ihren Klassenkampf<br />

führen, ohne unausgesetzt ihr Endziel<br />

im Auge zu behalten, so würde sie<br />

einem Schiffer gleichen, der sich ohne<br />

Kompass und Steuer auf einem klippenreichen<br />

und stürmischen Meere zu recht<br />

finden wollte. Wenn solch ein Schiffer<br />

sagen wollte >das Ziel ist mir gar nichts,<br />

die Bewegung alles< so könnte er verteufelt<br />

schlechte Erfahrungen machen.«<br />

Mehring fügte hinzu, die Erfolge und<br />

Fortschritte der Sozialdemokratie wurden<br />

erreicht, weil sie immer das Endziel<br />

im Auge behielt: »Dabei mag sie im Einzelnen<br />

geirrt haben oder im einzelnen<br />

wieder irren können, aber was sie bei<br />

Strafe ihres Untergangs nie aus dem Auge<br />

verlieren darf, ist das sozialistische<br />

Endziel selbst«<br />

Auf dem Stuttgarter Parteitag, (3.–<br />

8. 10. 1898), kommt es zu erregten Auseinandersetzungen<br />

über Fragen der<br />

Taktik, zum Verhältnis von Tageskampf<br />

und Endziel der Partei. Gegen Eduard<br />

Bernstein, Wolfgang Heine, H. Peus,<br />

K. Schmidt wenden sich August Bebel,<br />

Karl Kautsky, Wilhelm Liebknecht, Rosa<br />

Luxemburg, A. Parvus, B. Schoenlank, P.<br />

Singer, A. Stadthagen und Clara Zetkin.<br />

In der Presse hatte F. Mehring vor der<br />

Gefahr einer Umwandlung der SPD in<br />

eine kleinbürgerliche Reformpartei gewarnt.<br />

Er hielt aber auch noch, eine Verständigung<br />

mit Bernstein für vorstellbar.<br />

Gestützt auf die, von seinem 1901 verstorbenen<br />

Vorgänger Bruno Schoenlank<br />

geschaffenen Voraussetzungen, entwickelte<br />

Mehring die »Leipziger Volkszeitung«<br />

zu einem Zentrum des Kampfes<br />

gegen das Vordringen opportunistischer<br />

Strömungen in der SPD, wie dies Rosa<br />

Luxemburg gelegentlich einschätzte, E.<br />

Bernstein die theoretische Grundlagen<br />

geliefert hatte.<br />

Der Dresdner Parteitag: Höhepunkt<br />

der Auseinandersetzungen mit dem<br />

Revisionismus<br />

Mehring wurde zur Zielscheibe der Revisionisten.<br />

Angesichts ihrer Erfolglosigkeit<br />

holten sie auf dem Dresdner Parteitag<br />

1903 zu einem heimtückischen<br />

Schlag aus um Mehring »los zu werden.«<br />

<strong>Die</strong> Parteitagsdelegierten Heinrich<br />

Braun, Bernhard und weitere versuchen<br />

mit scheinheiliger Gebärde frühere Irrungen<br />

und Wirrungen, sich nicht vor Fälschungen<br />

scheuend hervor zu kramen um<br />

Mehring zu diskreditieren und zu Fall zu<br />

bringen. Mehring widersetzte sich diesen<br />

Attacken. Von dieser Niedertracht tief erschüttert,<br />

pochte er auf dem Parteitag,<br />

auf eine ehrenwerte Klärung durch die<br />

Partei erwarte. <strong>Die</strong> Verleumdungen werde<br />

er schriftlich entkräften und bis zur<br />

Klärung durch die zuständigen Parteiinstanzen<br />

seine Tätigkeit in »<strong>Die</strong> Neue Zeit«<br />

und der »Leipziger Volkszeitung« einstellen.<br />

Mehring erfuhr noch auf dem Parteitag<br />

nachhaltige Unterstützung von A. Bebel,<br />

P. Singer und C. Zetkin. Bebels sah<br />

aber auch im Entwicklungsweg Mehring<br />

ein »psychologischen Rätsel«. Von den<br />

Gegnern Mehrings dann allzu häufig kolportiert<br />

sah sich Clara Zetkin auch in ihrem<br />

Artikelnachruf zu äußern: »Der viel<br />

angeführte Ausruf ist jedoch nicht für<br />

Mehrings Charakter kennzeichnend,<br />

wohl aber für Bebels mangelnde Fähigkeit<br />

Menschen richtig einzuschätzen, deren<br />

wesen nicht in einer gewissen nüchternen<br />

Alltäglichkeit an der Oberfläche<br />

lag und von kräftig sich durchsetzenden<br />

Gegensätzen bewegt wurde.«


Schließlich verurteilte die überwältigende<br />

Mehrheit der Delegierten, was<br />

in Stuttgart noch nicht möglich schien,<br />

den Revisionismus. In bürgerlichen Zeitungen<br />

labten sich an dem unwürdigen<br />

Schauspiel auf dem Dresdner Parteitag<br />

und sprachen von Selbstzerfleischung<br />

Mit dem Schlag gegen Mehring wollten<br />

die Revisionisten auch das großartige<br />

Ergebnis der voran gegangenen Reichstagswahlen<br />

und entstandener Illusionen<br />

zur Veränderung der Mehrheit i der Partei<br />

für ihren Rechtsdrall nutzen. Sie wurden<br />

gestoppt, die SPD ging erneut gestärkt<br />

aus dieser Auseinandersetzung<br />

hervor, aber die Revisionisten blieben in<br />

ihren Reihen, sie gaben nicht auf bis zur<br />

Entwaffnung der Partei in ihrem Kampf<br />

gegen Militarismus und Krieg.<br />

Am 22. Oktober 1903 erschien dann<br />

im Verlag der »Leipziger Volkszeitung«<br />

Mehrings Schrift: »Meine Rechtfertigung«<br />

in der er alle Anwürfe entkräftete.<br />

Kautsky würdigte Mehring in der<br />

»Neuen Zeit«: In der Leipziger Volkszeitung<br />

hat Mehring das Muster der theoretisch-konsequenten<br />

Leitung einer sozialistischen<br />

Tageszeitung geliefert. <strong>Die</strong><br />

Partei hat alles Interesse daran, dass<br />

dieses Muster erhalten bleibe.«<br />

Am 24. November teilte dann die »Leipziger<br />

Volkszeitung« mit:<br />

Auf Grund der Rechtfertigungsschrift<br />

des Genossen Mehring hat die<br />

Presskommission der Leipziger Volkszeitung<br />

in Verbindung mit dem Agitationskomitee<br />

und nach Rücksprache<br />

mit den Vertretern der Parteigenossenschaft<br />

des 12.und 13. Reichstagswahlkreises<br />

einstimmig beschlossen, den<br />

Genossen Mehring aufzufordern, seine<br />

frühere Tätigkeit für die Leipziger Volkszeitung<br />

wieder aufzunehmen.«<br />

Einen Tag später drückte der Parteivorstand<br />

in einer Erklärung den Wunsch<br />

aus, Franz Mehring möge seine Tätigkeit<br />

in »<strong>Die</strong> Neue Zeit« fortsetzen. <strong>Die</strong> Opportunisten<br />

gaben sicht nicht geschlagen<br />

behielten Mehring weiterhin im Visier.<br />

Schon zum Jenaer Parteitag, zwei<br />

Jahr später, begründeten sozialdemokratische<br />

Redakteure aus Breslau, zwar<br />

vergeblich, einen Ausschlussantrag gegen<br />

Mehring wegen »unparteigenössischer«<br />

Leitung der LVZ.<br />

Mit Mehring profilierte sich die LVZ zur<br />

bedeutenden revolutionären Massenzeitung<br />

zum Sprachrohr der deutschen<br />

<strong>Linke</strong>n mit deren internationalistischer<br />

Haltung zu den drei russischen Revolutionen<br />

in den ersten beiden Jahrzehnten<br />

des 20. Jahrhunderts.<br />

Zur bürgerlich-demokratischen Revolution<br />

1905/1906 in Russland befanden<br />

sich Mehring und seine Redaktion weit-<br />

gehend in solidarischer Übereinstimmung<br />

mit der Führung der SPD. In der<br />

Mitgliedschaft wuchs die Befürwortung<br />

des politischen Massenstreiks.<br />

Franz Mehring und die<br />

sozialdemokratische Bildungsarbeit<br />

Am 7. November 1906 wählte der Parteivorstand<br />

und Kontrollkommission erstmalig<br />

den Zentralbildungsausschuss der<br />

Sozialdemokratischen Partei. Ihm gehörten<br />

an August Bebel, Parteivorsitzender<br />

und H. Heimann, Vorsitzender des<br />

Ausschusses, E. David, K. Korn, Franz<br />

Mehring, H, Schulz (Geschäftsführer), G.<br />

von Vollmar und Clara Zetkin. Der Zusammen-setzung<br />

nach zu urteilen, war<br />

der Parteivorstand darauf bedacht, gegensätzliche<br />

Richtungen in diesem Gremium<br />

zu vereinen. <strong>Die</strong> Parteibasis blieb<br />

außen vor. Nach den vom Mannheimer<br />

Parteitag (23.–29. September 1906) beschlossenen<br />

Leitsätzen »Volkserziehung<br />

und Sozialdemokratie« 20 , vorgelegt von<br />

Heinrich Schulz und Clara Zetkin, soll<br />

der zentrale Bildungsausschuss auch einen<br />

besoldeten Geschäftsführer haben<br />

und von Berlin aus wirken. In den »Leitsätzen«<br />

wird zu seinen Aufgaben erklärt.<br />

»Er stellt organisch aufgebaute Programme<br />

für Vorträge und Vortragskurse<br />

und die dazu gehörigen Literaturnachweise<br />

zusammen, erteilt Ratschläge für<br />

belehrende und künstlerische Veranstaltungen,<br />

vermittelt rednerische und<br />

künstlerische Kräfte und sucht auf andere<br />

geeignete Weise seiner Aufgabe<br />

gerecht zu werden. Der Ausschuss wird<br />

alljährlich von dem Parteivorstand und<br />

der Kontrollkommission gewählt.«<br />

Eine Woche später wurde die Parteischule<br />

der SPD in der Lindenstraße 3,<br />

Berlin Kreuzberg, nahe am Spittelmarkt,<br />

feierlich eröffnet. Wie aus einer Veröffentlichung<br />

der Friedrich-Ebert-Stiftung:<br />

Archiv der sozialen Demokratie vom<br />

4. September 2008 hervorgeht, waren<br />

Vertreter des Parteivorstandes, der sozialdemokratischen<br />

Wahlvereine Groß-<br />

Berlins, der Redaktionen der Zeitschrift<br />

»Neue Zeit« und des »Vorwärts« sowie<br />

das Lehrerkollegium und die Teilnehmer<br />

des ersten Kurses anwesend. August<br />

Bebel, im Parteivorstand zuständig für<br />

die Schule, hielt die Begrüßungsansprache.<br />

Von 64 Bewerbern für den fiel die<br />

Auswahl auf 31 Kursusteilnehmer, darunter<br />

eine Frau.<br />

Das Mitglied des Bildungsausschusses<br />

und Historiker Franz Mehring wurde<br />

in das Lehrerkollegium dieser bedeutenden<br />

Bildungsstätte der SPD berufen<br />

und gehörte ihm bis zu seiner Erkrankung<br />

1911 an. Im Fach »Deutsche Geschichte<br />

seit dem Mittelalter« gab er fast<br />

400 Stunden Unterricht. 21 Zu den Lehrern<br />

gehörten außer Mehring bekannte<br />

Theoretiker wie Rosa Luxemburg, Rudolf<br />

Hilferding und Hermann Duncker, Parlamentarier<br />

wie Arthur Stadthagen und<br />

Bernhard Wurm, oder Juristen wie Hugo<br />

Heinemann und Kurt Rosenfeld. <strong>Die</strong>se<br />

hatten bereits international einen<br />

Namen und bekannten sich zur revolutionären<br />

Taktik des Erfurter Programms.<br />

Für Kurt Beck, zeitweiliger Parteivorsitzende<br />

der heutigen SPD, sagte bei einer<br />

Ausstellungseröffnung, »die Dogmatiker<br />

hatten dam<strong>als</strong> in der SPD die Oberhand«.<br />

<strong>Die</strong> Parteivorsitzenden der Sozialdemokratie<br />

hießen »dam<strong>als</strong>« August<br />

Bebel und Paul Singer.<br />

Über den eigentliche Unterrichtsbetrieb<br />

ist wenig dokumentiert. Der Hermann<br />

Duncker-Forscher Heinz Deutschland<br />

veröffentlichte anlässlich des 100.<br />

Jahrestages der sozialdemokratischen<br />

Parteischule in Berlin, einen Brief des<br />

Lehrgangsteilnehmers Alfred Keimling,<br />

den dieser am 21. November 1906 an<br />

Hermann Duncker gerichtet hatte. 22<br />

Da die Parteischüler privat bei sozialdemokratischen<br />

Gastgebern wohnten,<br />

konnten sie auch während ihrer Schulzeit,<br />

hatten sie auch außerhalb der Lehrgangszeit<br />

Zugang zu den Kämpfen der<br />

Sozialdemokratie. Es kann davon ausgegangen<br />

werden, dass die Lehrer für einen<br />

lebensnahen Unterricht sorgten. Noch<br />

bewegte die russische Revolution die sozialdemokratischen<br />

Gemüter. <strong>Die</strong> Auseinandersetzungen<br />

um den politischen<br />

Massenstreik waren nach der verhängnisvollen<br />

Entscheidung auf dem Mannheimer<br />

Parteitag 1906 nicht verstummt.<br />

<strong>Die</strong> Kämpfe gegen das Klassenwahlrecht<br />

und für die Gleichberechtigung der Frau<br />

gewannen an Bedeutung. Während dessen<br />

forcierte der deutsche Imperialismus<br />

und Militarismus seinen Kampf um den<br />

»Platz an der Sonne« Von 1906 bis 1914<br />

203 Schüler, davon 20 Frauen die Parteischule.<br />

Unter den Schülern befanden<br />

sich u. a. Wilhelm Kaisen der nach 1945<br />

die Regierungsgeschäfte in Bremen in<br />

die Hand nahm, Gewerkschaftsfunktionäre<br />

wie Fritz Tarnow, Theoretiker des<br />

Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes,<br />

der einen führenden Platz beim<br />

Neuaufbau der Gewerkschaften einnahm,<br />

Funktionäre wie der Thüringer Widerstandskämpfer<br />

Richard <strong>Die</strong>trich, der<br />

1946 die Zeitzer SPD in die Vereinigung<br />

von KPD und SPD zur SED führte oder<br />

Wilhelm Pieck, der Bremer Parteisekretär<br />

der SPD, der nach dem Besuch der<br />

Schule bei Hermann Schulz, Leiter der<br />

Parteischule, dessen hauptamtlicher Mitarbeiter<br />

wurde, lokale Bildungsausschüsse<br />

gründen half, dem Spartakusbund an<br />

39


der Seite Mehrings, Karl Liebknechts<br />

und Rosa Luxemburgs angehörte und<br />

der 1946 gemeinsam mit Otto Grotewohl,<br />

Mitglied der sozialdemokratischen<br />

Reichstagsfraktion zum Vorsitzenden der<br />

SED gewählt und schließlich 1949 Präsident<br />

der DDR wurde.<br />

Mehring beschäftigt sich weiter<br />

mit der deutschen Klassik, der<br />

ausländischen Literatur und der<br />

bildenden Kunst<br />

Mehring beendigte erst seine Chefredakteurtätigkeit<br />

an der »LVZ« erst nach<br />

Aufnahme seiner Lehrtätigkeit. Zugleich<br />

publizierte er im »Vorwärts«, siehe<br />

deren Jubiläumsausgabe vom 31.<br />

März 1909, und nahm weiterhin seine<br />

Verpflichtungen an der sozialdemokratischen<br />

Wochenzeitung »<strong>Die</strong> Neue Zeit«<br />

war. Mehring blieb Redakteur und Mitherausgeber.<br />

Über zwanzig Artikel erschienen<br />

aus seiner Feder von 1906 bis<br />

1911. Mehring verlegte die Schrift von<br />

Engels »Der deutsche Bauernkrieg« im<br />

Vorwärts Verlag. Veröffentlichungen zur<br />

deutschen Klassik gewinnen für ihn erneut<br />

an Bedeutung. Aus Platzgründen<br />

lässt sich nur ein bescheidener Einblick<br />

geben. 1909 erblickte »Schiller. Ein Lebensbild<br />

für deutsche Arbeiter« das<br />

Licht der Welt. Eine überarbeitete Auflage<br />

folgte 1913. Mehring verfasste zahlreiche<br />

Einführungen in die klassische<br />

Theaterwelt: 1909 zu Schillers »Kabale<br />

und Liebe«, zu Lessings »Nathan den<br />

Weisen« und zur »Minna von Barnhelm«<br />

sowie zu Heinrich Kleists »Der zerbrochene<br />

Krug.« 1911 folgt von Mehring eine<br />

Heine-Biographie. Sie wird Teil einer<br />

zehnbändigen Volksausgabe von Heine-<br />

Werken im Vorwärts Verlag. Seine Aufsätze<br />

zur ausländischen Literatur erfassen<br />

zahlreiche Länder Europas von<br />

Spanien bis Rußland und reichen von<br />

Cervantes »Don Quichott« bis Gorkis<br />

Nachtasyl und zur bildenden Kunst vom<br />

500. Geburtstag Gutenbergs bis zu Gemälden<br />

Rembrandts.<br />

Rosa Luxemburg würdigt in ihrem<br />

Glückwunsch zu Mehrings 70. Geburtstag<br />

auch seine Leistungen zur Klassik:<br />

»Durch Ihre Bücher, wie durch Ihre Artikel<br />

haben Sie das deutsche Proletariat<br />

nicht bloß mit der klassischen deutschen<br />

Philosophie, sondern auch mit der<br />

klassischen deutschen Dichtung, nicht<br />

nur mit Kant und Hegel, sondern mit<br />

Lessing, Schiller und Goethe durch unzerreißbare<br />

Bande verknüpft. Sie lehrten<br />

unsere Arbeiter mit jeder Zeile aus ihrer<br />

wunderbaren Feder, dass der Sozialismus<br />

nicht nur eine Messer- und Gabelfrage,<br />

sondern eine Kulturbewegung, eine<br />

stolze große Weltanschauung sei« 23<br />

40<br />

Zum Mehring-Kautsky-Konflikt<br />

Nicht formelle Streitigkeiten, sondern<br />

politische Gründe, »Meinungsverschiedenheiten<br />

über die Parteitaktik«, waren<br />

es in erster Linie, schrieb Mehring in seinem<br />

Brief an den Parteivorstand, die den<br />

Mehring-Kautsky-Konflikt seit 1912 herauf<br />

beschworen. Mehring sah sich sehr<br />

gekränkt durch Unterstellungen Kautskys,<br />

er habe sich in einem Artikel über<br />

Lassalle gegen Marx gewandt und ihm<br />

Kompetenzüberschreitung unterstellte<br />

<strong>als</strong> er, wie gewohnt, zum Beispiel Artikel<br />

von Rosa Luxemburg an die sozialdemokratische<br />

Presse über den sozialdemokratischen<br />

Pressedienst weiterleitete.<br />

Mehring schrieb keine Leitartikel mehr<br />

für »<strong>Die</strong> Neue Zeit« und schied nach<br />

Auseinandersetzungen mit dem Parteivorstand<br />

<strong>als</strong> ihr Mitherausgeber aus.<br />

Clara Zetkin und Rosa Luxemburg hatten<br />

ihm zuvor geraten, den Revisionisten<br />

nicht freiwillig das Feld zu räumen. Allerdings<br />

setzte dann Mehring seine journalistische<br />

Arbeit in dieser Zeitschrift,<br />

mit Zustimmung des Parteivorstandes,<br />

im beschränkten Umfang fort Mehring<br />

verstärkte die Herausgabe weniger bekannter<br />

Schriften von Friedrich Engels,<br />

Wilhelm Wolff, Wilhelm Weitling bis Ferdinand<br />

Lassalle. In dieser Zeit beginnt<br />

Mehring mit den Arbeiten an seinem<br />

letzten Hauptwerk, der 1918 zum Geburtstag<br />

von Marx erscheinen sollenden<br />

Marx-Biographie. Um den Einfluss der<br />

<strong>Linke</strong>n zu erhöhen gaben Franz Mehring,<br />

Rosa Luxemburg und Julian Marchlewski<br />

ab 1913 wöchentlich eine eigene »Sozialdemokratische<br />

Korrespondenz« heraus.<br />

Sie wurde zum ersten selbstständigen<br />

Organ der deutschen <strong>Linke</strong>n in der SPD.<br />

Mit ihrer Hilfe versorgten sie die Redaktionen<br />

sozialdemokratischer Presseorgane<br />

mit eigenen Beiträgen, Informationen<br />

und Anregungen. Es war die Zeit<br />

des verstärkten Kampfes gegen Militarismus<br />

und den ersten imperialistischen<br />

Weltkrieg.<br />

Mehrings Kampf nach Ausbruch des<br />

ersten imperialistische Weltkrieges<br />

Noch am 25. Juli 1914 ruft die SPD zu Aktionen<br />

auf. 14 Tage später, am 4. August<br />

1914 stimmt die sozialdemokratische<br />

Reichstagstagsfraktion unter Fraktionszwang<br />

gegen die Minderheit zu der Karl<br />

Liebknecht gehörte, für die Kriegskredite<br />

Sie bricht in Übereinstimmung mit der<br />

Mehrheit des Parteivorstandes die Beschlüsse<br />

der II. Sozialistischen Internationale.<br />

Vergessen war der Aufruf des Parteivorstandes<br />

der SPD vom 25. Juli 1914<br />

sofort in Massenversammlungen »den<br />

unerschütterlichen Friedenswillen des<br />

klassenbewußten Proletariats zum Aus-<br />

druck zu bringen.« Nun galt der Ruf des<br />

Kaisers Ruf an die »vaterlands-losen Gesellen«:<br />

»Ich kenne nur noch Deutsche«.<br />

Am Abend der Abstimmung im Reichstag<br />

trafen sich namhafte <strong>Linke</strong> in der<br />

Wohnung Rosa Luxemburgs. Unter ihnen<br />

befanden sich Hermann Duncker,<br />

Rosa Luxemburg, Julian Marchlewski,<br />

Franz Mehring, Ernst Meyer, Wilhelm Pieck.<br />

Der Älteste unter ihnen war Franz<br />

Mehring. Er nahm trotz angeschlagener<br />

Gesundheit sofort teil an der Fortsetzung<br />

ihres des Kampfes gegen die<br />

»Burgfriedenspolitik« und für die Beendigung<br />

des imperialistischen Krieges.<br />

Mit dem gleichen Ziel entstehen in verschiedenen<br />

Städten oppositionelle<br />

Gruppen in der Sozialdemokratie. Am<br />

2. Dezember 1914 setzt sich Liebknecht<br />

über den Fraktionszwang hinweg und<br />

stimmt <strong>als</strong> einziger Abgeordneter im<br />

deutschen Reichstag gegen die zweite<br />

Kriegskreditvorlage. Aus der Vielzahl<br />

der Aktivitäten Mehrings können<br />

in diesem Rahmen nur einige aufgeführt<br />

werden. Auf der ersten Reichskonferenz<br />

der revolutionären Opposition am<br />

5. März 1915 in der Wohnung Wilhelm<br />

Piecks übernehmen Rosa Luxemburg<br />

und Karl Liebknecht die Herausgabe<br />

der Monatsschrift »<strong>Die</strong> Internationale«<br />

für Praxis und Theorie des Marxismus.<br />

Im Juli 1915 wird gegen P.Berten,<br />

Rosa Luxemburg, Franz Mehring und<br />

Clara Zetkin wegen ihrer Mitarbeit an<br />

der Zeitschrift »Internationale » ein Verfahren<br />

eingeleitet. Mehring gehört zu<br />

den <strong>Linke</strong>n die zum 19. März 1916 die<br />

erste Reichskonferenz der Spartakusgruppe<br />

nach Berlin einberufen und die<br />

die Konstituierung der Spartakusgruppe<br />

im Wesentlichen abschließt. <strong>Die</strong> danach<br />

einsetzende Verhaftungswelle erfasst<br />

nicht nur Karl- Liebknecht und<br />

Rosa Luxemburg sondern macht auch<br />

vor dem 70jährigen, nicht mehr gesunden<br />

Franz Mehring nicht halt. Vom 3.<br />

August bis zum 24. Dezember wird er<br />

in »Schutzhaft« genommen und im Gefängnis<br />

Brandenburg eingesperrt. Heinz<br />

Deutschland stieß bei seinen Recherchen<br />

im Bundesarchiv auf eine Postkarte<br />

Mehrings (BArch/SAPMO 11-12 N),<br />

Poststempel 25. 12. 1916 an Käte Duncker,<br />

der Frau Hermann Dunckers: »Liebe<br />

Freundin! Hiermit melde ich mich<br />

wieder zur Stelle. Freund M (vermutlich<br />

Ernst Meyer), ist noch, wie mein kleiner<br />

Finger sagt ›in Ketten‹, doch hoffe ich,<br />

das er bis Ende dieser Woche wieder antreten<br />

wird. Ich wurde im Krankenwagen<br />

herbefördert und bin sehr matt und müde,<br />

so dass mir der Arzt auf Strengste<br />

verboten hat, Besuche zu machen. Sie<br />

müssen deshalb einstweilen mit diesen


flüchtigen Zeilen vorlieb nehmen. Stets<br />

Ihr F.M. Nachschrift Käte (für Hermann)<br />

mit Bleistift:<br />

M.I.H. Ich war gestern bei ihm, fand ihn<br />

matt und abgemagert, aber im übrigen<br />

ganz der ›Alte‹. Mir ist ein Stein vom<br />

Herzen! Viele, viele Grüße D.K. 24<br />

Am 18. Januar 1917 schloss die Parteiführung<br />

der SPD mit 29 gegen 10 Stimmen<br />

die um die sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft<br />

mit Eduard Kautsky<br />

und Georg Ledebour und den <strong>Linke</strong>n um<br />

Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht Clara<br />

Zetkin und Franz Mehring gruppierte<br />

Opposition aus der SPD aus. Zur ideologischen<br />

Spaltung der SPD trat jetzt auch<br />

die vom Parteivorstand der SPD herbeigeführte<br />

organisatorische Spaltung.<br />

Karl Liebknecht bat Mehring für ihn am<br />

20. März 1917 in dessen neuen Wahlkreis<br />

11 bestehend aus den Stadtteilen<br />

Wedding und Gesundbrunnen in der »Ersatzwahl«<br />

für ihn, zum preußischen Landtag<br />

zu kandidieren. Der Rechtsanwalt Dr.<br />

Karl Liebknecht hatte der offiziellen Begründung<br />

zufolge, sein Mandat verloren<br />

»infolge Aberkennung der bürgerlichen<br />

Ehrenrechte« 25 .Mehring konnte ein ähnlich<br />

gutes Wahlergebnis von Liebknecht<br />

erreichen. Ausgerechnet während des<br />

Krieges erhält Mehring sein erstes parlamentarisches<br />

Mandat. Er wird im preußischen<br />

Landtag anstelle von Liebknecht<br />

das Wort ergreifen. Mehring stellt in jenen<br />

Tagen das Manuskript für die Marx-<br />

Biographie fertig und setzt seine journalistische<br />

Tätigkeit fort. Mehring überträgt<br />

seine Solidarität für die russischen Revolutionäre<br />

von 1905/06 auf die Februar-<br />

Revolutionäre von 1917 und dann auf<br />

die sozialistische Oktoberrevolution. Am<br />

23. April 1917 schreibt Mehring im Auftrage<br />

des Spartakusbundes an Vorsitzenden<br />

des Exekutivkomitees des Arbeiter-<br />

und Soldatenrates, Genossen Tscheidse:<br />

die Revolution in Russland gehöre zu den<br />

größten Ereignissen der Weltgeschichte<br />

und sei der Beweis für die großen Möglichkeiten<br />

des proletarischen Klassenkampfes<br />

in den Krieg führenden Ländern.<br />

26<br />

Im Mai 1918 erleidet Franz Mehring einen<br />

Ohnmachtsanfall, stürzt und zieht<br />

sich eine schwere Kopfverletzung zu. Er<br />

berichtete Rosa Luxemburg von seinem<br />

Unfall. Sehr bestürzt antwortet sie: Wie<br />

mich ihr letzter Brief und namentlich der<br />

Bericht von dem fatalen Unfall erschüttert<br />

hat. Kann ich ihnen gar nicht sagen.<br />

Ich ertrage ja nunmehr meine ins vierte<br />

Jahr währenden Sklawerei mit wahrer<br />

Lammsgeduld, hier aber unter dem Eindruck<br />

solcher schmerzlicher Nachrichten,<br />

packte mich eine fieberhafte Ungeduld<br />

und ein brennendes Verlangen,<br />

sofort hinaus zu dürfen, nach Berlin zu<br />

eilen und mich durch Augenschein zu<br />

überzeugen, wie es Ihnen geht, Ihnen<br />

die Hand zu drücken und mit Ihnen ein<br />

Stündchen zu plaudern.« 27<br />

Mehring musste seine Frau Eva bitten,<br />

ihm den Antwortbrief vorzulesen. <strong>Die</strong> zur<br />

Revolution drängenden Ereignise überschlagen<br />

sich und nun auch dieser Unfall<br />

Mehring. Mit Unterstützung von Eduard<br />

Fuchs gelang es noch im gleichen Monat<br />

Mai in einem Leipziger Verlag es<br />

die Marx-Biographie herauszubringen.<br />

Schon Spätestens 1913 hatte Mehring<br />

mit der Arbeit begonnen. Rosa Luxemburg<br />

schrieb den Abschnitt zur Nationalökonomie.<br />

<strong>Die</strong>ses letzte Hauptwerk<br />

Mehrings sollte zum Geburtstag von<br />

Karl Marx am 5. Mai 1918 erscheinen.<br />

<strong>Die</strong> Freigabe durch die Militärzensurr erfolgte<br />

erst nach langwierigen Auseinandersetzungen<br />

und kleineren Korrekturen.<br />

Im Mai und Juni 1918, parallel zur ausführlichen<br />

Vorstellung seiner Marx-Biographie<br />

in der »Leipziger Volkszeitung«<br />

auch seine vierteilige Folge: »<strong>Die</strong> Bolschewiki<br />

und wir« zu veröffentlichen<br />

und am 3. Juni ein »Offenes Schreiben<br />

an die Bolschewiki« zu richten: »Es mag<br />

anmaßend erscheinen, wenn ich, <strong>als</strong><br />

ein einzelner ihrer deutschen Gesinnungsgenossen,<br />

den russischen Kameraden<br />

brüderliche Grüße und herzliche<br />

Glückwünsche sende. Aber in Wahrheit<br />

schreibe ich Ihnen doch nicht <strong>als</strong> einzelner,<br />

sondern <strong>als</strong> Ältester der Gruppe<br />

Internationale, der Spartakusleute,<br />

derjenigen sozialdemokratischen Richtung<br />

in Deutschland, die seit vier Jahren<br />

unter schwierigsten Umständen,<br />

auf demselben Boden, mit derselben<br />

Taktik kämpft, wie sie von Euch angewandt<br />

wurde, ehe die glorreiche Revolution<br />

Eure Anstrengungen mit dem<br />

Sieg gekrönt hat. Mit neidlosen Stolz<br />

empfinden wir den Sieg der Bolschewiki<br />

<strong>als</strong> unseren Sieg, und wir würden<br />

uns freudig zu Euch bekennen, wenn<br />

unsere Reihen nicht arg gelichtet wären<br />

und viele von uns – wahrlich nicht die<br />

Schlechtesten – hinter den Mauern des<br />

Gefängnisses schmachteten, wie die<br />

Genossin Rosa Luxemburg, oder hinter<br />

den Mauern des Zuchthauses, wie der<br />

Genosse Karl Liebknecht.«<br />

Wenige Tage später wurde Franz<br />

Mehring zum ordentlichen Mitglied der<br />

Akademie für Gesellschaftswissenschaften<br />

der RFSSR für seinen wissenschaftlichen<br />

Beitrag für den Kampf um<br />

den Sozialismus berufen. Mehring hielt<br />

in seinem Brief auch nicht hinter dem<br />

Berg: Beim Eintritt in die Unabhängige<br />

Sozialdemokratische Partei Deutschland<br />

(USPD) habe ihn und die Sparta-<br />

kusgruppe die Hoffnung bewegt, die Unabhängigen<br />

auf Revolutionskurs bringen<br />

zu können. <strong>Die</strong>se Hoffnung habe sich<br />

aber nicht erfüllt. <strong>Die</strong>se Einschätzung<br />

werde aber nicht von allen Spartakusanhängern<br />

geteilt.<br />

Mehring wurde am 7. Oktober 1918 von<br />

der Reichskonferenz der Spartakusgruppe<br />

in Abwesenheit in die Leitung<br />

gewählt. <strong>Die</strong>se Konferenz sprach sich<br />

für den Ausbau der Rätebewegung, für<br />

den Sturz der kaiserlichen Monarchie<br />

und für eine Republik aus. Sie rief zum<br />

bewaffneten Aufstand auf.<br />

Am 18. Oktober 1918 nahm Franz<br />

Mehring auf einem Krankenstuhl an<br />

einem Empfang der sowjetischen Botschaft<br />

anlässlich der Freilassung Karl<br />

Liebknechts aus dem Zuchthaus teil.<br />

<strong>Die</strong> November-Revolution weitete sich<br />

nach den Matrosenaufständen in Windeseile<br />

aus. Spartakus konnte nicht<br />

überall sein. Rosa Luxemburg sah nach<br />

ihrer Befreiung ihre Hauptaufgabe in<br />

der Herausgabe der Zeitung »<strong>Die</strong> rote<br />

Fahne.« Erst am 18. November kam<br />

sie dazu, dem kranken Franz Mehring zu<br />

schreiben: »Das erste war: endlich mit<br />

einer Zeitung herauszukommen. Nun<br />

brenne ich darauf ihr Urteil zu hören, ihren<br />

Rat zur Seite zu haben. Wir waren<br />

hoch erfreut, <strong>als</strong> uns Freund X* mitteilte,<br />

dass wir demnächst ›<strong>Die</strong> Fahne‹ mit ihrem<br />

Namen schmücken können.« 29<br />

Wie ersichtlich hütete sich Rosa Luxemburg<br />

eine Mitarbeit in der Nerven zermürbenden<br />

Redaktionsarbeit anzubieten.<br />

Sie machte es aber möglich, bis<br />

zum 28. 12. 1918 in der »Roten Fahne«<br />

eine von Mehring erneut bearbeitete<br />

vierteilige Serie über seine »Militärische<br />

Schutzhaft« zu veröffentlichen.<br />

Mehring wurde zum Mitbegründer der<br />

Kommunistischen Partei Deutschlands.<br />

Vom Tod seiner engsten Mitstreiter<br />

Karl Liebknecht und Rosa Lusemburg<br />

erfuhr Mehring im Krankenhaus am<br />

Heckeshorn im Grunewald, 14 Tage später,<br />

von Martha Rosenbaum. Sein Vertrauter<br />

und Nachlassverwalter Eduard<br />

Fuchs erlebte mit ihm die letzten Stunden.<br />

Seine Frau lag durfte das Krankenbett<br />

wegen einer schweren Grippeerkrankung<br />

nicht verlassen. In seinem<br />

Vorwort zur Neuauflage der Marx-Biographie<br />

zum 1. Mai 1920 beschrieb<br />

Fuchs die Erregung Mehrings nach Erhalt<br />

der Nachricht vom Mord. Er lief im<br />

Zimmer stundenlang auf und ab, machte<br />

die Fenster auf um Luft zu bekommen<br />

und wie er den grausamen Mord verurteilte.<br />

Mehring befand sich mit einer<br />

schweren Lungenentzündung im Krankenhaus,<br />

war schon vorher körperlich<br />

sehr geschwächt starb an ihr und dem<br />

41


Tod seiner Freunde. Franz Mehring ist<br />

tot, aber sein Werk gehört zum unvergänglichen<br />

Nachlass der deutschen Arbeiterbewegung<br />

aus dem zu lernen, ist<br />

auch heute nicht zu spät.<br />

Werner Ruch<br />

1 Vgl.Thomas Höhles Buch: Franz Mehring – Sein<br />

Weg zum Marxismus. Es sollte von Jedem zur Hand<br />

genommen werden, der sich mit Mehrings Entwicklung<br />

vom bürgerlichen Demokraten zum demokratischen<br />

Sozialisten zu beschäftigen beabsichtigt.<br />

Erschienen ist es in der Schriftenreihe des Instituts<br />

für Deutsche Geschichte an der Karl-Marx-Universität<br />

Leipzig, Herausgegeben von Prof. Dr. Ernst Engelberg,<br />

Verlag, Rütten und Loening Berlin, 2. Auflage<br />

1958 nach der erste Auflage von 1956.<br />

2 Vgl. »Neues Deutschland«, 3. 3, 1971: Bernd Grabowski:<br />

Er arbeitet an der »Zukunft«.<br />

3 1903 versuchte der Revisionist Heinrich Braun, Georg<br />

Bernhard u. a. durch Diffamierung Mehrings die<br />

zu erwartete Verurteilung des Revisionismus durch<br />

den Dresdner Parteitag zu unterlaufen.<br />

4 August Bebel, Aus meinem Leben, zweiter Teil,<br />

Verlag J.H.W. <strong>Die</strong>tz Nachf. Berlin, 1. Auflage 1946,<br />

S. 200 f.<br />

5 DerTitel der Broschüre lautete: »Herr von Treitschke<br />

der Sozialistentöter und die Endziele des Liberalismus.<br />

Eine sozialistische Replik«, Leipzig. Druck<br />

und Verlag der Genossenschaftsdruckerei, 1875.<br />

Auszug in Thomas Höhle: Franz Mehring Sein Weg<br />

zum Marxismus.<br />

7 Vgl. Berliner Zeitung, 27. 11. 08: Im Berliner Bezirk<br />

Steglitz wird von Bezirkspolitikern erneut die Umbenennung<br />

der Treitschkestraße gefordert; zum<br />

Gesamtzusammenhang: Reiner Zilkenat, Histo-<br />

42<br />

risches zum Antisemitismus in Deutschland. Zur<br />

Entstehung und Entwicklung des »modernen« Antisemitismus<br />

im Kaiserreich, in: Horst Helas u. a.,<br />

Neues vom Antisemitismus: Zustände in Deutschland,<br />

Berlin 2008, S. 13 ff.<br />

8 Vgl. Zitat aus Franz Mehring »Kapital und Presse«,<br />

S. 73, zitiert bei Thomas Höhle, Franz Mehring Sein<br />

Weg zum Marxismus, S. 109.<br />

10 <strong>Die</strong> erste Nummer der Zeitschrift »<strong>Die</strong> Neue Zeit«<br />

erscheint ab 1. Januar 1883, nach fünf Jahren »Sozialistengesetz«,<br />

unter der Redaktion von Karl Kautsky<br />

<strong>als</strong> »Revue des öffentlichen und geistlichen Lebens«.<br />

Unterstützt von Friedrich Engels trug sie zur<br />

Verbreitung des Marxismus bei. 1890 wurde »<strong>Die</strong><br />

Neue Zeit« offizielles Theoretisches Organ der SPD<br />

und erscheint wöchentlich mit 2.500 Abonnenten.<br />

11 Auskunft über weitere Ausgaben dieses Verlages<br />

von Franz Mehring in: »Empor zum Licht«, herausgegeben<br />

zu 125 Jahre Verlag J.H.W.<strong>Die</strong>tz Nachf., 2006.<br />

12 Vgl. Der Tagesspiegel, 30. 12. 2008.<br />

14 Vgl. Aufruf »Berliner Volksblatt« v. 23. März 1890.<br />

Das Haus »<strong>Die</strong> Volksbühne«, erbaut nach 1913, befindet<br />

sich am Rosa-Luxemburg-Platz im Bezirk Mitte<br />

zu Berlin.<br />

15 Mehr zur Aufführung »<strong>Die</strong> Weber« in Berlin und der<br />

Haltung des Kaisers vgl. Rüdiger Bernhardt, Gerhart<br />

Hauptmanns Hiddensee, Edition Ellert & Richter,<br />

3. Auflage 2004, S. 20 f.<br />

16 Zitiert nach Franz Mehring: Gesammelte Schriften<br />

Band 11, Berlin 1961, hrsg. v. Prof. Dr. Thomas<br />

Höhle, Dr. Hans Koch, Prof. Dr. Josef Schleifstein,<br />

S. 563. Weitere Beiträge Mehrings zu G. Hauptmann<br />

im gleichen Band.<br />

17 Vgl. Rüdiger Zimmermann, »Empor zum Licht! Hrsg.<br />

zu 125 Jahre Verlag J.H.W. <strong>Die</strong>tz Nachf., 2006,<br />

S. 44.<br />

18 Franz Mehring, Geschichte der Deutschen Sozialdemokratie,<br />

Berlin 1960, Erster Teil, Anmerkungen,<br />

S. 697.<br />

19 <strong>Die</strong> erwähnten Artikel Bernsteins erschienen danach<br />

im Januar 1898 im <strong>Die</strong>tz Verlag unter dem Ti-<br />

tel: »<strong>Die</strong> Voraussetzungen des Sozialismus und die<br />

Aufgaben der Sozialdemokratie.« Zuletzt erschien<br />

dieser Buchtitel 1984 im genannten Verlag, eingeleitet<br />

von Horst Heimann. Im Katalog einer Ausstellung<br />

der Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2006 über<br />

die Entwicklung sozialdemokratische Programmatik<br />

und Politik findet sich auf S. 8 folgende Aussage:<br />

»Seit 1896 wendet sich Eduard Bernstein gegen<br />

zentrale Aussagen der marxistischen Theorie,<br />

die zu ›revidieren‹ seien …« Vgl. 60 Jahre Leipziger<br />

Volkszeitung 1894–1954, Verlag Leipziger Volkszeitung<br />

mit Vorbemerkung der Redaktion.<br />

20 Vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages<br />

der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.<br />

Abgehalten zu Mannheim vom 23. bis 29.<br />

September 1906, Berlin 1906, S. 134–137.<br />

21 Vgl. Unterrichtsplan der sozialdemokratischen<br />

Parteischule von 1906 bis 1914 in: <strong>Die</strong>ter Fricke,<br />

Handbuch zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung<br />

1869 bis 1917 in zwei Bänden., Band 1,<br />

Berlin 1987.<br />

22 Vgl. Heinz Deutschland in: Jahrbuch für Forschungen<br />

zur Geschichte der Arbeiterbewegung,<br />

2006/Heft III, S. 21.<br />

24 Vgl. B/Arch/ SAPMO NY4445. Der junge Hermann<br />

Duncker hatte Mehrings Bekanntschaft im Sommer<br />

1902 in der Redaktion der »Leipziger Volkszeitung«<br />

gemacht . Duncker teilte Käte Duncker am 2.September<br />

1902 mit, dass Mehring ihm in einem Gespräch<br />

über seine weitere Redaktionstätigkeit gesagt<br />

habe, »ich wäre ein seltener Mensch in der<br />

Partei, wenn ich meinte noch lernen zu können.«<br />

25 Vgl. Thomas Kühnem Handbuch der Wahlen von<br />

preußischen Abgeordneten 1867–1918, Düsseldorf,<br />

1994.<br />

26 Vgl. Franz Mehring. Gesammelte Schriften, Berlin,<br />

Bd. 15, S. 720.<br />

29 Annelies Laschitza u. Günter Radczum, Rosa<br />

Luxemburg, Gesammelte Briefe 1914–1918, Bd. 5,<br />

S. 377, Hrsg.: Institut für Marxismus-Leninismus<br />

beim ZK der SED, Berlin, sechste Auflage, 1984.


Berlin – das Zentrum der deutschen Revolution<br />

1918/1919 ?<br />

Regionales und Biographisches zum 90. Jahrestag der Novemberrevolution<br />

Am Ende des 19. Jahrhunderts war Berlin,<br />

die Millionenstadt, längst mit ihrem<br />

Umland zusammengewachsen, wurde<br />

bekanntlich aber erst 1920 zu Groß-<br />

Berlin zusammengefasst. 1 Unbestritten<br />

ist Berlin politisches Zentrum Preußens<br />

und Deutschlands, größtes Industriezentrum,<br />

zugleich größte Handwerker-<br />

und Handelsstadt, Finanzzentrum und<br />

Verkehrsmittelpunkt. Weltweit bekannt<br />

sind seine Wissenschafts- und Kulturinstitutionen;<br />

auch sein Charakter <strong>als</strong> eine<br />

riesige Garnisonsstadt-Kasernopolis,<br />

jede Menge Rüstungsfabriken, Bischofssitz<br />

und Medienmittelpunkt.<br />

Vernachlässigt, bewusst vergessen oder<br />

übersehen wird jedoch meistens, dass<br />

Berlin das Zentrum der deutschen Arbeiterbewegung<br />

war.<br />

Schon 1905 hatten sich die 6 Berliner<br />

Reichstagswahlkreis-Vereine der SPD<br />

mit den umgebenden Kreisen Teltow-<br />

Beeskow-Storkow-Charlottenburg und<br />

Niederbarnim zum »Verband der Wahlvereine<br />

Groß-Berlins und Umgegend«<br />

zusammengeschlossen, einer über das<br />

spätere Groß-Berlin weit in die brandenburgische<br />

Provinz greifende Organisation.<br />

Sie zählte 1914 über 120.000 Mitglieder,<br />

die bei den Reichstagswahlen<br />

1912 sieben der acht Wahlkreise gewinnen<br />

konnte. 45 der Berliner Stadtverordneten<br />

waren 1913 Sozialdemokraten<br />

und von den zehn preußischen<br />

SPD-Landtagsabgeordneten kamen<br />

sieben aus Berlin. Von etwa 560.000<br />

organisationsfähigen Berufstätigen<br />

gehörten mehr <strong>als</strong> 300.000 den sozialistischen<br />

Gewerkschaften an. 2 Gerade<br />

diese sozialdemokratische Dominanz<br />

in der Haltung der Berliner Einwohnerschaft<br />

verstärkte die ohnehin traditionelle<br />

Abneigung bedeutender deutscher<br />

Bevölkerungsschichten und<br />

einiger Kleinstaaten gegen die preußische<br />

Hauptstadt. <strong>Die</strong> fortbestehende<br />

staatliche Eigenständigkeit besonders<br />

der süddeutschen Bundesstaaten, der<br />

weiterhin auch verfassungsrechtlich gestützte<br />

Partikularismus, symbolisierte<br />

sich in der Ablehnung Berlins – dieses<br />

»Molochs«.<br />

Das hier nur skizzierte Bild der Hauptstadt<br />

gewann mit Ausbruch und im Verlauf<br />

des Ersten Weltkrieges schärfere<br />

Konturen. Tendenzen verstärkten sich zu<br />

Dominanzen. Als neuer Typ entstand in<br />

der Ansicht vieler einfacher Menschen<br />

der »Raffke«, der Kriegstreiber und<br />

Kriegsgewinnler, dem der Kriegsprofit<br />

über alles ging und der ein Schlemmerdasein<br />

führte, das der verarmten hungernden<br />

Bevölkerung Klassengegensätze<br />

emotional erlebbar machte. Und wie<br />

selbstverständlich konzentrierte sich<br />

die ganze zunehmende Kriegsmüdigkeit,<br />

der Unmut, auf das Kriegszentrum.<br />

In Berlin selbst kam es nach der ersten<br />

allgemeinen Kriegsbegeisterung bald zu<br />

Hungerunruhen und im Juni 1916 erstmalig<br />

auch zum politischen Streik von<br />

55.000 Rüstungsarbeitern gegen die<br />

Verhaftung und den Prozess Karl Liebknechts.<br />

3<br />

Hatte bis dahin das nationalistische<br />

»Deutschland, Deutschland über alles«<br />

der jungen deutschen Soldaten, zum<br />

Beispiel bei den Kämpfen um das belgische<br />

Langemark, das einsame Votum<br />

Karl Liebknechts am 2. Dezember<br />

1914 im Reichstag gegen die Kriegskredite,<br />

sein »Der Hauptfeind steht im eigenen<br />

Land!« auch in der Arbeiterschaft<br />

übertönt, so begann sich seit 1916 eine<br />

Antikriegsbewegung zu entwickeln, deren<br />

Träger vor allem Arbeiter in der Rüstungsindustrie,<br />

deren Agitatoren linke<br />

Sozialdemokraten, Gewerkschaftler und<br />

bürgerliche Pazifisten (beispielsweise<br />

der Bund Neues Vaterland) waren.<br />

<strong>Die</strong> bereits vor dem Krieg in der Sozialdemokratie<br />

geführten Auseinandersetzungen<br />

um den Kurs der Partei, unter anderem<br />

in der Haltung zum Massenstreik<br />

und zur Rüstungspolitik, gewannen mit<br />

Kriegsausbruch neue Dimensionen und<br />

erfuhren in der Kriegskreditfrage ihre<br />

krasse Zuspitzung.<br />

War einerseits die Zahl der beitragszahlenden<br />

Mitglieder (bei Berücksichtigung<br />

der »Eingezogenen«) von 1914<br />

im Agitationsbezirk Groß-Berlin mit<br />

121.689 Mitgliedern auf 76.355 (1916)<br />

bzw. 6.475 (1917) zurückgegangen 4 , so<br />

spaltete andererseits der Übergang der<br />

SPD-Führung mit ihrer Zustimmung zu<br />

den Kriegskrediten und dem »Burgfrieden«<br />

die Partei zunächst politisch-ideologisch<br />

und schließlich auch organisatorisch.<br />

Für Berlin war dieser Prozeß sehr<br />

kompliziert und durch einzelne Schritte<br />

charakterisiert, die hier nicht im Detail<br />

dargelegt werden müssen. 5 <strong>Die</strong> markantesten<br />

waren indes: die allmähliche<br />

Formierung der <strong>Linke</strong>n mit Rosa Luxemburg,<br />

Karl Liebknecht, Leo Jogiches und<br />

anderen zur Spartakusgruppe, ihr Verbleiben<br />

in der zentristischen Gruppierung<br />

um Georg Ledebour, Hugo Hasse,<br />

Ernst Däumig, der Führung der USPD<br />

und deren Reichstagsfraktion, der fortschreitende<br />

Meinungsumschwung in<br />

den Betrieben und die Herausbildung<br />

der Bewegung oppositioneller Gewerkschaftsfunktionäre,<br />

die <strong>als</strong> Ob- und Vertrauensleute<br />

in den Rüstungsfabriken,<br />

den Branchenkommissionen, schließlich<br />

auch in der mittleren Ortsverwaltung<br />

des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes<br />

(DMV) <strong>als</strong> wichtigster Berliner<br />

Gewerkschaftsorganisation einflußreiche<br />

Positionen gewannen. Im Sommer<br />

1917 zählte nach der Spaltung die<br />

Stadtverordnetenfraktion der SPD 23,<br />

die der USPD 22 Mitglieder. Am 1. Juli<br />

1917 hatte die USPD in Berlin 25.000,<br />

die SPD etwa 6.500 Mitglieder. Somit<br />

hätte sich die MSPD (so ihr Name seit<br />

ihrer Neugründung am 28. April 1917)<br />

in Berlin Minderheits-SPD nennen müssen.<br />

Bis zum Ausbruch der Revolution<br />

ging die Zahl der USPD-Mitglieder auf<br />

etwa 18 bis 20.000 zurück, die SPD hatte<br />

zu diesem Zeitpunkt etwa die gleiche<br />

Mitgliederzahl.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>n wuchsen mit den sich entwickelnden<br />

Massenstreiks nach den<br />

russischen Revolutionen im April 1917 6<br />

und im Januar 1918 7 . Mit den Arbeiterräten<br />

entstanden neue Formen zur Leitung<br />

der Massenbewegung neben den<br />

herkömmlichen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen<br />

– jetzt konnte<br />

Berlin deutlich <strong>als</strong> Vorort der Antikriegsbewegung,<br />

wohl auch <strong>als</strong> zentraler Ort<br />

der heranwachsenden Revolution gelten.<br />

Es zeigten sich bereits die Stärken,<br />

aber auch die Schwächen der Bewegung,<br />

zum Teil Spontaneität und<br />

Massenbeteiligung, Kampfbereitschaft<br />

und Solidarität, zugleich relative Isolation<br />

gegenüber anderen Mittelpunkten<br />

der Bewegung, Meinungsverschiedenheiten<br />

in der Führung und Zielsetzung,<br />

deren prinzipiellen Unterschiede zunächst<br />

durch gemeinsame Streikforderungen<br />

und die Beteiligung rechtssozialdemokratischer<br />

Funktionäre zum<br />

Beispiel. am Groß-Berliner Arbeiterrat<br />

Ende Januar 1918 überdeckt wurden.<br />

Der fortdauernde Belagerungszustand,<br />

die Inhaftierung oder auch Einberufung<br />

von Spartakus- und USPD-Funktionären<br />

zum Militär, das faktische Fehlen ei-<br />

43


ner oppositionellen Massenpresse (die<br />

Überbewertung der »Spartakusbriefe«<br />

oder des »Mitteilungsblattes« ist zu beachten!)<br />

– neben dem rechtssozialdemokratischen<br />

»Vorwärts«, der seine Auflage<br />

noch steigern konnte – schränkten<br />

die Möglichkeiten einer klärenden politischen<br />

Auseinandersetzung über Fortgang<br />

und Ziele der Bewegung stark ein.<br />

Am 7. November schrieb der Diplomat<br />

und Schriftsteller Harry Graf Kessler in<br />

sein Tagebuch: »Allmähliche Inbesitznahme,<br />

Ölfleck, durch die meuternden<br />

Matrosen von der Küste aus. Sie isolieren<br />

Berlin, das bald nur noch eine Insel<br />

sein wird. Umgekehrt wie in Frankreich<br />

(1789–I.M.) revolutioniert die Provinz<br />

die Hauptstadt, die See das Land«. 8 Obgleich<br />

sich Ende Oktober 1918 der »Vollzugsausschuß<br />

des Arbeiter- und Soldatenrates«<br />

in Berlin aus Revolutionären<br />

Obleuten, leitenden USPD-Funktionären<br />

und Spartakusführeren bildete (die Anwesenheit<br />

des Pionier-Oberleutnants<br />

Eduard Walz bis zu seiner Verhaftung<br />

am 3. November rechtfertigte offenbar<br />

auch die Bezeichnung »Soldatenrat«!),<br />

es kam zunächst nicht zu einem geschlossenen<br />

und entschlossenen Aufruf<br />

zum revolutionären Aufstand.<br />

Man muss allerdings in Rechnung stellen,<br />

dass sich in der Hauptstadt nach<br />

wie vor ein machtvoller Militär- und Polizeiapparat<br />

befand, der insbesondere<br />

nach der Verhaftung von Walz von<br />

der »revolutionären Bedrohung Berlins«<br />

überzeugt war. So begann die Revolution<br />

mit dem Aufstand der Matrosen, »an<br />

der See«, in Wilhelmshaven und Kiel, wo<br />

sich Arbeiter und Soldaten mit ihnen zusammenschlossen<br />

für die Beendigung<br />

des Krieges und revolutionäre demokratische<br />

Veränderungen 9 . Ihnen folgten<br />

zahlreiche Orte an den Küsten, in Nord-<br />

und Westdeutschland, in Stuttgart, und<br />

am 7. November wird in München die erste<br />

Monarchie gestürzt und die demokratische<br />

Republik ausgerufen. Einen<br />

»demokratischen« Staat hatte die kaiserliche<br />

Koalitionsregierung unter Max<br />

von Baden mit SPD-Beteiligung durch<br />

Teilparlamentarisierung am 26./27. Oktober<br />

und durch Versprechen von Frieden<br />

und demokratischen Freiheiten am<br />

4. November angekündigt. Doch diesen<br />

Weg zum Frieden ohne Revolution, mit<br />

Kaiser und ohne Republik, verhinderte<br />

die revolutionäre Massenerhebung zwischen<br />

dem 3./4. und dem 9. November,<br />

beginnend an der Küste; der entscheidende<br />

Schlag kam jedoch aus Berlin am<br />

9. November mit Gener<strong>als</strong>treik und bewaffneten<br />

Demonstrationen. <strong>Die</strong> Übergabe<br />

des Reichskanzleramtes von Max<br />

von Baden an Friedrich Ebert, die Pro-<br />

44<br />

klamation der freien deutschen Republik,<br />

womit ein bürgerlich-parlamentarischer<br />

Staat gemeint war, formulierte<br />

Philipp Scheidemann vom Reichstagsgebäude<br />

aus. Karl Liebknecht verkündete<br />

von einem Balkon des Stadtschlosses<br />

der Hohenzollern die freie sozialistische<br />

Republik, die sich auf die Arbeiter- und<br />

Soldatenräte stützen sollte. <strong>Die</strong> »Berliner<br />

Republik« war ausgerufen!<br />

Man muss erwähnen, dass sich der revolutionären<br />

Erhebung kaum Widerstand<br />

entgegenstellte, millionenfach<br />

wurden die dem Kaiser einst geschworenen<br />

Eide gebrochen, Entscheidungsschwäche,<br />

Plan- und Tatenlosigkeit<br />

der Militärbefehlshaber waren wesentlich<br />

für den raschen, relativ unblutigen<br />

Sieg der tatsächlichen wie der vermeintlichen<br />

Revolutionäre, die sich in Berlin<br />

an die Hebel der Macht gesetzt hatten,<br />

an denen sie bereits seit Anfang Oktober<br />

teilhatten. Am 9.und 10. November<br />

wurden sie ihnen von den alten Machthabern<br />

übergeben und mit deren funktionierenden<br />

und agierenden Teilen verbündeten<br />

sich sofort, um die Macht real<br />

ausüben zu können. Das Bündnis Eberts<br />

mit dem General Wilhelm Groener von<br />

der Obersten Heeresleitung (OHL) fand<br />

seine provinziellen und örtlichen Parallelen:<br />

führende Militärs arrangierten<br />

sich mit den Aufständischen, ihren revolutionär<br />

gebildeten Kampforganen, den<br />

Räten. Ähnliches vollzog sich bekanntlich<br />

auf anderen Ebenen 10 , betreffend<br />

die Unternehmerorganisationen mit den<br />

reformistischen Gewerkschaftsführern.<br />

Berlin wird (oder bleibt) Zentrum der Revolution,<br />

der Republik, und ihrer leitenden<br />

Organe: der Reichsregierung, jetzt<br />

Rat der Volksbeauftragten nach der Einigung<br />

der SPD- und USPD- Führungen<br />

und der Ablehnung der Beteiligung Karl<br />

Liebknechts – ihre Bestätigung durch<br />

die Vollversammlung der Berliner Arbeiter-<br />

und Soldaten-Räte am 10. November<br />

im Zirkus Busch, sie bilden ihrerseits<br />

den Vollzugsrat, vorgeblich zentrales<br />

Macht- und Kontrollorgan der sozialistischen<br />

Republik In beiden leitenden<br />

Revolutionsorganen zeigt sich der Kompromisscharakter<br />

des Erreichten: das<br />

Zusammenwirken der sozialdemokratischen<br />

Parteien, die demokratische Beteiligung<br />

der Arbeiter und Soldaten an<br />

den Machtorganen, die Einigung auf<br />

den Aufruf »An das werktätige Volk«,<br />

der die sozialistische Republik verkündet;<br />

dem stimmen alle Versammelten<br />

zu. <strong>Die</strong> Spartakusgruppe lehnt jedoch<br />

die Beteiligung am Vollzugsrat der Räte,<br />

die Zusammenarbeit mit »Regierungssozialisten«<br />

ab, eine sektiererische Position,<br />

die erst im Februar 1919 aufgegeben<br />

wird, <strong>als</strong> die Räte ihren ursprünglichen,<br />

nicht unbedeutenden Rang bereits weitgehend<br />

eingebüßt haben. In der 1966<br />

in der DDR veröffentlichten »Geschichte<br />

der deutschen Arbeiterbewegung«,<br />

Band 3, wurde nach langen Diskussionen<br />

des Herausgeber- und Autorenkollektivs<br />

die Fehlentscheidung beschönigend<br />

<strong>als</strong> »nicht elastisch genug«<br />

charakterisiert . 11<br />

Der Groß-Berliner Vollzugsrat erklärte<br />

wie der Rat der Volksbeauftragten seine<br />

Zuständigkeit für das Reich, für Preußen<br />

und für Berlin, wenn zunächst auch<br />

nur provisorisch, bis zu dem in Aussicht<br />

genommenen gesamtdeutschen Rätekongreß<br />

12 , der das »Provisorium« beenden<br />

und ein für das Reich dauerhaft<br />

legitimiertes leitendes Räteorgan anstelle<br />

des Berliner Rates wählen sollte.<br />

Zunächst waren in den zentralen Revolutionsgremien<br />

Berliner Funktionäre dominant.<br />

<strong>Die</strong> örtliche Herkunft, die Verbindung<br />

zur Basis, zur »Hausmacht«, war für die<br />

Reputation beider Institutionen, für ihr<br />

Ansehen bei der Bevölkerung im ganzen<br />

Reich von nicht zu unterschätzender<br />

Bedeutung. Man muss daran erinnern,<br />

dass es nicht überall <strong>als</strong> ein Vorzug<br />

galt, ein Berliner Funktionär zu sein..<br />

Das Ansehen der Hauptstadt hatte,<br />

wie erwähnt, während des Krieges <strong>als</strong><br />

Zentrum der politischen, militärischen<br />

und wirtschaftlichen Diktatoren nicht<br />

gerade gewonnen. Nun waren weder<br />

die Volksbeauftragten der SPD, Friedrich<br />

Ebert, Otto Landsberg und Philipp<br />

Scheidemann, wie auch die der USPD,<br />

Emil Barth, Wilhelm Dittmann und Hugo<br />

Haase <strong>als</strong> Funktionäre in der Hauptstadt<br />

ansässig; Emil Barth indessen <strong>als</strong><br />

einziger mit dem Berliner Proletariat<br />

durch seine Funktion im DMV verbunden.<br />

Er wirkte zudem im Rat der Volksbeauftragten<br />

und bis zum 20. November<br />

gleichzeitig im Vollzugsrat. Ähnlich<br />

enge Beziehungen zur Berliner Arbeiterbewegung<br />

wie Barth hatten die leitenden<br />

Genossen des Vollzugsrates; bezeichnenderweise<br />

gab es lediglich im<br />

technischen Apparat des Vollzugsrates<br />

Frauen. Allerdings auch hier keine gebürtigen<br />

Berliner unter dem Führungskader<br />

: der Vorsitzende Richard Müller<br />

(USPD) war aus Thüringen gebürtig 13 ,<br />

der soldatische Kovorsitzende, zunächst<br />

Hauptmann von Beerfelde (bis zum 12.<br />

November) 14 , dann (bis zum 8. 1. 1919)<br />

Brutus Molkenbuhr 15 ebenso wenig aus<br />

Berlin wie die Arbeiterräte Ernst Däumig<br />

16 und Georg Ledebour 17 , wie Barth<br />

aber mit der Berliner Arbeiterbewegung<br />

eng verbunden, beide im Zentralvorstand<br />

der USPD, Ledebour seit 1900


Mitglied des Reichstags für Berlin VI,<br />

dazu dann aber eine ganze Phalanx aus<br />

den etwa 100 Revolutionären Obleuten:<br />

Paul Eckert, Paul Wegmann, Paul<br />

Neuendorf von der USPD, sowie Ernst<br />

Jülich, Oskar Rusch, Max Maynz, Franz<br />

Büchel 18 . Somit war der Vollzugsrat hinsichtlich<br />

der personellen Zusammensetzung<br />

deutlich ein Berliner Organ.<br />

<strong>Die</strong> Soldatenräte vertraten zwar Berliner<br />

Truppenteile, waren aber durchweg<br />

keine »Berliner«, sondern spiegelten<br />

schon eine breitere deutsche Landsmannschaft<br />

und andere soziale Schichten<br />

wider. Aus den zunächst gewählten<br />

Soldaten sind neben den erwähnten<br />

Vorsitzenden wohl Eduard Walz 19 , Hans<br />

Paasche 20 und Max Cohen-Reuß 21 sowie<br />

der »Arbeiterrat« Hermann Müller<br />

zu erwähnen, zwei prominente Mitglieder<br />

des Parteivorstandes der SPD 22 .<br />

Cohen-Reuß trug mit Julius Kaliski Überlegungen<br />

zur Rätebewegung bei, die<br />

die Mehrheit des Parteivorstandes ablehnten.<br />

Einem Vorschlag der SPD-Fraktion<br />

(Reinhold Vietz, Schriftführer des<br />

Soldaten-Rates) folgend, bildeten die<br />

Berliner Soldatenräte am 20. November<br />

einen gesonderten Vorstand mit Alfred<br />

Gottschling <strong>als</strong> Vorsitzenden, der Anfang<br />

Dezember Mitglied des Vollzugsrates<br />

wurde. 23 Es war sicher auch eine<br />

Folge der von Berlinern dominierten<br />

Zusammensetzung des Vollzugsrates,<br />

dass sich »sehr bald…in weiten Teilen<br />

des Reiches eine starke Mißstimmung<br />

gegen den Berliner Vollzugsrat geltend«<br />

machte, wie Hermann Müller in seinen<br />

»Erinnerungen« feststellte. Er zitiert den<br />

Soldatenrat Gerhardt mit seiner Unzufriedenheit:<br />

»Der Vollzugsrat hat nicht<br />

Fühlung mit den Süddeutschen aufgenommen,<br />

sondern die Vertreter der<br />

süddeutschen Kameraden mußten erst<br />

hierher kommen«. 24<br />

<strong>Die</strong>s traf zu diesem Zeitpunkt so nicht<br />

mehr zu, denn bereits am 15. November<br />

bedankte sich der Vollzugsrat bei der<br />

»Republik der Bayrischen Arbeiter- und<br />

Soldatenräte« für deren »brüderlichen<br />

Gruß« und forderte sie auf, »gemeinsam<br />

alle Kräfte einzusetzen, die Errungenschaften<br />

der Revolution zu sichern und<br />

auszubauen« 25 . Am 23. November nahmen<br />

schon zwei Vertreter des Arbeiter-<br />

und Soldaten-Rates Badens (Emil Baer<br />

und Johannes Krayer) – sie hatten am<br />

21. 11. Gespräche mit den Berliner Vorsitzenden<br />

geführt – sowie drei Delegierte<br />

von etwa 400.000 Soldaten der Ostfront<br />

an der Vollzugsratssitzung teil; sie<br />

wurden in den Rat aufgenommen. Sehr<br />

bedeutsam war die Teilnahme von Regierungsvertretern<br />

Preußens und Bayerns<br />

(mit Kurt Eisner) <strong>als</strong> bedeutendste<br />

deutsche Bundesstaaten an der Sitzung<br />

des Vollzugsrates am 25. November 26<br />

sowie die Anwesenheit Kieler Delegierter<br />

am 26. 11. 27 , später (am 30. 11.) Bremer<br />

und Münchener 28. Als weitere Vertreter<br />

der Länder wurden Max König<br />

und Lemke für Elsaß-Lothringen (!), Fritz<br />

Heckert und Max Heldt für Sachsen sowie<br />

der Arbeiterrat Heinrich Schäfer für<br />

die besetzten linksrheinischen Gebiete<br />

Mitglieder des Vollzugsrates, wobei Heckert<br />

(Spartakusbund) und Heldt (SPD)<br />

ihre Arbeit im Rat nicht aufnahmen 29 .<br />

Schließlich beschloss der Vollzugsrat<br />

nach der Soldatenratskonferenz am<br />

1. 12. 18 in Bad Ems seine Erweiterung<br />

um fünf Delegierte der Soldatenräte der<br />

im Westen befindlichen Truppen; dann<br />

traten noch drei Abgeordnete des Zentralrats<br />

der Marine (53er Ausschuß) hinzu,<br />

so dass der Vollzugsrat am Vorabend<br />

des Rätekongresses 45 Mitglieder zählte,<br />

die mehrheitlich durch den Zutritt der<br />

Soldatenräte der SPD folgten und der<br />

deutlich über seine ursprüngliche Zentriertheit<br />

auf Berlin hinausgewachsen<br />

war. Er entsprach damit der politischen<br />

Zusammensetzung vieler deutscher<br />

Räte. Trotz anfänglichem Paritätsprinzip<br />

SPD-USPD, was eigentlich dem Räteprinzip<br />

widersprach, hatte die SPD bald<br />

vielerorten die Mehrheit errungen, zumal<br />

längst nicht überall USPD- oder gar<br />

Spartakusorganisationen existierten. 30<br />

Entscheidend für die politische Rolle<br />

des Vollzugsrates wie auch des Rates<br />

der Volksbeauftragten war jedoch seine<br />

Politik, seine Beschlüsse und sein<br />

Vermögen, diese zu verbreiten und<br />

zu realisieren. Erst daran läßt sich die<br />

Stellung Berlins im Revolutionsprozeß<br />

festmachen. Gerhard Engel hat in seinem<br />

Aufsatz über den Vollzugsrat <strong>als</strong><br />

zentrales Räteorgan 31 darauf hingewiesen,<br />

daß der Vollzugsrat entsprechend<br />

seinem Anspruch »hauptstadtübergreifende<br />

Probleme« behandelte, <strong>als</strong>o Berlin<br />

<strong>als</strong> Zentrum der revolutionären Veränderungen<br />

zu respektieren war: so die<br />

Verlautbarung über die exekutive Gewalt<br />

gerichtet auf Reich, Preußen und<br />

Hauptstadt. Aber der Aufruf war lediglich<br />

an die Arbeiter und Soldaten Groß-<br />

Berlins mitgeteilt; der Aufruf zur Bildung<br />

der Roten Garde, die Wahlrichtlinien für<br />

die Arbeiterräte, die Ressorts des Vollzugsrates<br />

– alles nur auf Berlin zugeschnitten.<br />

Andererseits schickte man<br />

Kuriere ins Land, bestimmte mindestens<br />

formal Bildung und Zusammensetzung<br />

der Preußischen Regierung, die Überprüfung<br />

der preußischen Regional- und<br />

Lokalbehörden. Schließlich gab es auch<br />

Ansätze, direkt Reichskompetenz in Anspruch<br />

zu nehmen, zum Beispiel Berlin<br />

<strong>als</strong> europäische Hauptstadt zu behaupten:<br />

so der Aufruf an die Völker Frankreichs,<br />

Italiens, Englands und Amerikas<br />

<strong>als</strong> Zeichen der Berliner <strong>als</strong> Sprecher<br />

deutschen Räte. <strong>Die</strong> Grundsätze revolutionärer<br />

Politik ausgearbeitet und damit<br />

die Rolle Berlins deutlich gemacht hat<br />

Ernst Däumig mit dem Entwurf seiner<br />

Leitsätze mit dem Kernpunkt: »proletarische<br />

Demokratie« gegen die »bürgerlich-demokratische<br />

Republik« über die<br />

Wahl einer Nationalversammlung; diese<br />

Leitsätze wurden am 16./17. November<br />

im Vollzugsrat diskutiert und mit<br />

12 : 10 Stimmen abgelehnt. Schließlich<br />

entsprach der Aufruf des Vollzugsrates<br />

zur gesamtdeutschen Delegiertenkonferenz<br />

am 23. 11. seiner zentralen Rolle,<br />

die Entscheidung aber war verschoben.<br />

Dennoch: obgleich es keine umfassende<br />

Orientierung oder gar Organisation der<br />

Revolutionsbewegung, der Räte, gab,<br />

waren die Unterschiede in den Forderungen<br />

in den verschiedenen Zentren<br />

der Revolution bei ihrem Ausbruch in<br />

den Hauptpunkten identisch oder ähnlich<br />

formuliert: schleunigste Herbeiführung<br />

des Friedens, Beseitigung des<br />

monarchistischen Regimes, eine freie<br />

demokratische Republik, Brot, demokratische<br />

Rechte und Freiheiten in einer<br />

sozialistischen Gesellschaft. Allgemein<br />

war auch die Illusion, mit dem 9./10<br />

November sei bereits die sozialistische<br />

Republik errungen und Träger der politischen<br />

Macht seien die Räte. Gefordert<br />

wurde vielfach die Verbindung zur russischen<br />

Sowjetrepublik 32 . Man braucht<br />

nicht zu wiederholen, dass die Auseinandersetzungen<br />

sehr bald um die Weiterentwicklung<br />

des revolutionären Prozesses<br />

entbrannten, eigentlich waren<br />

sie nur kurzzeitig bei den Kompromissen<br />

um den 9./10 11. überdeckt. Einerseits<br />

die um den Rat der Volksbeauftragten,<br />

<strong>als</strong>o die Führung der SPD und<br />

Teilen der USPD formierten Kräfte, der<br />

alte Staatsapparat, die OHL (Wilhelm<br />

Groener/Paul von Hindenburg) und der<br />

überwiegende Teil des Militärs, Gewerkschaftsführer<br />

und Unternehmerverbände<br />

in Industrie und Landwirtschaft (Carl<br />

Legien – Hugo Stinnes), die Kirchen,<br />

Schulen und Medien, die Justiz, Bürgerräte<br />

und die neu gebildeten bürgerlichen<br />

Parteien, verbunden und verbündet<br />

mit der Regierungsforderung nach<br />

einer Nationalversammlung, die nach<br />

allgemeinem, gleichen und geheimem<br />

Wahlrecht, auch für Frauen, die künftige<br />

Gestaltung des Reiches <strong>als</strong> bürgerlich-demokratische<br />

Republik zu bestimmen<br />

hätte. Andererseits die auf<br />

eine Weiterführung der Revolution bis<br />

zur Errichtung einer sozialistischen Re-<br />

45


publik, der Rätemacht, unterschiedlich<br />

<strong>als</strong> eine »sozialistische« oder »proletarische«<br />

Demokratie bezeichnet, teilweise<br />

<strong>als</strong> Synonym auch <strong>als</strong> »Diktatur des<br />

Proletariats« formuliert, orientierenden<br />

Kräfte: die linke USPD, in Berlin <strong>als</strong>o<br />

USPD-Funktionäre des Vollzugsrates,<br />

die Mehrheit der revolutionären Obleute<br />

und die Spartakusführer, die sich zwar<br />

am 11. November zum Bund, aber noch<br />

nicht zur selbständigen Partei zusammenfanden,<br />

wie sich zeigte, in der Berliner<br />

Arbeiterschaft unterstützt, jedoch<br />

nicht mehrheitlich.<br />

<strong>Die</strong> Gegenrevolution konzentrierte<br />

sich von Anfang an auf Berlin, bereitete<br />

die militärische Besetzung der Stadt<br />

vor und organisierte die konterrevolutionäre<br />

Propaganda gegen die Räte,<br />

bis zur Rufmordhetze gegen Karl Liebknecht<br />

bereits Ende November. In der<br />

Provinz machte die bürgerliche Presse<br />

zudem Stimmung gegen das »rote« Berlin:<br />

»Berlin ist von allen guten Geistern<br />

verlassen…Liebknecht ist der Mann<br />

von morgen, wenn ihn nicht andere<br />

Mächte in Fesseln schlagen <strong>als</strong> das<br />

Kollegium der sechs Männer… Berlin<br />

wird das ganze Deutschland in den Abgrund<br />

reißen, wenn das Reich in seinen<br />

Einzelstämmen nicht die Entschlußkraft<br />

findet, die einstige Reichshauptstadt<br />

abzuschütteln und sein Schicksal<br />

selbst zu bestimmen. Dort locken<br />

die Sirenen des Bolschewismus.. In einer<br />

solchen Stunde heißt es: Rette sich<br />

wer kann! <strong>Die</strong> Augen auf …und los von<br />

Berlin« 33 .<br />

<strong>Die</strong>se Losung kulminierte in den Bestrebungen<br />

nach einer »Republik Groß-<br />

Thüringen« nach dem Beispiel der Rheinisch-westfälischen<br />

Separatisten und<br />

ähnlicher Machenschaften in Bayern<br />

und Oberschlesien 34 . Obgleich Ebert<br />

der Hessischen Regierung bereits am<br />

21. 11. auf ihre Befürchtungen über »die<br />

Entwicklung in Berlin« geantwortet hatte,<br />

dass »nicht nach der Diktatur einer<br />

Stadt« gestrebt werde 35 und dies auf<br />

der Reichskonferenz der Ministerpräsidenten<br />

der deutschen Staaten am<br />

25. 11. in Berlin neuerlich unterstrichen<br />

hatte 36, es wurden weiter die Anti-Berlin-Losungen<br />

<strong>als</strong> Teil der konterrevolutionären<br />

Propaganda verbreitet. Und die<br />

Konferenz der süddeutschen Staaten<br />

am 28./29. November erklärte: »<strong>Die</strong><br />

Verhältnisse in Berlin …bedrohen auch<br />

die Einheit des Deutschen Reiches« 37 .<br />

Wir können den Hass der Konterrevolution<br />

gegen das »rote« Berlin auch positiv<br />

wenden: man erkennt in der Hauptstadt<br />

das Zentrum der Revolution.<br />

Am gleichen Tag, <strong>als</strong> der zitierte Artikel<br />

in Eisenach erschien, am 6. Dezember,<br />

46<br />

kam es in Berlin zum ersten blutigen Zusammenstoß<br />

zwischen Anhängern der<br />

Revolution und Militärs in der Chausseestraße.<br />

Es war noch nicht eine Regierungsaktion,<br />

sondern ein unprovozierter<br />

militärischer Gewaltakt, ein Vorbote.<br />

Am 10. Dezember begrüßten Ebert und<br />

der Magistrat am Brandenburger Tor die<br />

heimkehrenden, »im Felde unbesiegten«<br />

Truppen. Über die Pläne, die die OHL<br />

mit Zustimmung Eberts mit dem Militäreinmarsch<br />

der 10 Divisionen in Berlin<br />

nach diesem Tag verfolgte, hat sich General<br />

Groener später deutlich geäußert:<br />

»Das nächste Ziel« war, »in Berlin die Gewalt<br />

den Arbeiter- und Soldatenräten zu<br />

entreißen« und »eine feste Regierung in<br />

Berlin aufzustellen« 38 . Bevor es aber zur<br />

Militäraktion, zum »Krieg gegen die Revolution«<br />

39 , kam, fand im Preußischen<br />

Abgeordnetenhaus der von allen Seiten<br />

mit Spannung erwartete 1. Reichskongreß<br />

der Arbeiter- und Soldatenräte<br />

vom 16.–20. 12. statt, ein klares Zeichen<br />

für die Akzeptanz der Hauptstadt<br />

<strong>als</strong> Zentrum der Räte, die immer noch<br />

zehntausende Demonstranten mobilisieren<br />

konnten. Der Rätekongreß öffnete<br />

jedoch mit seinem mehrheitlichen<br />

Beschluß über die Wahl der Nationalversammlung<br />

am 19. Januar 1919 den Weg<br />

nach Weimar. War der Rätekongreß ein<br />

Beispiel für ein »sozialistisches« Parlament?<br />

Bekanntlich schloß sein Wahlreglement<br />

alle Bürger von der Wahl aus,<br />

die Wahl sollte aus den »bestehenden<br />

Arbeiter- und Soldaten- Räten« erfolgen;<br />

so kamen selbst die Vorkämpfer für eine<br />

Rätemacht, Luxemburg und Liebknecht,<br />

nicht zu einem Mandat.<br />

Der offene Angriff auf das revolutionäre<br />

Berlin begann mit den so genannten<br />

Weihnachtskämpfen, dem Bombardement<br />

der kaiserlichen Artillerie<br />

auf Schloß und Marstall, Symbole des<br />

Königs- und Kaiserreichs, die von der<br />

Volksmarinedivision allerdings ohne jeden<br />

Beschuss besetzt worden waren.<br />

Das Ergebnis war eher dürftig für die<br />

Angreifer, führte schließlich zum Austritt<br />

der rechten USPD-Vertreter aus der Regierung,<br />

die nun mit Noske, dem mit der<br />

OHL und den Freikorps zum brutalen<br />

Vorgehen entschlossenen »Bluthund«,<br />

seine reine SPD-Zusammensetzung erhielt<br />

und die alleinige Verantwortung<br />

übernahm. 40<br />

<strong>Die</strong> Gründung der KPD am Jahresende<br />

im Preußischen Abgeordnetenhaus unterstrich<br />

erneut die zentrale Rolle Berlins<br />

bei der Herausbildung und schließlichen<br />

Formierung einer alternativen<br />

Linkspartei. Sie war sicher ein wichtiges<br />

Ergebnis der Revolution, jedoch<br />

nicht das wichtigste und historisch be-<br />

deutsamste, wie wir in DDR-Publikationen<br />

immer wieder lesen konnten. 41<br />

Bekanntlich gab es Widersprüche zwischen<br />

der Minderheit um Rosa Luxemburg,<br />

die nach dem Rätekongreß (am<br />

23. 12. in der »Roten Fahne«) auf einen<br />

Kompromiss, nämlich die Beteiligung an<br />

den Wahlen zur Nationalversammlung<br />

und gleichzeitigem Festhalten am Rätesystem<br />

orientierte, und dagegen der unrealistisch,<br />

zum Teil anarchistisch votierenden<br />

Mehrheit, die weiter an der<br />

Illusion von der unmittelbaren Errichtung<br />

der Rätemacht, der Diktatur des<br />

Proletariats, festhielt.<br />

Es ist hier nicht der Platz, die theoretischen<br />

und parteipolitischen Diskrepanzen<br />

der jungen Partei zu erörtern,<br />

auch nicht beispielsweise die 1966 in<br />

der »Chronik zur Geschichte der deutschen<br />

Arbeiterbewegung« 42 getroffene<br />

Feststellung zu erörtern, die Kämpfe<br />

in der Revolution hätten bewiesen, daß<br />

es in Deutschland unmöglich war, »in<br />

einem Sprung zur Diktatur des Proletariats«<br />

zu gelangen. Konnte das überhaupt<br />

das aktuelle Ziel sein ?<br />

Eine Diskussion wäre nötig über »Rätemacht<br />

und Diktatur des Proletariats«,<br />

die noch 1983 im »Wörterbuch der<br />

Geschichte« <strong>als</strong> »die bis dahin umfassendste<br />

Demokratie« bezeichnet wird. 43<br />

Wichtig in unserem Zusammenhang ist<br />

es festzuhalten, dass es nicht gelang,<br />

mit dem fortgeschrittenen Teil der Berliner<br />

Arbeiterschaft, vertreten durch die<br />

Revolutionären Obleute, zu einem wie<br />

auch immer gearteten festen Zusammenschluss<br />

zu kommen und damit weiteren<br />

größeren Einfluss in Richtung einer<br />

Rätedemokratie zu gewinnen. <strong>Die</strong><br />

umstrittene Erklärung des »Revolutions-<br />

Ausschusses« vom 6. Januar 1919 über<br />

die Absetzung der Regierung Ebert war<br />

dazu mindestens ungeeignet.<br />

Andererseits muss man feststellen,<br />

dass die nachfolgenden Kämpfe, fälschlich<br />

»Spartakusaufstand« genannt, die<br />

Massen der Berliner Arbeiter, ihre Obleute,<br />

den Berliner USPD-Vorstand und<br />

die KPD in der Abwehr des weißen Terrors<br />

zusammenführten, der in der Ermordung<br />

Rosa Luxemburgs und Karl<br />

Liebknechts kulminierte.<br />

Der erste offene brutale Schlag der<br />

Konterrevolution richtete sich <strong>als</strong>o gegen<br />

das Berliner Proletariat, und wir haben<br />

versucht an einigen Schnittpunkten<br />

zu zeigen, warum dies der Fall war. Es<br />

folgten bekanntlich sehr bald weitere<br />

Militäraktionen gegen revolutionäre<br />

Zentren, Räterepubliken zumal, wie sie<br />

sich in Bremen (10. 1.–4. 2. 1919) und<br />

dann in München (13. 4.–3. 5. 1919)<br />

konstituiert hatten, gegen die Arbei-


ter Mitteldeutschlands und im Ruhrgebiet.<br />

Waren dies Beispiele für eine »sozialistische<br />

Demokratie«? Auch in Berlin<br />

war man sich seiner Sache noch immer<br />

nicht sicher. Schon während des Rätekongresses,<br />

am 17. Dezember 1918, hatte<br />

der »Vorwärts« vorausschauend geschrieben,<br />

dass man in einer Stadt wie<br />

Berlin, wo man vor Demonstrationen<br />

und Angriffen der Massen nicht sicher<br />

sei, das »höchste Symbol der Demokratie«,<br />

die Nationalversammlung, nicht tagen<br />

lassen könne, man sollte in Kassel,<br />

Erfurt oder in einem anderen Ort zusammenkommen.<br />

44<br />

Ende Dezember 1918 äußerte sich Ebert<br />

zu diesem Problem: » <strong>Die</strong> Sicherheit der<br />

Nationalversammlung« in Berlin zu gewährleisten<br />

sei einerseits »sehr schwierig,<br />

selbst wenn man nicht vor einer<br />

starken militärischen Sicherung zurückschrecken<br />

würde«, auch die wachsenden<br />

Anti-Berlin-Stimmungen und die Gefahr<br />

des Separatismus, die Beziehungen<br />

zu den Bundesstaaten legten den Gedanken<br />

nahe, die Nationalversammlung<br />

»näher nach dem Herzen Deutschlands«<br />

zu verlegen. Am 14. Januar 1919 meinte<br />

er: »Man sollte den Erfolg gegenüber<br />

den Unabhängigen und Spartakisten<br />

nicht überschätzen. Eine absolute Sicherheit<br />

läßt sich in einer solchen Riesenstadt<br />

wie Berlin nicht schaffen.« 45<br />

Scheidemann zog ebenfalls in Betracht,<br />

»dass man in Berlin jeden Tag Hunderttausende<br />

von Menschen auf die Beine<br />

bringen kann, die sich wie Mauern um<br />

die Gebäude legen. Dagegen schützen<br />

alle militärischen Machtmittel gar nicht.<br />

Man kann auf diese Menschenmassen<br />

nicht einfach schießen«. 46 (Das konnte<br />

man weiterhin, so auch in Berlin im<br />

März 1919). Weimar <strong>als</strong> die »Stadt Goethes«<br />

sei »ein gutes Symbol für die junge<br />

deutsche Republik« 47 . Weimar sei<br />

auch aus Gründen des »Einheitsgedankens«<br />

und der »Zusammengehörigkeit<br />

des Reiches« auszuwählen; wenn man<br />

den »Geist von Weimar« mit dem Aufbau<br />

eines »neuen Deutschen Reiches<br />

verbindet«, so würde das in der ganzen<br />

Welt »angenehm empfunden werden«,<br />

meinte Ebert 48.<br />

Es traten noch weitere Überlegungen<br />

hinzu: der USA-Präsident W. Wilson<br />

würde zustimmen, man könne einen<br />

»besseren Frieden« erhalten 49 , und<br />

schließlich fasste die Regierung am<br />

Tag nach den Wahlen zur Nationalversammlung<br />

den Beschluss, Weimar <strong>als</strong><br />

ihren Tagungsort zu bestimmen. 50 »<strong>Die</strong><br />

Konstituante soll die revolutionären<br />

Zustände beenden und dazu muss<br />

sie absolut sichergestellt sein«, hatte<br />

der Unterstaatssekretär und Chef der<br />

Reichskanzlei, Curt Baake, bereits am<br />

14. 1. gesagt: »In Berlin ist das aber<br />

nicht möglich … Hat die Konstituante<br />

erst einmal eine legale Gewalt geschaffen,<br />

so werden wir mit Berlin sehr viel<br />

eher fertig werden, denn diese legale<br />

Gewalt kann viel entschlossener, unbekümmerter<br />

und rücksichtsloser vorgehen<br />

<strong>als</strong> die gegenwärtige Regierung«.<br />

Dann könne man auch bestimmen,<br />

»dass Berlin das Zentrum von Deutschland<br />

bleibt«. 51 Berlin <strong>als</strong>o erst nach der<br />

Liquidation der Revolution wieder das<br />

Zentrum. Es war, wie wir gesehen haben,<br />

eines der Zentren der deutschen<br />

Revolution, der Ursprung der Republik<br />

lag hier, aber Berlin wurde nicht<br />

ihr Namensgeber, sondern die Nationalversammlung<br />

im Nationaltheater,<br />

das bürgerliche Weimar, gab dem aus<br />

der Revolution geborenen Staat für die<br />

nächsten 14 Jahre seinen Namen.<br />

Professor Dr. Ingo Materna<br />

1 Vgl. allgemein: Geschichte Berlins, hg. von Wolfgang<br />

Ribbe, Berlin 2002 (Forschungen der Historischen<br />

Kommission zu Berlin, 2 Bde.), hier Bd. 2.<br />

2 Vgl. immer noch am ausführlichsten im Detail:<br />

Geschichte der revolutionären Berliner Arbeiterbewegung,<br />

hg. von der Bezirksleitung der SED,<br />

Kommission zur Erforschung der örtlichen Arbeiterbewegung.<br />

Bd. 1. Von den Anfängen bis 1917,<br />

Berlin 1987.<br />

3 Vgl. auch die Einleitung zu: Dokumente aus geheimen<br />

Archiven. Bd. 4, 1914–1918. Berichte des<br />

Berliner Polizeipräsidenten zur Stimmung und Lage<br />

der Bevölkerung in Berlin, bearb. von Ingo Materna<br />

und Hans-Joachim Schreckenbach unter<br />

Mitarbeit von Bärbel Holtz, Weimar 1987 (im Folgenden<br />

zit. <strong>als</strong>: Berichte 1914–1918).<br />

4 <strong>Die</strong>ter Fricke, Handbuch zur Geschichte der deutschen<br />

Arbeiterbewegung 1869 bis 1917, 2 Bde,<br />

Leipzig 1987, Bd. 1, S. 377.<br />

5 Vgl. die Literatur in: Groß-Berliner Arbeiter- und<br />

Soldatenräte in der Revolution 1918/19, Dokumente<br />

der Vollversammlungen und des Vollzugsrates.<br />

Vom Ausbruch der Revolution bis zum<br />

1. Reichsrätekongreß, hg. von Gerhard Engel, Bärbel<br />

Holtz und Ingo Materna, Berlin 1993, S. XVI-<br />

II, Anm. 40 Im Folgenden (zit. <strong>als</strong>: Groß-Berliner<br />

A.- und S.-Räte, 1.)<br />

6 Am ausführlichsten: Heinrich Scheel, Der Aprilstreik<br />

1917 in Berlin, in: Revolutionäre Ereignisse<br />

und Probleme in Deutschland während der Periode<br />

der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution<br />

1917/1918, hg. von Albert Schreiner, Berlin 1957,<br />

S. 1–88.<br />

7 Walter Bartel, Der Januarstreik 1918 in Berlin, in:<br />

ebd., S. 141–184.<br />

8 Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918–1937, Frankfurt<br />

a.M. 1961, S. 18; zit. nach Heinrich A. Winkler,<br />

Weimar 1918–1933. <strong>Die</strong> Geschichte der ersten<br />

deutschen Demokratie, München 1993, S. 29.<br />

9 Vgl. Ernst-Heinrich Schmidt, Heimatheer und Revolution<br />

1918. <strong>Die</strong> militärischen Gewalten im Heimatgebiet<br />

zwischen Oktoberreform und Novemberrevolution,<br />

Stuttgart 1981, S. 204 ff.<br />

10 Vgl. ebd., S. 433 ff.<br />

11 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung,<br />

8 Bde., Bd. 3, Berlin 1966, S. 108.<br />

12 Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S.XXVI, XXVIII, 34.<br />

13 Jetzt erstmalig eine präzise Biographie von Ralf<br />

Hoffrogge, Richard Müller. Der Mann hinter der<br />

Novemberrevolution, <strong>Die</strong>tz Berlin, 2008; vgl. auch<br />

ders., Räteaktivisten in der USPD: Richard Müller<br />

und die Revolutionären Obleute, in: JahrBuch<br />

für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung,<br />

Jan. 2008, H. 1, S. 36–45. Im übrigen<br />

vgl. die biographischen Nachschlagewerke sowie<br />

auch in : Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, passim.<br />

Nachzutragen wäre für Ebert: Walter Mühlhausen,<br />

Friedrich Ebert 1871–1925. Reichspräsident der<br />

Weimarer Republik, Bonn 2006; zu Hugo Haase:<br />

<strong>Die</strong>ter Engelmann u. Horst Naumann, Hugo Haase,<br />

Lebensweg und politisches Vermächtnis eines<br />

streitbaren Sozialisten, Berlin 1999.<br />

14 Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. 20, Anm. 12.<br />

15 Ebd., S. 16, Anm. 7.<br />

16 Ebd., S. 5 (mit Lit.).<br />

17 Ebd., S. 8 (mit Lit.).<br />

18 Zu allen Arbeiterräten s. Ebd., S. 22 ff. Zu Franz Büchel<br />

(S. 222, Anm. 19) ergänzend s. ANLAGE (1).<br />

19 Zu E. Walz (Ebd., S. 16) s. ausführlich in den ANLA-<br />

GEN (4).<br />

20 Zu H. Paasche (Ebd. S. 23) ist nachzutragen:<br />

Werner Lange, Hans Paasches Forschungsreise ins<br />

innerste Deutschland. Eine Biographie. Mit einem<br />

Geleitwort von Helga Paasche, Bremen 1995.<br />

21 Ebd., S. 34, s. ANLAGEN (2).<br />

22 Vgl. Hermann Müller, <strong>Die</strong> Novemberrevolution. Erinnerungen,<br />

Berlin 1928, S. 104 f.<br />

23 Ausführlich über A. Gottschling in ANLAGEN (3).<br />

Vgl. auch Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. XXXI-<br />

II.<br />

24 Hermann Müller, a. a. O, S. 106. Wörtlich übereinstimmend<br />

mit Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1,<br />

S. 414 (Sitzung des VR am 28. 11. 1918).<br />

25 Groß-Berliner A.- und S.-Räte, 1, S. 66 f.<br />

26 Ebd., S. 234 ff., 316 ff., 355.<br />

27 Ebd., S. 357, 374.<br />

28 Ebd., S. 469, S. 480 f.<br />

29 Ebd., S. XXXVI.<br />

30 Ebd., S. XXXVII.<br />

31 Gerhard Engel, Der Vollzugsrat der Arbeiter- und<br />

Soldatenräte Groß-Berlins <strong>als</strong> zentrales Räteorgan<br />

(Über Zentralisation und Dezentralisation in der<br />

deutschen Rätebewegung), in: 75 Jahre deutsche<br />

Novemberrevolution. Schriftenreihe der Marx/Engels-Stiftung,<br />

Bd. 21, Köln 1994, S. 151–161.<br />

32 Vgl. den Aufruf der Vollversammlung der Berliner<br />

Räte am 10. 11. 1918, in : Groß-Berliner A.- und S.-<br />

Räte, 1, S. 24 f. Es wäre eine spezielle Untersuchung<br />

zu dieser Problematik angebracht.<br />

33 Erfurter Allgemeiner Anzeiger v. 6. 12. 1918, zit in:<br />

Gerhard Schulze, <strong>Die</strong> Novemberrevolution 1918 in<br />

Thüringen, Erfurt 1976, S, 136.<br />

34 Vgl. die knappe Übersicht bei: Gerhard A. Ritter<br />

u. Susanne Miller, <strong>Die</strong> deutsche Revolution<br />

1918/1919. Dokumente, Frankfurt a.M. 1983,<br />

S. 416 ff.<br />

35 Ebd., S. 399.<br />

36 Ebd., S. 394 ff., ausführlich in: Rat der Volksbeauftragten<br />

1918/1919, bearb v.. Susanne Miller unter<br />

Mitwirkung von H. Potthoff. Eingel. v. E. Matthias,<br />

2 T. Düsseldorf 1969, T. 1, S. 149 ff.<br />

37 Ritter/Miller, a. a. O, S. 401.<br />

38 Ebd., S. 136, 137.<br />

39 <strong>Die</strong> Rote Fahne, 25. 12. 1918.<br />

40 Vgl. Wolfram Wette, Gustav Noske. Eine politische<br />

Biographie, Düsseldorf 1987.<br />

41 Vgl. z. b. Lothar Berthold u. Helmut Neef, Militarismus<br />

und Opportunismus gegen die Novemberrevolution,<br />

2. Aufl., Berlin 1978, S. 109: <strong>Die</strong> Gründung<br />

der KPD »wurde zum wichtigsten Ereignis der Novemberrevolution«.<br />

42 Chronik zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung,<br />

T. II, Berlin 1966, S. 53.<br />

43 Wörterbuch der Geschichte, 2. Aufl. Berlin 1983,<br />

S. 237, 238. Es wird der »demokratische Charakter«<br />

der Diktatur des Proletariats ausdrücklich unterstrichen.<br />

44 Vorwärts, 17. 12. 1918 (M.)<br />

45 <strong>Die</strong> Regierung der Volksbeauftragten, T. 2, a. a. O,<br />

S. 225., auch S. 206 f.<br />

46 Ebd., S. 227.<br />

47 Ebd., S. 228 f.<br />

48 Ebd., S. 225.<br />

49 So Staatssekretär Graf Rantzau, ebd., S. 228.<br />

50 Ebd., S. 283.<br />

51 Ebd., S. 230 f. – Im weiteren vgl. J. S. Drabkin, <strong>Die</strong><br />

Entstehung der Weimarer Republik, Berlin 1983,<br />

S. 7 ff.<br />

47


Anlagen:<br />

(1) Ergänzung zu Franz Büchel (vgl.<br />

Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte,<br />

a. a. O, 1, S. 222 Anm. 19): geb.<br />

in Berlin 17. 4. 1890, <strong>als</strong> Metallarbeiter<br />

seit 1917 zum Kreis der sozialdemokratischen<br />

Betriebsobleute gehörig;<br />

1919/20 aktiv gegen die USPD-Regierung<br />

in Gotha; Juni 1920 Kandidat für<br />

die Reichstagswahlen; 1921–1923 sozialpolitischer<br />

Leiter der Deutschen<br />

Werke in Kassel; 1924–1933 2. Bezirksleiter<br />

der SPD in Kassel-Bettenhausen;<br />

nach 1933 politisch verfolgt, zeitweilig<br />

1933/34 und 1944/45 inhaftiert.<br />

1945 zunächst Vors. des SPD-Ortsvereins<br />

Erkner und Mitgl. des Bez.-Vorstandes<br />

der SPD Brandenburg, zeitweilig<br />

2. Vors. des SPD-Prov.Verbandes<br />

Brandenburg; Sept. 1945 Kritik an der<br />

Politik in der SBZ (Vergewaltigungen<br />

und Plünderungen, Oder-Neiße-Linie),<br />

17. 10. 1945 Verhaftung durch das NK-<br />

WD, bis 19. 1. 1950 Lagerhaft u. a. in<br />

Sachsenhausen und Buchenwald; nach<br />

Entlassung Vors. des »Bundes der Opfer<br />

der Sowjet-KZ« (BOS) in der BRD; gest.<br />

19. 9. 1970.<br />

(Ergänzungen mitgeteilt durch Andreas<br />

Herbst, Berlin).<br />

(2) Ergänzung zu Max Cohen-Reuß (vgl.<br />

Groß-Berliner A.- und S.-Räte, a. a. O, 1,<br />

S. 34, Anm. 3. Briefe an den Berliner Senatsdirektor<br />

Hans Emil Hirschfeld 1960,<br />

jetzt im Landesarchiv Berlin E. Rep.<br />

200 – 15,3 aus Neuilly sur – Seine 43<br />

Rue de la Ferme 24. 2. 1960, über 80jährig):<br />

bis 1933 Mitgl. des von Josephson<br />

gegründeten Angestelltenvereins in Berlin;<br />

in der Emigration für die Force Ouvière<br />

journalistisch tätig; Kontakte zu<br />

den bekannten Sozialdemokraten Paul<br />

Hertz und Siegfried Aufhäuser.<br />

(3) Neues zur Biographie von Alfred<br />

Gottschling (bisher ohne Vornamen<br />

und Daten in Groß-Berliner A.- und S.-<br />

Räte, a. a. O., 1, S. XXXIII u. a.; sicher<br />

auch mit dem S. 30 erwähnten Soldaten<br />

Gottstein identisch): Alfred Gottschling<br />

(16. 9. 1879–19. 7. 1952) war<br />

vom 21. 11. 1918 bis 7. 12. 1919 Vorsitzender<br />

der Berliner Soldatenräte, genauer:<br />

ihres ständigen Büros, das Verbindung<br />

zwischen dem »Großen Soldatenrat« und<br />

dem Vollzugsrat der Groß-Berliner A.-<br />

und S.-Räte halten sollte (ebd., S. 231,<br />

Anm.3). Über seine Stellung entzündete<br />

sich ein Streit in der Vollversammlung<br />

der S.-Räte, da er bereits eine bezahlte<br />

Stellung <strong>als</strong> Kurier beim Vollzugsrat<br />

(ebd., S. 412, Anm. 1) hatte. Seine politische<br />

Position vertrat A. G. in der Voll-<br />

48<br />

versammlung der S.-Räte am 30. 11., in<br />

der er sich für eine sozialistische Republik<br />

und zugleich für eine (spätere) Nationalversammlung<br />

einsetzte, ähnlich wie<br />

führende USPD-Funktionäre auch (ebd.,<br />

S. 500, 502; vgl. »<strong>Die</strong> Freiheit« Nr. 30 v.<br />

1. 12. 1918 – mit Foto des Präsidiums der<br />

Berliner S. Räte und Auszügen aus dem<br />

Referat A. G.: gegen die »Konjunktursozialisten«,<br />

die »Gefahr von rechts«, »für die<br />

sozialistische Republik und die soziale<br />

Gesellschaftsordnung«). Am 5. 12. wurde<br />

er in den »Vollzugsausschuß« (das ist<br />

der Vollzugsrat) gewählt (ebd., S. 609,<br />

658). Damit war er in die »Alltagsarbeit«<br />

des Vollzugsrates eingebunden (ebd.,<br />

S. 765, 778 f., 784 f., 802 f.), trat mit einer<br />

Warnung vor konterrevolutionären<br />

Unteroffizieren und Offizieren hervor<br />

(S. 665) und setzte sich für die Teilnahme<br />

der russischen Sowjetdelegation am<br />

Reichsrätekongress ein; er lehnte den<br />

pompösen Einmarsch der Fronttruppen<br />

am 10. 12. ab (S. 717). Schließlich verlangte<br />

er Rechenschaft von der Regierung<br />

über die Verwendung von Finanzen<br />

vor dem Rätekongreß am 18. 12., an dem<br />

er vermutlich <strong>als</strong> Mitglied des Vollzugsrates<br />

teilnahm (S. 893). Am 20. 12. 1918<br />

erklärte er im Vollzugsrat: »Auch ich habe<br />

morgen zu tun, da ich meine Entlassung<br />

durchführen und nach Hause fahren<br />

will.« Er übergab seine Unterlagen<br />

an den Groß-Berliner Ausschuß und den<br />

Soldatenrat (S. 905).<br />

Alfred Gottschlings »Zuhause« war Gotha,<br />

wo er seit etwa 1910 in der Sozialdemokratie<br />

wirkte. 1916 trat er in der<br />

oppositionellen sozialdemokratischen<br />

»Freien Jugend« Gotha auf, sprach im<br />

Werther´schen Gasthof, auch im Gasthaus<br />

»Zum Mohren« (wo im April 1917<br />

der Gründungskongreß der USPD stattfand)<br />

u. a. über »Gesetzesbestimmungen<br />

und Gerichts- Angelegenheiten«. Vor<br />

dem 1. Mai 1918 wurde er zum Militär<br />

eingezogen, »der bis dahin ein eifriger<br />

Agitator (gegen den Krieg) in der Waggonfabrik<br />

war« (nach Ewald Buchsbaum,<br />

<strong>Die</strong> Linksentwicklung der Gothaer Arbeiterbewegung<br />

von 1914 bis 1920, Diss.<br />

Halle 1965, auch für das Folgende).<br />

Am 11. Januar hielt A. G., »der kurz vorher<br />

aus Berlin zurückgekehrt war«, am<br />

Abend im Theatergebäude ein mehrstündiges<br />

Referat zum Thema »<strong>Die</strong> Waffen<br />

der Revolution«. Im »Gothaer Volksblatt«<br />

(29. 1. 1919) wird von einer Versammlung<br />

berichtet, auf der A.G. den Gegensatz<br />

zwischen den Rechten und <strong>Linke</strong>n in der<br />

Gothaer Arbeiterbewegung diskutierte<br />

und sich für »die Einigung des Proletariats<br />

über die Köpfe der Führer hinweg«<br />

einsetzte. »Da Alfred Gottschling über<br />

bedeutende rhetorische Fähigkeiten verfügte,<br />

dadurch Zustimmung bei vielen<br />

Werktätigen fand«, verstand es A.G. »die<br />

Gothaer Arbeiter irrezuführen« (meint<br />

E. Buchsbaum, a. a. O, S. 142 völlig unbegründet!).<br />

Dagegen erklärte Wilhelm<br />

Bock auf dem Parteitag der USPD in Berlin<br />

(2.–6. 3. 1919): »G. hat in der Partei<br />

die spartakistischen Tendenzen vertreten«.<br />

Bei der Berichterstattung über diesen<br />

Parteitag am 4./ 5. 5. 1919 in Gotha<br />

erklärte sich A.G. erneut für das Rätesystem.<br />

Auf dem Parteitag selbst sagte<br />

er (USPD. Protokoll über die Verhandlungen<br />

des außerordentlichen Parteitages<br />

vom 2. bis 6.März 1919 in Berlin,<br />

Berlin (1919), S. 180), ohne die Diktatur<br />

des Proletariats und die »Verwurzelung<br />

des Rätesystems gäbe es keine sozialistische<br />

Gesellschaftsordnung«. Außerdem<br />

bezog er sich auf einen »Vorgang<br />

vor 8 Jahren«, wo es eine gerichtliche<br />

Auseinandersetzung mit einem gewissen<br />

Rollwagen gegeben habe, offenbar<br />

über ein »Parteiangelegenheit« (S. 190<br />

des Protokolls).<br />

Nach dem Kapp-Putsch im März 1920<br />

in Gotha wegen »Hochverrats« angeklagt,<br />

soll A. G. durch »einflußreiche Gothaer«<br />

gerettet worden sein .(<strong>Die</strong>se Mitteilung<br />

und alles Folgende verdanke ich<br />

Herrn Ingo Fuhrmann, Enkel Alfred Gottschlings,<br />

Düsseldorf, der durch seine<br />

Kenntnisse den Weg zum Lebenslauf seines<br />

Großvaters ermöglichte). A. G. hat<br />

sich dann auch literarisch betätigt, sein<br />

Theaterstück »Menschen der Arbeit«,<br />

ein »soziales Drama in 3 Akten« wurde<br />

im Dezember 1930 in Ruhla (wo er vermutlich<br />

derzeit lebte) aufgeführt (Vgl. Eisenacher<br />

Tagespost 51. Jg., Nr. 295 v.<br />

17. 12. 1930). Offenbar hat seine Ehefrau<br />

Martha (gest. 1961 in Gotha) einige seiner<br />

Gedichte »Aus der Schublade eines<br />

deutschen Arbeiters« aufgezeichnet, die<br />

erhalten sind. Es gibt eine Gipsbüste,<br />

gefertigt von einem Freund. Schließlich<br />

hatte A.G. während der NS-Herrschaft<br />

»wahrscheinlich … auch zu (dem kommunistischen<br />

Lehrer und Widerstandskämpfer-I.M.)<br />

Neubauer Kontakt, <strong>als</strong><br />

dieser in Ruhla unterrichtete«. – A.G. hat<br />

dort einen Handwerksbetrieb mit mehreren<br />

Gesellen geführt; da ihn »politische<br />

Diskussionen in den Gasthäusern« mehr<br />

anzogen <strong>als</strong> das Handwerk, »ging er konsequent<br />

in Konkurs«. Nach dem 2. Weltkrieg<br />

malte – kopierte – er für »russische<br />

Offiziere, die bei ihm ständige Gäste waren,<br />

Stalin-Bilder und schrieb weiter Theaterstücke,<br />

unterhielt sogar ein eigenes<br />

Theater«.


(4) Eduard Walz<br />

Obgleich fast in jeder Publikation<br />

über die Revolution 1918/19 der Name<br />

Eduard Walz genannt wird, war bis<br />

zur Publikation »Groß-Berliner A.- und<br />

S.-Räte«, a. a. O, 1) über seine Person<br />

nichts bekannt. Hier (S. 16) konnten<br />

erstmalig, gestützt auf einige Briefe von<br />

E. W. an das Entschädigungsamt Berlin<br />

und dessen Leiter Hans Emil Hirschfeld<br />

(im Landesarchiv Berlin E Rep. 200-18,<br />

Bd, 3), einige Daten mitgeteilt werden.<br />

<strong>Die</strong> folgende biographische Skizze berücksichtigt<br />

weitere Quellen, die durch<br />

neuerliche Studien in oben genannten<br />

Akten und Nachforschungen von Andreas<br />

Herbst in der Landesversicherungsanstalt<br />

Berlin, Entschädigungsbehörde<br />

(Reg. Nr. 173.312 – Devisen Ausländer)<br />

vervollständigt werden konnten. Wichtigstes<br />

Dokument ist ein von E.W. maschinenschriftlich<br />

verfaßter Lebenslauf<br />

(ohne Datum, offenbar Ende der<br />

1950er Jahre in Paris für den Antrag<br />

auf Entschädigung für in der NS-Herrschaft<br />

Erlittenes), der allerdings einer<br />

quellenkritischen Bearbeitung bedarf,<br />

da er die für unseren Zusammenhang<br />

wichtigste Periode, nämlich die Zeit vor<br />

und während der Revolution 1918, ausläßt,<br />

in unserer Skizze nach Möglichkeit<br />

ergänzt wird.<br />

<strong>Die</strong> Biographie Eduard Walz: Eduard<br />

Paul Walz wurde am 22. 1. 1895 in München<br />

<strong>als</strong> Sohn des Kaiserlichen Marineoberingenieurs<br />

Ernst Walz (1846–<br />

1918) und der Elisabeth W., geb. Schack<br />

(1864–1910) geboren, besuchte die<br />

Volksschule in Starnberg, das Gymnasium<br />

in Sigmaringen und trat, angeblich<br />

ohne Mittel für ein Studium, am<br />

22. 11. 1913 <strong>als</strong> Fahnenjunker in das Füselierregiment<br />

40 in Rastatt ein, am<br />

18. 7. 1914 zum Fähnrich, am 8. 10. 1914<br />

zum Leutnant, am 20. 6. 1918 zum Oberleutnant<br />

befördert; nach Teilnahme am<br />

Krieg 1914–1918 <strong>als</strong> Pionieroffizier,<br />

schied er am 6. 10. 1918 aus dem Heeresdienst<br />

(schweres Nervenleiden). Etwa<br />

zu dieser Zeit nahm er Kontakt zu<br />

Georg Ledebour in Berlin auf, lernte<br />

Emil Barth, Ernst Däumig und Richard<br />

Müller kennen, die alle Vertrauen zum<br />

ihm fassten und ihn, den Oberleutnant<br />

»Lindner«, in die Gespräche über die<br />

Vorbereitung des revolutionären Aufstandes<br />

einbezogen. Am 3./4. November<br />

wurde E. W. durch das Generalkommando<br />

verhaftet, in der Vernehmung<br />

am 5. 11. gab er seine Kenntnisse über<br />

Personen und Pläne der Revolutionäre<br />

preis (Folge: Verhaftung von Däumig<br />

am 8. 11.), angeblich aus »Dummheit«.<br />

Am 9. 11. aus der Haft befreit, wurde E.<br />

W. in der Vollversammlung der Räte am<br />

10. 11. kurzzeitig <strong>als</strong> deren 2. Vorsitzender<br />

in den Vollzugsrat gewählt und zur<br />

»Kontrolle« des Preußischen Kriegsministeriums<br />

bestellt. E. W. erklärte sich<br />

in der Vollzugsratssitzung am 16. 11.<br />

mit den Leitsätzen E. Däumigs, für Sozialismus<br />

und Räterepublik, keine vorschnelle<br />

Wahl der Konstituante, gegen<br />

»Bauernräte« mit Gutsbesitzern, für<br />

Räte der Landarbeiter, gegen die weitere<br />

Dekoration der Offiziere mit Abzeichen<br />

und Degen. Am 22. 11. beriet der Vollzugsrat<br />

erstmalig über die »Angelegenheit<br />

Walz«, sein eigenmächtiges Vorgehen<br />

im Kriegsministerium; dann erfolgte<br />

(am 23. 11.) durch E. Barth die Aufklärung<br />

seines Verhaltens nach der Verhaftung<br />

am 3. 11., die mit der Festsetzung<br />

im Gebäude des Vollzugsrats, Einsetzung<br />

einer Untersuchungskommission,<br />

seinem »Verzicht« auf den Sitz im Voll-<br />

zugsrat (am 26. 11.) endete. Ihm wurde<br />

(u. a. durch G. Ledebour und R. Müller)<br />

dringend geraten, Berlin zu verlassen,<br />

zu seinem Schwiegervater, einem Medizinalrat<br />

am Starnberger See, zu gehen;<br />

Walz selbst sprach von seiner Ehefrau,<br />

(die in seinem Lebenslauf nicht vorkommt<br />

!). 1919 eröffnete er in München<br />

ein Antiquariat, studierte dann Kunstgeschichte<br />

in München, Amsterdam, in der<br />

Schweiz und arbeitete <strong>als</strong> erster Deutscher<br />

(!) <strong>als</strong> Deutschlektor an der Sorbonne.<br />

1929–1933 wohnte er in Berlin-Frohnau<br />

bei der Mutter eines seiner<br />

Studenten, der verwitweten Jüdin Ida<br />

Rosenberg (1880–1946), mit deren Vermögen<br />

er mehrere Bäckereien/Konditoreien<br />

(zuletzt 4 gutgehende Geschäfte)<br />

in Berlin betrieb, ab 1933 ständige Angriffe<br />

durch SA, Boykott. Im April 1933<br />

mit Frau R. nach Paris geflohen, arbeitete<br />

E. W. <strong>als</strong> Lektor für deutschsprachige<br />

und holländische Presse beim französischen<br />

Außenministerium, im September<br />

1939 zeitweilig interniert, dann<br />

von Juni 1940–23. 8. 1944 illegal in Paris,<br />

vom Kleinhandel existierend, Wohnungsdurchsuchung<br />

durch Gestapo Paris<br />

VIII, rue Duplot, illegale Wohnung in<br />

31 Avenue de L´Opera mit Frau Rosenberg<br />

bei der Mutter von Jeanne Honoré,<br />

einer Pianistin, die er 1944 heiratet;<br />

wohnhaft dann I rue Mizon, Paris XV.<br />

E.W. bemühte sich um freundschaftliche<br />

Beziehungen Frankreichs zur BRD und<br />

erhielt nach langwierigen Bemühungen<br />

(1958–1962) schließlich 1962 eine monatliche<br />

Rente von 700 DM (Berufsschadenrente),<br />

rückwirkend ab 1953.<br />

Am 18. 5. 1985 ist Eduard Walz hochbetagt<br />

in Paris verstorben.<br />

Professor Dr. Ingo Materna<br />

49


Der Arbeiterkinderklub »Nordost«<br />

in Berlin-Prenzlauer Berg 1929 bis 1933<br />

»Eins merke Dir Arbeiterkind!<br />

Wir weder Onkel noch Tante sind.<br />

Kommst Du herein und hebst die Flosse,<br />

grüßt ›Seid bereit‹ und sagst ›Genosse‹!«<br />

Im Zuge eines Projektes, in dem ich<br />

den Archivbestand der Bezirksorganisation<br />

Prenzlauer Berg der Vereinigung<br />

der Verfolgten des Naziregimes-Bund<br />

der Antifaschisten erschließe, stieß ich<br />

immer wieder auf interessante Dokumente.<br />

So auch auf eine Akte über den<br />

Arbeiterkinderklub »Nordost« der von<br />

1929 bis 1933 am Helmholtzplatz, einer<br />

damaligen Hochburg der KPD, bestand.<br />

<strong>Die</strong> Informationen, welche für<br />

mich <strong>als</strong> ehemaligem Jung- und Thälmannpionier<br />

sehr interessant und aufschlussreich<br />

waren, möchte ich auch<br />

den Lesern des Rundbriefes nicht vorenthalten.<br />

Der Arbeiterkinderklub »Nordost« war<br />

der erste Klub für Arbeiterkinder in ganz<br />

Berlin. Er wurde im November 1929 auf<br />

Initiative des Jungspartakusbundes eingerichtet<br />

und hieß zunächst »Heim Lenin«.<br />

Für die »Roten Jungpioniere«, die<br />

sich vorher in den Vereinszimmern der<br />

Arbeiterlokale mit aufhalten mussten,<br />

sollte ein eigener Anlaufpunkt geschaffen<br />

werden. Da der Klub aber allen Arbeiterkindern<br />

offen stehen sollte, <strong>als</strong>o<br />

auch sozialdemokratischen, christlichen<br />

und parteilosen, wurde er nach kurzer<br />

Zeit in »Nordost« umbenannt. Ziel war<br />

es, die von der dam<strong>als</strong> herrschenden<br />

Wirtschaftskrise betroffenen Arbeiterkinder,<br />

welche hungern mussten und<br />

sich oft auf herumtrieben, von der Straße<br />

zu holen und sie sinnvoll zu beschäftigen.<br />

Zunächst befand sich der Klub in der<br />

Dunckerstraße 86 in einem ehemaligen<br />

Kino. 1930 zog er in die Lettestraße 8<br />

in eine ehemalige Drogerie um, weil<br />

dort die Miete, welche teilweise von der<br />

KPD gestellt wurde, billiger war. <strong>Die</strong> Umzugskosten<br />

wurden vom KJVD getragen.<br />

In der Dunckerstraße hatte der Klub<br />

drei Räume gehabt: ein Bastelzimmer<br />

mit drei Hobelbänken, einen Waschraum<br />

mit zwei Handwaschbecken und<br />

40 Kleiderhaken sowie ein Spielzimmer<br />

mit einem kleinen eisernen Ofen.<br />

50<br />

In der Lettestraße hatte der Klub zwei<br />

große Räume, einen großen eisernen<br />

Ofen und ein Terrarium mit einer Schlange.<br />

<strong>Die</strong> Öfen spielten eine zentrale Rolle,<br />

da besonders im Winter in den Klub<br />

viele Kinder kamen, weil es noch keine<br />

Schulhorte gab und zuhause die Stuben<br />

oft unbeheizt blieben. Dam<strong>als</strong> gab<br />

es im Winter – so wie heute im Sommer<br />

manchmal hitzefrei – »Kohlferien«.<br />

Dann wurden von den Kindern in den<br />

Häusern rund um den Helmholtzplatz –<br />

der früher im Volksmund auch »Läuseplatz«<br />

hieß – Kohlen für diese Öfen gesammelt.<br />

Im Klub wurden Kinder im Alter von 6<br />

bis 14 Jahren betreut. Da in den umliegenden<br />

Schulen in der Pappelallee,<br />

der Duncker- und der Danziger Straße<br />

die Kinder in Schichten vormittags und<br />

nachmittags unterrichtet wurden, musste<br />

der Klub auch vormittags zugänglich<br />

sein. <strong>Die</strong>s stellte deshalb kein Problem<br />

dar, weil der Klubleiter, wie viele<br />

seiner Genossen derzeit, arbeitslos war<br />

und den ganzen Tag vor Ort sein konnte.<br />

Auch viele andere Arbeitslose halfen<br />

im Kinderklub ehrenamtlich mit. Stellvertretend<br />

sei an dieser Stelle von den<br />

vielen Helfern nur der wohl bekannteste<br />

von ihnen genannt, und zwar Genosse<br />

H. Burchert – wegen seiner herausragenden<br />

Körpergröße auch »Antenne«<br />

genannt –, der später <strong>als</strong> Kinderbuchautor<br />

unter dem Pseudonym »Hein Butt«<br />

bekannt werden sollte. Abends wurde<br />

der Klub von der KPD, dem KJVD und<br />

der Roten Hilfe für Versammlungen genutzt.<br />

Zeitweise (besonders im Winter)<br />

strömten hunderte Kinder aus den anliegenden<br />

Straßen in den Klub, um die<br />

Angebote wahrzunehmen. Jedoch waren<br />

nur wenige Mitglieder in der Pionierorganisation,<br />

hauptsächlich Kinder<br />

von KPD-Genossen. Aus der gesamten<br />

Greifswalder Straße zum Beispiel waren<br />

es nur 20 Pioniere, diese kamen aber regelmäßig.<br />

Zu den Beschäftigungen gehörten basteln,<br />

malen und Lieder lernen, aber<br />

auch (von älteren erfahrenen Genossen<br />

angeleitet) so sinnvolle Tätigkeiten, wie<br />

das Gestalten von Wandzeitungen. An<br />

den Wochenenden und Feiertagen wurden<br />

Wanderungen im Berliner Umland<br />

sowie Museumsbesuche unternommen.<br />

Im Winter wurden Weihnachtsgeschenke<br />

gebastelt und ein Julklapp<br />

durchgeführt, in den Sommerferien<br />

die Kinder in zentrale Pionierlager geschickt.<br />

Auch wurden von den Kindern<br />

regelrechte Programme einstudiert, die<br />

auf Parteiveranstaltungen und anderen<br />

Gelegenheiten, etwa im nahe gelegenen<br />

»Saalbau Friedrichshain«, Am<br />

Friedrichshain 16–23, oder im »Ledigenheim«,<br />

Pappelallee 15, aufgeführt<br />

wurden.<br />

Um die Fahrten und die Klubmiete (teilweise)<br />

zu finanzieren, führten die Pioniere<br />

Spendensammelaktionen durch und<br />

verkauften die Pionierzeitschrift »Trommel«,<br />

welche in der Druckerei der »Roten<br />

Fahne« gedruckt wurde. Meist standen<br />

die Pioniere mit den »Trommeln« an der<br />

Ecke Schönhauser Allee. Manchmal wurden<br />

ihnen die Zeitungen von SA oder<br />

Schupos gewaltsam entrissen.<br />

Nach der Machtübertragung an die Nazis<br />

im Januar 1933 wurde der Klub geschlossen.<br />

Darauf demonstrierten die<br />

Kinder auf dem Helmholtzplatz und riefen:<br />

»Gebt uns unseren Kinderklub wieder!«,<br />

bis die Polizei kam und die Demonstration<br />

auflöste. Im Jahre 1933<br />

wurde die Arbeit mit den Kindern dann<br />

auch eingestellt, weil man mit ihnen<br />

selbstverständlich nicht illegal arbeiten<br />

konnte und wollte. Jedoch waren die Pioniere<br />

in den wenigen Jahren des Bestehens<br />

des Klubs dauerhaft geprägt worden:<br />

Bis in die siebziger Jahre trafen sich<br />

die ehemaligen Klubmitglieder jedes<br />

Jahr auf der Lenin-Liebknecht-Luxemburg-Demonstration,<br />

die zum Friedhof<br />

der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde<br />

führt.<br />

Quellen:<br />

Stiftung Archiv der Parteien und<br />

Massenorganisationen der DDR<br />

im Bundesarchiv:<br />

BY 9/PB 555 Arbeiterkinderklub<br />

»Nordost« 1929–1933<br />

BY 9/PB 137 Ilse Fuss<br />

Oliver Reschke M.A.


Ein sozialdemokratisches<br />

Widerstandskämpfer schicksal:<br />

Willi Scheinhardt, Gauleiter des hannoverschen Fabrikarbeiterverbandes<br />

von 1925 bis 1933<br />

Willi Scheinhardt wird am 10. Januar<br />

1892 <strong>als</strong> Sohn eines Bergarbeiters in<br />

Etzdorf/Mansfelder Seekreis (Provinz<br />

Sachsen) geboren. Nach Abschluss der<br />

Volksschule arbeitet er in chemischen<br />

Fabriken <strong>als</strong> ungelernter Hilfsarbeiter.<br />

Er engagiert sich früh politisch, tritt<br />

1908, erst 16 Jahre alt, in die Gewerkschaft<br />

ein und 1910 auch in Bitterfeld in<br />

die SPD, wo er sich <strong>als</strong> Leiter der Arbeiterjugend<br />

profiliert. Im April 1919 nimmt<br />

er eine Stelle <strong>als</strong> Sekretär des Fabrikarbeiterverbandes<br />

in Harburg an, der<br />

ihn im November 1922 <strong>als</strong> Agitationsleiter<br />

nach Hannover beordert. Von 1925<br />

bis 1933 ist Willi Scheinhardt in Hannover<br />

<strong>als</strong> Gauleiter des Fabrikarbeiterverbandes<br />

tätig.<br />

Geschichtliches zum Deutschen<br />

Fabrikarbeiterverband<br />

Vom 29. Juni bis 2. Juli 1880 findet in<br />

Hannover mit Delegierten aus 28 Orten<br />

des Deutschen Reiches der «Kongress<br />

aller nichtgewerblichen Arbeiter<br />

Deutschlands« statt. Es entsteht eine<br />

neue Organisation, der «Verband der<br />

Fabrik-, Land- und gewerblichen Hilfsarbeiter<br />

Deutschlands«. Mit der Gründung<br />

des Verbandes gelingt es allmählich,<br />

zersplitterte Lokalvereine von ungelernten<br />

Arbeitern in einen festgefügten<br />

Zentralverband einzubinden, um verbesserte<br />

Lohn- und Arbeitsbedingungen für<br />

die Arbeiterschaft zu erreichen. Der Fabrikarbeiterverband<br />

will es Arbeitern ohne<br />

Berufsausbildung ermöglichen, sich<br />

jeweiligen Berufsorganisationen anzuschließen.<br />

Der erste Verbandsvorsitzende<br />

des Fabrikarbeiterverbandes ist August<br />

Brey. Seine Amtszeit wird von 1880<br />

bis 1931 dauern.<br />

<strong>Die</strong> ersten Jahre nach seiner Gründung<br />

verlaufen für den Verband krisenreich.<br />

Doch ab 1895 setzt trotz der Existenzbehinderungen<br />

durch Unternehmer,<br />

Polizei und Justiz im wilhelminischen<br />

Obrigkeitsstaat ein Aufschwung ein. Angesichts<br />

der unruhigen gravierenden<br />

politischen Abläufe während des Ersten<br />

Weltkrieges, der Nachkriegszeit, der<br />

Novemberrevolution 1918 und der politischen<br />

Umbrüche, erlebt der Verband<br />

ein Auf und Nieder. Doch gegen Ende<br />

der Weimarer Zeit hat sich der Fabrikarbeiterverband<br />

zum viertgrößten Verband<br />

der im Allgemeinen Deutschen<br />

Gewerkschaftsbund (ADGB) zusammengeschlossenen<br />

Freien Gewerkschaften<br />

entwickelt. Damit verliert er seinen Status<br />

<strong>als</strong> Verband der ungelernten Arbeiter.<br />

<strong>Die</strong> neue Zentrale des Fabrikarbeiterverbandes<br />

in Hannover wird im Februar<br />

1930 <strong>als</strong> erstes eigenes Verbandsgebäude<br />

käuflich erworben. Bis dahin hat<br />

in dem Haus eine Filiale der Berliner Diskonto-Bank<br />

ihren Sitz. Der Umzug zum<br />

Rathenauplatz 3 vollzieht sich im Juni<br />

1930. Da der Verband aber auch am<br />

28. Juni 1930 sein 40jähriges <strong>Die</strong>nstjubiläum<br />

begeht, bezieht er in die Feierlichkeiten<br />

die Einweihung des neuen<br />

Verbandshauses mit dem Hauptsitz Am<br />

Rathenauplatz 3 ein.<br />

Während des Festaktes in der Stadthalle<br />

Hannover sind zahlreiche namhafte<br />

Gründungsmitglieder der ersten Stunde<br />

präsent, so August Brey, dessen Name<br />

im engen Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte<br />

des Fabrikarbeiterverbandes<br />

steht. <strong>Die</strong> »Deutsche Welle«<br />

überträgt die charismatische Festrede<br />

Breys im Rundfunk. Anwesend sind ferner<br />

August Lohrberg (Hannover), Claas<br />

de Jonge <strong>als</strong> Vertreter der Fabrikarbeiter-Internationale,<br />

Heinrich Martens<br />

(Harburg) und Peter Graßmann vom<br />

Bundesvorstand des ADGB.<br />

Aus gegebenem Anlass hat der Vorstand<br />

des Fabrikarbeiterverbandes bereits<br />

im Sommer 1929 beschlossen,<br />

einen Dokumentarfilm zur Geschichte<br />

des Verbandes zu produzieren. Weil der<br />

hannoversche Gauleiter Willi Scheinhardt<br />

den neuen Agitationsmethoden<br />

und den zeitgemäßen Medien wie Film<br />

und Rundfunk aufgeschlossen und fachkundig<br />

gegenüber steht, betraut ihn der<br />

Verband mit der Projektleitung. In Kooperation<br />

mit dem Regisseur Albert Blum<br />

entsteht der Film »Aufstieg«, der eine<br />

positive Resonanz findet. Der Dokumentarfilm<br />

geht in den Wirren des Zweiten<br />

Weltkrieges verloren.<br />

Willi Scheinhardt äußert sich dazu weitsichtig<br />

in einem Artikel:<br />

«Ein wichtiges Propagandamittel ist der<br />

Film. Wir verwenden ihn seit 4 Jahren.<br />

Unsere 4jährige Erfahrung reicht aus, um<br />

uns ein Urteil bilden zu können. Wir sind<br />

zu der Überzeugung gekommen, dass der<br />

Film eins der wichtigsten Propagandamittel<br />

ist. Er wirkt überzeugend und lockert<br />

den Boden ordentlich auf, der zu bearbeiten<br />

ist. <strong>Die</strong> Filmpropaganda ist nicht,<br />

wie landläufig angenommen wird, die<br />

teuerste, sondern sie ist die billigste. <strong>Die</strong><br />

durchschnittliche Besucherzahl unserer<br />

Filmveranstaltungen beträgt seit 4 Jahren<br />

200. Mit Hilfe des Films tragen wir den<br />

gewerkschaftlichen Gedanken in die Familien.<br />

Wir arbeiten nicht nur auf großen<br />

Hauptstraßen und Märkten, wir gehen<br />

auch in die Quer- und Nebenstraßen, d. h.<br />

in das kleinste Dorf. Heute wird allgemein<br />

ausgesprochen, dass die Hausagitation in<br />

dieser Zeit das geeignetste Mittel ist, um<br />

zu werben. Wir bestreiten das nicht. Wir<br />

sagen aber: Der Werber hat bei der Hausagitation<br />

einen viel größeren Erfolg, wenn<br />

durch eine großzügige Propaganda der<br />

Boden ordentlich aufgerissen ist, der zu<br />

bearbeiten ist. – Werfen wir einen Blick<br />

in unsere Tages- und Gewerkschaftszeitungen,<br />

so sehen wir, dass sie arm sind<br />

an Artikeln, die sich mit dem Schicksal<br />

des Arbeiters, seinen Nöten und seinen<br />

Sorgen beschäftigen. Hier war uns die alte<br />

Zeit überlegen«.<br />

<strong>Die</strong> neue Zentrale stellt für den Fabrikarbeiterverband<br />

nicht allein ein äußeres<br />

Zeichen von Erfolg und Aufstieg dar, sie<br />

bietet außerdem unübersehbare bessere<br />

Arbeitsbedingungen für die einzelnen<br />

Abteilungen des Hauptvorstandes. 1<br />

Durch Um- und Ausbaumaßnahmen im<br />

Gebäude Am Rathenauplatz 3 entsteht<br />

eine weitere Etage mit Wohnraum für<br />

die Verbandsangehörigen und ihre Familien.<br />

Der Gauleiter Willi Scheinhardt, seine<br />

Ehefrau Emma (geborene Gerig), die<br />

am 14. Oktober 1924 geborene Tochter<br />

Gerda, der Reichstagsabgeordnete<br />

und Sekretär der Tarifabteilung Richard<br />

Partzsch 2 sowie der Hausmeister Willi<br />

Krahtz ziehen ein.<br />

Durch die Machtübernahme Hitlers im<br />

Januar 1933 häufen sich bald die bedrohlichen<br />

politischen Ereignisse, die<br />

sich durch spürbare Repressalien in<br />

Form von Aus- und Gleichschaltung und<br />

Ermordung der vermeintlichen Gegner<br />

aller Richtungen äußern. Einbezogen<br />

sind Gewerkschaften und Verbände. Bereits<br />

im Februar 1933 finden in Hannover<br />

Aufmärsche der Nazis anlässlich Hitlers<br />

Ernennung zum Reichskanzler statt.<br />

Der 1. April 1933 ist der Tag des Boykotts<br />

jüdischer Geschäfte in Deutschland.<br />

<strong>Die</strong> Nazis besetzen in Hannover<br />

51


die Gewerkschaftshäuser und verhaften<br />

Gewerkschafter und Angestellte. Auch<br />

der Gauleiter Willi Scheinhardt wird von<br />

der SS verhaftet. Im Gegensatz zu seinen<br />

Kollegen bleibt er länger im Gefängnis<br />

und kommt erst später wieder frei.<br />

<strong>Die</strong> SS dringt in das Verbandsgebäude<br />

am Rathenauplatz ein, beschlagnahmt<br />

Verbandseigentum und -vermögen, versiegelt<br />

die Räume und hisst auf dem<br />

Dach die Hakenkreuzfahne. <strong>Die</strong> im Haus<br />

der Hauptverwaltung ansässigen Familien<br />

Scheinhardt und Partzsch dürfen<br />

nur mit (von der SA-Hilfspolizei ausgestellten)<br />

»Erlaubnisscheinen« ihre eigenen<br />

Wohnungen betreten und verlassen.<br />

<strong>Die</strong> im Haus der Hauptverwaltung ansässigen<br />

Familien Scheinhardt und<br />

Partzsch dürfen nur mit (von der SA-<br />

Hilfspolizei ausgestellten) »Erlaubnisscheinen«<br />

ihre eigenen Wohnungen betreten<br />

und verlassen.<br />

52<br />

<strong>Die</strong> Bewohner werden aus dem Haus<br />

vertrieben. Familie Scheinhardt zieht in<br />

die Rodenstr. 9 (Hannover-Linden) und<br />

lebt ab 1935 in der Hagenstr. 58 (Hannover-List).<br />

Mitte April 1933 ist die Zentrale wieder<br />

zugänglich und benutzbar. Der Fabrikarbeiterverband<br />

hat jedoch bereits am<br />

1. April 1933 seine Eigenständigkeit verloren.<br />

Der materielle Verlust nach dem begangenen<br />

Überfall bringt den schwer<br />

geschädigten<br />

Gewerkschaftsangehörigen Existenzkrisen.<br />

Davon betroffen ist auch die Familie<br />

Scheinhardt, die wie die anderen<br />

Genossen aus der Not heraus nach neuen<br />

Beschäftigungsmöglichkeiten sucht.<br />

Das Ehepaar Scheinhardt steigt in einen<br />

Wäscheverkauf ein. Frau Emma führt<br />

das Geschäft nach Verhaftung und Ermordung<br />

ihres Mannes bis 1938 allein<br />

weiter. Weil die geringe Rente zum Leben<br />

für sie und ihre Tochter Gerda nicht<br />

ausreicht, arbeitet Frau Emma Scheinhardt<br />

außerdem <strong>als</strong> Aushilfe in einer<br />

Gastwirtschaft bei Bekannten.<br />

Politische Aktivitäten 3 und<br />

Widerstand gegen die Faschisten<br />

Schon bald erkennt der Fabrikarbeiterverband<br />

in der NSDAP den gefährlichsten<br />

Feind der deutschen Gewerkschaftsbewegung<br />

und nimmt die illegale<br />

Widerstandsarbeit auf. Willi Scheinhardt<br />

hat ahnungsvoll bereits Ende der zwanziger<br />

Jahre den propagandistischen Kampf<br />

gegen die Nazis eingeleitet. Anfang 1933<br />

reist er häufig nach Amsterdam zum<br />

Sitz der Fabrikarbeiter-Internationale,<br />

um dort rechtzeitig die wichtigsten Verbandsdokumente<br />

in Sicherheit zu bringen.<br />

Er schließt sich der von Werner<br />

Blumenberg im Jahre 1932 gegründeten<br />

Widerstandsorganisation »Sozialistische<br />

Front« an, für die er illegales Material<br />

in Deutschland verbreitet. Noch<br />

am 2. März 1933 werden einige leitende<br />

Gewerkschafter, darunter auch Willi<br />

Scheinhardt, in seiner Funktion <strong>als</strong> Gauleiter<br />

von Hannover nach Süddeutschland<br />

delegiert, um eine zweite Gewerkschaftszentrale<br />

des Verbandes der<br />

Fabrikarbeiter Deutschlands zu gründen.<br />

Verhaftung, Deportation und<br />

Ermordung Willi Scheinhardts<br />

Noch 1936 hält er den Kontakt mit weiteren<br />

SPD-Genossen aufrecht. Sie betreiben<br />

unter anderem gemeinsam ein<br />

Wanderkino, das jedoch unter die Zensur<br />

der Nazis fällt und verboten wird.<br />

Im Januar 1936 zerschlägt die Gestapo<br />

die Widerstandsorganisation »Sozialistische<br />

Front« und verhaftet dabei auch<br />

Willi Scheinhardt in Hannover. Im Gestapogefängnis<br />

Hildesheim bleibt er unter<br />

dem Vorwurf des Hochverrats in Haft.<br />

Am 6. Oktober 1936 stirbt er an den Folgen<br />

grausamer Folterungen durch die<br />

Gestapo.<br />

Der »Neue Vorwärts« berichtet am 8.<br />

November 1936 in seiner Nr. 178: »Der<br />

frühere Gauleiter des Deutschen Fabrikarbeiterverbandes,<br />

der Genosse Willi<br />

Scheinhardt, ist Anfang Oktober den<br />

Misshandlungen durch die Gestapo erlegen<br />

und am 14. Oktober in aller Stille<br />

eingeäschert worden. Der Genosse<br />

Willi Scheinhardt, der jetzt im Alter von<br />

44 Jahren einen so grausamen Tod erleiden<br />

musste, hat von früher Jugend an<br />

<strong>als</strong> Sozialdemokrat und Gewerkschafter<br />

selbstlos der Gesamtbewegung und ihren<br />

Zielen gedient; er ist auch nach Hitlers<br />

Machtantritt seiner sozialistischen<br />

Überzeugung treu geblieben und muss-


te nun seine Treue zu unseren Ideen mit<br />

dem Leben büßen.--<br />

Der Gener<strong>als</strong>taatsanwalt dokumentierte<br />

am 17. Oktober 1936, dass er zwischen<br />

dem 29. 9.und 6. 10. 1936 zu Tode geprügelt<br />

worden ist, weil er »vermutlich kein<br />

vollständiges Geständnis abgelegt hat.«<br />

<strong>Die</strong> Gestapo verweigert den Familienangehörigen<br />

zunächst die offizielle Freigabe<br />

des Leichnams. <strong>Die</strong> Urnenbeisetzung<br />

erfolgt am 14. Oktober 1936 auf dem<br />

Friedhof Hannover-Ricklingen. Es ist der<br />

12. Geburtstag seiner Tochter Gerda.<br />

Das Grab wurde inzwischen eingeebnet.<br />

Das Schicksal der Familie nach der<br />

Ermordung Willi Scheinhardts<br />

1944 wird Frau Scheinhardt ausgebombt<br />

und kommt mit ihrer Tochter<br />

Zeitungsartikel von Willi Scheinhardt, Hannover, September 1931:<br />

Warum neue Formen<br />

der gewerkschaftlichen Agitation?<br />

Zunächst eine Bemerkung: Ich will nicht<br />

sprechen über Dinge, die uns – die wir<br />

hier sind – geläufig sind. Aber ich vertrete<br />

die Auffassung, dass wir Organisationskunde<br />

und Großbetriebslehre<br />

brauchen, wenn wir nicht von der Hand<br />

in den Mund leben wollen. In meinem<br />

Vortrage will ich zeigen, auf was unsere<br />

Erfolge zurückzuführen sind und warum<br />

wir in der Gegenwart und Zukunft<br />

zu einer Erweiterung unserer bisherigen<br />

Agitationsformen und –methoden kommen<br />

müssen und gleichzeitig andeuten,<br />

welche Wege wir einzuschlagen haben.<br />

Ich glaube, so das zu behandelnde Gebiet<br />

abgesteckt zu haben. Meiner Arbeit<br />

liegt folgender Satz zugrunde: »Nur der<br />

kann der Natur gebieten, der ihren Gesetzen<br />

zu gehorchen weiß«.<br />

<strong>Die</strong> Idee <strong>als</strong> werbende Kraft<br />

Dass die Arbeitskraft eines Volkes den<br />

Reichtum des Volkes darstellt und dass<br />

das jährliche einkommen eines Volkes<br />

sich zu verteilen hat nach dem Prinzip<br />

der freien Konkurrenz, diese Auffassung<br />

hat die Welt nicht erschüttert.<br />

Dass Menschen Reichtum zusammenscharrten<br />

aus der Arbeit der von ihnen<br />

beschäftigten Arbeiter, indem sie ihnen<br />

keinen auskömmlichen Lohn zahlten<br />

und dass es für die Arbeiter in der kapitalistischen<br />

Welt keine Arbeit gibt, wenn<br />

nicht der Unternehmergewinn gesichert<br />

ist, diese Auffassung hat die Welt erschüttert.<br />

Gerda bei Bekannten in Ricklingen unter.<br />

Später bewohnen beide bis zu ihrem<br />

Umzug nach Hannover-Ricklingen in ihr<br />

eigenes Haus im Jahre 1952 zwei Zimmer<br />

in Hannover-Waldhausen.<br />

Frau Emma Scheinhardt stirbt 1984 im<br />

Alter von über 92 Jahren in Hannover.<br />

Heide Kramer<br />

1 Nach1945 wird das Haus zum Sitz der IG Chemie<br />

(Nachfolge des Fabrikarbeiterverbandes), später<br />

Niederlassung einiger Banken.<br />

2 RichardPartzsch (geboren am 15. 11. 1881 in Dresden,<br />

gestorben am 6. 11. 1953 in Hannover) Er wird<br />

nach der Schule Dekorationsmaler. Seit 1902 ist<br />

er Mitglied der SPD und Gewerkschaft. Dann einige<br />

Jahre vor dem Ersten Weltkrieg Vorsitzender<br />

des SPD-Ortsvereins in Dresden-Cotta. Ab 1913<br />

Geschäftsführer des freigewerkschaftlichen Fa-<br />

Das Wort «alle Menschen sind Brüder«<br />

hat die Welt nicht aus ihren Angeln gehoben.<br />

Aber das Wort «Proletarier aller<br />

Länder vereinigt Euch« hat die Welt tief<br />

aufgewühlt.<br />

Dem langen Arbeitstag setzten die Arbeiter<br />

die 8 stündige Arbeitszeit entgegen.<br />

Der einseitigen Festsetzung des Lohnes<br />

den Tarifvertrag, der Arbeitslosigkeit<br />

innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft<br />

die Arbeitslosenversicherung<br />

und der kapitalistischen Wirtschaft die<br />

sozialistische Wirtschaft.<br />

Aus diesen Gedanken heraus bildete<br />

sich die gewerkschaftliche Idee, geboren<br />

aus der Not der Zeit, die Idee, ein<br />

Gedankenbild in den Köpfen der Arbeiter<br />

wie die Welt nach ihren Anschauungen<br />

sein müsste.<br />

<strong>Die</strong> Idee wurde die geistige Einstellung<br />

der schaffenden Menschen.<br />

Für die Gewerkschaftsbewegung war<br />

die Idee der große Agitator eine werbende<br />

Kraft ersten Ranges. Sie förderte<br />

die Liebe und den Idealismus zur Bewegung,<br />

sie gab der Bewegung Schwung,<br />

Kraft und Inhalt, sie war der Sauerteig<br />

der agitatorischen Kräfte.<br />

Sie ließ die Bewegung in den Köpfen von<br />

vielen Tausenden von Arbeitern nicht <strong>als</strong><br />

Rechenexempel erscheinen. <strong>Die</strong> Idee<br />

versetzte Berge.<br />

Der Glaube an die Kraft und Macht der<br />

Bewegung ließ die Idee nicht erschüttern.<br />

brikarbeiterverbandes in Köslin. Zwischen 1919<br />

und 1922 Stadtverordneter und Mitglied des Deutschen<br />

Reichstages in Köslin. Während dieser Zeit<br />

ist Partzsch Mitglied des Provinziallandtages von<br />

Pommern. Im März 1920 außerdem Zivilkommissar<br />

in Köslin, zwischen 1919 und 1922 in Köslin<br />

ebenfalls Stadtverordneter, 1920 für einige Monate<br />

erstm<strong>als</strong> Mitglied des Reichstages. Ab 1922<br />

lebt er in Hannover, wirkt dort <strong>als</strong> Gewerkschaftssekretär<br />

im Hauptvorstand des Verbandes der<br />

Fabrikarbeiter Deutschlands. 1932/33 erneut<br />

Mitglied des Deutschen Reichstages, ab 1933 Angehöriger<br />

der lokalen Widerstandsgruppe der Sozialistischen<br />

Front. Partzsch wird 1936 von der<br />

Gestapo in Hannover verhaftet und erst 1937 freigelassen.<br />

1944 erfolgt eine erneute Verhaftung im<br />

Rahmen der Aktion »Gewitter«. Von 1945 bis zu<br />

seinem Ausscheiden ist Richard Parztsch im Büro<br />

des SPD-Vorsitzenden Dr. Kurt Schumacher tätig<br />

und Mitglied im Vorstand der SPD.<br />

3 Beitrag von Willi Scheinhardt, Hannover, September<br />

1931 (Der Artikel ist von Willi Scheinhardt mit<br />

der Schreibmaschine verfasst und hier vollständig<br />

wiedergegeben worden).<br />

Ein ebenso großer Werber war das Wort<br />

«Solidarität« und das Wort «Proletarier«.<br />

Aus beiden spricht Sorge und Not,<br />

Kampfesfreude und Kampfeswille und<br />

Opferbereit – schaft. Opfer bringen für<br />

alle die, denen es schlechter geht <strong>als</strong><br />

uns.<br />

Das Wort «Solidarität« gab der Gewerkschaftsbewegung<br />

den nötigen Kitt. <strong>Die</strong><br />

gewerkschaftliche Solidarität machte<br />

aber auch den Gewerkschaftler zum<br />

Weltbürger.<br />

Als drittes kommt hinzu, dass es einen<br />

Streit über die Wege, die zum Ziel<br />

führten, nicht gab. Wir hatten fast eine<br />

einheitliche, in sich geschlossene Arbeiterbewegung.<br />

<strong>Die</strong> sich über den Weg zum Ziel stritten,<br />

war eine Handvoll Literaten. Sie standen<br />

nicht mitten unter den Arbeitern. Der<br />

Riss ging nicht durch die Arbeiter des<br />

Industriebetriebes. Im Betriebe hieß es:<br />

Wer nicht mit uns, ist gegen uns.<br />

Es gab nur eine Auffassung, dort gab es<br />

nur einen Willen: <strong>Die</strong> Werbung für den<br />

Verband stärkt die Front!<br />

Wer sich abfällig über die Gewerkschaftsbewegung<br />

oder deren Einrichtung<br />

äußerte, wurde in Acht und Bann<br />

getan. Wer das tat, der gehörte nicht<br />

zum Volke, der war nicht Mann vom<br />

Bau, der war kein echter Arbeiter.<br />

Als viertes kam hinzu: Wir hatten vor<br />

dem Kriege eine günstige Entwicklung<br />

der Wirtschaft. <strong>Die</strong>se Erscheinung war<br />

53


nicht nur national, sondern auch international.<br />

Wir können sagen, wir hatten<br />

in der Vorkriegszeit eine Hochkonjunktur<br />

der Weltwirtschaft.<br />

Zwei Zahlen: 1900 bis 1913 erhöhte sich<br />

die Kohlenproduktion von 9 auf 11 1/2<br />

Mill. T., Ausfuhr stieg von 3 auf 8 Milliarden<br />

Mark.<br />

Der Arbeiter hatte eine große Auswahl<br />

in seinen Arbeitgebern. Stiller Protest.<br />

<strong>Die</strong>ses Ereignis war günstig für die gewerkschaftliche<br />

Entwicklung.<br />

Sieg der Idee<br />

Der Durchbruch der gewerkschaftlichen<br />

Idee erfolgte 1918 bis 1921. Hunderttausende<br />

von Arbeitern wurden Mitglieder<br />

der Gewerkschaften. Wir hatten eine<br />

Mitgliederzunahme ohne Werbung. <strong>Die</strong><br />

Idee feierte ihren Sieg. Das ließ in den<br />

Köpfen vieler Hundert die Meinung aufkommen,<br />

man brauchte sich nicht mehr<br />

emsig um die Werbung zu kümmern.<br />

Es gab nicht wenig Funktionäre, die die<br />

Meinung vertraten, man brauchte nun<br />

alle die Wege, die man früher gegangen<br />

war, nicht mehr zu gehen. Jüngere Angestellte<br />

verlernten überhaupt das Werben<br />

von Mitgliedern; sie schwammen<br />

auf dem Öl der verflossenen Jahrzehnte.<br />

<strong>Die</strong> Veränderung der Gesamtlage<br />

Über die Volksvertretung zur Regierungsbank<br />

und Mitverantwortung im<br />

Staat.<br />

Noske <strong>als</strong> Kritiker des Militäretats. Noske<br />

<strong>als</strong> Reichswehrminister. Der Polizeipräsident<br />

– Eigentum. Der Übergang<br />

war hart, zu schnell. <strong>Die</strong> Spaltung der<br />

Arbeiterklasse.<br />

Das Bürgertum fühlt sich in seiner Existenz<br />

bedroht. Es ist nicht mehr mit den<br />

Kapitalisten Alleinberater der Regierung.<br />

Infolgedessen Radikalisierung des<br />

Bürgertums. Vorübergehende Erscheinung?<br />

In wirtschaftlicher Hinsicht zeigt uns<br />

heute der Industriebetrieb ein anderes<br />

Gesicht <strong>als</strong> das vor 10 und 15 Jahren der<br />

Fall war. Der einzelne Betriebsunternehmer<br />

tritt in den Hintergrund. Eine starke<br />

kartell- und konzernmäßige Bindung<br />

ist eingetreten. Es erfolgt eine starke<br />

Konzentration der Betriebe nach wirtschaftlichen<br />

produktions- und absatztechnischen<br />

Gesichtspunkten.<br />

Dabei spielt die Phantasie für den Großbetrieb<br />

eine wichtige Rolle. Der Großbetrieb<br />

ist eine Betriebsform, die wir schon<br />

aus der Vorkriegszeit her kennen, die<br />

aber in jener Zeit in der gewerkschaftlichen<br />

Agitation nicht die Bedeutung<br />

hatte, wie das heute der Fall ist. Es waren<br />

Betriebe, die wie alle Betriebe historisch<br />

gewachsen waren. Man hoffte im-<br />

54<br />

mer noch, die Arbeiter dieser Betriebe<br />

organisieren zu können. Der Großbetrieb<br />

der neuesten Zeit ist etwas ganz<br />

anderes. Er ist <strong>als</strong> Großbetrieb entstanden,<br />

es fehlt das historische Wachsen.<br />

<strong>Die</strong>se Betriebe sind von vornherein<br />

reichlich mit Kapital ausgestattet. Sie<br />

entstehen über Nacht.<br />

Im alten Großbetrieb der traditionelle<br />

Werkmeister, verbunden mit Werk und<br />

Unternehmer, zum Teil auch Arbeiter. Im<br />

neuen Großbetrieb ganz anders.<br />

Wir können die Menschen geistig nicht<br />

so schnell beeinflussen, wie sie in den<br />

Betrieb hineinströmen. <strong>Die</strong> geistige Beeinflussung<br />

dieser Arbeiter ist eine der<br />

großen Aufgaben, die wir in der Gegenwart<br />

und Zukunft lösen werden müssen.<br />

<strong>Die</strong> Arbeitsteilung ist das Prinzip des<br />

Fabri<strong>kb</strong>etriebes. Es ist uns <strong>als</strong>o nichts<br />

Neues. Es war immer vorherrschend.<br />

Neu dagegen ist die vollständige Aufteilung<br />

des Arbeitsprozesses, des weiteren<br />

ist neu, dass in einer Fabrik nur<br />

ein bestimmtes Produkt oder ein Teilprodukt<br />

hergestellt wird. Z. b. bei der<br />

Continental. Im Hauptwerk: nur Autoreifen,<br />

Motorradreifen: nur im Werk<br />

Excelsior.<br />

Das schafft uns einen ganz anderen<br />

Menschen. In Frage kommt weiter die<br />

ständige Zunahme der Arbeitsmaschine,<br />

ihre Entwicklung vom Halb- zum<br />

Vollautomat. <strong>Die</strong> motorische Kraft und<br />

maschinelle Kraft findet eine größere<br />

Verwendung <strong>als</strong> der arbeitende Mensch.<br />

Nebenher läuft eine scharfe Aufteilung<br />

des Betriebes in einzelne Betriebsabteilungen.<br />

Da steht nicht überall mehr der<br />

Kaufmann und der Jurist, sondern an<br />

der Spitze steht der Ingenieur und der<br />

Techniker. Das alles wirkt zerstörend auf<br />

den (unleserlich) … willen der Arbeiterschaft.<br />

Stilllegung in der Kali-Industrie, zweimal<br />

die letzte Schicht. Zerreibung der Arbeitskraft.<br />

Durch unser gewerkschaftliches Wirken<br />

wird aber auch das agitatorische Element<br />

geschwächt. Wir schaffen für a l<br />

l e Tariflöhne, Arbeitszeitverkürzung, Arbeitslosenversicherung,<br />

für alle Schutz<br />

gegen die Gefahren der Arbeit. Das gewerkschaftliche<br />

Wirken schafft <strong>als</strong>o<br />

selbst etwas Entspanntes.<br />

<strong>Die</strong> zeitliche Entfernung<br />

70 Jahre vom Anfang der Bewegung<br />

entfernt. Zwei Generationen sind verbraucht.<br />

<strong>Die</strong> eine, die die Gewerkschaft<br />

gründete und die andere, die sie bis in<br />

die Gegenwart hinein geführt hat.<br />

In 70 Jahren hat sich alles verändert. Da<br />

entsteht die Frage: Wo stehen wir? <strong>Die</strong><br />

Antwort ist: Wir stehen in einer Zeit, in<br />

der der ideale Gedanke des Arbeiters<br />

stark geknickt wird.<br />

Idee und Wirklichkeit rücken weiter auseinander<br />

<strong>als</strong> das je der Fall war. <strong>Die</strong> lange<br />

Arbeitslosigkeit zerreibt die Seele<br />

des Menschen. Der treue Republikaner<br />

<strong>als</strong> Arbeiter wird fortgesetzt von dem<br />

antirepublikanischen Arbeitgeber auf<br />

Straßenpflaster gesetzt. Dadurch tritt<br />

bei ihm die Meinung auf, dass der republikanische<br />

Staat ein Schwächling gegenüber<br />

dem kapitalistischen Arbeiter<br />

ist. Wenn sich das nicht ändert, werden<br />

wir mit einer tiefen geistigen Umschichtung<br />

innerhalb der Arbeiterbewegung<br />

rechnen müssen. Ob sie gewerkschaftsfreundlich<br />

ist, lässt sich nicht sagen.<br />

Wir stehen aber jedenfalls an einer Stelle,<br />

(unleserlich) eine Schwankung zu unseren<br />

(unleserlich) möglich ist.<br />

Da drängt sich die Frage auf: Kommen<br />

wir mit den bisherigen Agitationsmethoden<br />

infolge der total veränderten<br />

Lage aus?<br />

Jetzt werden alle Agitationsmethoden,<br />

die wir anwenden, blitzschnell durch Eure<br />

Gehirne fliegen und die Antwort wird<br />

lauten: Wir sind bisher mit diesen Methoden<br />

ganz gut ausgekommen. Wenn<br />

wir aber die Frage aufwerfen würden:<br />

Können wir heute nach derselben Methode<br />

allgemein im ganzen Lande noch<br />

Ziegelsteine herstellen, wie wir sie vor<br />

60 oder 70 Jahren hergestellt haben, sofort<br />

würde das von allen verneint werden.<br />

Ich möchte natürlich keine der bisherigen<br />

Methoden vermissen. Aber wir<br />

müssen modernisieren und ergänzen.<br />

Im politischen Kampfe haben die Nation<strong>als</strong>ozialisten<br />

und Kommunisten einen<br />

Teil dieser Methoden modernisiert<br />

(Straßenkolonne).<br />

Bisher herrschte in der Agitation bei<br />

uns Hand- und Faustrecht, d. h. jeder<br />

auf seine Art und Weise ist überall so<br />

eingebürgert, dass man es für unkollegial<br />

hält, darüber zu sprechen. Seit Bestehen<br />

unseres Verbandes hat man sich<br />

auf keinem der Verbandstage mit der<br />

Frage der Agitation beschäftigt, sondern<br />

nur hier und dort im Vorstandsbericht<br />

hat man mal Anfragen gestellt oder<br />

Wünsche geäußert.<br />

Wie oft sind uns schon die Flugblätter<br />

mit ihren ganz vortrefflichen Bildern der<br />

KPD recht unangenehm auf unsere Seele<br />

gefallen. Sehr viele dieser Bilder sind<br />

zeitgemäß vortreffliche Zeichnungen.<br />

<strong>Die</strong> K.P.D. hat in Berlin eine große Propaganda-Schule<br />

und bildet hier nicht alle,<br />

aber einen Teil der Funktionäre aus.<br />

<strong>Die</strong> Auflockerung des Bodens<br />

Zunächst muss der Boden aufgelockert<br />

werden. Will man das aber tun, so muss<br />

man wissen, was für Boden aufzulockern


ist, um mit dem richtigen Werkzeug an<br />

die Arbeit gehen zu können. Wir müssen<br />

den Arbeiter und seine Arbeitsstätte<br />

genau kennen. Wir alle stehen vielleicht<br />

zwei Jahrzehnte und etwas mehr nicht<br />

mehr im Betriebe und vieles hat sich im<br />

Laufe der Jahre geändert.<br />

Der Arbeiter in der Gegenwart<br />

Für die Lebensschicksale der Arbeiter<br />

und Arbeiterinnen ist zunächst entscheidend,<br />

in welche wirtschaftliche<br />

Umwelt sie hineingestoßen werden.<br />

<strong>Die</strong> wirtschaftlichen Verhältnisse und<br />

der Arbeitsplatz sind mitbestimmend für<br />

die geistige Einstellung des Arbeiters.<br />

Der Arbeiter zeigt uns heute ein ganz<br />

anderes Gesicht <strong>als</strong> (wie) vor zwei Jahrzehnten.<br />

<strong>Die</strong> junge Arbeiterin und der<br />

Arbeiter treten uns heute entgegen mit<br />

einer ganz anderen Schulbildung und<br />

Lebensauffassung.<br />

Ihr Leben wird durch die stark veränderten<br />

wirtschaftlichen und politischen<br />

Verhältnisse geformt. Ihr Blick für alle diese<br />

Dinge hebt sich weit ab von dem der<br />

jungen Arbeiter vor 20 oder 30 Jahren.<br />

Sie finden ein ganz anderes Arbeitsfeld.<br />

Das kulturelle und gesellschaftliche Leben<br />

hat sich ganz anders gestaltet. Jeder<br />

einzelne von uns betrachte nur, wie<br />

er daheim erzogen wurde und wie heute<br />

die Kinder erzogen werden.<br />

Der ältere Arbeiter<br />

Aber auch im Leben des älteren Arbeiters<br />

hat sich vieles verändert. Ist er 40<br />

Jahre alt, so sieht er keine Aufstiegsmöglichkeiten<br />

mehr, ihn erfüllt nur die<br />

eine Sorge, wie erhälst du deinen Arbeitsplatz.<br />

–<br />

Fällt er von seinem Arbeitsplatz, so geht<br />

vieles verloren. Er sieht keine Möglichkeit,<br />

sich wieder hochzuarbeiten. Er<br />

führt einen ständigen Kampf um die Erhaltung<br />

seines Arbeitsplatzes. <strong>Die</strong> Maschine<br />

macht seinen Arbeitsplatz unsicher.<br />

Alle diese Dinge haben wir zu<br />

betrachten, wenn wir den agitatorischen<br />

Boden auflockern wollen.<br />

<strong>Die</strong> Masse<br />

<strong>Die</strong> Arbeiterschaft ist ein Massenvolk. Ist<br />

sie eine farblose Masse? (blaue Bluse)<br />

Eine Masse mit einem ausgespro-<br />

chenen politischen und wirtschaftlichen<br />

Kampfeswillen. Es sind Schicks<strong>als</strong>genossen.<br />

Was müssen wir von dieser<br />

Masse wissen? Worauf sie reagiert. Wie<br />

man eine Masse zu führen hat, wieweit<br />

man sie führen kann.Verband ist Masse.<br />

Auseinanderfallen? Zerstörung!<br />

Ich muss wissen, ob ich auf Massenstimmung<br />

einschalte. Versuche zwecklos.<br />

Lebendige Bilder auf der Straße, Uniform,<br />

Trommel, Kokarde, Marsch.<br />

Wir müssen mit den Dingen fertig werden.<br />

Aber wie wollen wir alle inneren<br />

Kämpfe und alle Konflikte lösen, wenn<br />

wir das Seelenleben der Masse nicht begreifen<br />

lernen? Aus der Masse können<br />

neue Führer auftreten.<br />

<strong>Die</strong> Zeitung<br />

Das erste Mittel neben dem gesprochenen<br />

Wort ist das, was auf die Masse<br />

wirkt, das geschriebene Wort, - die<br />

Zeitung.<br />

Ein Blick auf unsere Tageszeitungen.<br />

Tageszeitung<br />

Gewerkschaftsteil, Wirtschaftsteil<br />

Gewerkschaftszeitung<br />

Vom Arbeiter muss die Zeitung sprechen,<br />

vom Leben seiner Klassengenossen.<br />

Der Lebensinhalt des Arbeiterlebens<br />

soll gestärkt werden. <strong>Die</strong> Zeitung<br />

muss ein Spiegel der Gesamtbewegung<br />

sein.<br />

Das Flugblatt<br />

Modern, sachlich, kein Leitartikel. Verbindung<br />

mit dem Betrieb, dem Arbeiter<br />

und der Organisation. Ein Flugblatt<br />

muss etwas sein, was man von einem<br />

Berg herabwirft und die Leute begierig<br />

danach greifen.<br />

Das Bild Für Zeitung und Flugblatt.<br />

Nicht irgend ein Bild, sondern was uns<br />

angeht. Das Krankenauto fährt vom Fabri<strong>kb</strong>etrieb<br />

oder der Betriebsunfallwagen<br />

aus der Werkswohnung werden<br />

die Möbel des Arbeiters auf die Straße<br />

gestellt.ein Betrieb wird stillgelegt, die<br />

letzte Schicht, die Landjäger schätzen<br />

Streikposten.<br />

Kollege Schulz ist 40 Jahre Mitglied unseres<br />

Verbandes und erhält Invalidenunterstützung.<br />

Wir brauchen im Bild nicht die Villa des<br />

Direktors zu bringen. Uns interessiert<br />

vielmehr das Leben des Arbeiters.<br />

Das Lichtbild für die Mitgliederveranstaltung.<br />

Als Demonstrationsmittel, Arbeitslosen-<br />

Unterstützung, Krankenunterstützung,<br />

Unfall-Unterstützung. <strong>Die</strong> Versammlung<br />

muss ein Erlebnis sein. Das Lichtbild<br />

zur öffentlichen Werbung. Kein Kitsch,<br />

gute Bilder, Zeichnung, Farbe, Lebendiggestaltung,<br />

der Vortragende muss alles<br />

beherrschen. Wir sind zufrieden.<br />

Der Film<br />

Es geht auch nicht von selbst, gute Vorbereitungen,<br />

Beispiel Hildesheim. Film<br />

ist Leben. Auch der stumme Film spricht.<br />

Was erreichen wir?<br />

Kollegen, deren Frauen, die Jugend, die<br />

Unorganisierten. Wir pflegen Geist und<br />

Idee.<br />

<strong>Die</strong> Musik<br />

»Aufstieg« Proletarier aller Länder vereinigt<br />

Euch!« 100 Veranstaltungen, je 280<br />

Besucher, 28 000 Menschen.<br />

Das Radio<br />

Pflege der Geselligkeit<br />

Festrede mit Musik. Ein solches Fest<br />

muss mit der Arbeit im Zusammenhang<br />

stehen.<br />

Brauchen nicht Lieder vom Rhein und<br />

Wein, von schönen Rosen und Frühling<br />

zu sein.<br />

Unser Leben wird geformt durch Fabrikschlote,<br />

Maschinen, Not und Sorge. Das<br />

muss zum Ausdruck kommen.<br />

<strong>Die</strong> Lebendiggestaltung der Idee<br />

Fast 200 Jahre entfernt, <strong>als</strong> die Worte<br />

»Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« geformt<br />

wurden und 100 Jahre entfernt von<br />

der Zeit, <strong>als</strong> das Wort »Sozialismus« und<br />

»Proletarier« allgemein bekannt wurden.<br />

Technik und Wissenschaft schafft täglich<br />

neue Existenzen. Wir stehen an der<br />

Stelle, wo religiöse, politische und soziale<br />

Anschauungen zerstört werden. <strong>Die</strong><br />

einzige Idee, die aus diesen Trümmern<br />

lebendig hervorgeht, kann und muss der<br />

Sozialismus sein! 1<br />

1 Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-<br />

Stiftung Bonn.<br />

55


Der »Bund der Freunde der Sowjetunion«<br />

und der antifaschistische Wider-Stand:<br />

Neue Fakten aus den Akten des Bundeaarchivs<br />

Am 4. November 1928 wurde der<br />

»Bund der Freunde der Sowjetunion«<br />

gegründet.<br />

Der »Bund« trat dem Antikommunismus<br />

und Antisowjetismus entschieden<br />

entgegen und verbreitete konkrete<br />

Kenntnisse über die Sowjetunion. Ein<br />

erster entscheidender Schritt zur Gründung<br />

des »Bundes der Freunde der Sowjetunion«<br />

(BdFSU) war die Tagung am<br />

18. September 1928 in Berlin, auf der<br />

sich das Berliner Komitee des BdFSU<br />

konstituierte. Der Arzt Dr. Max Hodann,<br />

der den Vorsitz des Berliner Komitees<br />

übernahm, führte über die Aufgabenstellung<br />

des Bundes unter anderem<br />

aus: »<strong>Die</strong> Bewegung der Freunde der<br />

Sowjetunion stelle <strong>als</strong> politische Organisation<br />

keine Konkurrenz zur ›Gesellschaft<br />

der Freunde des neuen Rußland‹<br />

dar, da diese Gesellschaft ein wissenschaftliches<br />

und künstlerisches Tätigkeitsfeld<br />

habe. <strong>Die</strong> ›Bewegung der<br />

Freunde der Sowjetunion‹ hingegen<br />

will alle Aktivposten aus den Arbeiterorganisationen<br />

und intellektuellen Kreisen<br />

sammeln zu einer Front gegen die<br />

drohende Kriegsgefahr zum Schutze für<br />

die Sowjetunion.« 1<br />

Von dieser Berliner Tagung aus trafen<br />

die Freunde des Bundes die Vorbereitungen<br />

für den ersten Kongress im<br />

Reichsmaßstab.<br />

<strong>Die</strong>ser erste Reichskongreß des BdFSU<br />

wurde für den 4. November 1928 nach<br />

Berlin in das ehemalige Preußische<br />

Herrenhaus in der Leipziger Straße<br />

(heute der Sitz des Deutsches Bundesrates)<br />

einberufen. Das Vorbereitungskomitee<br />

verfasste einen Aufruf, der am<br />

1. Oktober 1928 an die progressive, demokratische<br />

Presse gegeben wurde. Er<br />

erschien Mitte Oktober gleichzeitig in<br />

mehreren Zeitungen und Zeitschriften.<br />

Der Aufruf begann mit den Worten: »An<br />

alle Arbeiterorganisationen! Arbeiter,<br />

Intellektuelle, Freunde der Sowjetunion!<br />

Auf zum ersten Reichskongress der<br />

Freunde der Sowjetunion! …« 2<br />

165 Delegierte, darunter die Werktätigen<br />

von 35 Berliner Betrieben, sowie<br />

Kulturschaffende aus Kunst, Wissenschaft<br />

und Literatur, die sich mit<br />

dem Proletariat und der Sowjetunion<br />

verbunden fühlten, beschlossen die<br />

Gründung des BdFSU. Delegiert waren<br />

Vertreter bereits bestehender Ortskomitees<br />

des BdFSU, von proletarischen<br />

56<br />

Massenorganisationen und von pazifistischen<br />

Vereinigungen. Von den Delegierten<br />

des Kongresses gehörten 58<br />

der KPD, 35 der SPD an, 66 waren parteilos,<br />

3 gehörten dem Sozialistischen<br />

Bund, 2 dem KJVD und 1 Teilnehmer<br />

der Christlich-Sozialistischen Reichspartei<br />

an. Repräsentativ vertreten waren<br />

auf dem Kongress das »Einheits«-<br />

Komitee, das die Arbeiterdelegationen<br />

in die UdSSR organisierte, die Internationale<br />

Arbeiter-Hilfe (IAH), der Rote<br />

Frauen- und Mädchenbund (RFMB), die<br />

Liga für Menschenrechte und die »Gesellschaft<br />

der Freunde des neuen Rußland.«<br />

3<br />

Der Kongress gestaltete sich zu einer<br />

eindrucksvoll verlaufenden Kundgebung.<br />

Als Redner traten unter anderem<br />

auf: Dr. Max Hodann, Ernst Toller,<br />

Dr. Gumbel. Kurze Ansprachen hielten<br />

Helene Overlach <strong>als</strong> Vertreterin des<br />

»Frauenbundes« und Theo Overhagen<br />

im Namen der Arbeiterdelegierten, die<br />

die Sowjetunion besucht hatten. In der<br />

Nachmittagssitzung stand der organisatorische<br />

Aufbau des Bundes zur Debatte.<br />

<strong>Die</strong> Delegierten beschlossen,<br />

in Form von lokalen Komitees, die im<br />

ganzen Reichsgebiet zu organisieren<br />

waren, die Basis des Bunds zu schaffen.<br />

Nach dem Vorbild der KPD-Betriebszellen<br />

sollten die Mitglieder des<br />

Bundes auch auf Betriebsbasis organisiert<br />

werden. <strong>Die</strong>se Betriebsgruppen<br />

sollten dann den Kern der BdFSU-<br />

Ortsgruppen bilden. In der Diskussion<br />

hoben einige Delegierte hervor, das<br />

Schwergewicht des Bundes müsse auf<br />

die Verbreitung von Kenntnissen über<br />

die Sowjetunion – teils durch Gäste,<br />

teils durch Vorträge sogenannter Russlandreisender<br />

(Delegierter) – gelegt<br />

werden.<br />

<strong>Die</strong> Kongressdelegierten wählten ein<br />

Reichskomitee, bestehend aus 29 Personen.<br />

Ihm gehörten neben anderen<br />

an: Fritz Heckert und Franz Dahlem,<br />

beide KPD-Mitglieder und Abgeordnete<br />

des Reichstages (KPD), Mitglied des<br />

Reichstages, Dr Helene Stöcker, vom<br />

Bund für Mutterschutz und führendes<br />

Mitglied der »Gesellschaft der Freunde<br />

des neuen Rußland«, Dr. Max Hodann,<br />

Arzt und Sexualhygieniker, Dr. Kurt Hiller,<br />

Schriftsteller, Prof. Dr. Gumbel, Historiker<br />

und Publizist und Adolf Deters,<br />

Vertreter der Berliner Verkehrsbetriebe<br />

(BVG), der neben weiteren Vertretern<br />

Berliner Großbetriebe wie der AEG und<br />

der Siemens-Werke, in den Vorstand<br />

gewählt wurde.<br />

Über das Ziel des Bundes geben die<br />

Texte der Mitgliedskarten Auskunft. Es<br />

konnten noch einige über die Zeit der<br />

NS-Diktatur aufbewahrt werden, so<br />

zum Beispiel von der mitgliederstarken,<br />

auch nach 1933 illegal wirkenden Leipziger<br />

Gruppe um Lina und Richard Plock<br />

sowie von Berliner Mitgliedern des Bd-<br />

FSU. Zweck und Ziel des Bundes, hieß<br />

es auf den roten Mitgliederkarten, ist<br />

die Zusammenfassung aller Kräfte, die<br />

bereit sind, die Sowjetunion zu verteidigen<br />

sowie die weiteste Aufklärung<br />

über die wirkliche Lage in der Sowjetunion<br />

zu verbreiten. Aus der Sicht einer<br />

Gruppe sozialdemokratischer Arbeiter<br />

bestand das Ziel des Bundes in<br />

der »Schaffung einer kampfbereiten<br />

Einheitsfront zur Verteidigung der Sowjetunion<br />

in den Betrieben und allen<br />

Schichten des arbeitenden Volkes.« 4<br />

Große Aktivitäten entfaltete der Bund<br />

von 1928 bis 1933 bei der Vorbereitung<br />

und Durchführung der Antikriegskundgebungen,<br />

die am 1. August jedes Jahres<br />

stattfanden.<br />

Nach der Machtübertragung an die<br />

Faschisten reihten sich nicht wenige<br />

Freunde des BdFSU in die unsichtbare<br />

Front der Widerstehenden gegen<br />

das NS-Regime ein; ganz unabhängig<br />

davon, ob sie bis 1933 in der KPD, in<br />

der SPD oder in den ADGB- Gewerkschaften<br />

organisiert waren oder, ob sie<br />

parteilos waren. Jetzt, nach der Konstituierung<br />

der braunen Diktatur, setzten<br />

sie sich mit ganzer Kraft gegen sie zur<br />

Wehr.<br />

Bereits im Februar und März 1933 prangerten<br />

sie in selbstgefertigten Flugschriften,<br />

die in Gartenlokalen, Sprechzimmern<br />

von Ärzten, in Kaufhäusern,<br />

Straßenbahnen und auch bei Behörden<br />

verbreitet wurden, den Terror der SA-<br />

Horden an. Oft tauchten Handzettel auf,<br />

worauf geschrieben stand: »Der Bund<br />

der Freunde der Sowjetunion Lebt!« Von<br />

der Lebenskraft der Landesorganisation<br />

in Sachsen zeugen beispielsweise die<br />

fortbestehende Verbindung zur Reichsleitung<br />

in Berlin und die Kontakte nach<br />

Essen, Zwickau, Reichenbach, Plauen,<br />

Aue, Borna, Chemnitz, Zschopau, Zwickau<br />

und Meuselwitz bei Leipzig. 5


<strong>Die</strong> umfangreichen Aktivitäten des<br />

Bundes blieben der Gestapo nicht verborgen.<br />

Fieberhaft suchte sie nach dessen<br />

Mitgliedern. In einem Lagebericht<br />

der Gestapo im Frühjahr 1935 heißt es:<br />

»Unmittelbar nach der Auflösung der<br />

KPD und ihrer Nebenorganisationen<br />

am 3. März 1933 (gemeint ist die Notwendigkeit,<br />

in die Illegalität zu gehen –<br />

G.W.) setzte die illegale Tätigkeit der<br />

ehemaligen Funktionäre der Freunde<br />

der Sowjetunion ein.<br />

Der damalige Reichsleiter Karl Becker<br />

geb. am 19. 11. 1894 in Hannover Zurzeit<br />

vermutlich in Prag oder Amsterdam<br />

aufhältlich und der Expedient<br />

Paul <strong>Die</strong>trich Zurzeit in den skandinavischen<br />

Ländern, beriefen im März/<br />

April 1933 eine Funktionärsversammlung<br />

zur Tegeler Heide ein, an der ca.<br />

35–40 Personen teilnahmen. Bei dieser<br />

Versammlung unter freiem Himmel<br />

wurde beschlossen, dass der Bund<br />

der Freunde seine Tätigkeit wieder aufnehmen<br />

müsse. Es wurde angeregt,<br />

rege Propaganda zu treiben, die alten<br />

Genossen aufzusuchen, Mitgliedsbeiträge<br />

zu kassieren und die illegalen<br />

Schriften des Bundes zu vertreiben.<br />

Zunächst begnügte man sich damit illegale<br />

Schriften mit Schreibmaschine geschrieben<br />

und auf Wachsmatrize abgezogen<br />

herzustellen. …« 6<br />

Maßgeblich beteiligt am Herstellen<br />

und Verbreiten der Flugschriften waren<br />

die in Berlin-Neukölln lebenden<br />

Antifaschisten Bruno <strong>Die</strong>ckow, Friedrich<br />

Scharfenberg und Otto Tech nebst<br />

weiteren Helfern aus anderen Berliner<br />

Stadtbezirken. Vermutlich ab März<br />

1934 erschien die erste im Rotationsdruck<br />

hergestellte Miniaturausgabe<br />

des Bundes mit dem Kopf »Sowjetrußland<br />

heute – Organ der Freunde der<br />

Sowjetunion Deutschlands.« In Berlin<br />

wurden monatlich für das Jahr 1934<br />

900 illegale Schriften verbreitet. Es gelang<br />

auch, nach Leipzig, Chemnitz und<br />

in das Rheinland etwa 1.000 Exemplare<br />

zu versenden.<br />

Im Frühjahr 1933 setzte sich die Reichsleitung<br />

des Bundes aus folgenden Personen<br />

zusammen: Karl Becker, Paul<br />

<strong>Die</strong>trich (mit dem Decknamen »Scholli«)<br />

und Gerda Platschek. <strong>Die</strong>se Leitung<br />

bestand bis zum November 1933, weil<br />

zu diesem Zeitpunkt Paul <strong>Die</strong>trich in die<br />

Emigration ging.<br />

<strong>Die</strong> Berliner Leitung des Bundes bestand<br />

bis Oktober/November 1933 aus<br />

den Bundesmitgliedern Robert Steglich,<br />

Friedrich Scharfenberger, Walter<br />

Heller und dem Antifaschisten »Harry«<br />

(sein richtiger Name blieb unbekannt)<br />

sowie Georg Müller mit dem Deckna-<br />

men »Egon«. Ab November 1933 wurde<br />

aus konspirativen Gründen die Reichsleitung<br />

mit der Berliner Leitung zusammengelegt.<br />

Ihr gehörten an: Karl Becker,<br />

Gerda Platschek, Georg Müller,<br />

Alfred Lindemann, Walter Heller, Siegmund<br />

Sredzki, »Harry« und »Piepel«,<br />

der ebenfalls namentlich nicht ermittelt<br />

werden konnte. Im Oktober 1934 ging<br />

Karl Becker in die Emigration, da er <strong>als</strong><br />

langjähriger Reichsleiter des Bundes<br />

und Mitglied des Preußischen Landtages<br />

zu bekannt und gefährdet war.<br />

<strong>Die</strong> Leitung des Bundes bemühte sich<br />

um eine rege illegale Propaganda in<br />

den Berliner Betrieben. Aus diesem<br />

Grund sind 1934 drei Delegationen bestehend<br />

aus Frauen und Männern nach<br />

Rußland entsandt worden. <strong>Die</strong> notwendigen<br />

Reisepapiere und Geldmittel beschaffte<br />

der Bund. Dank vieler Helfer<br />

konnten die verdeckten Reiserouten<br />

zusammengestellt werden, um das Ziel<br />

Sowjetunion zu erreichen. <strong>Die</strong> Antifaschisten<br />

nutzten insbesondere die legale<br />

Reisemöglichkeit in die Tschechoslowakei.<br />

In Prag trafen sich die<br />

einzelnen Reisenden, um dann gemeinsam<br />

weiterzureisen. <strong>Die</strong> Teilnehmer<br />

der Delegationen betrieben nach ihrer<br />

Rückkehr rege Propaganda für den<br />

Bund der Freunde der Sowjetunion. <strong>Die</strong><br />

im März, Mai und November 1934 entsandten<br />

Delegationen zeugen von der<br />

erfolgreichen konspirativen Tätigkeit<br />

des Bundes. <strong>Die</strong> Reisenden berichteten<br />

nach ihrer Rückkehr in Berlin und<br />

anderen Orten über die persönlichen<br />

Eindrücke ihrer Reise. In der UdSSR<br />

selbst informierten sie ihre Gastgeber<br />

über das herrschende Terrorregime in<br />

Deutschland. <strong>Die</strong> im März 1934 organisierte<br />

Reisegruppe bestand überwiegend<br />

aus Frauen, die zum Internationalen<br />

Frauentag nach Moskau reisten. Zu<br />

den Teilnehmerinnen gehörten aus Berlin-Prenzlauer<br />

Berg Irene Harloff, Anna<br />

Krause und Margarethe Sredzki.<br />

Irene Harloff schrieb in ihren Erinnerungen<br />

begeistert von dem herzlichen<br />

Empfang in Moskau, von den Begegnungen<br />

mit sowjetischen Frauen. In<br />

den drei Wochen ihres Aufenthalts<br />

sammelten die Reiseteilnehmerinnen<br />

nachhaltige Eindrücke über das Leben<br />

in der Sowjetunion. Treffen mit Arbeitern<br />

festigten die Freundschaft und die<br />

internationale Solidarität.<br />

Anna Krause, eines der ältesten Delegationsmitglieder,<br />

erhielt <strong>als</strong> Geschenk<br />

eine goldene Damenbanduhr mit eingravierter<br />

Widmung, die an ihre Teilnahme<br />

am Internationalen Frauentag 1934<br />

in Moskau erinnerte. <strong>Die</strong> Uhr überdauerte<br />

die Zeit der Illegalität. Nach ihrer<br />

Rückkehr verbreiteten die Frauen ihre<br />

Erlebnisse durch geschickte Mundpropaganda.<br />

Dank der Überzeugskraft und den organisatorischen<br />

Fähigkeiten des Leitungsmitgliedes<br />

Siegmund Sredzki war<br />

es möglich, dass unter den harten illegalen<br />

Bedingungen »der Bund der<br />

Freunde der Sowjetunion in den Jahren<br />

1933 und 1934 sein Wirken fortsetzen<br />

konnte.« 7<br />

Monatelang bemühte sich die Gestapo,<br />

die in Berlin und den anderen<br />

Städten wirkenden Antifaschisten des<br />

Bundes aufzuspüren. Am 7. Dezember<br />

1934 wurde Siegmund Sredzki nebst<br />

zehn Kampfgefährten verhaftet. In den<br />

nachfolgenden Wochen bis Mitte März<br />

1935 erfolgte eine Verhaftungswelle,<br />

der 149 Antifaschisten zum Opfer fielen.<br />

Nach wochenlangen Verhören erfolgte<br />

die Anklage durch die NS-Justiz.<br />

In 9 Prozessen, aufgegliedert von »A<br />

bis J«, bekamen die Frauen und Männer,<br />

die illegal den Bund der Freunde<br />

der Sowjetunion bis zum Ende des Jahres<br />

1934 erfolgreich weitergeführt hatten,<br />

die Rache des Nazi-Terrorregimes<br />

zu spüren. Im Prozeß »A«, in dem die<br />

Hauptverantwortlichen nach Ansicht<br />

des Oberreichsanwaltes beim Volksgerichtshofs<br />

zusammengefaßt waren<br />

waren, wurden angeklagt und verurteilt:<br />

Der Dreher Siegmud Sredzki, seine<br />

Frau Margarethe Sredzki, beide in<br />

Berlin Prenzlauer Berg wohnhaft, die<br />

Stenotypistin Gerda Platschek aus<br />

Berlin-Mitte, der Friseur Georg Müller<br />

aus Berlin-Pankow, die Versicherungsbeamtin<br />

Therese Dorfner aus Berlin-<br />

Prenzlauer Berg, der Weber Robert<br />

Steglich aus Berlin-Friedrichshain, der<br />

Theaterleiter Alfred Lindemann aus<br />

Berlin-Prenzlauer Berg, der Schlosser<br />

Friedrich Scharfenberger aus Berlin-<br />

Prenzlauer Berg, der Werkzeugmacher<br />

Erich Brachmann aus Berlin-Neukölln<br />

und der kaufmännische Angestellte Otto<br />

Stahl aus Berlin-Mitte. In der über<br />

fünfzig Seiten starken Anklageschrift<br />

hob der Staatsanwalt hervor, dass die<br />

Angeklagten »… im Innland, insbesondere<br />

in Berlin, Leipzig und Magdeburg,<br />

die Angeschuldigten Müller, Gerda Platschek<br />

und Margarete Sredzki auch im<br />

Ausland insbesondere in Prag und Moskau<br />

in den Jahren 1933 und 1934 unter<br />

sich und mit anderen gemeinschaftlich<br />

und fortgesetzt illegal handelten. …« 8<br />

Ausführlich ging der anklagende Staatsanwalt<br />

des »Volksgerichtshofes« darauf<br />

ein, dass die Angeschuldigten am<br />

Wiederaufbau beziehungsweise an der<br />

Aufrechterhaltung des Bundes der Sowjetfreunde<br />

an führender Stelle sowie<br />

57


an der Verbreitung von Druckschriften<br />

beteiligt waren. Gerda Platschek wurde<br />

ferner vorgeworfen, die Kassenleiterin<br />

der Reichsleitung gewesen zu sein,<br />

während Georg Müller attestiert wurde,<br />

<strong>als</strong> Verbindungsmann der Reichsleitung<br />

zur Berliner Leitung des Bundes<br />

tätig gewesen zu sein. Hervorgehoben<br />

wurde auch, dass am 3. März 1933 die<br />

Räume des Internationalen Büros des<br />

Bundes in Berlin-Mitte, Dorotheenstr.<br />

19, nach einer Durchsuchung polizeilich<br />

geschlossen wurden. Laut Anklageschrift<br />

hatte zu diesem Zeitpunkt<br />

der Bund etwa 30.000 Mitglieder. Als<br />

Bundeszeitung wurde die in der Citydruckerei<br />

hergestellte Druckschrift<br />

»Sowjetrußland heute« in einer Auflage<br />

von 60.000 Exemplaren herausgegeben.<br />

9<br />

Ferner ist dem Schriftstück zu entnehmen,<br />

dass unmittelbar nach der<br />

Schließung des Büros in Berlin Karl Becker<br />

und Paul <strong>Die</strong>trich erste Schritte in<br />

die Illegalität des Bundes einleiteten.<br />

Sie beriefen die zu erreichenden Mitglieder<br />

zu einer Beratung in der Tegeler<br />

Heide ein. Dort wurden die notwendigen<br />

Schritte erörtert, um illegal<br />

weiterzuarbeiten. Bereits im April 1933<br />

erschien die erste Ausgabe einer illegalen<br />

Bundeszeitung im monatlichen<br />

Abstand mit einer Auflagenhöhe von<br />

100 bis 300 Exemplaren. <strong>Die</strong> Vervielfältigung<br />

erfolgte an verschiedenen<br />

Orten Berlins. <strong>Die</strong> Verbreitung innerhalb<br />

der Stadt organisierte Georg Müller.<br />

Zu Beginn des Jahres 1934 schuf<br />

die Reichsleitung Voraussetzungen für<br />

die Herausgabe einer illegal gedruckten<br />

Zeitung, die offensichtlich im Ausland<br />

gedruckt wurde, da sich im Innland<br />

keine Druckmöglichkeit fand. Im<br />

Juni/Juli 1934 erschien die erste Nummer<br />

der Druckschrift »Sowjetrußland –<br />

heute« im Kleinformat. <strong>Die</strong>se erste<br />

illegale Auflage betrug etwa 2.000 Exemplare.<br />

Neben der Bundeszeitung gab<br />

die Reichsleitung einen hektografierten<br />

Pressedienst heraus, der fast jede Woche,<br />

aber auch in größeren Zeitabständen<br />

erschien. Besonders hervorgehoben<br />

wurde in der Anklageschrift »A«,<br />

dass in den illegalen Druckschriften<br />

der »Nation<strong>als</strong>ozialismus« verhöhnt,<br />

die Maßnahmen der Reichsregierung<br />

auf dem Gebiet der Innen- und Außenpolitik<br />

in ungewöhnlich verlogener und<br />

gehässiger Weise verunglimpft wurden<br />

sowie den Lesern die Anschauung nahe<br />

gelegt wurde, dass eine Beseitigung<br />

des faschistischen Regimes im Interesse<br />

aller Werktätigen geboten sei.<br />

»<strong>Die</strong> hochverräterischen Ziele des<br />

Bundes«, so der Staatsanwalt, »kenn-<br />

58<br />

zeichnet am treffendsten zweifellos ein<br />

von den Angeschuldigten abgedruckter<br />

Artikel in der Ausgabe Nr. 8 1934 mit<br />

der Überschrift:<br />

<strong>Die</strong> Aufgaben der FSU in Deutschland<br />

1. Wir müssen verstehen und danach<br />

handeln, dass unser Kampf für die<br />

Wahrheit über die Sowjetunion und ihre<br />

Verteidigung nur <strong>als</strong> Kampf gegen die<br />

Hitlerregierung geführt werden kann.<br />

2. dass der Kriegspolitik der deutschen<br />

Bourgeoisie gegen Sowjetrußland<br />

nur mit dem Sturz der Hitlerregierung<br />

… ein Ende gemacht werden<br />

kann … Unsere Aufgaben liegen in erster<br />

Linie auf agitatorischem Gebiet.<br />

… Unser wichtigstes Mittel sind unsere<br />

Zeitungen. … Ein Mittel von nichtgeringerer<br />

ist das organisierte Abhören<br />

des Moskauer Rundfunks. … Von großer<br />

Bedeutung für unsere Arbeit sind<br />

die Arbeiterdelegationen nach der SU<br />

und ihre Berichterstattung. Wir haben<br />

bereits einige Delegationen trotz Naziterror<br />

mit gutem Erfolg entsandt. Wir<br />

werden weitere entsenden. Ihre Basis<br />

muss aber noch breiter, ihre Berichterstattung<br />

noch besser organisiert werden.<br />

Insbesondere gilt es dabei, dass<br />

wir mit unserer ganzen Agitation Richtung<br />

nehmen auf die Arbeiter in den<br />

kriegswichtigen Betrieben und Industrien,<br />

aus ihren Reihen Delegierte zu<br />

entsenden, in ihren Reihen Bericht zu<br />

erstatten. Ebenso gilt es, in den faschistischen<br />

Massenorganisationen, wie<br />

Arbeitsfront, Hitlerjugend, usw. jede<br />

Möglichkeit für unsere Agitation auszunutzen.«<br />

10<br />

Zusammenfassend hob der Ankläger<br />

in der siebzig Seiten starken Anklageschrift<br />

hervor, dass alle zehn Angeklagten<br />

sich in erschwerter Form des<br />

Verbrechens der Vorbereitung zum<br />

Hochverrat zu verantworten haben.<br />

Am 4., 5. und 8. Juni 1936 erfolgte vor<br />

dem 1. Senat des »Volksgerichthofs«<br />

der Prozess und die Verurteilung von<br />

Siegmund Sredzki und dessen Kampfgefährten.<br />

<strong>Die</strong> Angeklagte Therese Dorfner wurde<br />

aus Mangel an Beweisen freigesprochen.<br />

Das Verfahren gegen Alfred Lindemann<br />

wurde eingestellt, da ihm der<br />

innere Tatbestand eines Verbrechens<br />

der Vorbereitung zum Hochverrat nicht<br />

nachzuweisen war, sondern nur der<br />

Verstoß gegen das Parteiengesetz.<br />

Georg Müller erhielt mit sechs Jahren<br />

Zuchthaus die höchste Strafe ihm<br />

folgte Siegmund Sredzki mit fünf Jahren<br />

Zuchthaus. Das Strafmaß für die<br />

anderen Angeklagten schwankte zwischen<br />

drei und zwei Jahren 6 Monaten<br />

Zuchthaus. Lediglich Robert Steglich<br />

erhielt wegen geringfügiger Teilnahme<br />

an den Widderstandsaktionen des<br />

Bundes 1 Jahr Gefängnis.<br />

Im Prozeß »B« standen 15 Angehörige<br />

des Bundes am 8. Oktober 1935<br />

vor dem 4. Strafsenat des Kammergerichts<br />

in Berlin. Sie kamen überwiegend<br />

aus Berlin-Neukölln, vier Angeklagte<br />

wohnten in Finowfurt, je einer in Berlin-<br />

Spandau und Ruhlsdorf. In dieser Prozessgruppe<br />

befanden sich zwei Frauen.<br />

Der Fliesenleger Bruno <strong>Die</strong>ckow wurde<br />

mit fünf Jahren Zuchthaus am härtesten<br />

bestraft. Ihm wurde vor allem vorgeworfen,<br />

bereits seit 1930/31 bis zu seiner<br />

Verhaftung am 7. Januar 1935 ununterbrochen<br />

für die Ziele des Bundes der<br />

Freunde der Sowjetunion gewirkt zu<br />

haben. Seine Kampfgefährten erhielten<br />

ebenfalls langjährige Zuchthausstrafen.<br />

Im Prozeß »C« standen 19 Angeklagte<br />

vor dem Kammergericht in Berlin, das<br />

im Zeitraum Oktober/November 1935<br />

alle Prozesse von »B« bis »J« durchführte.<br />

Insgesamt wurden 129 Antifaschisten<br />

zu langjährigen Zuchtaus- bzw.<br />

Gefängnisstrafen verurteilt. 11<br />

In den Prozessen »H« und »J« standen<br />

Jugendliche zwischen 16 bis 21 Jahren<br />

vor den NS-Richtern. Sie hatten wie<br />

Gerhard Sredzki, der Sohn von Margarete<br />

und Siegmund Sredzki, sich im illegalen<br />

Kommunistischen Jugendverband<br />

Deutschlands (KJVD) engagiert<br />

und indirekt den Bund der Freunde<br />

der Sowjetunion unterstützt, ohne dort<br />

Mitglied gewesen zu sein.<br />

Karl Becker, der <strong>als</strong> Reichsleiter in die<br />

Emigration gegangen war, von Amsterdam<br />

und Paris aus die Weiterführung<br />

des Bundes mitorganisierte sowie nach<br />

Kriegsausbruch in den Reihen der französischen<br />

Résistance kämpfte, wurde<br />

im Juni 1941 von der französischen Polizei<br />

verhaftet und an die Gestapo ausgeliefert.<br />

Er wurde am 4. September<br />

1942 vom Volksgerichtshof zum Tode<br />

verurteilt und im Strafgefängnis Berlin-<br />

Plötzensee am 1. Dezember 1942 hingerichtet.<br />

Sein Kampfgefährte Siegmund Sredzki<br />

kam unmittelbar nach seiner Strafverbüßung<br />

in das KZ Sachsenhausen. Dort<br />

fand er Anschluß an die illegale Lagergruppe<br />

deutscher und ausländischer<br />

Häftlinge und leistete mit ihnen unter<br />

den unmenschlichen Bedingungen im<br />

Konzentrationslager illegale politische<br />

Arbeit. Er wurde am 11. Oktober 1944<br />

mit 23 deutschen und französischen<br />

Häftlingen wegen der Teilnahme am Widerstand<br />

im Konzentrationslager Sachsenhausen<br />

erschossen.<br />

An sein Widerstehen gegen das NS-Regime<br />

erinnert die Sredzki Straße in Ber


lin-Prenzlauer Berg und die Gedenktafel<br />

an der Ringmauer der Gedenkstätte der<br />

Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde.<br />

Mit der Zerschlagung der Struktur des<br />

Bundes der Sowjetunion hörte der Widerstand<br />

der Wenigen, die den Massenverhaftungen<br />

1934/35 entkamen,<br />

jedoch nicht auf. Sie suchten sich neue<br />

Kontakte zu Gleichgesinnten.<br />

Auch die aus den Haftanstalten Entlassenen<br />

wie Gerhard Sredzki und seine<br />

Frau Gerda Sredzki (geb. Wess) sowie<br />

Karl Ziegler setzen nach dem Kriegsausbruch<br />

in der Jacob/Saefkow/Bästlein-Organisation<br />

ihren Kampf gegen<br />

die braune Barbarei fort.<br />

Dr. Günter Wehner<br />

1 Der drohende Krieg. Organ des BdFSU, Jg.<br />

1/1928, S. 70.<br />

2 <strong>Die</strong> Einheit, Jg. 1928, Novemberheft, H. 3.<br />

3 Vgl. <strong>Die</strong> Rote Fahne, 6. 11. 1928.<br />

4 Sozialdemokratische Arbeiter über den sozialistischen<br />

Aufbau in der Sowjetunion. Berlin 1928,<br />

S. 56.<br />

5 Vgl. Curt. Remer u. a., Aus der Geschichte des<br />

Bundes der Freunde der Sowjetunion in Sachsen<br />

bis 1935; in: Jahrbuch für Geschichte der<br />

deutsch-slawischen Beziehungen in Ost- u. Mitteleuropa,<br />

Bd. II, 1958, S. 30 ff..<br />

6 Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten,<br />

ZC 13171, Bd. 6, Bl. 70 ff..<br />

7 Vgl. Zur Geschichte des Kampfes gegen Faschismus<br />

in Berlin-Prenzlauer Berg 1933 bis 1945,<br />

hrsg. vom Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer<br />

der DDR, Kreiskomitee Berlin-<br />

Prenzlauer Berg, Berlin 1987, S. 69 ff..<br />

8 Bundesarchiv, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten,<br />

ZC 13171, Bd. 5, Bl 2 ff..<br />

9 Vgl. Ebenda.<br />

10 Ebenda, Bd. 5, Bl. 12–14.<br />

11 Vgl. Ebenda Bd. 5, Bl. 36 ff.<br />

59


Leistungen und Fehlleistungen marxistischer Faschismustheorien aus heutiger<br />

Sicht. Einige Vorüberlegungen für eine neue materialistische allgemeine Theorie<br />

der Faschismen 1<br />

<strong>Die</strong> erste produktive Phase: Marxistische<br />

Reaktionen auf den aufkommenden Faschis m u s<br />

Zu den vielen bis heute umstrittenen<br />

Fragen der faschismustheoretischen<br />

Diskussion gehört die nach dem Zeitpunkt,<br />

an dem das, was später allgemein<br />

»Faschismus« genannt wurde,<br />

zuerst auftrat. Es gibt gute Gründe anzunehmen,<br />

dass bereits einige extrem nationalistische<br />

Gruppierungen, die Ende<br />

des 19. Jh. in Frankreich und Italien entstanden,<br />

die wichtigsten faschistischen<br />

Wesenszüge aufwiesen, so die Associazione<br />

Nazionalista Italiana (ANI) um Enrico<br />

Corradini und die Action Francaise<br />

(AF) um Charles Maurras. <strong>Die</strong> Marxist/<br />

innen jedenfalls realisierten die entstehende<br />

tödliche Gefahr in vollem Umfang<br />

erst, <strong>als</strong> 1919 die sich selbst »faschistisch«<br />

nennende Massenbewegung<br />

in Italien entstanden war und ihre paramilitärischen<br />

squadren einen beispiellosen,<br />

bürgerkriegsähnlichen Terror gegen<br />

Gewerkschaften und Sozialistische<br />

Partei entfesselt hatten.<br />

Es scheint, <strong>als</strong> seien die Marxist/innen<br />

in- und außerhalb Italiens von der Mobilisierungskraft<br />

und terroristischen Wirksamkeit<br />

der Faschisten bis zu einem<br />

gewissen Grad überrascht worden. <strong>Die</strong><br />

ersten prominenten marxistischen Interpretationen<br />

des Faschismus, wie sie<br />

1923 auf einer Erweiterten Exekutivkonferenz<br />

der Kommunistischen Internationale<br />

(EKKI) entfaltet wurden, offenbaren<br />

ausnahmslos eine enttäuschte Revolutionshoffnung<br />

und auch eine gewisse Ratlosigkeit:<br />

Wie konnte es sein, dass sich<br />

bedeutende Teile der kleinbürgerlichen<br />

Bevölkerung, besonders der Jugend,<br />

den Faschisten zuwendeten, wo doch<br />

die Marxist/innen – in ihrer Selbstwahrnehmung<br />

– eine so strahlende, überzeugende<br />

und vernünftige gesellschaftliche<br />

und politische Alternative angeboten<br />

und dazu noch die historischen Gesetzmäßigkeiten<br />

auf ihrer Seite hatten? Der<br />

Erfolg des Faschismus musste den meisten<br />

Marxist/innen <strong>als</strong> Anomalie der<br />

Geschichte erscheinen.<br />

Es machte ihnen allerdings keinerlei<br />

Schwierigkeiten, seine Nutznießer und<br />

Urheber zu bestimmen. Ab spätestens<br />

1920 hatte sich die faschistische Bewegung,<br />

deren Wurzeln eigentlich im<br />

syndikalistischen und auch im sozialistischen<br />

Milieu lagen, mit den radikalen<br />

60<br />

Nationalisten und Imperialisten verschmolzen,<br />

ihren ursprünglichen Republikanismus<br />

und Antiklerikalismus zurückgestellt<br />

und sich zum bereitwilligen<br />

terroristischen Werkzeug der Großbürger<br />

und Großagrarier gegen die drohende<br />

soziale Revolution gemacht. Der<br />

Faschismus <strong>als</strong> Söldner- und Hilfstruppe<br />

der alten herrschenden Klassen gegen<br />

die vor der Tür stehende Arbeiterrevolution<br />

– dieses Erklärungsmuster sollte<br />

paradigmatisch für die marxistische Faschismustheorie<br />

werden.<br />

Doch wenn dies stimmte – handelte<br />

dann der kleinbürgerliche und teilweise<br />

sogar »unterbürgerliche«, oft jugendliche<br />

Massenanhang der Faschisten nicht<br />

gegen seine objektiven, seine eigentlichen<br />

Interessen? Und wie war diese irrationale<br />

Entscheidung materialistisch<br />

zu erklären? Der – vermeintliche – Widerspruch<br />

zwischen sozialer Funktion<br />

und sozialer Basis des Faschismus, oder<br />

anders ausgedrückt zwischen seiner<br />

großbürgerlichen und großagrarischen<br />

Klassen- und seiner klein- und unterbürgerlichen<br />

Massenbasis war von Beginn<br />

an das zentrale Problem der marxistischen<br />

Faschismustheorien.<br />

Im Unterschied zu den späteren Dogmen<br />

der stalinisierten Kommunistischen<br />

Internationale vom Faschismus<br />

<strong>als</strong> »Diktatur der reaktionärsten<br />

usw. Elemente des Finanzkapit<strong>als</strong>« und<br />

vom »Sozialfaschismus« bemühten sich<br />

die marxistischen Faschismustheoreme<br />

der frühen zwanziger Jahre immerhin<br />

noch ernsthaft um ein Verständnis der<br />

Motive der faschisierten Massen. Clara<br />

Zetkin nahm die faschistischen Versprechen<br />

von sozialer Gerechtigkeit und nationaler<br />

Klasseneinheit durchaus ernst,<br />

würdigte den subjektiv ehrlichen Glauben<br />

vieler Faschisten an ihre Ideale und<br />

fragte nach den seelischen Bedürfnissen<br />

breitester Massen, an die der Faschismus<br />

geschickt anknüpfte. Karl<br />

Radek begriff den Faschismus <strong>als</strong> nationalistische,<br />

nach Klassenharmonie<br />

strebende Kleinbürgerbewegung, deren<br />

Erfolge der welthistorischen Niederlage<br />

und dem Versagen der Arbeiterbewegung<br />

geschuldet sei. 2 Einige Jahre<br />

nach Zetkin und Radek betonte der<br />

italienische Sozialist Filippo Turati die<br />

Bedeutung der Weltkriegskatastrophe<br />

und schwerer strategischer Fehler der<br />

<strong>Linke</strong>n für die Entstehung des Faschismus.<br />

Auch Palmiro Togliatti und Antonio<br />

Gramsci gehörten zu den wenigen<br />

namhaften Marxist/innen, welche die<br />

Motive und die Ideologie der Faschisten<br />

ernst nahmen und sie nicht einfach <strong>als</strong><br />

Lug und Trug denunzierten. 3<br />

Ernst Bloch, etwas später schreibend<br />

<strong>als</strong> die Vorgenannten, wurde gleichfalls<br />

davon angetrieben, die Beweggründe<br />

der Faschisten verstehen zu wollen:<br />

<strong>Die</strong> gleichzeitige Existenz und dabei<br />

Ungleichzeitigkeit moderner und vormoderner<br />

Produktionsweisen und Bewusstseinsformen<br />

sei der Kraftquell<br />

des Faschismus und dieser eine Revolte<br />

gegen die kalte und gefühllose Welt der<br />

kapitalistischen Moderne. Bloch war einer<br />

der wenigen, dem zu diesem frühen<br />

Zeitpunkt die besondere Anziehungskraft<br />

des Faschismus auf die männliche<br />

Jugend des Bürgertums auffiel. Der unkonventionelle<br />

Marxist Bloch kann somit<br />

<strong>als</strong> erster Theoretiker gelten, der die<br />

Geschlechterdimension der Faschismen<br />

ansprach. Wie viele derjenigen Gegner/<br />

innen des Faschismus, welche die Gedankenwelt<br />

der Faschisten ernst nahmen<br />

und nicht <strong>als</strong> irrelevant abtaten, plädierte<br />

auch Bloch leidenschaftlich dafür,<br />

den Faschisten ihre Symbole, Phrasen<br />

und Ideale zu entwinden, um die faschisierten<br />

Massen zu den Kommunist/innen<br />

herüber zu ziehen. Und wie viele<br />

seinesgleichen tadelte er die oft arrogante,<br />

phantasielose und ineffektive<br />

Agitation der Kommunist/innen – um<br />

im gleichen Atemzug den Stalinismus<br />

zu seiner ideologischen Wiedereingliederung<br />

von Familie, Nation und Volksgemeinschaft<br />

in die kommunistische<br />

Ideologie zu beglückwünschen! Bloch<br />

empfahl, den esoterischen, heilslehrenhaften<br />

Aspekt des Kommunismus gegen<br />

den faschistischen Mythos zu stellen.<br />

Auch Leo Trotzki, dessen Faschismusinterpretation<br />

ansonsten dem Spektrum<br />

der Bonapartismustheorien zugehört,<br />

erklärte wie Bloch die faschistische<br />

Massenanziehungskraft mit einem Atavismus<br />

– der Faschismus <strong>als</strong> Rückfall in<br />

urzeitliche Barbarei:<br />

»Der Faschismus hat die Niederungen


der Gesellschaft zur Politik erhoben.<br />

Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern<br />

auch in den städtischen Wolkenkratzern<br />

leben noch heute neben dem<br />

zwanzigsten Jahrhundert das zehnte<br />

und das dreizehnte. Hunderte von Millionen<br />

Menschen gebrauchen den elektrischen<br />

Strom und hören doch nicht<br />

auf, an die magische Gewalt der Gesten<br />

und Beschwörungen zu glauben.<br />

Der römische Papst verbreitet das Mirakel<br />

der Verwandlung von Brot und Wein<br />

durch das Radio. <strong>Die</strong> Filmstars gehen zu<br />

den Astrologen. <strong>Die</strong> Flugkapitäne, welche<br />

wunderbare, vom Menschengeist<br />

geschaffene Apparate steuern, tragen<br />

Amulette auf ihren Pullovern! Welch unerschöpfliche<br />

Reserven von Dunkelheit,<br />

Unwissenheit und Barbarei!« 4 Blochs<br />

und Trotzkis Faschismuserklärung beinhaltet<br />

sicherlich das Wahre, dass die<br />

ideologische Arbeit der Faschisten auf<br />

jeder irrationalen und reaktionären Tradition<br />

aufbauen beziehungsweise bei<br />

ihr Anleihen machen konnte und ihnen<br />

jedes Ressentiment gegen die moderne<br />

Welt zugute kam. Doch scheint das<br />

Erklärungsmodell des Atavismus viel zu<br />

wenig komplex und unspezifisch, um die<br />

Faschismen von anderen irrationalen<br />

und obskuren Erscheinungen abzugrenzen.<br />

<strong>Die</strong> Spezifik der faschistischen Antwort<br />

auf die Krisen des modernen Kapitalismus<br />

lässt sich damit jedenfalls<br />

nicht einfangen.<br />

Marxisten an den Ursprüngen<br />

der Modernisierungstheorien<br />

des Faschismus und der<br />

Totalitarismustheorien<br />

Vielleicht war es nur natürlich, dass die<br />

Marxist/innen <strong>als</strong> erste Hauptgegner<br />

und Hauptopfer des Faschismus besonders<br />

produktiv bei der Bildung von Theorien<br />

über ihn waren. Vor allem sie gaben<br />

seit 1922 allen möglichen rechten Bewegungen<br />

und Regimen den Namen des<br />

Faschismus, den viele für sich selbst<br />

nicht verwendeten. <strong>Die</strong> Marxist/innen<br />

trugen so einerseits maßgeblich dazu<br />

bei, den Faschismusbegriff <strong>als</strong> allgemeine<br />

Kategorie zu etablieren, welche die<br />

Wesensähnlichkeit zahlreicher extrem<br />

rechter Bewegungen und Regime der<br />

Zwischenkriegszeit und ihren ursächlichen<br />

Zusammenhang mit dem Kapitalismus<br />

nennbar machte. Andererseits<br />

begründeten sie durch inflationären Gebrauch<br />

die unselige linke Tradition der<br />

Entgrenzung des Faschismusbegriffs,<br />

die ihn in dem Maße untauglich machte,<br />

wie sie ihn polemisch gegen alle im weiteren<br />

Sinne rechten und autoritären<br />

Phänomene in Anschlag brachte.<br />

Marxist/innen standen am Anfang der<br />

meisten wichtigen Faschismustheorien,<br />

sei es, dass sie diese tatsächlich<br />

begründeten oder substanziell beeinflussten<br />

und anregten. Ein Großteil<br />

der nicht-marxistischen Faschismustheorien<br />

verdankte seine Entstehung<br />

dem bürgerlichen Bedürfnis, der marxistischen<br />

Deutung eine triftigere Interpretation<br />

entgegenzusetzen. <strong>Die</strong>se<br />

Dynamik wurde selten treffender beschrieben<br />

<strong>als</strong> vom US-amerikanischen<br />

Historiker Henry Ashby Turner, der seinerseits<br />

angetreten war, um die marxistischen<br />

Gewissheiten über das Verhältnis<br />

von Faschismus und Großkapital ins<br />

Wanken zu bringen: »Entspricht die weit<br />

verbreitete Ansicht, daß der Faschismus<br />

ein Produkt des modernen Kapitalismus<br />

ist, den Tatsachen, dann ist dieses System<br />

kaum zu verteidigen. Ist diese Meinung<br />

jedoch f<strong>als</strong>ch, dann ist es auch die<br />

Voraussetzung, auf der die Einstellung<br />

vieler Menschen […] zur kapitalistischen<br />

Wirtschaftsordnung beruht.« 5<br />

Ein dissidenter deutscher Kommunist,<br />

Franz Borkenau, gehörte zu den Begründern<br />

der Modernisierungstheorien des<br />

Faschismus. Sein zentrales Theorem: In<br />

schwach entwickelten kapitalistischen<br />

Ländern wie Italien sind starke Arbeiterbewegungen<br />

ein Hemmnis der Industrialisierung.<br />

Der Faschismus stellt eine<br />

Entwicklungsdiktatur dar mit der historischen<br />

Aufgabe, dieses Hindernis zu<br />

zerstören. Zu Borkenaus Unglück wurden<br />

diese 1933 veröffentlichten Annahmen<br />

durch die historischen Tatsachen<br />

sofort grundsätzlich in Frage gestellt:<br />

Der Faschismus kam auch sowohl in<br />

hoch entwickelten Industrieländern wie<br />

Deutschland <strong>als</strong> auch in Ländern ohne<br />

Industrie und Arbeiterbewegung wie<br />

Rumänien hoch. <strong>Die</strong>s hinderte aber Gelehrte<br />

wie D. E. Apter, C. A. Black und<br />

A. F. K. Organski nicht daran, weiterhin<br />

Modernisierungstheorien des Faschismus<br />

aufzustellen. 6<br />

Zweifellos zielten die faschistischen<br />

Ideologien und Regime auf eine pervertierte<br />

Form von Modernisierung ab. <strong>Die</strong><br />

im engeren Sinne modernisierenden<br />

Elemente der Faschismen finden jedoch<br />

ihre Entsprechung in zahlreichen nichtfaschistischen<br />

Entwicklungswegen, die<br />

von industrialisierten oder sich industrialisierenden<br />

Gesellschaften seit dem<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts beschritten<br />

wurden. <strong>Die</strong> umfassende staatliche<br />

Durchdringung und Beeinflussung der<br />

Gesellschaft, insbesondere der Wirtschaft,<br />

die aktive gesellschaftsplanerische<br />

und wissenschaftlich angeleitete<br />

Tätigkeit des Staates, sein autoritäres<br />

Krisenmanagement – all das gehörte zu<br />

den allgemeinen Merkmalen der kapita-<br />

listischen Entwicklung. <strong>Die</strong>se Entwicklungstendenz<br />

konnte sich auch unter faschistischen<br />

Vorzeichen verwirklichen,<br />

sie ist aber nicht identisch mit der Spezifik<br />

der Faschismen. 7<br />

Vielfach ist vergessen worden, dass<br />

auch am Anfang der Totalitarismustheorien<br />

sozialdemokratische Marxisten<br />

wie Karl Kautsky standen, die Faschismus<br />

und Leninismus bzw. Stalinismus<br />

<strong>als</strong> Erscheinungsformen eines Gleichen<br />

auffassten. Wie viele nicht-stalinistische<br />

Marxisten der zwanziger und<br />

dreißiger Jahre versuchten diese Sozialdemokraten,<br />

den Faschismus mit Hilfe<br />

von Marx‘ Schrift »Der 18. Brumaire<br />

des Louis Bonaparte« zu analysieren,<br />

gehörten <strong>als</strong>o zu den frühen Repräsentanten<br />

der »Bonapartismustheorien«<br />

des Faschismus. Analog zum Regime<br />

Napoleons III. in Frankreich von 1852<br />

bis 1870 sollten sich faschistischer und<br />

bolschewistischer Staat gegenüber ihrer<br />

sozialen Basis »verselbständigt« haben.<br />

<strong>Die</strong>s erkläre den überdurchschnittlich<br />

tyrannischen und terroristischen Charakter<br />

dieser Regime. 8 <strong>Die</strong> Gleichsetzung<br />

von Leninismus bzw. Stalinismus<br />

und Faschismus durch einige Sozialdemokraten<br />

verhielt sich analog zu der<br />

stalinistischen Gleichsetzung von Sozialdemokratie<br />

und Faschismus, wie sie<br />

die Rede vom »Sozialfaschismus« ausdrückte.<br />

Klassische Ausformung und<br />

Stagnation: <strong>Die</strong> Agenten- und<br />

Bonapartismustheorien<br />

<strong>Die</strong> meisten Vertreter/innen der Bonapartismustheorien<br />

hielten sich von<br />

solchen Gleichsetzungen frei. Fast alle<br />

Marxist/innen der zwanziger, dreißiger<br />

und vierziger Jahre, die sich der Stalinisierung<br />

entzogen, vertraten Spielarten<br />

der Bonapartismustheorie, so Julius<br />

Braunthal, Oda Olberg, Wilhelm Ellenbogen,<br />

Paul Kampffmeyer, Otto Bauer,<br />

Arkadij Gurland, Franz Borkenau, Georg<br />

Decker, Alexander Schifrin, Rudolf Hilferding,<br />

Angelo Tasca, Pietro Nenni, August<br />

Thalheimer, Wolfgang Abendroth,<br />

Leo Trotzki und Antonio Gramsci. 9<br />

<strong>Die</strong> »Bonapartismustheoetiker/innen«<br />

beriefen sich auf verschiedene Ähnlichkeiten:<br />

Faschismus wie Bonapartismus<br />

befriedeten oppositionelle Teile der Gesellschaft<br />

durch eine Doppelstrategie<br />

aus Repression und Integration und genossen<br />

wegen ihrer Sozialreformen und<br />

zeitweiligen außenpolitischen Erfolge<br />

plebiszitäre Unterstützung. 10<br />

<strong>Die</strong>se auf dem Vergleich von Herrschaftstechniken<br />

beruhende Parallelisierung<br />

blendet aus, dass keines<br />

der <strong>als</strong> Bonapartismus bezeichneten<br />

61


Regime (neben Napoleon III. figurieren<br />

mitunter auch Camillo Cavour, Otto<br />

von Bismarck, Fürst Schwarzenberg<br />

in Österreich-Ungarn und der britische<br />

Premierminister Benjamin Disraeli <strong>als</strong><br />

Herrscher bonapartistischen Typs) wesentliche<br />

Elemente der Faschismen<br />

wie Massenmobilisierung, Massenpartei<br />

und Parteimiliz hervorbrachte. 11 <strong>Die</strong><br />

ideologischen Ähnlichkeiten zwischen<br />

Bonapartismus und Faschismus – Führerideologie,<br />

Etatismus, Militarismus,<br />

Expansionismus, Sozialreformismus,<br />

plebiszitäre Elemente 12 – erlauben weder<br />

einzeln noch in Kombination eine<br />

hinreichende Abgrenzung der Faschismen<br />

von nicht-faschistischen autoritären<br />

und diktatorischen Regimen.<br />

Für den an Stalin orientierten Teil der sozialistisch-kommunistischenWeltbewegung<br />

wurde eine später häufig mit dem<br />

Begriff: »Agententheorie« gekennzeichnete<br />

Auffassung des Faschismus kanonisch,<br />

deren Kern die Komintern-Definition<br />

von 1934 ausdrückt: Faschismus<br />

sei »die offene, terroristische Diktatur<br />

der reaktionärsten, chauvinistischsten,<br />

am meisten imperialistischen Elemente<br />

des Finanzkapit<strong>als</strong>«.<br />

Beide Hauptströmungen der marxistischen<br />

Faschismustheorie gehen<br />

fehl – sowohl die Agententheorie, nach<br />

der faschistische Bewegungen einfach<br />

Instrumente der Klassenherrschaft sind,<br />

<strong>als</strong> auch die »Bonapartismustheorien«,<br />

nach denen der Faschismus Kleinbürger-<br />

und Deklassiertenbewegung ist, der<br />

im Moment relativer Kräftebalance zwischen<br />

Bourgeoisie und Proletariat von<br />

Ersterer die staatliche Herrschaft übertragen<br />

wird, woraufhin es zu einer »Verselbständigung«<br />

des Staates kommt. Es<br />

ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass<br />

der Unterschied zwischen Agenten- und<br />

Bonapartismustheorien bloß graduell<br />

ist: In beiden handelt der Faschismus<br />

im Auftrag und im Interesse der herrschenden<br />

Kapitalistenklasse, nur dass<br />

die »Bonapartismustheoretiker/innen«<br />

mittels des Verselbständigungstheorems<br />

zu erklären versuchen, wieso die<br />

faschistische Herrschaft sich in manchen<br />

Fällen auch gegen die objektiven<br />

Interessen der Großbourgeoisie wenden<br />

kann. 13<br />

Dass die marxistischen Faschismustheorien<br />

den ihrer Meinung nach bürgerlichen<br />

Klassencharakter des Faschismus<br />

derart stark betonten, war<br />

keineswegs nur dem marxistischen Interesse<br />

an der Delegitimation der kapitalistischen<br />

Gesellschaftsordnung geschuldet.<br />

Vielmehr spiegelte sich darin<br />

eine historische Erfahrung: Wo die Faschisten<br />

tatsächlich die Staatsmacht<br />

62<br />

besetzen konnten wie in Italien und<br />

Deutschland, gelang ihnen dies nur im<br />

Bündnis mit traditionellen Führungsgruppen<br />

– wichtigen Teilen des Großkapit<strong>als</strong>,<br />

der hohen Bürokratie, der Militärführung,<br />

des Adel und des hohen<br />

Klerus – oder zumindest mit deren Duldung.<br />

Historisch-empirische Zweifel an<br />

Grundaussagen der marxistischen<br />

Faschismustheorien<br />

Vor aller Kritik an den theoretischen<br />

Grundlagen der marxistischen Faschismustheorien<br />

kann schon jetzt festgestellt<br />

werden, dass sich die marxistische<br />

Deutung des Faschismus aus heutiger<br />

Sicht nur schwer mit den historischen<br />

Fakten in Übereinstimmung bringen<br />

lässt. In den weitaus meisten Ländern<br />

Europas setzten die traditionellen Führungsgruppen<br />

nicht auf die Faschisten,<br />

sondern sahen in ihnen die längste Zeit<br />

gefährliche Rivalen, die sie hart unterdrückten<br />

– so in Ungarn unter Admiral<br />

Horthy und in Rumänien unter Antonescu.<br />

In anderen Ländern verbündeten<br />

sich die politischen Vertreter der traditionellen<br />

Führungsgruppen zwar mit den<br />

Faschisten, bemühten sich aber um ihre<br />

Assimilation und Neutralisierung, um sie<br />

schließlich ganz an den Rand zu drücken<br />

und zu entmachten, wie es unter Franco<br />

in Spanien und unter Salazar in Portugal<br />

geschah. <strong>Die</strong>se unterschiedlichen<br />

Konstellationen mussten den Marxist/<br />

innen entgehen und tun dies manchmal<br />

bis heute, weil ihnen jedes konservative,<br />

autoritäre oder diktatorische Regime<br />

größtenteils ohne Weiteres <strong>als</strong> »faschistisch«<br />

galt, so dass sie die gravierende<br />

ideologische und praktische Differenz<br />

zwischen Faschisten und Konservativen<br />

nicht wahrnehmen konnten.<br />

Auch in Deutschland und Italien unterstützten<br />

maßgebliche Teile der sozialen<br />

Führungsgruppen, allen voran das vorwiegend<br />

an Staatsaufträgen und am<br />

Binnenmarkt interessierte Großkapital<br />

der Schwer- und Rüstungsindustrie, die<br />

Faschisten erst dann, <strong>als</strong> ihre eigentlichen<br />

Favoriten, die traditionellen rechten<br />

Parteien, abgewirtschaftet hatten<br />

und man die Faschisten wegen deren<br />

Massenbasis nicht mehr länger ignorieren<br />

konnte.<br />

Agenten- und Bonapartismustheorien<br />

passen außerdem wenig auf diejenigen<br />

faschistischen Bewegungen, die wie die<br />

rumänischen »Legionäre« oder die kroatischen<br />

»Ustascha« in Ländern empor<br />

kamen, denen eine entwickelte Industrie<br />

und folglich sowohl eine starke<br />

Bourgeoisie <strong>als</strong> auch eine Arbeiterbewegung<br />

weitgehend fehlten. Es bleibt<br />

aber ein Verdienst der marxistischen<br />

Faschismustheorien und der von ihnen<br />

inspirierten Forschung, reiches empirisches<br />

Material über die vielfach unleugbare<br />

Komplizenschaft zwischen traditionellen<br />

Führungsgruppen, vor allem<br />

Großkapitalisten, und den verschiedenen<br />

faschistischen Bewegungen zusammen<br />

getragen zu haben.<br />

Neben ihren grundsätzlichen Annahmen<br />

über das Verhältnis zwischen Kapitalistenklasse<br />

und Faschisten teilten<br />

Agenten- und Bonapartismustheorien<br />

auch folgende Grundauffassung: <strong>Die</strong><br />

faschistischen Bewegungen entstehen<br />

und werden von den herrschenden<br />

Klassen zur Machtsicherung herangezogen,<br />

weil die Arbeiterbewegung eine solche<br />

Stärke gewonnen hat, dass Macht<br />

und Privilegien der Herrschenden nicht<br />

mehr anders erhalten werden können.<br />

Während allerdings für die Agententheorien<br />

der frühen dreißiger Jahre kennzeichnend<br />

war, den Faschismus geradezu<br />

für das letzte verzweifelte Bollwerk<br />

gegen die nah bevorstehende Revolution<br />

zu halten – erinnert sei an die grandiose<br />

Fehleinschätzung der KPD, wonach<br />

die Herrschaft des Nazifaschismus den<br />

revolutionären Prozess in Deutschland<br />

nur beschleunigen könne – charakterisierten<br />

die Bonapartismustheorien ihn<br />

<strong>als</strong> Notlösung, welche die Bourgeoisie<br />

in der Situation eines Kräftegleichgewichts<br />

zwischen den Hauptklassen<br />

wählt.<br />

<strong>Die</strong>se zentralen marxistischen Annahmen<br />

über die historische Ausgangssituation<br />

der faschistischen Herrschaft<br />

sind mehr <strong>als</strong> zweifelhaft. Wo der Faschismus<br />

die Macht erlangte, bestand<br />

weder ein Kräftegleichgewicht der Klassen<br />

noch eine revolutionäre oder vorrevolutionäre<br />

Situation, sondern Arbeiterbewegung<br />

und <strong>Linke</strong> hatten<br />

entscheidende Niederlagen erlitten. 14<br />

Alle europäischen Faschismen der Zwischenkriegszeit<br />

gediehen nur, wenn ihre<br />

Gegenspieler, <strong>als</strong>o demokratische und<br />

liberale sowie vor allem sozialdemokratische,<br />

sozialistische, kommunistische<br />

und anarchistische Kräfte, durch vorangegangene<br />

Niederlagen geschwächt<br />

und desorientiert, durch tief greifende<br />

Fragmentierungsprozesse und verfehlte<br />

politische Einschätzungen zu angemessenem<br />

Handeln unfähig oder in der jeweiligen<br />

Gesellschaft ohnehin schwach<br />

vorhanden waren.<br />

Bis heute haben nur wenige Marxist/<br />

innen den vollen Umfang der welthistorischen<br />

Niederlage der <strong>Linke</strong>n begriffen,<br />

die das historische Fenster für die<br />

Faschismen öffnete. Es war dies die Situation<br />

des Weltkriegsausbruchs 1914:


Anstatt den praktischen Beweis für die<br />

Wahrheit ihres Internationalismus zu erbringen,<br />

fügten sich die im Zenit ihrer<br />

Organisationsmacht stehenden europäischen<br />

Arbeiterparteien mehrheitlich in<br />

klassen- und lagerübergreifende Kriegskoalitionen<br />

ein. Der Sommer 1914 war<br />

das Menetekel der marxistischen Arbeiterbewegung,<br />

der Beweis der praktischen<br />

Unmöglichkeit der Weltrevolution<br />

auf Generationen hin. Interessanter<br />

weise lernten schon Marx und Engels<br />

den europäischen Krieg, den sie lange<br />

<strong>als</strong> Katalysator der Revolution herbei<br />

gesehnt hatten, am Ende ihres Lebens<br />

fürchten: Der Übergang zum Sozialismus<br />

könne in Europa nur durch einen<br />

allgemeinen Krieg verhindert werden,<br />

der den Chauvinismus obsiegen ließe.<br />

Vor allem der später <strong>als</strong> Marx verstorbene<br />

Engels sah seine revolutionären<br />

Hoffnungen durch den Nationalismus<br />

gefährdet. 15<br />

Materialistische<br />

Faschismustheorien nach 1945<br />

In den ersten zwei Jahrzehnten nach<br />

dem Untergang der faschistischen Regime<br />

in Europa stagnierte die marxistische<br />

Theoriebildung weitgehend. <strong>Die</strong><br />

Dogmen des Marxismus-Leninismus ließen<br />

Innovation sowieso kaum zu, aber<br />

auch von den »Bonapartismustheoretiker/innen«<br />

kamen keine substanziellen<br />

Weiterentwicklungen. Das Bekanntwerden<br />

der ungeheuerlichen Verbrechen<br />

der Faschisten im Zweiten Weltkrieg,<br />

vor allem der deutschen, veranlasste<br />

die meisten Marxist/innen keineswegs,<br />

die Faschismen schärfer von autoritärkonservativen<br />

Phänomenen abzugrenzen,<br />

sondern steigerte im Gegenteil die<br />

Verlockung, alle möglichen politischen<br />

Gegner <strong>als</strong> »faschistisch« zu brandmarken.<br />

Der ohnehin schon ausgefranste<br />

Begriff des Faschismus wurde noch weiter<br />

entgrenzt.<br />

Unterdessen vollzogen sich abseits des<br />

Traditionsmarxismus und in scharfem<br />

Gegensatz zu ihm spannende theoretische<br />

Entwicklungen, die marxistischen<br />

Vorarbeiten unendlich viel verdankten<br />

und bis heute nicht in vollem Umfang für<br />

marxistische Faschismustheorie nutzbar<br />

gemacht wurden. Da wäre zunächst<br />

die Kritische Theorie zu beachten. Schockiert<br />

von der klassenübergreifenden<br />

Mobilisierungskraft vor allem des Nazifaschismus<br />

suchten ihre Repräsentanten<br />

nach sozialpsychologischen Erklärungen.<br />

Viele Marxist/innen kritisierten<br />

seither, dass sozialpsychologische Erklärungsansätze<br />

die Frage nach der<br />

Schuld an der Errichtung faschistischer<br />

Herrschaft von den sozialen Führungs-<br />

gruppen auf den Massenanhang faschistischer<br />

Bewegungen verlagern würden.<br />

Beim kapitalistischen System verbleibe<br />

nur die vage Restschuld, verantwortlich<br />

für die massenhafte Ausprägung<br />

Faschismusanfälliger Persönlichkeitsstrukturen<br />

zu sein. Doch tragen sozialpsychologische<br />

Erklärungsversuche, ob<br />

nun von der Kritischen Theorie oder anderen<br />

Richtungen formuliert, zweifellos<br />

mehr zur Erklärung der faschistischen<br />

Massenbasis bei <strong>als</strong> das meiste, was die<br />

Traditionsmarxist/innen zu diesem Thema<br />

zu sagen hatten.<br />

Um so interessanter ist es, dass die Kritische<br />

Theorie dort, wo sie den Faschismus<br />

nicht psychologisch, sondern sozialökonomisch<br />

erklärte, teilweise recht<br />

nahe bei den marxistischen Agententheorien<br />

angesiedelt war. Wie bei diesen<br />

herrschte in der Kritischen Theorie<br />

mitunter krasser Ökonomismus: Der Faschismus<br />

wurde <strong>als</strong> eine mögliche Herrschaftsform<br />

von mehreren in der schon<br />

an sich totalitären Industriegesellschaft,<br />

die faschistische Ideologie <strong>als</strong> inhaltlich<br />

beliebig und rein manipulatorisch begriffen,<br />

so etwa von Adorno: »Man kann<br />

wahrscheinlich zu den tiefsten Einsichten<br />

in die Struktur des Faszismus<br />

gelangen durchs Studium der Reklame,<br />

die in ihm erstm<strong>als</strong> ins politische Zentrum<br />

– oder besser in den politischen<br />

Vordergrund – tritt und deren ökonomische<br />

Voraussetzungen wahrscheinlich<br />

wieder mit denen des Faszismus<br />

korrespondieren.« 16<br />

<strong>Die</strong> politische Spitze dieser Interpretation<br />

richtete sich zwar auch gegen die<br />

bürgerliche Demokratie in der Industriegesellschaft,<br />

aber natürlich ebenso<br />

und noch stärker gegen den Staatssozialismus<br />

sowjetischer Prägung. Hierdurch<br />

geriet die Kritische Theorie in<br />

unübersehbare Nähe zu den Totalitarismustheorien,<br />

was die meisten Marxist/<br />

innen nachhaltig daran hinderte, die in<br />

ihr möglicherweise enthaltenen Anregungen<br />

aufzunehmen.<br />

Hannah Arendt <strong>als</strong> die kraetivste und differenzierteste<br />

Vertreterin der Totalitarismustheorien<br />

lehnte den marxistischen<br />

Faschismusbegriff zwar entschieden<br />

ab, ihre materialistische Ableitung des<br />

Nazifaschismus aus Krise und Zersetzung<br />

der bürgerlichen Gesellschaft, aus<br />

Imperialismus, Rassismus und Antisemitismus<br />

aber kann für materialistische<br />

Faschismustheorie anregender und<br />

fruchtbarer sein <strong>als</strong> die Schablonen der<br />

Agenten- und Bonapartismustheorien.<br />

Dabei fällt besonders bei ihren Überlegungen<br />

zum Imperialismus die eklatante<br />

Nähe zu marxistischen Theorien ins Auge.<br />

Arendts rigider Antikommunismus,<br />

ihre hanebüchene Gleichsetzung von<br />

Bolschewismus und Nation<strong>als</strong>ozialismus,<br />

ihre mangelnde Differenzierung<br />

zwischen Marxismus, Leninismus und<br />

Stalinismus sowie die sich durch ihr<br />

ganzes Werk ziehende Apologie der bürgerlichen<br />

Gesellschaft jedoch hinderten<br />

die meisten Marxist/innen daran, ihre<br />

Arbeiten vorurteilsfrei für sich zu nutzen.<br />

Theoretischer Wiederaufschwung<br />

ab den 1960er Jahren<br />

Der Aufschwung fundamentaler Gesellschaftskritik<br />

und oppositioneller sozialer<br />

Bewegungen in den sechziger Jahren<br />

brachte zunächst einen weiteren<br />

Schub in der verderblichen Entgrenzung<br />

des Faschismusbegriffs. In der <strong>Linke</strong>n<br />

verbreitete sich ein Theorem namens<br />

»Neuer Faschismus«, nach dem der Faschismus<br />

sich heute nicht mehr <strong>als</strong> politische<br />

Bewegung zu formieren brauche,<br />

sondern gleich in Struktur und Praxis<br />

der staatlichen Institutionen in wachsendem<br />

Maße zum Ausdruck komme<br />

(»Faschisierung«), wo er ohnehin schon<br />

immer angelegt sei. <strong>Die</strong>ses Theorem<br />

ermöglichte es, jede staatliche Repression<br />

und jede Einschränkung demokratischer<br />

Rechte <strong>als</strong> faschistisch<br />

anzuprangern. Nicht zuletzt verschaffte<br />

es bewaffneten Gruppen wie der »Rote<br />

Armee Fraktion« (RAF) eine vermeintlich<br />

antifaschistische Legitimation.<br />

Neben solchen Instrumentalisierungen<br />

des Faschismusbegriffs im politischen<br />

Handgemenge entspann sich aber auch<br />

eine lange, erkenntnisreiche theoretische<br />

Diskussion, die während der siebziger<br />

Jahre unter anderem in der westdeutschen<br />

marxistischen Zeitschrift<br />

»Das Argument« ausgetragen wurde.<br />

Eine Weiterentwicklung der Agententheorien<br />

stellte die realistischere Monopolgruppentheorie<br />

dar, die vor allem<br />

über das Verhältnis zwischen traditionellen<br />

Führungsgruppen und Faschisten<br />

in Deutschland wichtiges Wissen vermittelte.<br />

<strong>Die</strong> Monopolgruppentheorie versuchte,<br />

den Widerspruch zwischen der<br />

realen, relativen Eigenständigkeit der<br />

faschistischen Ideologien, Bewegungen<br />

und Regime und dem marxistisch-leninistischen<br />

Dogma vom Faschismus <strong>als</strong><br />

Herrschaft des Monopolkapit<strong>als</strong> durch<br />

die Ausdifferenzierung des Monopolkapit<strong>als</strong><br />

zu lösen. <strong>Die</strong> Autonomie des Faschismus<br />

sollte aus den Widersprüchen<br />

der unterschiedlichen auf den Staat einwirkenden<br />

Kapitalfraktionen zu erklären<br />

sein. Trotz ihrer Teileinsichten war die<br />

Monopolgruppentheorie zu abenteuerlichen,<br />

ja mystifizierenden Konstruktionen<br />

und zum Lavieren gegenüber der<br />

63


eigentlich offenkundigen Tatsache gezwungen,<br />

dass große Teile der faschistischen<br />

Herrschaftspraxis eben nicht<br />

ökonomisch, sondern vielmehr vorrangig<br />

ideologisch determiniert waren.<br />

Als Hauptproblem der marxistischen<br />

Faschismustheorien stellte sich nach<br />

wie vor die Erklärung der faschistischen<br />

Massenbasis. 17 Eine Lösung sollte die<br />

prominent durch Reinhard Kühnl vertretene<br />

Theorie vom Bündnis zwischen<br />

Faschismus und Monopolkapital bieten.<br />

Aber auch Kühnl ging wie so viele<br />

Marxist/innen nicht mit der gebotenen<br />

Ausführlichkeit auf die Eigenständigkeit<br />

und die spezifischen Inhalte der faschistischen<br />

Ideologien ein. Immerhin<br />

erwähnte er zu Recht die Rolle des fetischisierten<br />

Bewusstseins bei der Herausbildung<br />

faschistischer Ideologie. Er<br />

blieb damit jedoch viel zu unspezifisch,<br />

denn dieses Bewusstsein liegt allen auf<br />

kapitalistischem Boden entstandenen<br />

Ideologien zugrunde. 18<br />

Der andere große westdeutsche Faschismustheoretiker<br />

der sechziger und<br />

siebziger Jahre, Reinhard Opitz, der an<br />

der orthodoxen Theorie vom Faschismus<br />

<strong>als</strong> Herrschaft des Monopolkapit<strong>als</strong><br />

festhielt, gelangte bei der Untersuchung<br />

des Verhältnisses zwischen faschistischer<br />

Klassen- und Massenbasis auf<br />

die richtige Fährte des Ideologischen.<br />

Der Faschismus sei: »der im Protest gegen<br />

die vom Monopolkapital geschaffenen<br />

Verhältnisse von unten her in Gestalt<br />

rechter Bewegungen aufsteigende<br />

Autoritarismus«. »Nichtmonopolistische<br />

Schichten«, die in imperialistischer Ideologie<br />

befangen seien, würden durch<br />

die ständige Verletzung ihrer objektiven<br />

Interessen, vor allem wegen ihrer Verelendung,<br />

rebellisch gegen die offiziellen<br />

monopolistischen Parteien. <strong>Die</strong> Radikalisierung<br />

bestimmter Formen bürgerlicher<br />

Ideologie durch die genannten<br />

Schichten verlange nach hartem Durchgreifen<br />

gegen wirkliche und vermeintliche<br />

Feinde – Demokraten, <strong>Linke</strong>, äußere<br />

Gegner, Juden etc.:<br />

»Das Kennzeichen dieser Mentalität<br />

besteht, auf einen Satz gebracht, darin,<br />

dass sie aus dem imperialistischen<br />

Feindbild die Gewaltkonsequenz zieht<br />

und nach deren praktischer Einlösung<br />

verlangt.« Opitz verfolgte aber die richtige<br />

Spur des Ideologischen nicht mehr<br />

weiter. Sein Klassenreduktionismus ließ<br />

ihn nicht nur die Möglichkeit einer Interessenidentität<br />

zwischen Großkapital<br />

und anderen Klassen im Zeichen der Nation<br />

und damit die Zugkraft der faschistischen<br />

Versprechungen verkennen.<br />

Der Akzent, den Opitz auf die Rolle des<br />

Monopolkapit<strong>als</strong> legte, führte ihn auch<br />

64<br />

dazu, einfache Militärdiktaturen <strong>als</strong> faschistisch<br />

ansehen. Seine Faschismusdefinition,<br />

die kaum über die bekannte<br />

der Kommunistischen Internationale hinausging,<br />

gab alle gewonnenen Erkenntnisse<br />

wieder auf. 19<br />

Höhepunkt marxistischer Faschis -<br />

mustheoriebildung: <strong>Die</strong> »Projektgruppe<br />

Ideologie-Theorie« (PIT)<br />

Ende der siebziger, Anfang der achtziger<br />

Jahre wirkte in Westdeutschland<br />

das marxistische »Projekt Ideologie-<br />

Theorie« (PIT), deren bekanntestes Mitglied<br />

Wolfgang Fritz Haug, Professor für<br />

Philosophie an der Freien Universität in<br />

West-Berlin, war. Das PIT formulierte eine<br />

Kritik und gleichzeitig Selbstkritik,<br />

die meines Erachtens voll ins Schwarze<br />

traf:<br />

Der stark ausgeprägte Ökonomismus<br />

und Klassenreduktionismus der bisherigen<br />

Hauptströmungen der marxistischen<br />

Faschismustheorien helfe<br />

nicht, die Wirkungsmacht der faschistischen<br />

Ideologie zu verstehen. <strong>Die</strong><br />

Zurückführung der faschistischen Ideologie<br />

auf Klassenherrschaft und Klasseninteresse<br />

vermag zwar Absichten zu<br />

erhellen, aber keine Wirkungen. Von daher<br />

sei Ökonomismus auch hilflos bei<br />

der Entwicklung von antifaschistischen<br />

Strategien. Der Zusammenhang zwischen<br />

kapitalistischer Klassenstruktur<br />

und Faschismus könne nur über die Ideologie<br />

und nicht durch reine Ableitung<br />

aus der Ökonomie verständlich gemacht<br />

werden. 20<br />

Zweifellos gehören die Texte des PIT zu<br />

den fortgeschrittensten, bis heute anscheinend<br />

nicht eingeholten Arbeiten in<br />

der marxistischen Faschismustheorie –<br />

allerdings nicht hinsichtlich ihrer politisch-strategischen<br />

Schlussfolgerungen.<br />

Der sicher richtige Grundgedanke des<br />

PIT besteht darin, den Faschisten alle<br />

psychischen und emotionalen Energien,<br />

welche diese für sich einzuspannen<br />

trachten, zu entwinden, um sie dann<br />

demokratisch bzw. emanzipatorisch zu<br />

kanalisieren. Problematisch wird es bei<br />

den – nur angedeuteten – praktischen<br />

Empfehlungen, den Diskurs um Volk und<br />

Nation von links zu besetzen. 21 <strong>Die</strong>s würde<br />

entgegen den hierein gesetzten Hoffnungen<br />

des PIT wahrscheinlich weniger<br />

zu einer Demokratisierung des Nationalismus<br />

<strong>als</strong> zu einer Faschisierung der<br />

<strong>Linke</strong>n führen.<br />

Ungeachtet dessen bestechen die Arbeiten<br />

der PIT dadurch, dass sie das<br />

Ideologische wirklich ernst nehmen und<br />

auf simple Ableitungsversuche verzichten.<br />

Dabei gehen sie von einer maßgeblich<br />

durch den französischen Marxisten<br />

Louis Althusser inspirierten Ideologie-<br />

Theorie aus, die Ideologie vorrangig <strong>als</strong><br />

materielle Praxis auffasst. Mit folgenden<br />

Worten umriss Haug treffend das progressive<br />

Potenzial des PIT-Ansatzes:<br />

»Wir sind gut beraten, wenn wir aufmerksam<br />

untersuchen, was die Faschisten<br />

wirklich tun. […] Und wir werden von einer<br />

funktionalhistorischen Bestimmung<br />

des Ideologischen ausgehen. Sie sucht<br />

nicht primär Ideengebäude, auch weder<br />

Klassenbewusstsein noch sonstige Formen<br />

›wertbezognen‹ oder ›handlungsorientierten‹<br />

›Bewusstseins‹. Wir suchen<br />

Formen der auf innere Selbstunterstellung<br />

der Individuen zielenden Reproduktion<br />

von Herrschaft. […] Und wir suchen<br />

vor allem die faschistische Spezifik im<br />

Ensemble der ideologischen Mächte,<br />

Beziehungen, Praxen etc. Wir suchen<br />

<strong>als</strong>o nicht primär nach einer faschistischen<br />

Ideologie, sondern nach der<br />

Faschisierung des Ideologischen und<br />

nach der ideologischen Transformationsarbeit<br />

der Faschisten.« 22<br />

Leider trifft beim PIT dieses althusserianische<br />

Konzept von Ideologie auf verschiedene<br />

traditionsmarxistische Restbestände:<br />

Der Staat wird immer noch<br />

zu sehr <strong>als</strong> Instrument der Klassenherrschaft<br />

interpretiert, seine relative Autonomie<br />

nicht in vollem Ausmaß erkannt.<br />

Dass das PIT den Faschismus demzufolge<br />

gleichfalls <strong>als</strong> Klassenherrschaft bestimmt<br />

23 , führt sie wie so viele Marxist/<br />

innen zur Vernachlässigung der spezifisch<br />

faschistischen Form von Antikapitalismus<br />

zugunsten des faschistischen<br />

Antikommunismus. Das PIT hätte vielleicht<br />

gut daran getan, doch ein wenig<br />

mehr nach einer spezifisch »faschistischen<br />

Ideologie« zu suchen, anstatt<br />

»Hitlers Standpunkt« lediglich folgendermaßen<br />

zu bestimmen: »Reorganisierte<br />

Reproduktion der bestehenden<br />

Ordnung«. 24 Außerdem ist es bedauerlich,<br />

dass das PIT keine allgemeine Faschismustheorie<br />

leistete, sondern ihre<br />

Arbeit weitgehend auf den deutschen<br />

Extrem- und Sonderfall des Faschismus<br />

beschränkt blieb.<br />

Und heute?<br />

<strong>Die</strong> Zeiten, in denen linke Gelehrte mit<br />

ihren Faschismustheorien in der Wissenschaftslandschaft<br />

der BRD prominent<br />

vertreten waren und der Faschismusbegriff<br />

wie selbstverständlich<br />

verwendet wurde, sind lange vorbei.<br />

Parallel zum Abklingen der oppositionellen<br />

sozialen Bewegungen in den<br />

siebziger und achtziger Jahren und zum<br />

sich schon lange vor 1989/90 abzeichnenden<br />

Zusammenbruch des Staatssozialismus<br />

sowjetischer Prägung, wurde


die Verwendung des Faschismusbegriffs<br />

immer stärker zum Ausweis linker<br />

Gesinnung und damit hochgradig<br />

unmodisch. 25 <strong>Die</strong>s beginnt sich allmählich<br />

zu verändern, dennoch wurde die<br />

wahre Renaissance allgemeiner (»generischer«)<br />

Faschismustheorien, die sich<br />

seit der ersten Hälfte der neunziger Jahre<br />

im angelsächsischen Raum abspielte,<br />

in Deutschland lange verschlafen.<br />

Am bis heute schlechten Image des Faschismusbegriffs<br />

in Deutschland ist die<br />

inflationäre und oft rein polemische<br />

Verwendung des Begriffs von linker Seite<br />

nicht unschuldig. Aber auch die historisch<br />

bedingte Fokussierung der<br />

Forschung hierzulande auf den deutschen<br />

Extrem- und Sonderfall des Faschismus,<br />

den Nation<strong>als</strong>ozialismus,<br />

trug ihren Teil zur Vernachlässigung<br />

allgemeiner Faschismustheorie und<br />

vergleichender Faschismusforschung<br />

bei. Selbstverständlich hatte die Sache<br />

auch eine eminent politische Seite:<br />

Gerade in Deutschland nach 1989/90<br />

wollten der triumphierende Kapitalismus<br />

und der neu erstarkende Nationalismus<br />

lieber nicht an ihre historische<br />

und ursächliche Beziehung zu den Naziverbrechen<br />

erinnert werden.<br />

Innerhalb der linken Szenerie war der<br />

Faschismusbegriff zwar immer etabliert<br />

und wurde und wird in vielerlei Zusammenhängen<br />

verwendet, doch ist seine<br />

theoretische Klärung seit den siebziger<br />

Jahren anscheinend keinen Schritt voran<br />

gekommen. Nicht allein muss konstatiert<br />

werden, dass selbst die am wenigsten<br />

aufgeklärtesten Versionen der<br />

Agententheorie nach wie vor zahlreiche<br />

Anhänger/innen haben. Generell fällt<br />

genuin linke oder marxistische Faschismustheorie<br />

am meisten durch ihre Abwesenheit<br />

auf. In der Antifa-Bewegung<br />

beispielsweise können Menschen ihre<br />

ganze politische Sozialisation hinter sich<br />

bringen, ohne auch nur ein einziges Mal<br />

tiefer gehend mit Faschismustheorie in<br />

Berührung gekommen zu sein – eigentlich<br />

erstaunlich bei einer Bewegung, die<br />

den Faschismusbegriff im Namen trägt<br />

und zumindest teilweise nicht so theoriefern<br />

ist wie ihr Ruf mancherorts.<br />

Das Gedankengut des israelischen Historikers<br />

Zeev Sternhell, der entschieden<br />

dafür eintritt, die Rekonstruktion einer<br />

spezifisch faschistischen Ideologie<br />

zum Ausgangspunkt der Faschismusanalyse<br />

und -theorie zu nehmen, wurde<br />

zwar in Teilen der deutschen <strong>Linke</strong>n aufgenommen,<br />

jedoch scheinbar ohne größere<br />

Folgen. Noch immer ist das, was es<br />

an marxistischer oder überhaupt linksemanzipatorischerFaschismustheorie<br />

gibt, völlig auf den Faschismus <strong>als</strong><br />

Herrschaftsform konzentriert und vernachlässigt<br />

hierüber die Faschismen<br />

<strong>als</strong> Ideologien und (Oppositions-) Bewegungen.<br />

<strong>Die</strong> linksradikale Theoriezeitschrift<br />

»Phase 2« schaffte es in ihrer<br />

kürzlich erschienenen Ausgabe zum<br />

Themenschwerpunkt Faschismustheorie,<br />

dass in keinem einzigen der informativen<br />

Beiträge die faschistischen Ideologien<br />

<strong>als</strong> solche behandelt wurden.<br />

Wenn in der <strong>Linke</strong>n das Ideologische<br />

der Faschismen verhandelt wird, dann<br />

meist im Zusammenhang mit Ideologien<br />

der Ungleichheit, die ein viel größeres<br />

politisches Spektrum <strong>als</strong> das<br />

eigentlich faschistische betreffen: Nationalismus,<br />

Rassismus, Antisemitismus,<br />

Sexismus und so weiter. Oft wird<br />

angegeben, dass der Faschismus in ideologischer<br />

Hinsicht eben eine Radikaliserung<br />

der genannten und anderer antiemanzipatorischer<br />

Ideologien sei, eine<br />

Auffassung, die in orthodox marxistischleninistischer<br />

Formulierung schon bei<br />

Reinhard Opitz anzutreffen war. Dabei<br />

bleibt weiterhin unklar, ab wann denn<br />

zum Beispiel ein »normaler« Nationalist<br />

zum Faschisten wird, wie diese unterschiedlichen<br />

Ideologien und Ideologeme<br />

bei den Faschisten zusammenhängen<br />

und sich bedingen und ob es nicht<br />

vielleicht doch eine genuin faschistische<br />

Ideologie gibt, deren Spezifik in der Weise<br />

der Kombination der ideologischen<br />

Elemente liegt und durch die sich die<br />

Faschisten von anderen Rechten zuverlässig<br />

abgrenzen lassen.<br />

Grundlagenkritik der marxistischen<br />

Faschismustheorien und Anforderungen<br />

an eine neue allgemeine<br />

materialistische Theorie der<br />

Faschismen<br />

<strong>Die</strong> breite Akzeptanz der Agententheorien<br />

im Marxismus lässt sich zunächst<br />

damit erklären, dass diesem eine eigentliche<br />

Staatstheorie fehlt. Bei Marx<br />

finden sich nur wenige und dazu widersprüchliche<br />

staatstheoretische Fragmente.<br />

Was Engels und später Lenin an<br />

Theorie des Staates zuwege brachten,<br />

ließ diesem nur noch wenig Eigenständigkeit.<br />

26 Das erschwerte das Verständnis<br />

des überaus »verselbständigten«<br />

faschistischen Staates. Wer daran gewöhnt<br />

ist, in allem Staatlichen den direkten<br />

Ausdruck herrschender Klasseninteressen<br />

zu sehen, für den können<br />

faschistische Regime nur bloße Agenturen<br />

sein. Ähnliches betrifft Ideologien:<br />

Wer in diesen nur entweder Klasseninteresse<br />

oder Verschleierung wahrer Absichten<br />

erblicken kann, dem wird sich<br />

die massenhafte Anziehungskraft der<br />

faschistischen Ideologien auch auf Ar-<br />

beiter/innen nicht erschließen können.<br />

Der sozialdemokratisch-marxistische<br />

Theoretiker Rudolf Hilferding<br />

hat die faschismustheoretische Schwäche<br />

der Marxist/innen in einem kurz<br />

vor seiner Ermordung durch die Nazis<br />

geschriebenen und erst 1948 bekannt<br />

gewordenen Aufsatz klar erkannt: Der<br />

Faschismus sei mit marxistischen Kategorien<br />

kaum beschreibbar, das heißt.<br />

weder ökonomisch noch klassentheoretisch<br />

direkt ableitbar. 27<br />

Anders <strong>als</strong> selbst die differenziertesten<br />

Ausprägungen der Agententheorie vermögen<br />

die Bonapartismustheorien mittels<br />

des Verselbständigungstheorems<br />

immerhin zu denken, dass sich der Faschismus<br />

an der Macht auch gegen die<br />

traditionellen Führungsgruppen wenden<br />

kann. Den Kardinalfehler der Verkennung<br />

der relativen Eigenständigkeit und<br />

Eigengesetzlichkeit des Ideologischen<br />

haben Agenten- und Bonapartismustheorien<br />

jedoch gemeinsam. Bei den Bonapartismustheorien<br />

wird die Selbständigkeit<br />

der faschistischen Ideologie aus<br />

der angeblich vorwiegend kleinbürgerlichen<br />

Basis der Faschismen abgeleitet<br />

oder <strong>als</strong> mehr oder weniger über den sozialen<br />

Bedingungen Schwebendes, von<br />

ihnen Losgelöstes dargestellt. Überhaupt<br />

stellt sich das Verselbständigungstheorem<br />

<strong>als</strong> systemimmanentes<br />

und daher ebenso f<strong>als</strong>ches Gegenstück<br />

der Agententheorie dar. Reduziert der<br />

marxistisch-leninistische Ökonomismus<br />

Staat und Ideologie gnadenlos auf<br />

einen machtlosen, völlig unselbständigen<br />

Rest, so ersetzt das Verselbständigungstheorem<br />

den Zusammenhang<br />

der gesellschaftlichen Bereiche durch<br />

ein unverbundenes Nebeneinander. 28<br />

Zwar können die Bonapartismustheorien<br />

mehr Wahrheitsmomente <strong>als</strong> die<br />

Agententheorien beanspruchen, aber<br />

trotzdem lässt sich mit ihnen nicht viel<br />

anfangen. Der Eindruck drängt sich auf,<br />

dass die Marxist/innen, <strong>als</strong> sie sahen,<br />

wie ratlos sie den Faschismen gegenüberstanden,<br />

verzweifelt nach Ideen im<br />

Werk der »Klassiker« suchten, die sich<br />

irgendwie auf die Faschismen beziehen<br />

ließen.<br />

Agenten- und Bonapartismustheorien<br />

teilen das grundsätzliche Desinteresse<br />

am Ideologischen und die Fixierung auf<br />

den Faschismus <strong>als</strong> Herrschaftsform. 29<br />

Insofern der Faschismus an der Macht<br />

selbstverständlich wesentlich mehr<br />

Unheil anrichten kann <strong>als</strong> eine faschistische<br />

Bewegung in der Opposition,<br />

hat diese Fixierung auch eine gewisse<br />

theoriepolitische Berechtigung. Dennoch<br />

versteht sich von selbst, dass die<br />

marxistischen Faschismustheorien da-<br />

65


durch nur sehr begrenzt tauglich sind<br />

zur Analyse der übergroßen Mehrzahl<br />

der Faschismen, die nie an die Staatsmacht<br />

kamen. Nazi- und Italofaschismus<br />

blieben Ausnahmen; alle anderen<br />

faschistischen Regime Europas wurden<br />

im Laufe des Zweiten Weltkriegs von<br />

Deutschen und Italienern eingesetzt. Es<br />

dürfte feststehen, dass ohne Unterstützung<br />

durch wesentliche Teile der sozialen<br />

Führungsgruppen kein Faschismus<br />

an die Macht gelangt wäre und gelangen<br />

würde. Aber die Faschismen existieren<br />

auch ohnedies <strong>als</strong> Ideologien und Bewegungen,<br />

und sie werden für Führungsgruppen<br />

nur in dem Maße interessant,<br />

wie sie Massenanhang bekommen. <strong>Die</strong><br />

immense Dynamik der Faschismen <strong>als</strong><br />

politische Bewegungen, die Gründe für<br />

die Anziehungskraft, der »genuine Antrieb<br />

einiger Zehntausend Fanatiker« 30<br />

entzogen sich somit weitgehend dem<br />

marxistischen Verständnis. <strong>Die</strong> marxistische<br />

Ignoranz gegenüber den faschistischen<br />

Ideologien lässt sich nur so<br />

erklären, dass die Marxist/innen im vermeintlichen<br />

Vollbesitz der Wahrheit gar<br />

nicht auf den Gedanken kamen, dass ihre<br />

faschistischen Gegner auch denkende<br />

Wesen sein und tatsächlich für eigene<br />

– herrschaftliche – Interessen und<br />

Privilegien eintreten könnten. 31<br />

<strong>Die</strong> meisten Marxist/innen weigern<br />

sich bis heute, die Aussagen der Faschisten<br />

zu ihrem Selbstverständnis,<br />

ihren Motiven und Zielen für bare Münze<br />

zu nehmen. Das, was gemeinhin <strong>als</strong><br />

faschistische Ideologie gilt, gilt vielen<br />

Marxist/innen demnach nur <strong>als</strong> demagogische<br />

Tarnung und Täuschung. Ein<br />

guter Neuanfang wäre, die Aussagen<br />

der Faschisten endlich wortwörtlich<br />

ernst zu nehmen. 32 <strong>Die</strong>s würde bedeuten<br />

davon auszugehen, dass die Faschisten<br />

in der Regel – wie viele andere<br />

Akteure in der politischen Arena – keine<br />

käuflichen Agenten oder zynischen<br />

Machtmenschen sind, sondern dass<br />

die meisten von ihnen oft wirklich meinen,<br />

was sie sagen. Faschisten werden<br />

wie andere politische Akteure meistens<br />

von einer aufwühlenden Wahrnehmung<br />

gesellschaftlicher Probleme umgetrieben<br />

und von dem dringenden Wunsch<br />

geleitet, ihnen Abhilfe zu schaffen. Es<br />

steht völlig außer Frage, dass die meisten<br />

Faschisten subjektiv ehrlich davon<br />

überzeugt waren und sind, das Gute und<br />

Richtige zu tun. <strong>Die</strong>s schließt weder aus,<br />

dass einzelne faschistische Akteure tatsächlich<br />

einen rein instrumentellen Zugang<br />

zum Ideologischen haben, noch<br />

dass der gespürte Erfolg eines Ideologems<br />

zu seiner verstärkten Benutzung<br />

führt und gewissermaßen auch auf den<br />

66<br />

Ideologen selbst wirkt, das heißt seinen<br />

Glauben an dieses Ideologem intensiviert.<br />

33<br />

Zur materialistischen Rekonstruktion<br />

der spezifisch faschistischen Ideologie<br />

müsste zunächst der historischen Entstehungssituation<br />

der Faschismen –<br />

imperialistische Mächtekonfrontation<br />

und Erster Weltkrieg – nachgegangen<br />

werden: Was war die spezifisch faschistische<br />

Antwort auf die allgemein wahrgenommenen<br />

existenziellen Herausforderungen<br />

und Probleme der Epoche?<br />

Um weiter das Verhältnis von Kapitalismus<br />

und Faschismen zu klären, erscheint<br />

es zweckmäßig, die faschistische<br />

Interpretation und Kritik des<br />

Kapitalismus zu betrachten: Was haben<br />

die Faschisten am Kapitalismus zu kritisieren<br />

und wie tun sie es? Wie sieht ihr<br />

sozialer Gegenentwurf aus? Zur Bestimmung<br />

des Verhältnisses zwischen Kapitalismus<br />

und Faschismus gehören auch<br />

klassentheoretische Überlegungen, die<br />

(nicht nur) in der marxistischen Faschismustheorie<br />

traditionell viel angestellt<br />

wurden: Welche Interessen und Mentalitäten<br />

von sozialen Klassen, Schichten<br />

und Gruppen drücken sich in den Faschismen<br />

aus beziehungsweise machen<br />

besonders anfällig für faschistische Ideologien?<br />

Wer sind die Träger und wer die<br />

Nutznießer der Faschismen?<br />

Anders <strong>als</strong> vielen nicht-marxistischen<br />

Faschismustheorien kann den marxistischen<br />

nicht vorgeworfen werden, den<br />

Zusammenhang zwischen Kapitalismus<br />

und Faschismus zu verschleiern. Im Gegenteil<br />

neigt der marxistische Antikapitalismus<br />

meist zu einer Verwischung<br />

der Spezifik faschistischer Regime<br />

gegenüber anderen kapitalistischen<br />

Herrschaftsformen, seien sie nun<br />

parlamentarisch-demokratisch oder autoritär-diktatorisch.<br />

Ähnlich verkennen<br />

die Marxist/innen meist die Besonderheit<br />

der faschistischen Ideologien gegenüber<br />

nicht-faschistischem Nationalismen<br />

und dem Konservatismus. Wo<br />

sich aus marxistischer Perspektive mit<br />

faschistischen Ideologien beschäftigt<br />

wurde, da verhinderte die Fixiertheit auf<br />

den faschistischen Antimarxismus die<br />

Erkenntnis der großen Bedeutung, welche<br />

die Feindschaft gegen Liberalismus,<br />

Individualismus, bürgerlichen Lebensstil<br />

und Hedonismus für die Faschismen<br />

hatte. Stattdessen müsste eine adäquate<br />

materialistische Faschismustheorie<br />

in undogmatisch-marxistischer Tradition<br />

sowohl den Bruch <strong>als</strong> auch die Kontinuität<br />

im Verhältnis von Faschismen<br />

und Kapitalismus bestimmen können.<br />

Mathias Wörsching M.A.<br />

1 <strong>Die</strong> Wahl der Pluralform deutet an, dass die Faschismen<br />

zwar eine kategoriale Einheit darstellen,<br />

sich aber dennoch von Land zu Land ganz erheblich<br />

unterscheiden. Damit wird einer vor allem mit<br />

den Namen George L. Mosse und Roger Griffin verbundenen<br />

theoretischen Linie gefolgt, nach der die<br />

Faschismen in ideologischer Hinsicht zunächst <strong>als</strong><br />

ultranationalistische Bewegungen aufgefasst werden<br />

müssen, woraus ihre frappierende Pluralität<br />

herrührt: »Jedes Land entwickelte den Faschismus,<br />

der seinem spezifischen Nationalismus gerecht<br />

wurde.« Vgl. George L. Mosse, <strong>Die</strong> Völkische Revolution.<br />

Über die geistigen Wurzeln des Nation<strong>als</strong>ozialismus,<br />

Frankfurt a.M. 1991 (zuerst: New York<br />

1964), S. Vf. Der Historiker Roger Griffin verwendet<br />

das Wort »Faschismus« häufig, ohne sich konsequent<br />

für Singular oder Plural zu entscheiden.<br />

2 2 Vgl. Ernst Nolte, Einleitung, in: derselbe, Hrsg.,<br />

Theorien über den Faschismus, Königstein/Taunus<br />

1984, S. 21 ff.<br />

3 Vgl. Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen<br />

in marxistischen Faschismustheorien, in:<br />

Projekt Ideologie-Theorie (PIT), Faschismus und<br />

Ideologie, Berlin 1980 (Argument-Sonderheft 60),<br />

S. 25 ff.<br />

4 Zitiert nach: Ernst Nolte, Theorien, S. 56 f..<br />

5 Zitiert nach: Reinhard Opitz, Über die Entstehung<br />

und Verhinderung von Faschismus, in: Das Argument,<br />

Heft 87, November 1974, 544. Vgl. Max<br />

Horkheimer in: <strong>Die</strong> Juden und Europa (1939): »Wer<br />

aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch<br />

vom Faschismus schweigen.« (Zitiert nach: Wolfgang<br />

Fritz Haug, Annäherung an die faschistische<br />

Modalität des Ideologischen, in: PIT, Faschismus<br />

und Ideologie, S. 44.)<br />

6 Vgl. Wolfgang Wippermann, Europäischer Faschismus<br />

im Vergleich, Frankfurt a.M. 1983, S. 20 u.<br />

derselbe, Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen<br />

Diskussion, Darmstadt 1989, S. 80 ff.<br />

7 Vgl. Rajani Palme Dutt, Was ist Faschismus?<br />

(1934), in: Ernst Nolte, Theorien über den Faschismus,<br />

S. 297 ff., wo im Rahmen einer marxistischagententheoretischen<br />

Argumentation bestimmte<br />

Elemente der Modernisierung kapitalistischer Industriegesellschaften<br />

(Aufbau eines Systems der<br />

organisierten Klassenzusammenarbeit, Ausdehnung<br />

der staatlichen monopolistischen Organisation<br />

von Industrie und Finanz) <strong>als</strong> zentrale faschistische<br />

Inhalte bestimmt und infolgedessen<br />

Roosevelt und Brüning <strong>als</strong> Proto- oder Quasifaschisten<br />

aufgefasst werden. Strukturell ähnlich<br />

argumentierte auch Johannes Agnoli: Der Faschismus<br />

sei die politische Entsprechung der<br />

monopolkapitalistischen, imperialistischen, etatistischen<br />

Phase des Kapitalismus im Gegensatz<br />

zum Konkurrenzkapitalismus. Kritik an Agnolis<br />

Gleichsetzung von Korporatismus und Faschismus<br />

und der daraus folgenden Tendenz zur Inflation des<br />

Faschismusbegriffs übt Reinhard Opitz, Über die<br />

Entstehung und Verhinderung von Faschismus,<br />

S. 581. Zur Differenz zwischen dem, was für Opitz<br />

die normale »staatsmonopolistische Formierung«<br />

ist, und dem Faschismus vgl. ebd., 584 ff.<br />

8 Vgl. Wolfgang Wippermann, <strong>Die</strong> Bonapartismustheorie<br />

von Marx und Engels, Stuttgart 1983,<br />

S.209 f.<br />

9 Ebenda, S. 8 ff., 15, 207 f.<br />

10 Vgl. derselbe, Europäischer Faschismus, S. 124 f..<br />

11 Dagegen spricht Wolfgang Abendroth, Das Problem<br />

der sozialen Funktion und der sozialen Voraussetzungen<br />

des Faschismus, in: Das Argument,<br />

12. Jg., H. 4–6, August 1970, S. 252, von<br />

der »breiten und partial militanten auf Mittelklassen<br />

und Deklassierte gestützten Massenbewegung<br />

(Dezembergesellschaft)« des Louis Bonaparte. Allerdings<br />

»war es nicht möglich, diese Massenbewegung<br />

zu einer permanenten selbständigen politischen<br />

Herrschaftsgruppe zu organisieren und zu<br />

stabilisieren. Noch waren die sozialen Techniken<br />

ungenügend entwickelt«. Vgl. zu den – fundamentalen<br />

– Unterschieden zwischen Bonapartismus<br />

und Faschismus ebd., 254.<br />

12 Vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie,<br />

S. 12, 23 ff., 173; derselbe, Faschismustheorien,<br />

S. 68 ff.; Wolfgang Abendroth, Das Problem<br />

der sozialen Funktion, S. 251.


13 So drückte es der österreichische sozialdemokratische<br />

Führer Otto Bauer aus: »Wenn sie (die Kapitalistenklasse;<br />

d. Verf.) die faschistischen Banden<br />

auf das Proletariat loslässt, so wird sie selbst<br />

zur Gefangenen der faschistischen Banden. Sie<br />

kann … (sie) nicht mehr niederwerfen, ohne sich<br />

der Revanche des Proletariats auszusetzen. Sie<br />

muss sich daher selbst der faschistischen Diktatur<br />

der faschistischen Banden unterwerfen«. Zitiert<br />

nach: Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen,<br />

S.18.<br />

14 <strong>Die</strong>s sahen auch einige Marxisten so, z. b. mit August<br />

Thalheimer mindestens ein prominenter Vertreter<br />

der Bonapartismustheorie (vgl. Wolfgang<br />

Wippermann, Bonapartismustheorie, S. 205 ff.),<br />

und außerdem Karl Radek und Clara Zetkin. Vgl.<br />

Clara Zetkin, Der Kampf gegen den Faschismus,<br />

in: Ernst Nolte, Theorien über den Faschismus,<br />

S.88 f., 95 f., 106 f.; Ernst Nolte, Einleitung, in:<br />

derselbe, Theorien, S. 21 ff.; Daniel Guerin, Faschismus<br />

und Kapitalismus, in: ebenda, S. 271 f.<br />

Für Franz Borkenau, in: ebenda, S. 156 ff, ist der<br />

Faschismus die Welt-Konterrevolution nach der<br />

abgebrochenen marxistischen Weltrevolution.<br />

Ebenda wird harsche Kritik an Otto Bauer, August<br />

Thalheimer und ihren modifizierten Bonapartismustheorien<br />

geübt: Der Faschismus sei ein Symptom<br />

der Schwäche der <strong>Linke</strong>n, nicht ihres nah<br />

bevorstehenden Sieges oder einer Kräftebalance.<br />

Reinhard Kühnl, Probleme der Interpretation des<br />

deutschen Faschismus, in: Das Argument, 12. Jg.,<br />

H. 4–6, August 1970, S. 273 f., kritisiert die vom<br />

orthodoxen Marxismus-Leninismus vorgetragene<br />

Interpretation, wonach der Nazifaschismus einer<br />

proletarischen Revolution zuvorkommen sollte. <strong>Die</strong>se<br />

sei Anfang der 1930 er Jahre unwahrscheinlich<br />

gewesen. Desgleichen auch Reinhard Opitz,<br />

Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus,<br />

585 und Nicos Poulantzas. Vgl. Jan Rehmann,<br />

<strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen, S. 31.<br />

15 Vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie,<br />

S. 79 ff.; Ernst Nolte, Faschismus über den Faschismus<br />

(Rüc<strong>kb</strong>lick), S. VIII ff.<br />

16 Zitiert nach Stefan Breuer, Nationalismus und Faschismus.<br />

Frankreich, Italien und Deutschland im<br />

Vergleich, Darmstadt 2005, S. 47. Das Zitat ist<br />

sehr früh, noch aus den 30 er Jahren.<br />

17 Prägnant wird das Problem bei Reinhard Kühnl,<br />

Probleme der Interpretation des deutschen Faschismus,<br />

S. 272 ff., gefasst. Ebenfalls bei Reinhard<br />

Opitz, Fragen der Faschismusdiskussion.<br />

Zu Reinhard Kühnls Bestimmung des Faschismusbegriffs,<br />

in: Das Argument, 12. Jg., H. 4–6,<br />

August 1970, S. 282 u. 288 f. Das Problem ist<br />

auch ein Hauptthema des genannten Aufsatzes<br />

von Opitz.<br />

18 Vgl. die Kritik an Kühnl bei Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung<br />

des Ideologischen, S. 24.<br />

19 Vgl. Reinhard Opitz, Fragen der Faschismusdiskussion,<br />

S. 286; Über die Entstehung und Verhinderung<br />

von Faschismus, S. 591–602. Vgl. die Kritik<br />

des PIT bei Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen,<br />

S.21 ff., so z. b. ebd., S. 22: »Opitz kapituliert<br />

vor seinem eigenen Anspruch der theoretischen<br />

Vermittlung.«<br />

20 Vgl. PIT, Faschismus und Ideologie, Vorwort, S. 8<br />

u. 11; Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen,<br />

S. 13 ff.<br />

21 Vgl. dazu ebenda, S. 35; Wolfgang Fritz Haug, Annäherung<br />

an die faschistische Modalität des Ideologischen,<br />

S. 76 ff.<br />

22 Vgl. ebenda, S. 47 u. S. 76: »<strong>Die</strong>s ist unser Forschungsgegenstand<br />

und die leitende Frage: Wie<br />

hat sich die faschistische Macht über die Herzen<br />

des Volkes befestigt?«<br />

23 Vgl. Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen,<br />

S. 14 u. 24.<br />

24 Vgl. Wolfgang Fritz Haug, Annäherung an die faschistische<br />

Modalität des Ideologischen, S. 54–<br />

59. Vgl. ebenda, S. 59 ff.: »National-Sozialismus<br />

<strong>als</strong> Gegen-Bolschewismus«.<br />

25 Vgl. Busch, S. 32; Wolfgang Wippermann Wippermann,<br />

Totalitarismustheorie, S. 2 f.<br />

26 Vor allem in den Schriften: »Ursprung der Familie,<br />

des Privateigentums und des Staates« (Friedrich<br />

Engels) und »Staat und Revolution« (Wladimir<br />

I. Lenin).<br />

27 Vgl. Wolfgang Wippermann, Bonapartismustheorie,<br />

210 ff. Eine sehr differenzierte, nicht mehr<br />

agententheoretische Erklärung des Faschismus –<br />

allerdings wieder nur des Faschismus an der<br />

Macht – lieferte auch Nicos Poulantzas. Sie wird<br />

gleichwohl beherrscht vom Klassenreduktionismus,<br />

d. h. von dem Bemühen, bestimmte Ideolo-<br />

gien bzw. Ideologeme eindeutig den Interessen bestimmter<br />

Klassen zuzuordnen (vgl. hierzu die Kritik<br />

des PIT bei Jan Rehmann, <strong>Die</strong> Behandlung des Ideologischen,<br />

S. 28–35.<br />

28 Vgl. ebenda, S. 15–21.<br />

29 Vgl. Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien,<br />

S. 76.<br />

30 Vgl. Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche.<br />

Action Francaise, Italienischer Faschismus, Nation<strong>als</strong>ozialismus.<br />

Mit einem »Rüc<strong>kb</strong>lick nach 30 Jahren«,<br />

München 1984 (zuerst: 1963), S. 453 f.<br />

31 Beispielhaft ist Wolfgang Abendroth, Das Problem<br />

der sozialen Funktion, S. 254: »Den diesen Sozi<strong>als</strong>chichten<br />

[v. a. dem Kleinbürgertum – M.W.]<br />

angebotenen antibolschewistischen und antimarxistischen<br />

Parolen wurde der Schein ›antikapitalistischer‹<br />

Ideologie zugesetzt, um ihnen die Illusion<br />

des Kampfes für ihre eigenen Interessen zu<br />

geben. Mit Hilfe dieser Parolenmixtur sollte das<br />

Mittelstandsaufgebot die Arbeiterorganisationen<br />

ausschalten.« Deswegen bleibt die richtige Feststellung<br />

ebd., dass die »Rechtsstaatlichkeit […]<br />

durch einen […] unverhüllt dezisionistisch-repressiven<br />

Teil staatlicher Tätigkeit weithin verdrängt<br />

wurde«, auch unbegründet in der Luft hängen.<br />

Um diesen Umstand zu erklären, hätte es ja der<br />

Ideologie bedurft, der oben jegliche Eigenständigkeit<br />

abgesprochen wurde. Kritik an der völligen<br />

Abwesenheit sozialpsychologischer – und damit<br />

immer auch Ideologie-bezogener – Erklärungsmodelle<br />

bei vielen Marxisten übt auch Kühnl, Probleme<br />

der Interpretation des deutschen Faschismus,<br />

S. 278.<br />

32 Vgl. Zeev Sternhell, Faschistische Ideologie. Eine<br />

Einführung, Berlin 2002. S. 13 f.; Ernst Nolte, Der<br />

Faschismus in seiner Epoche, S. 54 f. Vgl. PIT, Faschismus<br />

und Ideologie, Vorwort, S. 8: »Bei den<br />

Materi<strong>als</strong>tudien machten wir die verblüffende Erfahrung,<br />

dass die Kommentare der führenden Faschisten<br />

die Strukturen und Wirkungsweisen ideologischer<br />

Praxen klarer beschreiben <strong>als</strong> der größte<br />

Teil der faschismuskritischen Autoren.«<br />

33 Vgl. Wolfgang Fritz Haug, Annäherung an die faschistische<br />

Modalität des Ideologischen, S. 65 ff.<br />

(hier am Beispiel des Hitlerschen Antisemitismus).<br />

67


Das antifaschistische Thema in<br />

der DDR-Literatur<br />

Demokratische Erneuerung war die Losung,<br />

mit der deutsche Antifaschisten aus<br />

dem Exil und aus dem Widerstand im Jahre<br />

1945 ihre Aufbauarbeit in der sowjetischen<br />

Besatzungszone begannen. Um<br />

die verstörten und orientierungslosen<br />

Menschen für eine antifaschistische<br />

Neugestaltung ihrer Lebensverhältnisse<br />

zu gewinnen, musste Klarheit geschaffen<br />

werden über Wesen und Wurzeln des Hitlerfaschismus.<br />

Schluss gemacht werden<br />

musste vor allem mit militaristischen und<br />

chauvinistischen Ideologien, die der Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

ausgenutzt hatte – ganz<br />

zu schweigen vom Rassismus und Herrenmenschentum<br />

der Funktionsträger<br />

und Nutznießer des deutschen Faschismus.<br />

1 <strong>Die</strong> Verantwortung des deutschen<br />

Volkes für das, was in seinem Namen geschehen<br />

war, die Bereitschaft zur Wiedergutmachung<br />

musste geweckt werden.<br />

Dafür wurde in der sowjetischen<br />

Besatzungszone und in der frühen DDR<br />

viel getan und die Literatur hat einen hervorragenden<br />

Anteil daran gehabt.<br />

Einer der ersten, die in die zerstörte<br />

Heimat zurückkamen, war der Dichter<br />

Johannes R. Becher Seinen Bemühungen<br />

ist die Gründung des Kulturbundes<br />

zur demokratischen Erneuerung<br />

Deutschlands zu danken, der ersten Organisation<br />

von Intellektuellen und kulturinteressierten<br />

Menschen, die in<br />

Deutschland entstand. Sie sollte zum<br />

Kern einer geistigen Erneuerungsbewegung<br />

werden, in der Menschen aller<br />

Weltanschauungen und politischen<br />

Richtungen zusammenfinden konnten,<br />

die den Faschismus ablehnten oder Widerstand<br />

geleistet hatten. Bald öffneten<br />

sich die Reihen des Kulturbundes aber<br />

auch für solche, die zeitweise den Nation<strong>als</strong>ozialisten<br />

gefolgt waren und<br />

erst jetzt den verbrecherischen Charakter<br />

des Naziregimes und seines<br />

Raubkrieges zu begreifen begannen.<br />

Es ging Johannes R. Becher und seinen<br />

Freunden im Kulturbund um ein »nationales<br />

Befreiungs- und Aufbauwerk größten<br />

Stils auf ideologisch-moralischem<br />

Gebiet« 2 . Deshalb war er, der entschiedene<br />

Antifaschist und Kommunist, der<br />

vom ersten Tage an leidenschaftlich<br />

gegen den deutschen Faschismus gekämpft<br />

hatte, <strong>als</strong> Dichter bemüht, sich<br />

mit den Menschen in Deutschland zu<br />

solidarisieren und zu identifizieren. »An<br />

die Sieger« heißt ein Gedicht aus dem<br />

Band »Volk im Dunkel wandelnd« (1948):<br />

68<br />

»Ihr, die ihr Sieger seid, lasst mir das eine:<br />

Lasst mich beweinen meines Volkes<br />

Leid, Darin ich aller Welt Leid mit beweine<br />

– Lasst mir dies eine, die ihr Sieger<br />

seid!<br />

Ich bitt euch nicht, dass ihr uns sollt verzeihn.<br />

Nur eines bitt ich. Lasst mich darum<br />

bitten, – noch ist das ganze Leid<br />

nicht ausgelitten – Lasst mich verzweifelt<br />

sein und traurig sein.« 3<br />

Er suchte den Ton zu finden, den seine<br />

Landsleute, seine erhofften Leser verstehen<br />

konnten, suchte den Willen zur<br />

Umkehr und zur Abrechung mit der Vergangenheit<br />

zu wecken und zu stärken.<br />

Gerade von manchen Hitlergegnern ist<br />

dieser Versuch nicht immer verstanden<br />

worden, die Verführten und mitschuldig<br />

gewordenen Menschen, die<br />

Mehrheit der Deutschen anzusprechen.<br />

Manchen, die aus den Konzentrationslagern<br />

oder – wie Becher selbst – aus<br />

der Emigration zurückkamen, hielten<br />

es für wichtiger, sozialistische Überzeugungen<br />

– vor allem in der Arbeiterklasse<br />

– zu stärken. 4 Ihnen hielt der Dichter<br />

entgegen, dass proletarisches Klassenbewusstsein<br />

erst wieder erweckt und<br />

den Menschen aller Schichten wieder<br />

ein humanistischer Lebenssinn vermittelt<br />

werden müsse.<br />

Unter den Aktivisten der ersten Stunde,<br />

den Mitbegründern des Kulturbundes,<br />

waren Männer wie der bekannte Romancier<br />

Bernhard Kellermann. Er war<br />

in Deutschland geblieben und hatte sogar<br />

Bücher veröffentlichen können, obwohl<br />

er von den Nazis mit Misstrauen<br />

betrachtet wurde. 1945 griff er sofort in<br />

die Auseinandersetzungen mit der Naziideologie<br />

ein und unterstützte die Bemühungen<br />

um eine antifaschistischen<br />

und demokratischen Umgestaltung des<br />

gesellschaftlichen und intellektuellen<br />

Lebens. 5 Ihn beschäftigte das Problem,<br />

warum viele, besonders aus kleinbürgerlichen<br />

Kreisen stammende Menschen<br />

dem Einfluss des deutschen Faschismus<br />

erlegen waren. So schrieb er den<br />

Roman »Totentanz« (1948). 6 Es ging ihm<br />

darum – wie er im Vorwort schreibt –<br />

»die gefährliche militaristische Weltanschauung<br />

vor dem deutschen Volk anzuprangern«<br />

und »der erschreckenden<br />

Mentalität der herrschenden Klassen<br />

schonungslos die Maske vom Gesicht zu<br />

reißen«. Für einen bürgerlichen Autor ist<br />

das ein bemerkenswertes Programm. In<br />

dem Buch wird ein Rechtsanwalt geschildert,<br />

der sich anfangs nicht zu entscheiden<br />

weiß und schließlich zum Mitläufer<br />

der Nazis wird. Kellermann erzählt<br />

zügig und teils kolportagehaft, wie der<br />

Tod der beiden Söhne dieses Mannes<br />

im Kriege ihn allmählich zur Besinnung<br />

bringt. Doch seine Einsicht reicht nicht<br />

bis zum aktiven Widerstand. Er beginnt<br />

zwar zu ahnen, wer hinter dem deutschen<br />

Faschismus steht: die Herren<br />

der Industrie. Aber der Tanz um das<br />

goldene Kalb wird zum Totentanz. Der<br />

Held des Buches geht in den Freitod.<br />

Auch Hans Falladas Buch »Jeder stirbt<br />

für sich allein« (1947) 7 ist ein wichtiger<br />

Versuch der Auseinandersetzung mit<br />

den Nazi-Jahren. Fallada war in Deutschland<br />

geblieben und hatte sogar zeitweise<br />

mehr <strong>als</strong> problematische Zugeständnisse<br />

an die faschistischen Machthaber<br />

gemacht. Doch blieben seine Bücher<br />

in der Substanz realistische Schilderungen<br />

der zwanziger und dreißiger Jahre<br />

mit deutlich gesellschaftskritischen<br />

Zügen. Johannes R. Becher kannte die<br />

schriftstellerische Begabung Falladas<br />

und wusste, dass dieser Autor einen<br />

weiten Leserkreis erreichen konnte.<br />

Deshalb verschaffte er dem – schwerkranken<br />

und suchtabhängigen – Fallada<br />

Einsicht in Gestapo-Akten, in denen<br />

von einer individuellen Widerstandsaktion<br />

eines einfachen, unpolitischen Ehepaars<br />

gegen das Naziregime und seinen<br />

verbrecherischen Krieg berichtet wurde.<br />

Der Stoff faszinierte den Romanschreiber<br />

sehr und er schrieb in kurzer Zeit<br />

seinen Roman über den Widerstand des<br />

Ehepaars Quangel. Als beider Sohn in<br />

Frankreich gefallen ist, beginnt der völlig<br />

unpolitische Quangel ganz spontan<br />

hitlerfeindliche Postkarten zu schreiben,<br />

handgeschriebene Flugblätter <strong>als</strong>o. <strong>Die</strong><br />

Gestapo vermutet – zu Unrecht – eine<br />

Widerstandsorganisation, wo nur aus<br />

tiefem Schmerz um den Tod des Sohnes<br />

ein moralischer Protest und ein humanes<br />

Verantwortungsgefühl erwachsen sind.<br />

Ein drittes Buch schließlich wäre hier<br />

noch zu nennen, das in den ersten Nachkriegsjahren<br />

eine große Wirkung getan<br />

hat – Theodor Pliviers Roman »Stalingrad«<br />

(1945). 8 Das Buch ist noch im<br />

sowjetischen Exil geschrieben worden,<br />

sein Autor stand den Kommunisten nahe<br />

und war nach seiner Rückkehr nach<br />

Deutschland zunächst Vorsitzender des<br />

Kulturbundes in Thüringen. Er hat dann


ald die sowjetische Besatzungszone<br />

verlassen und in seinen später im Westen<br />

veröffentlichten Büchern dem antikomummunistischen<br />

Zeitgeist seinen<br />

Tribut gezollt. Der Roman »Stalingrad«<br />

war und bleibt ein literarisches Ereignis<br />

von großem Gewicht und einer lang andauernden<br />

Wirkungskraft. Hier wurde<br />

zwar kaum etwas über das geschichtliche<br />

Wesen des Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

gesagt, aber die intensive Darstellung<br />

der Tragödie von Stalingrad in einer Fülle<br />

von Einzelschicksalen hat das Buch<br />

zu einer der erregendsten Kriegsschilderungen<br />

gemacht, die nach dem zweiten<br />

Weltkrieg in Deutschland erschienen<br />

sind. Sicher: die Gestalten sind oft<br />

skizzenhaft dargestellt und der Autor<br />

verzichtet weitgehend auf eine Analyse<br />

gesellschaftlicher Zusammenhänge.<br />

Aber das Massenschicksal der im Kessel<br />

von Stalingrad sinnlos geopferten<br />

Armee und die Schilderung der individuellen<br />

Leiden lassen den Leser begreifen,<br />

dass Stalingrad die Wende des Krieges<br />

war. Für die Vernichtung militaristischer<br />

Denkweisen und die Kritik der faschistischen<br />

Verherrlichung des Krieges hat<br />

das Buch einen bemerkenswerten Beitrag<br />

geleistet. Der Untergang des faschistischen<br />

Okkupationsheeres wurde<br />

von den Lesern mit Recht <strong>als</strong> gleichnishaft<br />

für die Aussichtslosigkeit des nazistischen<br />

Kriegsabenteuers insgesamt<br />

empfunden.<br />

Wie breit die Palette der dam<strong>als</strong> in der<br />

sowjetischen Besatzungszone entstehenden<br />

Literatur war, die sich mit dem<br />

Faschismus auseinandersetzte, zeigt<br />

der Roman der katholischen Autorin Elisabeth<br />

Langgässer »Das unauslöschliche<br />

Siegel« (1946). 9 Der Titel bezieht<br />

sich auf das Sakrament der Taufe, das<br />

die Autorin zum Zentrum ihres Buches<br />

macht. Erzählt wird die Geschichte<br />

eines getauften Juden, der zu Beginn<br />

des ersten Weltkrieges nach Frankreich<br />

fährt und dort interniert wird. Er erkennt,<br />

dass seine Konversion nur oberflächlich<br />

war und schwört dem Glauben<br />

ab. Aber – so will es die Schreiberin –<br />

die Gnade Gottes bewirkt seine plötzliche<br />

Bekehrung. Er geht zurück nach<br />

Deutschland und wird dort – <strong>als</strong> Christ<br />

jüdischer Abstammung – während der<br />

Naziherrschaft ins Konzentrationslager<br />

verbracht. Nach der Befreiung schlägt<br />

er sich <strong>als</strong> ein armer Bettler durchs Land<br />

und folgt dem Weg der Roten Armee<br />

nach Westen. Für die Autorin ist er ein<br />

Symbol der Hoffnung auf Rettung aus<br />

der Katastrophe des Krieges und der<br />

Vernichtung: einer Rettung freilich, die<br />

nur aus dem Glauben kommen soll. Zur<br />

Analyse des Faschismus gibt das Buch<br />

wenig her. <strong>Die</strong> streitbare Katholikin mit<br />

jüdischen Vorfahren sieht die Ursache<br />

des Faschismus letztlich im Abfall der<br />

Menschen von der katholischen Kirche,<br />

in der Glaubensspaltung und der Aufklärungsbewegung<br />

des 18. Jahrhunderts,<br />

der die französische Revolution folgte.<br />

Sie meint, der Mensch könne nicht aktiv<br />

eingreifen in die Weltgeschichte, denn<br />

diese Weltgeschichte ist für sie eine<br />

Heilsgeschichte, bestimmt vom Kampf<br />

zwischen Gott und dem Satan. Dennoch<br />

wendet sich ihr Buch klar gegen<br />

den Nazifaschismus und enthält starke<br />

Momente einer religiös-moralischen Kritik<br />

des bürgerlichen Zeitalters.<br />

Der linkskatholische Publizist Walter<br />

Dirks hat 1948 in den »Frankfurter Heften«<br />

geschrieben, die Bücher von Elisabeth<br />

Langgässer, Theodor Plivier und dazu<br />

noch der Roman »Das siebte Kreuz«<br />

von Anna Seghers seien die repräsentativen<br />

Zeugnisse der Nachkriegsliteratur.<br />

10 Dass der westdeutsche Autor<br />

damit drei Bücher nennt, deren Autoren<br />

zunächst in der sowjetischen Besatzungszone<br />

lebten, bezeichnet die damalige<br />

Situation ebenso wie die Tatsache,<br />

dass zwei von ihnen eben zu dieser Zeit<br />

in den Westen übersiedelten. Dam<strong>als</strong><br />

wurde die deutsche Literatur noch <strong>als</strong><br />

eine Einheit betrachtet. <strong>Die</strong> in Berlin lebende<br />

Elisabeth Langgässer veröffentlichte<br />

ihren Roman in Hamburg – das<br />

galt zu jener Zeit <strong>als</strong> normal. Ihre Übersiedlung<br />

in ihre rheinhessische Heimat<br />

nach Rheinzabern vollzog sich 1948 sogar<br />

mit Unterstützung der sowjetischen<br />

Besatzungsorgane. Sie hat zeitweise im<br />

Kulturbund mitgearbeitet und Hörspiele<br />

für den Berliner Rundfunk geschrieben.<br />

Aber sie mochte sich nicht den gesellschaftlichen<br />

Umwälzungen in der Sowjetzone<br />

anbequemen.<br />

Während Elisabeth Langgässer in ihre<br />

katholische Heimat übersiedelte, kam<br />

Anna Seghers, die Dirks <strong>als</strong> eine wesentliche<br />

Autorin der Nachkriegszeit<br />

genannt hatte, nach Berlin. Sie war zu<br />

Beginn der Nazizeit nach Frankreich<br />

emigriert, musste 1940 vor der einmarschierenden<br />

Wehrmacht fliehen und<br />

fand in Mexiko ein Asyl. Nun war sie –<br />

wenn auch zögernd – aus dem Exil dorthin<br />

zurückgekehrt, wo sie <strong>als</strong> kommunistische<br />

Schriftstellerin ihren wichtigsten<br />

Wirkungskreis sah: in die sowjetischen<br />

Besatzungszone. In ihrem Gepäck lag<br />

das beinahe fertige Manuskript eines<br />

neuen Romans mit dem Titel »<strong>Die</strong> Toten<br />

bleiben jung« (1949). 11 Anders <strong>als</strong> »Das<br />

siebte Kreuz« umfasste dieser Roman<br />

ein großes historisches Panorama. <strong>Die</strong><br />

Erschießung eines Spartakisten im Jahr<br />

1919 steht am Anfang und die Handlung<br />

des Buches verfolgt in mehreren parallelen<br />

Fabeln die Schicksale von Menschen,<br />

die mit diesem Toten und seinem<br />

gewaltsamen Tod verbunden waren:<br />

die Schicksale seiner Mörder und die<br />

Schicksale seiner Freunde und Genossen<br />

– vor allem der Frau, die ihn geliebt<br />

und ihm ein Kind geboren hat.<br />

<strong>Die</strong> Handlung um den Mörder führt in<br />

die großkapitalistischen und Junker-<br />

Kreise, die den deutschen Faschismus<br />

vorbereiteten und schließlich an die<br />

Macht geschoben haben. Sie zeigt aber<br />

auch Menschen aus diesen Kreisen, die<br />

aus moralischer Verantwortung sich<br />

der Herrschaft Hitlers widersetzen. Auf<br />

der anderen Seite wird das Schicksal<br />

der »kleinen Leute«, von sozialistischen<br />

und von unpolitischen Proletariern dargestellt.<br />

Spontane Solidarität und Klassenverbundenheit<br />

zeigt sich ebenso wie<br />

die unselige Spaltung der Arbeiterbewegung<br />

– immer in individuellen Handlungen<br />

und Reaktionen, im alltäglichen<br />

Leben der Leute. Anna Seghers zeigt,<br />

dass der Faschismus viele, ja die meisten<br />

Menschen verführen und korrumpieren,<br />

aber nicht den Widerstandswillen und<br />

die Kampfbereitschaft der besten Vertreter<br />

der Arbeiterbewegung ersticken<br />

konnte. Sie stellt dar, woher sich – trotz<br />

Niederlage und Terror – der Widerstand<br />

immer wieder rekrutierte. Der Sohn des<br />

toten Spartakisten wird am Schluss des<br />

Buches wiederum erschossen – er ist<br />

ein Widerstandskämpfer geworden und<br />

wie sein Vater bezahlt er mit dem Leben:<br />

<strong>Die</strong> Toten bleiben jung. Doch <strong>als</strong> Symbol<br />

der Hoffnung steht auch diesmal ein ungeborenes<br />

Kind.<br />

Ebenso wichtig an diesem Buch von<br />

Anna Seghers scheint mir die Art und<br />

Weise zu sein, wie die Verbindungen<br />

zwischen Monopolkapital und preußisch-deutschem<br />

Militarismus erzählerisch<br />

bloßgelegt werden. Das geschieht<br />

nicht <strong>als</strong> soziologische Lehre, sondern<br />

ganz und gar innerhalb persönlicher Beziehungen<br />

und sozialer Prozesse, in die<br />

die handelnden Figuren eingebunden<br />

sind. Ob das sozialistisch-kommunistischen<br />

Milieu, einflussreiche Industriellenfamilien<br />

oder die Militärkaste Gegenstand<br />

der epischen Erzählung sind,<br />

immer gelingt es der Autorin, die soziale<br />

Mentalität und die persönlichen Erfahrungen<br />

der Protagonisten genau darzustellen,<br />

aus denen faschistische oder<br />

antifaschistische Haltungen erwachsen.<br />

Antifaschistische Thematik, wie ich sie<br />

hier verstehe, umfasst den unmittelbaren<br />

Bezug der Bücher auf die – wie Johannes<br />

R. Becher einmal formulierte –<br />

69


»politisch-moralische Vernichtung des<br />

Faschismus«. 12 Schon im Exil in Mexiko<br />

hatte Anna Seghers geschrieben – es<br />

war 1942 –, die Macht des Faschismus<br />

vermöge nicht nur Länder zu besetzen<br />

und Völker zu unterdrücken, sondern<br />

auch ganze Strecken geistigen Besitzes<br />

zu verwüsten, »alte, teuere Begriffe zu<br />

verfälschen«. Es gebe eine Anzahl von<br />

Worten, die viele Menschen nicht mehr<br />

ohne Ekel anhören können – wie beispielsweise:<br />

Vaterland, Heimaterde,<br />

Volk. Der antifaschistische Schriftsteller<br />

müsse solche Verfälschungen aufbrechen<br />

und die Konflikte bewusst machen,<br />

die sich dahinter verbergen. Er<br />

müsse die wichtigsten Vorgänge innerhalb<br />

eines Volkes sichtbar werden lassen,<br />

die zum Austragen dieser Konflikte<br />

führen. Und schließlich müsse er sich<br />

mit jener Schicht seines Volkes identifizieren,<br />

»die die progressive Geschichte,<br />

die Freiheit seines Volkes sichert«. 13<br />

Im Jahr 1944 fragte Anna Seghers,<br />

welche Rolle die Kunst in naher Zukunft<br />

haben werde, wenn der Kampf<br />

mit den Waffen entschieden sein wird,<br />

aber »der Kampf von Verstand zu Verstand,<br />

von Geist zu Geist noch lange<br />

andauern wird, ein erbitterter Kampf<br />

zwischen Weltanschauungsfronten«.<br />

Ihre Antwort ist, der Künstler von heute<br />

müsse »die Angriffspunkte ersinnen,<br />

von denen aus er die Mentalität der faschistischen<br />

Jugend von ungeheurem<br />

Wahn, von lügenhaften Vorstellungen,<br />

von totenstarrhafter Verkrampftheit in<br />

Herrschsucht und mechanischem Gehorsam<br />

befreien kann«. Er – der Künstler<br />

– dürfe sich nie scheuen, die Angriffspunkte<br />

zu benutzen, auf denen<br />

Karl Marx in seiner Zeit bestanden hat:<br />

die Erniedrigung, in die Deutschland<br />

gefallen ist, noch furchtbarer machen<br />

durch das Bewusstsein der Erniedrigung,<br />

durch das rücksichtslose Aufzeigen<br />

aller Folgen, aller Kennzeichen der<br />

politischen Ohnmacht, die nicht nur das<br />

Dasein der Nation, die das Dasein jedes<br />

einzelnen in der Nation brandmarken, in<br />

zahllosen, oft nur unbewussten Einwirkungen«.<br />

Vor allem aber müsse der antifaschistische<br />

Künstler die Begriffe von<br />

drei Werten in der deutschen Jugend neu<br />

erwecken: Das »Individuum, das Volk,<br />

die Menschheit« 14 . Antifaschismus wird<br />

hier von Anna Seghers nicht <strong>als</strong> eine Haltung<br />

bestimmt, die nur <strong>als</strong> ein »Gegen«,<br />

nur vom Negativen her definiert werden<br />

kann. <strong>Die</strong>ser Begriff ziele vielmehr<br />

auf eine demokratische Erneuerung. In<br />

diesem Sinne – möchte ich verallgemeinern<br />

– ist die antifaschistische Thematik<br />

für die Literatur in der DDR ein konstitutives<br />

Moment ersten Ranges geworden.<br />

70<br />

<strong>Die</strong> Wendung an die Jugend ist deshalb<br />

ein charakteristischer Zug in der Literatur<br />

der Nachkriegszeit. Friedrich Wolf<br />

gibt seinem 1947 in Berlin geschriebenen<br />

Stück »Wie Tiere des Waldes«<br />

den Untertitel »Ein Schauspiel von Hetzjagd,<br />

Liebe und Tod einer Jugend«. 15 Das<br />

Stück spielt im April 1945 in der Nähe<br />

von Berlin und beruht auf einer tatsächlichen<br />

Begebenheit. Ein junger Soldat<br />

ist in den letzten Kriegstagen desertiert<br />

und versucht, mit seiner Freundin<br />

zu entkommen. <strong>Die</strong> beiden wollen ihre<br />

Liebe verteidigen und ihr Leben retten.<br />

Doch sie geraten in die Maschinerie des<br />

Amok laufenden Nazisystems: sie werden<br />

gehetzt und in die Enge getrieben.<br />

Das Mädchen wird getötet, der junge<br />

Soldat gefangen. Wolf will nicht stehen<br />

bleiben bei der bloßen Darstellung der<br />

Unmenschlichkeit und Brutalität des<br />

Naziregimes, bei der Bedenkenlosigkeit<br />

der Henker und ihrer Helfershelfer. Als<br />

kämpferischer Antifaschist zeigt er, wie<br />

die Großmutter des Jungen zusammen<br />

mit anderen um das Leben des Neunzehnjährigen<br />

kämpft und schließlich Erfolg<br />

hat. <strong>Die</strong> humane Tat soll den Weg<br />

eröffnen in eine Zukunft, die Wolf mit<br />

voller Absicht noch unbestimmt lässt.<br />

<strong>Die</strong> Ratlosigkeit, die er dem geretteten<br />

Soldaten zuschreibt, soll gerade junge<br />

Zuschauer zu einer Identifizierung veranlassen<br />

– denn er will vor allem Resignation<br />

und Hoffnungslosigkeit überwinden<br />

helfen. Das Zeitstück betont die<br />

humane, die moralische Entscheidung,<br />

um diese Zuschauer an die kommende<br />

politische Entscheidung heranzuführen.<br />

Sehr erfolgreich war er freilich damit<br />

nicht.<br />

Für viele Autoren, die aus dem Exil in<br />

ihre Heimat zurückkamen, war es nicht<br />

leicht, Mentalität und Gedankenwelt<br />

der Deutschen während und unmittelbar<br />

nach der faschistischen Herrschaft<br />

zu verstehen und zu gestalten. Doch<br />

sie verstanden rasch, dass in der moralischen<br />

Entscheidung der Leute zur<br />

Ehrlichkeit gegen sich selbst, in der<br />

Entscheidung zur Einsicht in ihre Mitverantwortung<br />

für faschistische Verbrechen<br />

oder gar die Mitschuld an ihnen<br />

eine wesentliche Voraussetzung lag,<br />

mit der faschistischen Vergangenheit<br />

zu brechen und einen neuen Anfang zu<br />

finden.<br />

Willi Bredels Erzählung »Das schweigende<br />

Dorf« (1948) 16 behandelt eben<br />

diese Frage. Berichtet wird von den<br />

Bewohnern eines mecklenburgischen<br />

Dorfes, die kurz vor Kriegsende den<br />

SS-Mördern geholfen haben, sechzig<br />

entflohene KZ-Häftlinge zu fangen und<br />

zu ermorden. <strong>Die</strong> Bauern vereinbarten,<br />

Schweigen darüber zu bewahren.<br />

Nur ein Mädchen hat eines der Häftlingskinder<br />

gerettet, und durch sie erfährt<br />

ein junger Heimkehrer aus dem<br />

Kriegsgefangenenlager den Vorfall.<br />

Der – fiktive – Bericht zeigt exemplarisch,<br />

dass eben dieses Schweigen, die<br />

Weigerung, das Verbrechen öffentlich<br />

zu bekennen, das schweigende Dorf<br />

hindert, das nötige Umdenken, die notwendige<br />

Umgestaltung ihres Lebens zu<br />

vollziehen. Denn die Gemeinsamkeit<br />

des Schweigens bedeutet, die Schuldigen<br />

zu decken und eine Selbstabrechnung<br />

zu verweigern. Wie die Leute<br />

dieses Dorfes dazu finden sollen, mit<br />

ihrer Vergangenheit abzurechnen, weiß<br />

Bredel nicht. Seine Erzählung ist ein<br />

Gleichnis für gesamtgesellschaftliche<br />

Vorgänge und zeigt die Schwierigkeit,<br />

denen Antifaschisten zu begegnen hatten.<br />

Er zeigt auch, wie isoliert sie sich<br />

oft fühlen mochten gegenüber den vielen<br />

Menschen, welche die eigene Vergangenheit<br />

zu verdrängen, aber nicht zu<br />

bewältigen wussten.<br />

Das damit verbundene Problem für die<br />

Schriftsteller hat Anna Seghers auf dem<br />

zweiten deutschen Schriftstellerkongress<br />

1950 unmissverständlich formuliert.<br />

Sie zitiert eine Zeitung, in der zu<br />

lesen war, viele der Aktivisten des Zweijahrplans<br />

seien zwar früher Nazis gewesen,<br />

aber auf Grund ihres Elans, ihrer Arbeitsmoral,<br />

zu einer großen moralischen<br />

Kraft gekommen. Anna Seghers stimmt<br />

dem zwar völlig zu, betont jedoch zugleich,<br />

das sei nur eine Seite der Sache.<br />

Denn ein Schriftsteller könne unmöglich<br />

die Arbeit der Aktivisten, die grandiose<br />

Aufbauarbeit schildern, ohne zu wissen,<br />

dass er <strong>als</strong> Schreiber »nicht abbrechen<br />

(darf) mit der Vergangenheit«, das heißt<br />

nicht ignorieren darf, was die Menschen<br />

ringsum während der Nazijahre gedacht<br />

und getan haben. Ein antifaschistischer<br />

Schriftsteller – mahnt sie – könne nicht<br />

auslassen, was sein Herz bewegt. Er<br />

könne doch nicht seine Angehörigen<br />

vergessen, die unter dem Faschismus<br />

ermordet wurden, und sich der Aufbauarbeit<br />

zuwenden, <strong>als</strong> sei nichts geschehen.<br />

Der großartige Aufbau, die Verwirklichung<br />

des Fünfjahrplans vollziehe sich<br />

nicht nach denselben Gesetzen und mit<br />

demselben Tempo im Innern eines Menschen.<br />

Ein Schriftsteller müsse das wissen,<br />

sonst laufe er Gefahr, dass es ihm<br />

geht wie einem Arzt, der eine Krankheit<br />

geheilt glaubt, während sie sich in Wahrheit<br />

nur in tiefere Schichten des Körpers<br />

hinein verzogen hat. 17


<strong>Die</strong> Folgerungen aus dieser Einsicht hat<br />

Anna Seghers auch <strong>als</strong> Autorin gezogen,<br />

indem sie die Erzählung »Der Mann und<br />

sein Name« (1952) 18 schrieb. Das war<br />

ein neuartiger Zugriff zum antifaschistischen<br />

Thema. Sie erzählt die Geschichte<br />

einer Wandlung, aber in einer<br />

außergewöhnlichen Zuspitzung. Ihr Held<br />

ist ein ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS,<br />

der sich nach dem Krieg den Namen<br />

eines Widerstandskämpfers zulegt,<br />

um sich zu tarnen. Alte Faschisten helfen<br />

ihm dabei, wollen ihn zu ihrem Werkzeug<br />

machen. Der junge Mann, der sich<br />

zunächst verstellt und heuchelt, ein Antifaschist<br />

zu sein, gerät immer mehr<br />

in Widerspruch zu sich selbst und seinen<br />

alten Freunden. <strong>Die</strong> Arbeit für die<br />

neue Ordnung, das Zusammensein mit<br />

Genossen der Sozialistischen Einheitspartei,<br />

die neuen menschlichen Beziehungen<br />

und das Gefühl, gebraucht zu<br />

werden und wiedergutmachen zu können,<br />

verursachen eine tief greifende<br />

Wandlung. Er wendet sich nun gegen<br />

die Feinde der neuen Ordnung, gerät damit<br />

jedoch in einen neuen Widerspruch.<br />

Seiner gewandelten Überzeugung nach<br />

muss er bekennen, unter f<strong>als</strong>chem Namen<br />

zu leben, aber sein Bekenntnis bedeutet<br />

zugleich, das er ausgeschlossen<br />

wird aus dem Kreis, in den er hineingewachsen<br />

und in dem er wirksam geworden<br />

ist. Er entschließt sich zur Ehrlichkeit,<br />

in der Hoffnung, seine Schuld<br />

sühnen zu können.<br />

<strong>Die</strong> Geschichte erzählt – ganz im Sinne<br />

der dam<strong>als</strong> unter aufgeschlossenen<br />

Leuten gängigen Vorstellungen – von<br />

einem neuen Charakter der Arbeit und<br />

von neuen Beziehungen unter den Menschen.<br />

Aber sie erzählt auch von den<br />

zerreißenden Widersprüchen, die dennoch<br />

wirksam sind – und das ist der<br />

realistischere Teil des Ganzen. Gewiss<br />

hat Anna Seghers mit dieser Geschichte<br />

und der darin vorgetragenen Sicht<br />

auf die Gegenwart dazu beigetragen,<br />

dass nun eine neue Schriftstellergeneration<br />

sich selbst und ihre Erfahrungen<br />

im Krieg und im Nachkrieg zu artikulieren<br />

wagte. Wie ein Engagement für<br />

die – wie der offizielle Terminus lautete<br />

– antifaschistisch-demokratische<br />

Ordnung beitragen konnte, die eigene<br />

Vergangenheit zu bewältigen, das war<br />

für viele der jungen Autoren der fünfziger<br />

Jahre ein lebenswichtiges Thema:<br />

das Thema der Abrechnung mit der eigenen<br />

Jugend unter dem Faschismus<br />

und der Wandlung zu einer neuen Haltung<br />

und Weltanschauung. Eines der<br />

bemerkenswertesten Bücher der beginnenden<br />

fünfziger Jahre nennt Anna<br />

Seghers in ihrer Rede auf dem sowjetischen<br />

Schriftstellerkongress. Bisher –<br />

sagte sie da – sei von den Autoren der<br />

DDR noch kein bedeutendes Buch über<br />

den Krieg geschrieben worden. Aber<br />

mehrere junge Schriftsteller hätten begonnen,<br />

ihre Kriegserlebnisse zu verarbeiten.<br />

So habe Franz Fühmann in seiner<br />

Dichtung »<strong>Die</strong> Fahrt nach Stalingrad«<br />

(1953) »entscheidende Punkte herausgebracht<br />

in dem Prozess seiner eigenen<br />

Veränderung. Er schildert drei Fahrten<br />

nach Stalingrad in Gedichtform: <strong>als</strong> Soldat,<br />

<strong>als</strong> Gefangener und <strong>als</strong> Gast« 19 .<br />

Fühmanns Poem ist nach einer Delegationsreise<br />

deutscher Schriftsteller<br />

geschrieben worden, die ihn im Mai<br />

1953 in die Sowjetunion führte. <strong>Die</strong>se<br />

dritte Begegnung mit der Stadt Stalingrad<br />

wird für den Dichter Anlass der<br />

Selbstabrechnung – und der Selbstverständigung<br />

über die Wandlung, die er<br />

durchlaufen hat. Es ist ein autobiographisches<br />

Poem und ein Weltanschauungspoem,<br />

mit großer Ehrlichkeit geschrieben<br />

und mit großer Strenge. »O<br />

Wunder/dieser Gefangenschaft!« –<br />

heißt es darin. »<strong>Die</strong> uns einst Feinde<br />

hießen,/erkennen wir <strong>als</strong> unsere wahren<br />

Freunde;…«. Deutschland-Pathos<br />

bestimmt das Gedicht, wie es der Programmatik<br />

dieser beginnenden fünfziger<br />

Jahre entsprach: ein einheitliches,<br />

demokratisches Deutschland<br />

ohne Kriegstreiber und Monopolisten<br />

zu schaffen. Weniger polemisch formuliert<br />

bedeutet das: ein neutralisiertes<br />

Land, das sozialen Umgestaltungen<br />

aufgeschlossen gegenüber steht. <strong>Die</strong>se<br />

Hoffnung ging 1955 mit den Pariser<br />

Verträgen und der Remilitarisierung der<br />

Bundesrepublik zu Ende. Ein Grundton<br />

des Poems aber, der schon Fühmanns<br />

frühes Werk bestimmt, ist die Wendung<br />

gegen das Vergessen: »Nein, wir dürfen<br />

nicht vergessen,/bis an das Ende unseres<br />

Lebens nicht; und unsere Kinder,/sie<br />

sollen immer wissen, was geschah<br />

…«. 20<br />

Hatte Anna Seghers 1954 noch festgestellt,<br />

es gebe noch kein episches Werk,<br />

das den Romanen vergleichbar wäre, die<br />

nach dem ersten Weltkrieg in Deutschland<br />

geschrieben wurden – von Ludwig<br />

Renn bis Arnold Zweig -, so war es<br />

wiederum Fühmann, der 1955 mit seiner<br />

Novelle »Kameraden« 21 den Durchbruch<br />

zu einer neuen Fragestellung<br />

erreichte. <strong>Die</strong> Handlung spielt am Vorabend<br />

des Überfalls auf die Sowjetunion.<br />

Drei deutsche Soldaten erschießen unbeabsichtigt<br />

die Tochter eines Offiziers.<br />

Sie beschließen zu schweigen und glauben<br />

sich mit den faschistischen Leitbegriffen<br />

wie Kameradschaft und Treue<br />

vor sich selbst rechtfertigen zu können.<br />

Nach dem Beginn des Krieges gegen die<br />

Sowjetunion veranlasst ein Naziführer,<br />

der Vater eines der drei Soldaten, dass<br />

der Tod des Mädchens sowjetischen<br />

Soldaten angelastet wird und – <strong>als</strong> angebliche<br />

»Vergeltung« – zwei russische<br />

Mädchen erhängt werden. Tief erschüttert<br />

bricht einer der drei Kameraden<br />

jetzt das Schweigen – und wird selber<br />

erschossen. Sein Gewissen ließ ihm keine<br />

andere Wahl.<br />

<strong>Die</strong> Novelle ist in strenger und klarer Prosa<br />

geschrieben, sie eröffnet eine Reihe<br />

epischer Versuche Fühmanns, das Thema<br />

des tragischen Widerspruchs vieler<br />

junger Soldaten zu gestalten, die beeindruckt<br />

von faschistischer Ideologie,<br />

sich dennoch »anständig« zu verhalten<br />

versuchen – und angesichts der Realität<br />

des faschistischen Weltanschaungs-<br />

und Vernichtungskrieges scheitern<br />

müssen. Ein Band »Stürzende Schatten«<br />

(1959) 22 ist hier ebenso zu nennen<br />

wie die gesammelten Erzählungen unter<br />

dem Titel »König Ödipus« (1966). 23 <strong>Die</strong>ser<br />

Band enthält neben der eindrucksvollen<br />

Titelgeschichte aus dem besetzten<br />

Griechenland mit dem aktualisierten<br />

Ödipus-Motiv auch die Erzählung »Barlach<br />

in Güstrow«, eine eindringliche<br />

Auseinandersetzung mit der beklemmenden<br />

Situation des großen Bildhauers<br />

in Nazideutschland. Und in der Erzählung<br />

»Böhmen am Meer« (1963)<br />

verschränkt der Autor kunstvoll die Geschichte<br />

einer böhmischen Umsiedlerin,<br />

die in ihrer neuen Heimat Fuß fasst, mit<br />

dem Erleben des Erzählers, welcher in<br />

Westberlin gleichzeitig den Forderungen<br />

ewiggestriger Revanchisten konfrontiert<br />

wird, die die Korrektur der Nachkriegsgrenzen<br />

fordern.<br />

Mit unerbittlicher Konsequenz ist Fühmann<br />

den Problemen der Wandlung<br />

nachgegangen. In dem Band »Das Judenauto«<br />

(1962) 24 sucht er in vierzehn<br />

Episoden die Etappen seiner eigenen<br />

Entwicklung nachzuzeichnen. Welcher<br />

Mechanismus ihn <strong>als</strong> Kind im Sudetenland<br />

an ein dämonisch-gefährliches<br />

»Judenauto« glauben ließ und antisemitische,<br />

rassistische Gefühle weckte;<br />

wie er <strong>als</strong> Sohn einer kleinbürgerlichen<br />

Familie zum Antikommunisten und<br />

SA-Mann gemacht wird und sich einspannen<br />

lässt in die Zerschlagung des<br />

tschechoslowakischen Staates – alles<br />

das wird erzählt und fortgeführt bis zur<br />

Entscheidung für ein Leben in der DDR.<br />

71


Schärfer wird der Blick in den »Studien<br />

zur bürgerlichen Gesellschaft«, die<br />

unter dem Titel »Der Jongleur im Kino«<br />

(1970) 25 erschienen sind. <strong>Die</strong>se<br />

vier Erzählungen handeln von Erfahrungen<br />

des Kindes mit der Erwachsenenwelt<br />

der dreißiger Jahre, mit der<br />

bürgerlichen Lebensweise. Dargestellt<br />

wird, wie die Zwänge des Besitzdenkens<br />

und der sozialen Abhängigkeit<br />

den Menschen deformieren, wie sie<br />

zu verkehrten Bildern von der Wirklichkeit<br />

und zu antihumanen Haltungen und<br />

Handlungen führen. Am Schluss steht –<br />

<strong>als</strong> böser Triumph des Kindes über die<br />

Erwachsenen – das wie eine Monstranz<br />

erhobene Hitler-Bild. Mit ihm ist<br />

die Drohung verbunden, alle zu vernichten,<br />

die den »Führer« nicht lieben wollen.<br />

<strong>Die</strong> Lust zu verletzen, andern wehe<br />

zu tun, sie einzuschüchtern und zu beherrschen,<br />

erweist sich <strong>als</strong> eine – sozial<br />

begründete – emotionale Grundlage<br />

faschistischer Denkweise und Haltung.<br />

Fühmann legt Wert darauf, dass diese<br />

Haltung durch eine politische Entscheidung<br />

nicht spurlos verschwindet.<br />

<strong>Die</strong>ses Durcharbeiten individueller<br />

und kollektiver Erfahrungen – vertieft<br />

durch Studien der Mythen <strong>als</strong> »Modelle<br />

von Menschheitserfahrung« 26 – führt<br />

Fühmann schließlich zu einer grundlegenden<br />

Neubewertung seines bisher<br />

zentralen Themas: der Wandlung vom<br />

bürgerlichen zum sozialistisch engagierten<br />

Menschen. In »Zweiundzwanzig Tage<br />

oder die Hälfte des Lebens«(1973)<br />

wird das Tagebuch einer Reise nach Ungarn<br />

zum Ausgangspunkt einer philosophish-weltanschaulichenSelbstbesinnung<br />

großen Stils. Sie umfasst eine<br />

neue Vorstellung von Dichtung, in der<br />

Mythologeme, Verallgemeinerungen von<br />

Menschheiterfahrungen, <strong>als</strong> Grundstoff<br />

und Urmuster erscheinen. Aufgabe des<br />

Chronisten sei nicht, etwas zu ändern,<br />

heißt es bei Fühmann, sondern Merkwürdiges<br />

festzuhalten. <strong>Die</strong> Funktion des<br />

Dichters ist aus solcher Sicht: jenes<br />

Stückchen Literatur zu schaffen, das nur<br />

er und kein anderer schreiben kann. Das<br />

bedeutet nicht mehr und nicht weniger<br />

<strong>als</strong> eine Distanzierung von kulturpolitischen<br />

Forderungen an die Literatur,<br />

wie sie in der DDR jener Jahre gängig<br />

waren. Zugleich reflektiert Fühmann<br />

seine vergeblichen Versuche, das, was<br />

man Wandlung nennt, (92) überzeugend<br />

zu beschreiben. Damit gelangt er zu der<br />

Frage, worin denn die typischen Züge<br />

faschistischen Handelns und Denkens<br />

bestanden haben (94), und er kommt<br />

schließlich zu der erschreckenden Einsicht:<br />

»Gesetzt, du wärest nach Ausch-<br />

72<br />

witz kommandiert worden, was hättest<br />

du dort getan? … Du hättest in Auschwitz<br />

vor der Gaskammer genau so funktioniert,<br />

wie du in Charkow oder Athen<br />

hinter deinem Fernschreiber funktioniert<br />

hast«. 27<br />

Fühmann nimmt Abschied von der romantischen<br />

Auffassung von einem geistig-moralisch<br />

souveränen Individuum.<br />

Mit einer solchen Vorstellung – meint<br />

er nun – seien die Bewegungen dieses<br />

Jahrhunderts nicht mehr fassbar: »Nicht<br />

das ist der Faschismus: dass irgendwo<br />

ein Rauch nach Menschenfleisch riecht,<br />

sondern dass die Vergaser auswechselbar<br />

sind«. 28 Und so formuliert er eine<br />

wichtige Einsicht von grundsätzlichem<br />

Gewicht: »Ich bin gleich Tausenden anderen<br />

meiner Generation zum Sozialismus<br />

nicht über den proletarischen Klassenkampf<br />

oder von der marxistischen<br />

Theorie her, ich bin über Auschwitz in<br />

die andere Gesellschaftsordnung gekommen.<br />

Das unterscheidet meine Generation<br />

von denen vor ihr und nach ihr,<br />

und eben dieser Unterschied bedingt<br />

unsere Aufgaben in der Literatur.« 29<br />

Natürlich ist das nicht ohne weiteres<br />

verallgemeinerbar, die Formulierung<br />

Fühmanns ist eine poetologische Prinzipienerklärung,<br />

welche zuerst und vor<br />

allem ihn selber und sein Schaffen erfasst.<br />

Aber er spricht damit doch auch<br />

eine Tendenz aus, die nicht auf den ein<br />

oder anderen Schreiber begrenzbar ist.<br />

<strong>Die</strong> Durcharbeitung von Faschismuserfahrungen<br />

im antifaschistischen Thema<br />

vollzieht sich in der Literatur der DDR<br />

in charakteristischen Etappen. In den<br />

sechziger Jahren herrschte das Bemühen<br />

vor, der Forderung Anna Seghers<br />

gerecht zu werden: epische Darstellungen<br />

des zweiten Weltkrieges zu geben.<br />

<strong>Die</strong>ter Nolls Roman »<strong>Die</strong> Abenteuer<br />

des Werner Holt« 30 ist 1960 erschienen.<br />

Das Buch ist viel gelesen worden,<br />

vor allem von den jungen Menschen, die<br />

den Krieg noch hautnah erlebt hatten.<br />

Es war aber auch jenseits der Grenzen<br />

der DDR erfolgreich, weil der Autor die<br />

Mentaltität junger Hitlersoldaten in ihrer<br />

Differenziertheit begreiflich machte und<br />

zeigte, wie der Mechanismus ihrer Integration<br />

in den Raubkrieg Hitlers funktionierte.<br />

Dabei wollte er freilich nicht<br />

stehen bleiben. Er ging vielmehr darauf<br />

aus, es nicht bei der Entscheidung seines<br />

Helden gegen den Krieg und gegen<br />

den Faschismus zu belassen, sondern<br />

in anschließenden Bänden eine – nicht<br />

weniger komplizierte und umwegige –<br />

Entscheidung seines Helden für den<br />

Sozialismus herbeizuführen. An dieser<br />

künstlerischen Zielstellung scheiterte<br />

Noll freilich, wie ich meine vor allem<br />

deshalb, weil eine solche Sicht auf das<br />

Thema wenig Spielraum ließ. Sie drängt,<br />

bei allen möglichen Komplikationen, auf<br />

eine zweite Entscheidung, deren Endpunkt<br />

und Ergebnis letztlich politisch<br />

vorgegeben und vom Leser leider allzu<br />

folgerichtig abzusehen war. Das verleiht<br />

der Fortsetzung der Erzählung – selbst<br />

bei beträchtlicher Realitätshaltigkeit im<br />

einzelnen – einen unbefriedigenden,<br />

einen ermüdenden Charakter. 31 Eine<br />

solche – zum mehrbändigen Entwicklungsroman<br />

tendierende – Strukturierung<br />

ist für eine ganze Reihe von Versuchen<br />

bezeichnend, von der individuellen<br />

Auseinandersetzung mit dem Kriegserlebnis<br />

zu einer <strong>als</strong> epochentypisch<br />

aufgefassten Wandlung und Persönlichkeitsentwicklung<br />

eines jungen Helden<br />

zu kommen. Dessen Entscheidung gegen<br />

den Krieg soll sich in der Entscheidung<br />

für ein sozialistisches Engagement<br />

bewähren.<br />

Auch Max Walter Schulz’ Roman »Wir<br />

sind nicht Staub im Wind« (1962) 32 ist<br />

nach einem solchen Muster aufgebaut.<br />

Anders <strong>als</strong> bei Noll wird hier freilich der<br />

Versuch gemacht, die Desillusionierung<br />

der Zentralfigur Rudolf Hagedorn in der<br />

faschistischen Armee <strong>als</strong> eine Auseinandersetzung<br />

mit der Wehrlosigkeit eines<br />

Bildungshumanismus zu geben, der an<br />

Traditionen der machtgeschützten Innerlichkeit<br />

deutscher Art orientiert ist.<br />

Thomas Mann hat Pate gestanden bei<br />

diesem bildungsbewussten Buch, das<br />

klassisches Erbe und klassisches Denken<br />

in die aktuelle Auseinandersetzung<br />

des Helden einbezieht. <strong>Die</strong> Lehre<br />

des Buches läuft darauf hinaus, die Beschränkung<br />

auf eine kontemplative Verehrung<br />

und Verinnerlichung klassischer<br />

Bildungsideale reiche nicht aus, um sich<br />

der Anziehung und der Bedrohung entziehen<br />

zu können, die der Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

für die junge Intelligenz zweifellos<br />

besaß. Auch dieser ursprünglich<br />

auf mehrere Bände geplante Roman ist<br />

nicht zu Ende geführt worden. Aber mit<br />

der Novelle »Der Soldat und die Frau«<br />

(1978) 33 erzählt Schulz die Geschichte<br />

eines deutschen Soldaten, der <strong>als</strong><br />

Kriegsgefangener sowjetischen Menschen<br />

begegnet, russischen Frauen,<br />

deren Hass sich in Vertrautheit und<br />

schließlich elementare menschliche<br />

Gemeinschaft verwandelt. Der kleine<br />

Mann, der den Krieg der Herren führte,<br />

obwohl er weder die Herren noch den<br />

Krieg gewollt hat, erfährt in dieser legendenhaften<br />

Erzählung Solidarität, Liebe,<br />

Gemeinsamkeit und gewinnt ein bisher<br />

nie gekanntes Selbstbewusstsein.


Zu nennen ist hier auch der Roman<br />

»Der Hohlweg« von Günter de Bruyn<br />

(1963). 34 Der Autor hat sich später – im<br />

Jahr 1974 – in einem Essay mit dem ironischen<br />

Titel »Der Holzweg« recht kritisch<br />

mit seinem Erstling auseinandergesetzt.<br />

Vorgeschwebt habe ihm, den<br />

Bewusstseinszustand junger Menschen<br />

zu zeigen, die noch wenig Gelegenheit<br />

hatten, schuldig zu werden und das Ende<br />

des Krieges <strong>als</strong> einen geistigen Zustand<br />

der Schwerelosigkeit, der Leere,<br />

der Offenheit, der Herrschafts- und<br />

Verantwortungslosigkeit erlebten: <strong>als</strong><br />

das »Glück der Anarchie«. <strong>Die</strong> Erinnerung<br />

an diesen selbst erlebten Zustand<br />

sei für ihn eine Art »Mythos vom verlorenen<br />

Paradies« geworden. <strong>Die</strong>se besondere<br />

Art der Befreiung, des Sich-<br />

Losmachens vom Faschismus aber sei<br />

im Roman nicht mehr zu erkennen. Dort<br />

werde statt des Gefühls, endlich Herr<br />

seiner selbst zu sein, allein, groß und<br />

frei, ein Gefühl der Verzweiflung und eine<br />

Haltung des Suchens beschrieben:<br />

»<strong>Die</strong> Erkenntnis, dass es kein geistiges<br />

Vakuum gibt, verführte dazu, auch das<br />

Gefühl davon zu leugnen«. 35 So – meint<br />

der Autor – sei das Buch zum Klischee<br />

geworden und er habe sein Thema verfehlt.<br />

Eine solche Kritik f<strong>als</strong>cher Geradlinigkeit<br />

der Entwicklung korrespondiert<br />

mit Fühmanns Überlegungen und weist<br />

damit auf die literarische Neuansätze<br />

der siebziger Jahre.<br />

Im Jahr 1948 hatte Walter Ulbricht die<br />

SED-Schriftsteller gemahnt, sie seien<br />

zurückgeblieben hinter der Gegenwart<br />

und hielten sich mit Emigrationsliteratur,<br />

KZ-Literatur oder gar mit dem ersten<br />

Weltkrieg auf, statt die Bodenreform<br />

zu gestalten. 36<br />

Der in diesem Fall sehr kurzsichtige Politiker<br />

ahnte nicht, dass ein Jahrzehnt<br />

später gerade ein Roman über die Befreiung<br />

von Buchenwald zu einen der<br />

größten Bucherfolge der DDR in der<br />

Welt werden würde: Bruno Apitz’ Roman<br />

»Nackt unter Wölfen« (1958). 37<br />

Das ist ein Roman über das Konzentrationslager<br />

Buchenwald, kein Tatsachenbericht.<br />

Neu und fesselnd war an dem<br />

Buch, dass nicht nur Leiden und Aufbegehren<br />

der Häftlinge dargestellt, sondern<br />

<strong>als</strong> Kern der Fabel die Geschichte<br />

von der Rettung eines Kindes erzählt<br />

wurde. Das war ein Hoheslied der<br />

Menschlichkeit, gerade deshalb, weil<br />

schroff ein Konflikt herausgearbeitet<br />

wurde, in dem politische Zweckmäßigkeit<br />

gegen humane Verpflichtung stand:<br />

Sollte die bewaffnete Widerstandsorganisation<br />

der Häftlinge gefährdet werden<br />

um eines Kindes will? Durfte sie gefährdet<br />

werden? Oder war nicht gerade die<br />

Rettung des Kindes ein Sieg, der mehr<br />

<strong>als</strong> irgendetwas das Selbstbewusstsein<br />

der Häftlinge heben konnte? Um solche<br />

Fragen ging es, und damit letztlich um<br />

die schwierige und gefährdete Einheit<br />

von revolutionärer Moral und humaner<br />

Solidarität.<br />

Vor dem Hintergrund der Ergebnisse<br />

des XX. Parteitages der KPdSU und seiner<br />

Enthüllungen über die Ungesetzlichkeiten<br />

unter Stalin war das eine bedrängende<br />

Problematik. Und nachdem<br />

in der DDR der Übergang von der antifaschistisch-demokratischen<br />

Phase zur<br />

sozialistischen offiziell verkündet und<br />

schließlich <strong>als</strong> vollzogen erklärt wurde,<br />

rückten verschiedene Maßnahmen<br />

zur Konsolidierung und Stärkung des<br />

Staatswesen in der DDR solche Fragen<br />

individueller und kollektiver Verantwortung<br />

und Entscheidung immer wieder<br />

ins Zentrum öffentlicher Selbstverständigung.<br />

Wenn Ende der sechziger Jahre<br />

eine ganze Reihe von Büchern sich<br />

ausdrücklich wieder des scheinbar so<br />

fernen Themas von Ghetto, Lager und<br />

Zuchthaus zuwandten, so steht dahinter<br />

das Bedürfnis, sich von vereinfachenden<br />

Klischees bei der Aufarbeitung<br />

der Nazivergangenheit zu lösen,<br />

den Spuren nachzugehen, die sie hinterlassen<br />

hat. Und natürlich spielte<br />

auch das Hervortreten von neofaschistischen<br />

Tendenzen in der Bundesrepublik<br />

eine Rolle, die in beiden deutschen<br />

Staaten durchaus <strong>als</strong> bedrohlich empfunden<br />

wurde.<br />

Jurek Becker erzählte in »Jakob, der<br />

Lügner« (1968) 38 die Geschichte von Jakob,<br />

der im Ghetto mit tausenden Leidensgefährten<br />

gefangen, die Hoffnung<br />

auf Rettung aufrechterhält, weil er behauptet,<br />

ein Radio zu besitzen. So erzählt<br />

er von der nahenden Roten Armee<br />

und anderen Dingen, die Rettung verheißen.<br />

Jakob ist – wenn man so will –<br />

ein Hochstapler und Schelm, aber einer,<br />

der durch »wohltätige Lügen« seinen<br />

Freunden »Kraft zum Überleben« vermittelt.<br />

Jüdisches Schicksal und Erlebnis<br />

des Widerstandes verbindet Peter<br />

Edel in seinem Roman »<strong>Die</strong> Bilder des<br />

Zeugen Schattmann« (1969) 39 und dem<br />

autobiographischen Bericht »Wenn es<br />

ans Leben geht« (1979). 40 Im gleichen<br />

Jahr ist auch Eva Lippolds autobiographischer<br />

Roman »Haus der schweren<br />

Tore« (1979) 41 erschienen, ein Bericht<br />

von Widerstand und Haft im Nazizuchthaus,<br />

der – von Günter Rücker zum<br />

Filmszenarium frei umgestaltet – durch<br />

den Film »<strong>Die</strong> Verlobte« (1980) 42 zu ei-<br />

nen tief bewegenden Erlebnis für Millionen<br />

von Zuschauern geworden ist. <strong>Die</strong><br />

Kraft dieser Darstellung liegt nicht zuletzt<br />

in der ungeschminkten und ganz<br />

und gar unheroischen Erfassung des<br />

Alltags, des alltäglichen Lebens und<br />

der individuellen psychischen Welt der<br />

Figuren. Ein Film des großen Regisseurs<br />

Michail Romm trug den Titel »Der gewöhnliche<br />

Faschismus« (1965), und es<br />

kann <strong>als</strong> ein wichtiger Ansatz einer neuen<br />

Reflexion und Gestaltung des antifaschistischen<br />

Themas in den siebziger<br />

Jahren gelten, dass dem faschistischen<br />

Alltag, dem Alltagsfaschismus nachgegangen<br />

wird. 43<br />

In seinem Drama »<strong>Die</strong> Schlacht« 44 –<br />

entstanden zwischen 1951 und 1974 –<br />

hat Heiner Müller eine rigorose Faschismuskritik<br />

gegeben. Mit Mitteln<br />

satirischer Überhöhung und grotesker<br />

Stilisierung gelingt ihm eine paradoxe<br />

Leistung: alltägliche Wirklichkeit des<br />

Lebens im faschistischen Deutschland<br />

durch die Darstellung extremer Situationen<br />

nachvollziehbar zu machen. Große<br />

Widersprüche werden erfasst, in denen<br />

alltägliches Erleben große geschichtliche<br />

Konturen erhält. Da tötet ein Widerständler<br />

seinen Bruder, weil dieser<br />

zum Verräter geworden war. Doch dass<br />

er es wurde, hat seinen Grund darin,<br />

dass ihn seine Genossen <strong>als</strong> Fremden<br />

behandeln mussten, nachdem er von<br />

den Nazis verhaftet worden war. Da<br />

werden deutsche Soldaten im Schnee<br />

im buchstäblichen Sinn zu dem, was<br />

sie im übertragenen Sinn immer waren:<br />

zu Kannibalen. Schließlich wird ein Nazi-Kleinbürger<br />

vorgeführt, der nach Hitlers<br />

Selbstmord erst seine Tochter und<br />

dann die sich sträubende eigene Frau<br />

erschießt – um dann am Leben zu bleiben.<br />

Selten sind die Deformierungen<br />

der Menschen so konsequent ausgestellt<br />

worden wie hier bei Müller. Hatte<br />

Fühmann geschrieben, die Endform der<br />

bürgerlichen Gesellschaft sei das KZ 45 ,<br />

so sind Müllers »Szenen aus Deutschland«<br />

Warnbilder einer kollektiven Deformation,<br />

die nur mühsam aufgebrochen<br />

werden kann. Ob die notwendige<br />

Befreiung möglich ist, scheint der Autor<br />

seinen Lesern und Zuschauern freilich<br />

nicht in der Form einer nachvollziehbaren<br />

Botschaft vermitteln zu wollen.<br />

Das ist eine irritierende Wendung an die<br />

gegenwärtigen Leser und Zuschauer.<br />

Es ist nicht zu übersehen: <strong>Die</strong> Neuaufnahme<br />

des antifaschistischen Themas<br />

ist vielschichtiger und problemgeladener<br />

geworden. »Blickwechsel« 46 hat<br />

Christa Wolf eine Darstellung des ersten<br />

Augenblicks der Freiheit 1945 ge-<br />

73


nannt. »Ich hatte keine Lust auf Befreiung«,<br />

schreibt sie darin und schildert<br />

den Treck und die Tieffliegerangriffe,<br />

mit der emotionalen Genauigkeit wie<br />

sie ihre Ich-Figur erlebt hat. Fremd sind<br />

ihr die Vorgänge von dam<strong>als</strong>, ob KZ-<br />

Häftlinge sich statt auf Brot auf die Gewehre<br />

im Straßengraben stürzen oder<br />

polnische Fremdarbeiter einen deutschen<br />

Gutsbesitzer beiseite schieben<br />

und seine geschwungene Peitsche<br />

wortlos zu Boden fallen lassen. Im Roman<br />

»Kindheitsmuster« (1976) 47 will<br />

Christa Wolf die »Struktur der Vergangenheitsbeziehungen«<br />

ihrer Generation<br />

erforschen, indem sie drei Zeitebenen<br />

in Beziehung setzt: die Kindheit unter<br />

dem Faschismus, eine Familienreise<br />

in den Heimatort, der heute in Polen<br />

liegt, und schließlich die Zeit des<br />

Schreibvorgangs zu Beginn der siebziger<br />

Jahre. Über ihr Anliegen bemerkt<br />

sie pointiert, ein Autor, der heute über<br />

den Faschismus schreibe, habe es »bereits<br />

mit anderen Sachverhalten zu tun<br />

<strong>als</strong> die antifaschistischen Schriftsteller<br />

in der Emigration oder kurz nach dem<br />

Krieg«. <strong>Die</strong> Zeit – schreibt sie – <strong>als</strong>o unsere<br />

Lebenszeit seitdem, gebe der Periode<br />

unserer Geschichte fortlaufend<br />

eine neue Dimension. Deshalb sei der<br />

Sachverhalt, der sich ihr <strong>als</strong> Stoff anbietet,<br />

nicht mehr: Faschismus (d. h. seine<br />

sozialökonomischen Wurzeln, die Eigentumsverhältnisse,<br />

aus denen er entstehen<br />

konnte etc,), sondern »die Struktur<br />

der Vergangenheitsbeziehungen<br />

meiner Generation, das heißt: Bewältigung<br />

der Vergangenheit in der Gegenwart«.<br />

48 Überwindung oder Weiterwirken<br />

der »Kindheitsmuster« in dieser<br />

Gegenwart werden reflektiert. Am Ende<br />

des Romans bleibt die Frage: »Das<br />

Kind, das in mir verkrochen war – ist<br />

es hervorgekommen? Oder hat es sich,<br />

aufgescheucht, ein tieferes, unzugänglicheres<br />

Versteck gesucht? Hat das Gedächtnis<br />

seine Schuldigkeit getan? Oder<br />

hat es sich dazu hergegeben, durch Irreführung<br />

zu beweisen, dass es unmöglich<br />

ist, der Todsünde dieser Zeit zu entgehen,<br />

die da heißt: Sich nicht kennen<br />

lernen zu wollen?« 49<br />

(<strong>Die</strong>sem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde,<br />

der am 22. März 1985 vor japanischen<br />

Germanisten in Berlin – Hauptstadt<br />

der DDR – gehalten wurde.)<br />

Professor Dr. <strong>Die</strong>ter Schiller<br />

74<br />

1 Vgl. Johannes R. Becher, Zur Frage der politischmoralischen<br />

Vernichtung des Faschismus (1945),<br />

in: derselbe, Publizistik 2 1939–1945 (Gesammelte<br />

Werke Band 16), Berlin und Weimar 1978,<br />

S. 403 ff. Vgl. auch <strong>Die</strong>ter Schiller, Bechers Gedanke<br />

einer demokratischen Erneuerung der deutschen<br />

Kultur und der Kulturbund 1943–1947, in:<br />

Bulletin des Arbeitskreises »Zweiter Weltkrieg«<br />

Nr. 1–4, 1985, S. 165–181.<br />

2 Johannes R. Becher, Bemerkungen zu unseren Kulturaufgaben<br />

(1944), in: Johannes R. Becher, Publizistik<br />

2, S. 362 ff.<br />

3 Johannes R. Becher, Gedichte 1942–1948 (Gesammelte<br />

Werke Band 5), Berlin und Weimar 1967,<br />

S. 538.<br />

4 Vgl. Fritz Selbmann, Aufbruch des Geistes. Zur Frage<br />

der neuen deutschen Volkskultur. Referat auf<br />

der Kulturtagung des Antifaschistischen Blocks,<br />

Leipzig, 29. Juni 1945, Hg. Zentralausschuss Antifaschistischer<br />

Block Leipzig, S. 4.<br />

5 Bernhard Kellermann: Was sollen wir tun? Auferstehung<br />

aus Schutt und Asche. Berlin 1945<br />

6 Bernhard Kellermann: Totentanz, Berlin 1948; weitere<br />

Ausgaben: 1951, 1960, 1983. – Vgl. Bernhard<br />

Kellermann, Eine Nachlese 1906–1951, hrsg. v.<br />

H.D. Tschärtner. Berlin 1979, S. 45 ff.<br />

7 Hans Fallada, Jeder stirbt für sich allein. Berlin<br />

1947. <strong>Die</strong> Ausgabe besorgte Paul Wiegler. – Auch:<br />

Hans Fallada: Ausgewählte Werke in Einzelausgaben<br />

VIII, hrsg. v. Günter Caspar. Berlin und Weimar<br />

1981.<br />

8 Theodor Plievier, Stalingrad, Berlin 1945.<br />

9 Elisabeth Langgässer, Das unauslöschliche Siegel.<br />

Hamburg 1946. – Vgl. dazu ergänzend <strong>Die</strong>ter<br />

Schiller, Drama zwischen Gott und Satan. Elisabeth<br />

Langgässers Auseinandersetzung mit dem<br />

Faschismus in »Das unauslöschliche Siegel«, in:<br />

Erfahrung Nazideutschland. Romane in Deutschland<br />

1933–1945, hrsg. v. Sigrid Bock und Manfred<br />

Hahn, Berlin und Weimar 1987, S. 412 ff.<br />

10 Walter Dirks, Elisabeth Langgässer, in: Frankfurter<br />

Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik. Frankfurt<br />

am Main, 3. Jg., Heft 12/1948, S. 1127.<br />

11 Anna Seghers, <strong>Die</strong> Toten bleiben jung. Roman. Berlin<br />

1949. – Vgl. auch Sigrid Bock, Erziehungsfunktion<br />

und Romanexperiment. Anna Seghers: <strong>Die</strong><br />

Toten bleiben jung, in: Erfahrung Exil. Antifaschistische<br />

Romane 1933–1945, hrsg. von Sigrid Bock<br />

und Manfred Hahn, Berlin und Weimar 1979.<br />

12 Johannes R. Becher, Publizistik 2, S. 403.<br />

13 Anna Seghers, Volk und Schriftsteller, in: Anna<br />

Seghers: Aufsätze, Ansprachen, Essays 1927–<br />

1953 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben Band<br />

XIII), Berlin und Weimar 1980, S. 114 ff.<br />

14 Anna Seghers, Aufgaben der Kunst, in: ebenda,<br />

S. 168 ff.<br />

15 Friedrich Wolf, Wie Tiere des Waldes. Ein Schauspiel<br />

von Hetzjagd, Liebe und Tod einer Jugend,<br />

in: derselbe, Gesammelte Dramen Band IV, Berlin<br />

1952, S. 195 ff. – Geschrieben 1947 in Berlin.<br />

16 Willi Bredel, Das schweigende Dorf und andere Erzählungen,<br />

Rostock 1949. – Siehe auch Willi Bredel,<br />

Auf den Heerstraßen der Zeit. Erzählungen,<br />

Berlin 1957, S. 526 ff.<br />

17 Anna Seghers, Aufsätze, Ansprachen, Essays,<br />

S. 336 f.<br />

18 Anna Seghers, Der Mann und sein Name, Berlin<br />

1952.<br />

19 Anna Seghers, Zum zweiten Kongress der Sowjetschriftsteller,<br />

in: dieselbe, Aufsätze, Ansprachen,<br />

Essays 1954–1979 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben<br />

Band XIV), Berlin und Weimar 1980,<br />

S. 39. – Anna Seghers schätzte die Dichtung Fühmanns<br />

und hat eine essayistische Studie mit dem<br />

Titel »Fahrt nach Stalingrad« darüber veröffentlicht.<br />

Vgl. Aufsätze, Ansprachen Essays 1954–1979,<br />

S. 49 ff. – Fühmann hat diese frühe Arbeit nicht in<br />

seine Werkausgabe aufgenommen.<br />

20 Franz Fühmann, <strong>Die</strong> Fahrt nach Stalingrad. Eine<br />

Dichtung, Berlin 1953, S. 49 und 60 f.<br />

21 Franz Fühmann, Kameraden. Novelle, Berlin 1955.<br />

22 Franz Fühmann, Stürzende Schatten. Novellen.<br />

Illustrationen von Hans und Lea Grundig, Berlin<br />

1959 (Enthält: Das Gottesgericht, Kapitulation,<br />

Das Erinnern).<br />

23 Franz Fühmann, König Ödipus. Gesammelte Erzählungen,<br />

Berlin und Weimar 1966.<br />

24 Franz Fühmann, Das Judenauto. Vierzehn Tage aus<br />

zwei Jahrzehnten, Berlin 1962.<br />

25 Franz Fühmann, Der Jongleur im Kino oder <strong>Die</strong> Insel<br />

der Träume, Rostock 1970.<br />

26 Franz Fühmann, Das mythische Element in der<br />

Literatur, in: derselbe, Erfahrungen und Widersprüche.<br />

Versuche über Literatur, Rostock 1975,<br />

S. 164.<br />

27 Franz Fühmann, Zweiundzwanzig Tage oder <strong>Die</strong><br />

Hälfte des Lebens. Rostock 1973, S. 198 ff.; vgl.<br />

auch S. 36, 41, 79, 92, 181 ff.<br />

28 Ebenda, S. 198.<br />

29 Ebenda, S. 200.<br />

30 <strong>Die</strong>ter Noll, <strong>Die</strong> Abenteuer des Werner Holt. Roman<br />

einer Jugend, Berlin 1960.<br />

31 <strong>Die</strong>ter Noll, <strong>Die</strong> Abenteuer des Werner Holt. Roman<br />

einer Heimkehr, Berlin 1963.<br />

32 Max Walter Schulz, Wir sind nicht Staub im Wind.<br />

Roman einer unverlorenen Generation. Buch 1,<br />

Halle 1962.<br />

33 Max Walter Schulz, Der Soldat und die Frau. Novelle,<br />

Halle-Leipzig 1978.<br />

34 Günter de Bruyn, Der Hohlweg. Roman, Halle<br />

1963.<br />

35 Eröffnungen. Schriftsteller über ihr Erstlingswerk,<br />

hrsg. v. Gerhard Schneider, Berlin und Weimar<br />

1974, S. 138 ff., insbes. S. 141.<br />

36 Walter Ulbricht, Der Künstler im Zweijahrplan.<br />

Diskussionsrede auf der Arbeitstagung der SED-<br />

Schriftsteller und Künstler. 2. September 1948,<br />

in: derselbe, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung.<br />

Aus Reden und Aufsätzen. Band III:<br />

1946–1950, Berlin 1953, S. 313<br />

37 Bruno Apitz, Nackt unter Wölfen. Roman. Halle<br />

1958.<br />

38 Jurek Becker, Jakob der Lügner, Berlin und Weimar<br />

1969.<br />

39 Peter Edel, <strong>Die</strong> Bilder des Zeugen Schattmann. Ein<br />

Roman über deutsche Vergangenheit und Gegenwart,<br />

Berlin 1969.<br />

40 Peter Edel, Wenn es ans Leben geht. Meine Geschichte.<br />

Erster und zweiter Teil, Berlin 1979.<br />

41 Eva Lippold, Haus der schweren Tore. Roman, Berlin<br />

1971; Leben, wo gestorben wird. Berlin 1974<br />

42 Günther Rücker, <strong>Die</strong> Verlobte, in: derselbe, <strong>Die</strong> Verlobte<br />

u. a. Berlin 1988, S. 361 ff. – Der Film »<strong>Die</strong><br />

Verlobte« (Regie Günther Rücker/Günter Reisch)<br />

hatte am 2. September 1980 Premiere.<br />

43 Vgl. hierzu auch: Rolf Richter, Reicht es aus, sich<br />

mit dem Alltag zu befassen? Zur Analyse und Kritik<br />

der nichtmarxistischen Alltagsgeschichtsschreibung,<br />

in: Konsequent, Westberlin, H. 4/1982,<br />

S. 81–91 u. derselbe, Zur Analyse und Kritik der<br />

nichtmarxistischen Geschichtsschreibung über<br />

den Alltag im deutschen Faschismus, in: Beiträge<br />

zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Heft<br />

6/1983, S. 824–834.<br />

44 Heiner Müller, <strong>Die</strong> Schlacht. Szenen aus Deutschland,<br />

in: derselbe, <strong>Die</strong> Schlacht/Traktor. Leben<br />

Gundlings. Friedrich von Preußen. Lessings Schlaf-<br />

TraumSchrei. Mit einem Nachwort von Joachim<br />

Fiebach, Berlin 1977, S. 7 ff.<br />

45 Franz Fühmann, Zweiundzwanzig Tage oder <strong>Die</strong><br />

Hälfte des Lebens, S. 195.<br />

46 Christa Wolf, Blickwechsel, in: Der erste Augenblick<br />

der Freiheit, hrsg. v. Elli Schmidt, Rostock<br />

1970, S.329 ff.<br />

47 Christa Wolf, Kindheitsmuster, Berlin und Weimar<br />

1976.<br />

48 Christa Wolf, Fortgesetzter Versuch. Aufsätze, Gespräche,<br />

Essays, Leipzig 1982, S. 92.<br />

49 Christa Wolf, Kindheitsmuster, S. 530.


BERICHTE UND INFORMATIONEN<br />

2. Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft<br />

Rechtsextremismus/Antifaschismus der<br />

Linkspartei im Jahre 2008<br />

Am 6. Dezember 2008 fand im Berliner<br />

Karl-Liebknecht-Haus die zweite Tagung<br />

der BAG statt. Horst Helas konnte<br />

dazu für den Sprecherrat 40 Mitglieder<br />

und Gäste begrüßen, darunter Vertreter<br />

mehrerer antifaschistischer Organisationen<br />

und erstm<strong>als</strong> auch Vertreter<br />

der Landesarbeitsgemeinschaft Antifaschismus<br />

der Linkspartei aus dem Saarland.<br />

Im ersten Tagesordnungspunkt erörterten<br />

die Beratungsteilnehmer –<br />

ausgehend von den Erfahrungen der<br />

letzten Monate und mit Blick auf die<br />

Vorbereitung wichtiger Wahlen im Jahre<br />

2009 – aktuelle Einschätzungen zum<br />

Rechtsextremismus und zu den Gegenstrategien.<br />

Impulse dafür gab zunächst<br />

das Mitglied der Bundestagsfraktion <strong>Die</strong><br />

<strong>Linke</strong> MdB Ulla Jelpke. Außerdem hatte<br />

der Sprecherrat in Vorbereitung der Beratung<br />

ein Diskussionspapier »Rechtsextremismus<br />

und Antifaschismus in<br />

Deutschland« versandt und auch mit<br />

dem neuen Rundbrief 4/2008 lagen<br />

weitere Einzelanalysen zur Situation in<br />

den Bundesländern vor.<br />

Ulla Jelpke vermittelte eingangs einen<br />

Überblick über das gegenwärtige Agieren<br />

der drei wichtigsten Strömungen<br />

des Rechtsextremismus im Lande: die<br />

eher rechtspopulistischen Kräfte (hier<br />

unter anderem die Pro-Bewegungen<br />

und die nicht mehr vom Verfassungsschutz<br />

beobachteten Republikaner),<br />

die neonazistischen Parteien (NPD,<br />

DVU), die militant und aggressiv auftretenden<br />

Gruppierungen (von der Kameradschaftsszene<br />

bis hin zu den erstarkenden<br />

»Autonomen Sozialisten«).<br />

Dabei verdient die NPD nach wie vor<br />

besondere Aufmerksamkeit, die mit ihren<br />

zur Zeit 7.300 Mitgliedern inzwischen<br />

auch die weiter an Einfluss verlierende<br />

DVU überholt hat, die verstärkt<br />

ihren völkischen »Antikapitalismus« propagiert<br />

und versucht, den Spagat zwischen<br />

den eher auf »Ankommen« in der<br />

bürgerlichen Mitte ausgerichteten Kräften<br />

und ihrem mit den »Freien Kräften«<br />

operierenden militanten Flügel auszuhalten.<br />

Jelpke betonte, dass aus den für<br />

diese meist enttäuschenden Wahlergebnissen<br />

im letzten Jahr und aus den fortwährenden<br />

personellen und finanziellen<br />

76<br />

Krisen rechtsextremer Parteien keinesfalls<br />

eine Entwarnung vor den bestehenden<br />

Gefahren herausgelesen werden<br />

kann.<br />

Aus ihrer Erfahrung im Bundestag setzte<br />

sich die Referentin mit den verschiedenen<br />

Standpunkten zu einem Verbot<br />

der NPD auseinander. Da es sich zeigt,<br />

dass bei vielem Wortgeklingel von Seiten<br />

anderer Parteien eine ernsthafte<br />

Bekämpfung dieser neonazistischen<br />

Partei fehlt, bleibt für die <strong>Linke</strong> <strong>als</strong> nächster<br />

Schritt neben der ständigen Entlarvung<br />

der NPD auch weiterhin die Forderung<br />

nach Abschaltung der V-Leute<br />

des Verfassungsschutzes auf der Tagesordnung.<br />

Für die Wahlen im Jahre 2009<br />

müssen auch die Aktivitäten der Pro-Bewegung,<br />

die zum Beispiel in Nordrhein-<br />

Westfalen bei den Kommunalwahlen<br />

flächendeckend antreten will, die der<br />

Republikaner und ähnlicher Kräfte im<br />

Visier behalten werden, die allesamt auf<br />

einer nationalistischen, rassistischen<br />

und ausländerfeindlichen Plattform<br />

agieren.<br />

In der anschließenden regen Diskussion<br />

wurde ein breiter Fragenkreis berührt –<br />

von der Zunahme der rechtsextremen<br />

Militanz und Gewalt in einigen Bundesländern<br />

(unter anderem in Rheinland-<br />

Pfalz und im Berliner Umland), der Einschätzung<br />

der Situation in der NPD, der<br />

Beurteilung von Wahlergebnissen, der<br />

Rolle der Musik für den Einfluss der Neonazis<br />

bis zur Reaktion der rechtsextremen<br />

Parteien auf die weltweite Finanzkrise.<br />

Einen besonderen Schwerpunkt bildeten<br />

dabei Erfahrungen aus den Kommunen.<br />

Aus dem Einzug einer ganzen<br />

Reihe von Neonazis in die kommunalen<br />

Parlamente, wie jüngst bei den Kommunalwahlen<br />

in Brandenburg im September<br />

2008, ergeben sich neue Probleme.<br />

Auch wenn eine Anzahl dieser Leute<br />

erst sehr geringe Erfahrungen in ihrem<br />

parlamentarischen Auftreten hat, so<br />

sind doch die Anstrengungen der Neonazis<br />

zu deren Schulung und zur Koordinierung<br />

überörtlich nicht zu übersehen.<br />

Wie die sächsischen NPD-Erfolge bei<br />

den Kreistagswahlen zeigen, sind diese<br />

auch das Sprungbrett für weitere Aktivitäten<br />

bei Landtagswahlen und darüber<br />

hinaus. Für die <strong>Linke</strong> ergeben sich deshalb<br />

Notwendigkeiten einer verstärkten<br />

Hilfe in schriftlicher und mündlicher<br />

Form für ihre Vertreter in den kommunalen<br />

Parlamenten, wie unter anderem<br />

Reiner Tietz und Gerhard Seifert an Beispielen<br />

aus dem Kreis Oberhavel demonstrierten.<br />

Aus Beiträgen zur Heranziehung historischer<br />

Erfahrungen für die kommenden<br />

Auseinandersetzungen (die unter anderem<br />

von Rolf Richter und Heinz Engelstädter<br />

vorgetragen wurden) ergab sich,<br />

dass der Kampf um die Aufrechterhaltung<br />

demokratischer Verhältnisse angesichts<br />

der zahlreichen Versuche, demokratische<br />

Rechte der Bürger auch von<br />

Regierungsseite her zu beschneiden<br />

und angesichts immer neuer Provokationen<br />

der Neonazis im Straßenkampf,<br />

nach wie vor höchste Priorität genießen<br />

muss. Stets braucht es breite, demokratische<br />

Bündnisse und zivilgesellschaftliches<br />

Engagement, besonders auch<br />

dort, wo es gilt, junge Menschen vor<br />

neonazistischem Einfluss zu schützen.<br />

Und massenpsychologisch – so wurde<br />

ebenfalls mit Bezug auf geschichtliche<br />

Lehren und auf Erfahrungen im antifaschistischen<br />

Kampf beruhend hervorgehoben<br />

– müssen dabei stets die sozialpolitischen<br />

Forderungen im Vordergrund<br />

stehen, um der Demagogie der Neonazis<br />

keinen Raum zu lassen.<br />

Wichtige Informationen enthielt auch<br />

der Beitrag des Bundessprechers der<br />

VVN-BdA, Prof. Gerhard Fischer. Er würdigte<br />

die Erfolge der Kampagne 2008<br />

»NPD-Verbot jetzt!«, deren Ergebnisse<br />

mit 175.000 Unterschriften vom Bundestag<br />

letztlich doch nicht einfach weggewischt<br />

werden konnten und dankte<br />

für die Unterstützung, die auch aus den<br />

Reihen der Linkspartei kam. Auch im<br />

nächsten Jahr wird die NPD keine Ruhe<br />

haben, es wird Fortsetzungen der Kampagne<br />

geben, auch das Logo »NoNPD«<br />

wird uns weiter begleiten.<br />

Im zweiten Punkt der Tagesordnung<br />

beschäftigten sich die Teilnehmer der<br />

Beratung mit der Situation in den Gedenkstätten<br />

für die Opfer der faschistischen<br />

Diktatur, darunter mit der sogenannten<br />

Gedenkstättenkonzeption<br />

der Bundesregierung. Anerkennende


Worte fanden sie für die fleißige Arbeit<br />

der Mitarbeiter in den Gedenkstätten<br />

und den Einsatz vieler Zeitzeugen für<br />

den Erhalt und die Betreuung der Besucher<br />

der Einrichtungen. Besondere Anerkennung<br />

zollten sie intensiver Jugendarbeit<br />

in manchen Gedenkstätten, über<br />

die zum Beispiel Peter Hochmuth von<br />

der Lagergemeinschaft Buchenwald und<br />

Karl-Heinz Lutkat von der verdi-Jugend<br />

berichteten.<br />

Gleichzeitig hielten sie mit ihrem Unverständnis<br />

und ihrer Kritik an dem Dokument<br />

der Bundesregierung nicht zurück,<br />

die mit der Vermischung der Gedenkstätten-Konzeptionen<br />

für die Opfer der<br />

Nazidiktatur und der »DDR-Diktatur«<br />

und der Schwerpunktsetzung der Förderung<br />

auf letztere dem Geschichtsrevisionismus<br />

Tür und Tor öffnet und neue<br />

Instrumente zur »Delegitimierung« der<br />

DDR schafft.<br />

Dr. Detlef Kannapin, Mitarbeiter der Bundestagsfraktion<br />

<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>, zeichnete in<br />

seinem einführenden Vortrag den Werdegang<br />

der Konzeption der Bundesregierung<br />

nach, die auch nach vielen<br />

Diskussionsrunden in der nun im November<br />

von der Mehrheit des Bundestages<br />

gebilligten Fassung keinen wirklich<br />

akzeptablen Rahmen gefunden hat.<br />

Zwar konnte im Verlauf der letzten beiden<br />

Jahre die im ersten Entwurf praktisch<br />

geleugnete Singularität der faschistischen<br />

Verbrechen nun im Dokument<br />

verankert werden, doch bleibt dieses<br />

Papier in seiner antikommunistischen<br />

Diktion. Mussten zum ersten Entwurf<br />

auch Leiter der Gedenkstätten für die<br />

Opfer des Faschismus feststellen, dass<br />

hier ein regelrechter »geschichtsrevisionistischer<br />

Putsch« versucht wurde, so<br />

bleibt nach dessen Entschärfung auch<br />

heute die Absicht deutlich und die Gefahr<br />

reaktionären Missbrauchs virulent.<br />

Kommt die Konzeption doch nicht nur<br />

jenen entgegen, die ganz offenkundig<br />

die gesamte Geschichte der DDR hinter<br />

Stasi-Gebäuden und die hinter den<br />

Erinnerungen an die Sonderlager der<br />

sowjetischen Besatzungsmacht in Buchenwald<br />

und Sachsenhausen die KZ-<br />

Gedenkstätten verschwinden lassen<br />

wollen. Sie steht auch nicht zufällig im<br />

Rahmen der CDU-Debatten über den<br />

Umgang mit der eigenen Geschichte,<br />

über die Erinnerungen in der Bevölkerung<br />

an die DDR und um die künftige<br />

antikommunistische Beeinflussung der<br />

Schüler. Auch die Einrichtung eines Zentrums<br />

in Berlin, das Erika Steinbachs<br />

Versionen von Vertreibungen darstellen<br />

soll und die Schaffung neuer Denkmale<br />

für tote Bundeswehrsoldaten und vor<br />

dem Neubau des Berliner Schlosses hat<br />

damit zu tun.<br />

In der Diskussion wurde betont, dass<br />

beträchtliche Mittel in die Baulichkeiten<br />

der KZ-Gedenkstätten investiert wurden,<br />

dass es aber gleichzeitig dort nicht<br />

genügend Gelder für die notwendige<br />

pädagogische Arbeit und dazu gehörende<br />

Ausstellungen gibt. Hinsichtlich<br />

der immer weniger werdenden Zeitzeu-<br />

gen wurde vermerkt, dass es wichtig ist,<br />

deren Wissen und Erfahrungen solange<br />

wie möglich gerade im Gespräch mit<br />

Jugendlichen zu nutzen, dass es aber<br />

auch gilt, die von ihnen hinterlassenen<br />

schriftlichen und audiovisuellen Quellen<br />

vor Verfälschungen zu schützen. Heute<br />

führt die Konzeption der Bundesregierung<br />

zur Förderung der Gedenkstätten<br />

bei denen mit »doppelter Vergangenheit«<br />

wie Sachsenhausen und Buchenwald<br />

dazu, dass bewusst mehr Gelder<br />

für die Darstellung der »Sonderlager«<br />

fließen, während andererseits zu den<br />

Rettern vor dem Faschismus immer weniger<br />

gesagt wird. In diesem Zusammenhang<br />

wurde darauf hingewiesen, dass<br />

es in den alten Bundesländern auch eine<br />

Erinnerung an die »doppelte Vergangenheit«<br />

mancher Einrichtungen geben<br />

müsste. So ist zwar das Gefängnis<br />

Wolfenbüttel <strong>als</strong> faschistische Kerker-<br />

und Opferstätte bekannt, verschwiegen<br />

wird aber, dass es nach 1945 in den Jahren<br />

des kalten Krieges gleich wieder <strong>als</strong><br />

Kerker für Antifaschisten, Kommunisten<br />

und Kriegsgegner diente.<br />

Am Schluss der Beratung erläuterte Dr.<br />

Gerd Wiegel die Vorbereitungen für eine<br />

zentrale Konferenz der Bundestagsfraktion<br />

<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> und der Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />

zum Rechtsextremismus,<br />

die am 24. und 25. Januar 2009 im<br />

Berliner Abgeordnetenhaus stattfinden<br />

wird.<br />

Dr. sc. Roland Bach<br />

77


»Es brennt!« Eine Ausstellung zum<br />

antijüdischen Terror im November 1938<br />

Am 6. November 2008 wurde eine<br />

neue Ausstellung in Berlin eröffnet. Im<br />

Centrum Judaicum ist sie bis 1. März<br />

2009 zu sehen. Und es gibt einen reich<br />

illustrierten und informativen Begleitband<br />

zur Ausstellung – zum erschwinglichen<br />

Preis von 15 Euro.<br />

<strong>Die</strong> drei für Ausstellung und Publikation<br />

projektverantwortlichen Stiftungen<br />

(Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum<br />

Judaicum; Stiftung Topographie<br />

des Terrors; Stiftung Denkmal für die<br />

ermordeten Juden Europas) haben untertrieben,<br />

indem sie diesen Band <strong>als</strong><br />

»Katalog« bezeichneten. Erschienen ist<br />

vielmehr eine gelungene Mischung aus<br />

Essay-Band und Ausstellungskommentierung.<br />

Bilder einer Ausstellung sollte man<br />

nicht zu beschreiben versuchen. <strong>Die</strong><br />

ganz individuelle Betrachtung macht<br />

doch den Reiz aus, auch in diesem besonderen<br />

Falle. Mir fiel <strong>als</strong> Gemeinsames<br />

an den kaum bekannten Fotos<br />

vom Novemberpogrom 1938 besonders<br />

auf: <strong>Die</strong> Spuren von Gewalt sind<br />

im Straßenbild unübersehbar gewesen,<br />

ebenso das Nichtstun vieler Gaffer<br />

und das Tun von sich an fremdem<br />

Eigentum bereichernden Raffern. Das<br />

Gezielte der Aktion vom November<br />

1938 wird erkennbar, wenn Straßenzüge<br />

zu sehen sind, wo zerschlagene<br />

Schaufensterscheiben neben unberührten<br />

Geschäftsauslagen zu sehen<br />

sind. Aus Nachbarn waren Juden geworden.<br />

Der Begleitband/Katalog wird eingeleitet<br />

durch drei kurze Beiträge: Einem<br />

Vorwort der Direktoren der genannten<br />

Stiftungen (Dr. Hermann Simon,<br />

Prof. Dr. Andreas Nachama und Uwe<br />

Neumärker), einem Grußwort des Regierenden<br />

Bürgermeisters von Berlin,<br />

Klaus Wowereit, sowie einem Text<br />

des Direktors des Zentrums für Anti-<br />

semitismusforschung an der TU Berlin,<br />

Prof. Dr. Wolfgang Benz.<br />

Der erste Teil des Bandes beschreibt verschiedene<br />

Aspekte der Vorgeschichte<br />

und des Verlaufs des Pogroms. Im Zentrum<br />

stehen die zeitgenössischen Fotos.<br />

Zwei am Beginn dieses Abschnitts<br />

(S. 46 f.) gegenübergestellte historische<br />

Karten gewinnen ihre Aussagekraft<br />

nicht durch die Detailgenauigkeit <strong>als</strong><br />

Wegweiser zur Suche nach historischen<br />

Orten. Sie bestechen durch zwei Aussagen.<br />

<strong>Die</strong> Dichte jüdischer Einrichtung,<br />

die für das Deutschland der Weimarer<br />

Republik davon zeugten, dass jüdisches<br />

Leben zum Alltag gehörte. Und die Dichte<br />

der Übergriffe im November 1938.<br />

1283 Synagogen und jüdische Betesäle<br />

wurden im November 1938 zerstört. <strong>Die</strong><br />

Forschungen sind nicht abgeschlossen,<br />

immer wieder kommen weitere, bislang<br />

nicht bekannte Beispiele hinzu.<br />

Angemerkt sei, dass auch ein weit verbreiteter<br />

Irrtum aufgeklärt wird, er betrifft<br />

die Neue Synagoge in der Berliner<br />

Oranienburger Straße. »Das Foto, das<br />

die brennende Synagoge im November<br />

1938 zeigt, ist um das Jahr 1948 entstanden.<br />

Dabei handelt es sich um eine<br />

Fälschung: Flammen sind in eine Aufnahme,<br />

die nach dem Bombenangriff<br />

(vom November 1943) gemacht wurde,<br />

hineinretuschiert worden. Dennoch<br />

dient dieses Foto immer wieder dazu,<br />

die Geschehnisse des November 1938<br />

zu illustrieren.« (S. 103)<br />

Der Teil zwei des Begleitbandes/Kataloges<br />

umfasst sechs Beiträge, die bloße<br />

Nennung ihrer Titel soll die Neugier potentieller<br />

Leser fördern: Frühe Berichte<br />

von Verfolgten des antijüdischen Terrors<br />

im November 1938 (Ulrich Baumann);<br />

Der Novemberpogrom 1938 im Spiegel<br />

diplomatischer Berichte aus Berlin (Hermann<br />

Simon); Reaktionen auf den Novemberpogrom<br />

in der jüdischen Pres-<br />

se in Polen 1938/39 (Ingo Loose); Zur<br />

bildlichen Überlieferung des Novemberpogroms<br />

(Klaus Hesse); <strong>Die</strong> justizielle<br />

Ahndung von »Reichskristallnacht«-Verbrechen<br />

durch die westdeutsche Justiz<br />

seit 1945 (Edith Raim); Das Gedenken<br />

an den Novemberpogrom 1938 (Andreas<br />

Nachama).<br />

Der Begleitband/Katalog wird im Anhang<br />

durch ein Orts- und Personenregister<br />

sowie Literaturempfehlungen komplettiert.<br />

<strong>Die</strong> Verantwortlichen für Ausstellung<br />

und Katalog sehen ihr Wirken <strong>als</strong> Beitrag,<br />

»den 9. November 1938 <strong>als</strong> Gedenktag<br />

für die jüdischen Opfer aus<br />

dem Deutschen Reich wieder in den<br />

Vordergrund der deutschen Erinnerungskultur<br />

zu rücken«. (S. 9) Dass dies<br />

im Herbst 2008 in hohem Maße gelungen<br />

ist, davon zeugt eine große Zahl<br />

von Initiativen, Veranstaltungen und<br />

Ausstellungen überall in Deutschland.<br />

Leider gibt es aber auch eine andere<br />

Tendenz. Mehr <strong>als</strong> in den Jahren zuvor<br />

berichteten die Medien in den Tagen<br />

des Jubiläums über Fälle von Gewalt<br />

gegenüber Juden <strong>als</strong> Personen und jüdischen<br />

Einrichtungen sowie über notwendigen<br />

Bürgerprotest gegen rechtsextremistische<br />

Verunglimpfung dieses<br />

Gedenkens. Aachen, Berlin, Erfurt, Fulda,<br />

Gotha, Moers, Schöneiche, Waren,<br />

Wetter und andere Orte wären hier zu<br />

nennen. <strong>Die</strong> Anstrengungen zur Zurückweisung<br />

jeglicher Erscheinung von Antisemitismus<br />

in der deutschen Gesellschaft<br />

– immer sofort, überall und mit<br />

aller Konsequenz – bleibt eine zentrale<br />

Aufgabe.<br />

Schließlich die übliche Anregung: <strong>Die</strong><br />

Ausstellung selbst besuchen, den Katalog<br />

kaufen und Freunde wie Bekannte<br />

auf beides hinzuweisen.<br />

Dr. Horst Helas<br />

79


»Stille Helden« – Noch eine Gedenkstätte<br />

in Berlin? Ja, und das ist gut so.<br />

Am 27. Oktober 2008 wurde die neue<br />

Gedenkstätte Stille Helden feierlich eröffnet,<br />

unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit.<br />

Auf zwei Ausstellungsetagen<br />

werden am Hackeschen Markt<br />

ausgewählte Beispiele jahrelanger Forschungen<br />

vorgestellt. In einem Begleitbuch<br />

zur Präsentation kann man dazu<br />

Näheres nachlesen. 1 Im Buch wie in der<br />

Dauerausstellung werden unterschiedliche<br />

Hilfsaktionen erläutert, die alle<br />

einem gemeinsamen Ziel dienten: bedrängten<br />

Juden in Deutschland zu helfen<br />

– auf dem Weg ins rettende Exil oder<br />

in die Illegalität mitten in Deutschland.<br />

Allein 1.700 Frauen, Männer und Kinder<br />

versteckten sich <strong>als</strong> so genannte U-<br />

Boote in Berlin, 3.000 waren es in ganz<br />

Deutschland.<br />

Porträtiert werden bekannte Helfer<br />

wie Oskar und Emilie Schindler oder<br />

der Helferkreis in Berlin um Maria Grä-<br />

80<br />

fin von Maltzan. Aber auch an weniger<br />

bekannte, mutige Menschen, die keine<br />

Juden waren (nach NS-Terminologie<br />

»Arier«) und mit ihren Taten das eigene<br />

Leben gefährdeten, wird erinnert.<br />

<strong>Die</strong> neue Gedenkstätte ist eine Zweigstelle<br />

der von Prof. Dr. Johannes Tuchel<br />

geleiteten Gedenkstätte Deutscher Widerstand.<br />

Dr. Beate Kosmala und Barbara<br />

Schieb, die seit Jahren nach »Stillen<br />

Helden« suchten, erhielten in der<br />

Rosenthaler Straße 39 eine neue Wirkungsstätte<br />

mit verbesserten Arbeitsbedingungen.<br />

Sie sammeln weiter Berichte,<br />

Fotos und Dokumente. Jede<br />

mündliche Erinnerung ist willkommen<br />

und wird in Bild und Ton festgehalten. 2<br />

Für die Gedenkstätte Stille Helden wurde<br />

mit der Adresse Rosenthaler Straße<br />

39 ein besonders günstiger Ort gefunden.<br />

<strong>Die</strong>s meint nicht nur die verkehrsgünstige<br />

Lage am S-Bahnhof Hacke-<br />

scher Markt. Unter dieser Adresse kann<br />

man nun gleich drei Orte des Gedenkens<br />

an früheres Jüdisches Leben besuchen.<br />

<strong>Die</strong> anderen beiden, die sich<br />

schon längere Zeit regen Zuspruchs erfreuen,<br />

sind das Anne-Frank-Zentrum<br />

Berlin 3 und das Museum Blindenwerkstatt<br />

Otto Weidt. 4 Berlinern und Berlin-Besuchern,<br />

allen Geschichtsinteressierten<br />

und namentlich vielen Schülern<br />

mit engagierten Lehrern sei dieser »Geheimtipp«<br />

für eine historische Spurensuche<br />

wärmstens ans Herz gelegt.<br />

Dr. Horst Helas<br />

1 Siehe: Gedenkstätte Stille Helden. Eine Dokumentation<br />

der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand,<br />

Berlin 2008.<br />

2 Kontaktadressen:<br />

kosmala@gdw-berlin.de; schieb@gdw-berlin.de<br />

3 Siehe: www.annefrank.de<br />

4 Siehe: info@musem-blindenwerkstatt.de


ZUR DISKUSSION<br />

Anmerkungen zu einer strittigen Frage –<br />

Zu Horst Helas’ Artikel zum Antisemitismus<br />

in der DDR<br />

Horst Helas ist nicht der Einzige, der<br />

hinsichtlich der Anfänge der PDS die<br />

Feststellung betont, man habe endgültig<br />

und für ewig dem Stalinismus Valet gesagt.<br />

1 Es ist allerdings schon merkwürdig,<br />

dass regelmäßig nur die verkündete<br />

konsequente Überwindung des Stalinismus<br />

<strong>als</strong> das zu Merkende des Außerordentlichen<br />

Parteitages der SED/PDS<br />

vom Dezember 1989 genannt wird. Das<br />

ist die Negativaussage über das, was<br />

die Partei niem<strong>als</strong> mehr sein dürfe: stalinistisch.<br />

Selbstverständlich ist es richtig,<br />

beim Rüc<strong>kb</strong>lick auf die Geschichte<br />

der DDR dort, wo stalinistische Praxis<br />

vollzogen wurde, diese auch zu benennen<br />

und zu kritisieren. Allerdings sollte<br />

das dann auch korrekt geschehen. <strong>Die</strong><br />

Überwindung des Stalinismus wie von<br />

Gebetsmühlen herabzubeten, ohne exakte<br />

Angaben darüber, was <strong>als</strong> schändliche<br />

Praxis angesehen werden muss,<br />

verzichtet auf geschichtliche Wahrheit.<br />

Offenbar meint man aber, dass alles abstrafbar<br />

ist, wenn es nur gehörig oft behauptet<br />

wird. Wozu auch die inzwischen<br />

<strong>als</strong> antisemitisch verteufelte DDR gehört,<br />

in der es, was nicht bestritten werden<br />

kann und soll, zeitweilig antisemitisches<br />

Verhalten gab.<br />

Warum verweist man eigentlich immer<br />

wieder lediglich und nur auf die Überwindung<br />

des Stalinismus und »vergisst«,<br />

über den Bericht an den Parteitag<br />

zum Stalinismus hinauszugehen<br />

und sich des Beschlussentwurfs und<br />

des Statuts zu erinnern? Dort nämlich<br />

sind in der Zielstellung auch das Konstruktive<br />

formuliert, das den Inhalt der<br />

Parteinahme und – arbeit der entstalinisierten<br />

Partei bestimmen sollte. In<br />

der »Zusammenfassung« zum Beschlussentwurf<br />

der Redaktionskommission,<br />

die von Lothar Bisky vorgetragen wurde,<br />

heißt es unter anderem, dass eine<br />

neue sozialistische Partei entstehen<br />

solle, »die die Traditionen der Arbeiterbewegung<br />

fortsetzt. Sie knüpft an sozialdemokratisches,<br />

sozialistisches, kommunistisches,<br />

antifaschistisches und<br />

pazifistisches Erbe an. … Unsere Partei<br />

stützt sich in ihrer Politik auf die modernen<br />

Gesellschaftswissenschaften. Marx<br />

und Lenin sind uns dabei historisches<br />

82<br />

Vorbild.« 2 Und in der Präambel des Statuts,<br />

das am 17. Dezember 1989 beschlossen<br />

wurde, heißt es: »<strong>Die</strong> Partei<br />

ist eine marxistische sozialistische Partei.<br />

… Theoretische Grundlage der Partei<br />

ist der Marxismus. … Ziel der Partei<br />

ist ein neuer menschlicher, demokratischer<br />

Sozialismus in der DDR, jenseits<br />

von Profitwirtschaft, Ausbeutung und<br />

administrativ-bürokratischem Sozialismus.<br />

… <strong>Die</strong> Partei kämpft entschieden<br />

gegen jede Form von Nationalismus,<br />

Faschismus, Rassismus und Chauvinismus.<br />

… <strong>Die</strong> internationale Solidarität mit<br />

allen um nationale und soziale Befreiung<br />

Kämpfenden ist ihr ein wesentliches Anliegen.«<br />

3 Dazu würde dann auch eine objektive<br />

Betrachtung der Frage gehören,<br />

ob und inwieweit es Antisemitismus in<br />

der DDR gegeben hat.<br />

Nun muss man feststellen, dass die genannte<br />

Politi<strong>kb</strong>estimmung der SED/<br />

PDS Schritt für Schritt einer Wandlung<br />

unterlag und unterliegt, wobei ein tendenzielles<br />

Abgehen vom Marxismus und<br />

eine sukzessive Sozialdemokratisierung<br />

nicht zu übersehen sind. Schritt für<br />

Schritt ist in den nachfolgenden Jahren<br />

von dieser klaren Inhaltsbestimmung<br />

der Partei Abstand genommen worden.<br />

Dennoch wäre es wohl sinnreich, sich<br />

auch dieser Ausgangssítuation immer<br />

wieder zu erinnern, wenn man mit Verve<br />

auf die Ablehnung des Stalinismus<br />

verweist.<br />

Der Kampf gegen den Rassismus war in<br />

der DDR Realität. Bedauerlicherweise<br />

gab es zu einem bestimmten Zeitpunkt –<br />

in den 50 er Jahren – Verstöße gegen das<br />

hehre Ziel auch dadurch, dass jüdische<br />

Personen bestimmten Sanktionen ausgesetzt<br />

waren bzw. aus Furcht vor derartigen<br />

Repressionen die DDR fluchtartig<br />

verließen. <strong>Die</strong>se Phase wurde überwunden,<br />

obwohl kritisch zu vermerken ist,<br />

dass eine offene Kritik und Selbstkritik<br />

der Verantwortlichen für diese dem<br />

Charakter nach auch antisemitischen<br />

Entgleisungen leider nicht erfolgte. Was<br />

jedoch durchaus der üblichen Praxis der<br />

Parteiführung entsprach, Negatives »im<br />

Vorwärtsschreiten« zu überwinden und<br />

sich nicht durch »rückwärtsgewandte<br />

Diskussion« hemmen zu lassen.<br />

Aber man wird wohl kaum, sofern man<br />

nicht konsequenter Ignorant ist, ableugnen<br />

können, dass die DDR in der<br />

internationalen Auseinandersetzung<br />

Front gegen Rassismus machte, was<br />

nicht zuletzt die Entkolonisierung verlangte.<br />

<strong>Die</strong> DDR stand auf der Seite<br />

jener, die die nationale Befreiung erstritten.<br />

Was letzten Endes auch die<br />

Unterstützung der Palästinenser und<br />

der PLO erklärt, die unter anderem einen<br />

sichtbaren Ausdruck in der Anerkennung<br />

von Yassir Arafat <strong>als</strong> ihrem<br />

politischen Repräsentanten fand. <strong>Die</strong>se<br />

Tatsache löste bei den politischen<br />

Spitzen Israels keine Freude aus. So<br />

wie auch die Annäherung der DDR an<br />

Staaten des Nahen Ostens, mit der unter<br />

anderem die gegen die Souveränität<br />

und internationale Anerkennung der<br />

DDR gerichtete bundesdeutsche Hallstein-Doktrin<br />

durchbrochen werden<br />

konnte, missbilligt wurde. <strong>Die</strong> israelische<br />

Seite hatte sich nach der Staatsgründung,<br />

die mit Billigung der UdSSR<br />

stattfand, sukzessive nach Westen orientiert.<br />

So wie die UdSSR diese Hinwendung<br />

nicht begrüßte, verhielt sich<br />

auch die DDR. Wenn der DDR das Fehlen<br />

diplomatischer Beziehungen zu Israel<br />

angelastet wird, dann muss deutlich<br />

gemacht werden, dass Israel <strong>als</strong><br />

der früher konstituierte Staat das Angebot<br />

an den später entstandenen Staat<br />

hätte unterbreiten müssen. Israel hat<br />

weder dies getan, noch der Aufnahme<br />

der DDR in die UNO zugestimmt <strong>als</strong> das<br />

auf der Tagesordnung stand.<br />

Prinzipiell f<strong>als</strong>ch ist die Praxis, Israel,<br />

den Zionismus und das Judentum, was<br />

durchaus unterschiedliche Sachverhalte<br />

sind, zu vermengen und daraus Antisemitismus<br />

abzuleiten.<br />

Dass die DDR den Zionismus einseitig<br />

für einen bürgerlichen aggressiven Nationalismus<br />

hielt, der zur Legitimierung<br />

des Handelns Israels genutzt wurde, traf<br />

mit Sicherheit nicht auf alle Formen des<br />

Zionismus zu, war jedoch kein Antisemitismus.<br />

Man sollte sich auch daran erinnern,<br />

dass nicht wenige dem Judentum<br />

angehörende Bürgerinnen und Bürger<br />

durchaus Kritiker des nationalistischen<br />

Zionismus waren und sind.


Dass Israel sich <strong>als</strong> ein Staat des westlichen<br />

Weltlagers mit allen sich daraus<br />

ergebenden Konsequenzen der Klassenauseinandersetzung<br />

gegenüber der<br />

DDR antikommunistisch verhielt, um<br />

den heutzutage verpönten, jedoch kennzeichnenden<br />

Begriff zu gebrauchen, hatte<br />

entsprechende Wirkungen, wie sie<br />

sich für die DDR im Verhältnis zu allen<br />

Staaten des imperialistischen Lagers<br />

ergaben. Antisemitismus war diese Haltung<br />

jedenfalls nicht.<br />

Dass die DDR an Israel keine Wiedergutmachung<br />

leistete, war kein Antisemitismus,<br />

sondern die Konsequenz aus<br />

dem, was die DDR im Gefolge der Niederlage<br />

des deutschen Faschismus an<br />

Wiedergutmachung gemäß dem Potsdamer<br />

Abkommen bereits geleistet hatte.<br />

Im Verständnis Israels hat die DDR<br />

keine Wiedergutmachung geleistet.<br />

Im Verständnis der DDR ist diese eine<br />

Wiedergutmachung in zweifacher Hinsicht<br />

realisiert worden: Erstens durch<br />

die Beseitigung der ökonomischen, politischen<br />

und ideologischen Grundlagen<br />

für die beispiellose Vernichtung von jüdischen<br />

Menschen, wie sie der deutsche<br />

Faschismus unter der menschenverachtenden<br />

Losung einer »Endlösung<br />

der Judenfrage« vollzogen hatte; zweitens<br />

durch die Reparationsleistungen<br />

an die Sowjetunion <strong>als</strong> Folge des faschistischen<br />

Überfalls auf die Sowjetunion.<br />

Israel hat nie akzeptiert, dass die DDR<br />

nach 1945 <strong>als</strong> Konsequenz aus der faschistischen<br />

Aggression eine Wiedergutmachung<br />

zu leisten hatte, die im<br />

Potsdamer Abkommen und anderen alliierten<br />

Dokumenten in Gestalt der Reparationen<br />

eingefordert wurde. <strong>Die</strong>se<br />

Reparationen gingen nach alliierten<br />

Festlegungen an die UdSSR. <strong>Die</strong> Sowjetunion<br />

hatte ihre Reparationsforderungen<br />

gegenüber Deutschland auf 10<br />

Milliarden Dollar zu den Preisen von<br />

1933 beziffert. »Gemäß der von den<br />

Westmächten auf der Potsdamer Konferenz<br />

maßgeblich beeinflussten Reparationsregelung<br />

war die Sowjetunion darauf<br />

angewiesen, die ihr zuerkannten<br />

Reparationsansprüche fast ausschließlich<br />

aus ihrer Besatzungszone zu befriedigen.<br />

<strong>Die</strong> vereinbarten ergänzenden<br />

Lieferungen aus Demontagen in den<br />

Westzonen waren relativ gering; eine<br />

Einigung über die dafür auszusuchenden<br />

Objekte erwies sich <strong>als</strong> schwierig,<br />

und der Realisierung erfolgte schleppend<br />

oder gar nicht.« 4 <strong>Die</strong> Reparationen<br />

erfolgten auf drei Wegen: 1. durch Demontagen,<br />

2. aus der laufenden Produktion<br />

und 3. durch die Verpflichtung von<br />

deutschen Wissenschaftlern zu wissen-<br />

schaftlich-technischer Arbeit für die Sowjetunion.<br />

<strong>Die</strong> Demontagen erfolgten<br />

unter anderem in folgendem Bereichen:<br />

»In der Reifenindustrie waren alle Produktionsmittel<br />

abgebaut. <strong>Die</strong> Demontage<br />

des Anlagevermögens belief sich<br />

beim Schienenfahrzeugbau auf 80 Prozent,<br />

im polygrafischen Maschinenbau<br />

auf zwischen 95 und 60 Prozent, im<br />

Werkzeugmaschinenbau auf 55 Prozent,<br />

in der Strick- und Wirkwarenindustrie<br />

auf 43 und in den Spinnereien auf<br />

10,6 Prozent.« Das zweite Gleis wurde<br />

auf dem Gebiet der Ostzone demontiert,<br />

so dass sich die Kilometerzahl von<br />

6.081, 27 im Jahre 1944 auf 1.063,09 im<br />

Jahre 1948 verringerte. Es versteht sich,<br />

dass sich daraus schwerwiegende Verpflichtungen<br />

für einen Neuaufbau der<br />

industriellen Grundlagen ergaben. <strong>Die</strong><br />

bundesdeutschen Reparationen an die<br />

Westmächte beliefen sich auf lediglich<br />

517 Millionen Dollar (Handelsflotte, Auslandswerte,<br />

Erträge von Demontagen). 5<br />

Und die BRD profitierte vom Marshallplan.<br />

Wenn man die Haltung der DDR zu Israel<br />

beurteilen will, dann muss man zweifelsohne<br />

die Haltung Israels zur DDR mit bedenken.<br />

Zwar wünscht Horst Helas ausdrücklich,<br />

von dem Totschlagargument,<br />

die BRD sei viel antisemitischer gewesen<br />

<strong>als</strong> die DDR, verschont zu bleiben,<br />

es ist aber doch merkwürdig, dass Israel<br />

sich gegenüber der DDR strikt antikommunistisch<br />

verhielt, aber offenbar keinerlei<br />

Bedenken daran hatte, dass beispielsweise<br />

ein Hans Globke in der BRD<br />

eine hohe staatliche Funktion ausübte,<br />

um nur eine herausragende Figur mit<br />

nazistischer Vergangenheit zu benennen.<br />

Juden erhielten allerdings im obersten<br />

Leitungsgefüge der BRD kein Betätigungsfeld.<br />

Demgegenüber waren – um<br />

nur dieses Beispiel zu nennen –, zwei Juden,<br />

Albert Norden und Hermann Axen,<br />

Mitglieder des Politbüros der SED. Jedenfalls<br />

wurde die BRD offiziell und <strong>als</strong><br />

Staat nie <strong>als</strong> antisemitisch charakterisiert.<br />

Wenn man dies zweifelnd überdenken<br />

würde, stellte man sich schon<br />

die Frage, ob dabei eine Rolle spielte,<br />

dass die BRD Israel mit erklecklichen<br />

Summen unterstützte, die keineswegs<br />

zwingend für die direkte Entschädigung<br />

von Opfern des deutschen Faschismus<br />

eingesetzt sein mussten.<br />

Asher Ben Nathan konstatiert, die Sowjetunion<br />

habe massive Waffenlieferungen<br />

an arabische Staaten geleistet.<br />

»Strauß’ Ziel war, Israel zu einem Bollwerk<br />

gegen den sowjetischen Einfluss<br />

zu machen. Soweit war er auch Gründer<br />

der Globalpolitik.« 6 Kurz gesagt: Wir befanden<br />

uns mitten im Kalten Krieg. An<br />

dieser Tatsache kommt niemand vorbei,<br />

der Geschichte objektiv schreiben will.<br />

Es ist nicht meine Absicht, hier eine Geschichte<br />

der Beziehungen zwischen Israel<br />

und der DDR darzulegen. Mein Anliegen<br />

ist es, jenem Ansinnen Paroli zu<br />

bieten, das verkündet, die DDR sei antisemitisch<br />

gewesen. Wohlgemerkt: Es<br />

geht nicht um gelegentliche antisemitische<br />

Exzesse einzelner Personen oder<br />

von Personengruppen, auch nicht um<br />

Handlungen, die <strong>als</strong> antisemitisch bewertbar<br />

sind, wie das beispielsweise<br />

bei der Schändung von Friedhöfen anzunehmen<br />

ist. In den Unterlagen des MfS<br />

ist die Zahl derartiger Untaten nachzulesen.<br />

Allerdings bestand durchaus<br />

keine Notwendigkeit, einen propagandistischen<br />

oder/und strafrechtlichen<br />

Feldzug zu eröffnen. Dazu waren die<br />

Fakten selbst zu geringfügig gegenüber<br />

der sozialistischen »Staatsräson« der<br />

DDR, der sich die DDR verpflichtet fühlte,<br />

um diesen aktuellen Begriff einmal<br />

zu verwenden.<br />

Besonders gern wird heutzutage dargelegt,<br />

dass Menschen jüdischer Herkunft<br />

von ihren Eltern in der DDR oft nicht erfuhren,<br />

dass sie jüdischer Abstammung<br />

waren. Das hätte sie überrascht und bestürzt<br />

gemacht. Abgeleitet aus solchen<br />

den Eltern angelasteten Beispielen wird<br />

dann geschlussfolgert, man habe es mit<br />

Antisemitismus zu tun, weil die Eltern<br />

aus unterschiedlichem Interesse ihre<br />

Abstammung nicht offen verbreitet hätten.<br />

Einige Kinder solcher Eltern verbreiten<br />

in ihrem heutigen Auftreten oft den<br />

Eindruck stärkster Betroffenheit, was<br />

gern <strong>als</strong> Beweis für einen schändlichen<br />

DDR-Antisemitismus gewertet wird.<br />

Dass die Eltern es dam<strong>als</strong> für wichtiger<br />

hielten, <strong>als</strong> Sozialisten/Kommunisten<br />

an der Gestaltung der sozialistischen<br />

DDR mitzuwirken, statt die jüdische Abstammung<br />

zu betonen, die für sie nur<br />

eine sekundäre Rolle spielte, zählt bei<br />

diesen Kindern dann nicht. Mit dem Untergang<br />

der DDR hat nun bei manchen<br />

Personen die Erinnerung an das Judentum<br />

Konjunktur. Dabei wird heute so getan,<br />

<strong>als</strong> hätten sie isoliert und einsam<br />

in der DDR gelebt und wären völlig unwissend<br />

bezüglich einer jüdischen Abkunft<br />

gewesen. Ihr jüdisches ICH habe<br />

sich de facto erst nach dem DDR-Untergang<br />

entfalten können. Dabei setzen<br />

sie den Beginn ihrer Zerrissenheit<br />

in der gelebten DDR-Realität immer früher<br />

an. Herauskommen soll ein von der<br />

DDR zu verantwortendes Zwanghaftes<br />

83


und das Jüdischsein Unterdrückendes.<br />

Man kann schlecht dagegen sprechen,<br />

wenn solche Gefühle behauptet werden,<br />

es ist nur merkwürdig, wie diese<br />

Gefühle immer zunehmender den Vorwurf<br />

einer Repression artikulieren, so<br />

dass am Ende nur ein verdammenswürdiges<br />

Dasein, das sich sozialistischer<br />

Staat nannte, der zudem antisemitisch<br />

gefärbt gewesen sei, übrig bleibt. Womit<br />

Klaus Kinkel in Jubelschreie ausbrechen<br />

könnte: Wieder ist ein Teil an DDR-Delegitimierung<br />

im Gange.<br />

In einem kann man Horst Helas durchaus<br />

folgen: Es ist nicht eindeutig zu beweisen,<br />

welche positiven (oder negativen)<br />

Wirkungen alle jene Bemühungen<br />

um das Vermitteln und Kennenlernen<br />

des Jüdischen und des Wissens von den<br />

Verbrechen gegen die Juden bei den<br />

Adressaten insbesondere der Werke<br />

von Kunst und Literatur gehabt haben.<br />

Bestenfalls kann man aus dem nachweisbaren<br />

Interesse an den Werken<br />

schlussfolgern, dass positiv-menschliche<br />

Beeinflussungen des Bewusstseins<br />

vieler Bürgerinnen und Bürger der DDR<br />

erreicht werden konnten. Millionen Käufer<br />

und Leser des Buches »Nackt unter<br />

Wölfen« von Bruno Apitz, Millionen Besucher<br />

der gleichnamigen Filmvorführung<br />

und die spürbare Sympathie, <strong>als</strong><br />

84<br />

Stefan Jerzy Zweig, das »Buchenwaldkind«<br />

7 , gefunden wurde und die DDR<br />

besuchte, sind keine Fiktion. Niemand<br />

wurde gezwungen, sich mit dem Schicksal<br />

eines jüdischen Kindes zu befassen.<br />

Es ist schandbar, wenn, um es vorsichtig<br />

zu formulieren, stalinistische Dogmatiker<br />

sich damit befassten, beispielsweise<br />

Friedrich Wolf und seinen »Professor<br />

Mamlock« politisch/ideologisch zu verdächtigten.<br />

Was bei den damaligen Verhältnissen<br />

in der UdSSR durchaus lebensgefährliche<br />

Folgen haben konnte.<br />

Was aber im Geheimen geschah und<br />

in den nun zugänglichen Akten dokumentiert<br />

ist, hat nicht zwingend auf die<br />

Adressaten solcher dramatischen Werke<br />

wie »Professor Mamlock« gewirkt. <strong>Die</strong>se<br />

wussten ja von dem nichts, was sich<br />

hinter den Kulissen abspielte und konnten<br />

das Kunstwerk/den Roman auf sich<br />

einwirken lassen und beeindruckt sein.<br />

Sie erlebten im Gegenteil, dass Friedrich<br />

Wolf im August 1949 in Weimar einen<br />

Nationalpreis 2. Klasse erhielt, wobei<br />

»Professor Mamlock« ausdrücklich<br />

erwähnt wurde. 8 Jedenfalls ist es nicht<br />

akzeptabel, aus solchen Tatsachen »hinter<br />

den Kulissen« auf die gesamtgesellschaftlichen<br />

Zustände zu schlussfolgern.<br />

Interner Streit, interne Intrigen,<br />

politische Diffamierungen gab es bedauerlicherweise.<br />

Das Üble besteht darin,<br />

dass aus den Aktenfunden generalisiert<br />

und am Ende, gewürzt durch eigene Erfahrungen<br />

<strong>als</strong> Schüler der DDR-Schule,<br />

heute eben die Behauptung akzeptiert<br />

werden soll, die DDR, um die es hier<br />

konkret geht, habe beispielsweise in der<br />

Schule ideologisch nicht gegen Antisemitismus<br />

wirksam sein können. <strong>Die</strong> »logische«<br />

Schlussfolgerung – und was zu<br />

beweisen war: <strong>Die</strong> DDR sei selbst antisemitisch<br />

gewesen.<br />

Dr. sc. Detlef Joseph<br />

1 Vgl. Horst Helas, Fast zwanzig Jahre später: Zur<br />

»linken« Streitkultur in Deutschland, in: Rundbrief,<br />

Heft 4/2008 (hrsg. von der AG Rechtsextremismus/Antifaschismus<br />

beim Bundesvorstand der<br />

Partei DIE LINKE), S. 20 ff.<br />

2 Außerordentlicher Parteitag der SED-PDS. Protokoll<br />

der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember<br />

1989 in Berlin, Berlin 1990, S. 154.<br />

3 Außerordentlicher Parteitag der SED-PDS. Protokoll<br />

der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember<br />

1989 in Berlin, Berlin 1990, S. 438 f.<br />

4 Autorenkollektiv, Deutsche Geschichte, Bd. 9: <strong>Die</strong><br />

antifaschistisch-demokratische Umwälzung, der<br />

Kampf gegen die Spaltung Deutschlands und die<br />

Entstehung der DDR von 1945 bis 1949, Berlin/<br />

DDR 1989, S. 206.<br />

5 Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 18, S. 301.<br />

6 Richard Chaim Schneider, Hg., Wir sind da! <strong>Die</strong> Geschichte<br />

der Juden in Deutschland von 1945 bis<br />

heute, Berlin 2000, S. 212.<br />

7 Stefan Jerzy Zweig. Der große Bericht über das Buchenwaldkind.<br />

Sonderdruck (2. Auflage) der Zeitung<br />

»BZ am Abend, Februar 1964.<br />

8 Neues Deutschland, 26. August 1949.


<strong>Die</strong> »<strong>Linke</strong>n« und ihre Geschichte<br />

Nachdenken über die eigene Geschichte<br />

und deren Platz im historischen Prozess<br />

ist eine unerlässliche Voraussetzung<br />

für das aktuelle Selbstverständnis<br />

sowie die Erarbeitung einer alternativen<br />

politischen Strategie und Taktik einer<br />

Linkspartei. Das gilt um so mehr, <strong>als</strong> diese<br />

Partei auf mehr <strong>als</strong> 150 Jahre politischen<br />

Kampfes der verschiedensten<br />

linken Strömungen zurüc<strong>kb</strong>licken kann.<br />

<strong>Die</strong>se Geschichte umfasst nicht nur Erfolge<br />

und positive Seiten ihres Wirkens,<br />

sondern die geschichtliche Gesamtbilanz<br />

weist auch Fehlentwicklungen, Versagen<br />

und Vergehen gegen die eigenen<br />

Grundsätze auf, die unnachsichtig<br />

analysiert werden müssen, um daraus<br />

Schlußfolgerungen für die heutige und<br />

zukünftige Tätigkeit ziehen zu können.<br />

<strong>Die</strong> Verständigung darüber erfordert einen<br />

breiten sachorientierten Diskurs .<br />

<strong>Die</strong> jüngst veröffentlichte Wortmeldung<br />

des Ältestenrates der Partei DIE<br />

LINKE kann meines Erachtens <strong>als</strong> eine<br />

Wortmeldung dazu angesehen werden.<br />

1 Sie stellt Existenz und Wirken<br />

der heutigen <strong>Linke</strong>n in die Gesamtgeschichte<br />

des. Kampfes um eine sozial<br />

gerechte und menschenwürdige Gesellschaft<br />

und geht davon aus, dass sie<br />

für die Bewährung unter neuen gesellschaftlichen<br />

Bedingungen sich der Gesamtheit<br />

der dabei erwachsenen Erfahrungen<br />

versichern muss. Richtig wird<br />

dabei die Notwendigkeit unterstrichen,<br />

sich mit Fehlern und geschichtlichem<br />

Versagen auseinanderzusetzen, ohne<br />

dabei die Legitimität und die Leistungen<br />

des Kampfes namentlich der Arbeiterbewegung<br />

infrage zu stellen. Das Papier<br />

des Ältestenrates ist nicht <strong>als</strong> abschließende<br />

und endgültige »linke« Antwort<br />

auf die Frage nach dem Umgang mit der<br />

Geschichte anzusehen – so war es auch<br />

nicht gedacht.<br />

Mir scheint es nach der Lektüre des Papiers<br />

angebracht, bevor einzelne Etappen<br />

und Entwicklungsstränge auf ihre<br />

Bedeutsamkeit für die aktuelle Positionsbestimmung<br />

abgeklopft werden,<br />

einige Grundsätze zu formulieren, die<br />

für die Geschichtsdebatte der <strong>Linke</strong>n<br />

durchgängig zu beachten wären.<br />

Darunter würde ich zum Beispiel erstens<br />

verstehen, an der Vision einer<br />

sozial gerechten und menschenwürdigen<br />

Gesellschaft mit ökologisch verträglicher<br />

Wirtschaftsweise und einer<br />

grundsätzlichen friedfertigen Außenpolitik<br />

festzuhalten. Sie ergibt sich daraus,<br />

dass trotz partiell dauerhafter sozialer<br />

Verbesserungen die bestehenden kapi-<br />

86<br />

talistischen Verhältnisse nach wie vor<br />

diesen genannten Ansprüchen nicht gerecht<br />

zu werden vermögen. Auf dieser<br />

unumstößlichen geschichtlichen Tatsache<br />

beruht die Existenzberechtigung<br />

und –notwendigkeit alternativer Bewegungen<br />

und Parteien, <strong>als</strong> deren eine<br />

sich die Partei »DIE LINKE« versteht.<br />

Zum Zweiten: Eine glaubhafte Bezugnahme<br />

auf die Geschichte der eigenen<br />

Bewegung in diesem Sinne muss nach<br />

dem Scheitern des in der Sowjetunion<br />

und danach in anderen osteuropäischen<br />

Ländern eingeschlagenen Weges<br />

zur Verwirklichung einer sozialistischen<br />

Gesellschaft auch klar Position dazu beziehen,<br />

wovon DIE LINKE sich bei Verfolgung<br />

einer alternativen Politik ein für<br />

allemal abgrenzt, was <strong>als</strong>o weder <strong>als</strong> Inhalt<br />

noch <strong>als</strong> Methode sozialistischer<br />

Politik nicht mehr infrage kommt. In<br />

wenigen Worten gesagt: <strong>Die</strong> Verwirklichung<br />

von sozialistischen Zielen darf<br />

niem<strong>als</strong> demokratischen Formen ihrer<br />

Durchsetzung gegenübergestellt werden.<br />

Ein Monopolanspruch auf den Besitz<br />

der allein richtigen Kenntnis der<br />

einzuschlagenden Wege für eine Partei<br />

gibt es nicht. Gesellschaftliche Veränderungen<br />

bedürfen der Akzeptanz von Bevölkerungsmehrheiten,<br />

um die linke Bewegungen<br />

ringen müssen. Dazu gehört<br />

die Bereitschaft, die eigene Politik einer<br />

ständigen kritischen Überprüfung zu unterziehen,<br />

ob sie den angestrebten Zielen<br />

gerecht wird. Wenn sie diese Anforderung<br />

nicht erfüllt, muss sie korrigiert<br />

oder modifiziert werden.<br />

Ich würde mir auch wünschen, deutlicher<br />

<strong>als</strong> im Papier des Ältestenrates<br />

auszudrücken, dass die Ursachen für<br />

das Scheitern des Sozialismus in erster<br />

Linie im Versagen der Bewegung<br />

selbst gesucht werden müssen. Selbstverständlich<br />

haben die Gegner einer<br />

sozialistischen Erneuerung der Gesellschaft,<br />

die herrschenden Klassen der<br />

kapitalistischen Welt und besonders<br />

auch der Faschismus, kein Mittel unversucht<br />

gelassen, um den Sozialismus<br />

zu diskriminieren, zu schädigen und zu<br />

beseitigen, kriminelle und aggressiv-militärische<br />

Machenschaften eingeschlossen.<br />

Aber das ist nun einmal so: Neues<br />

stößt immer auf Gegenwehr des Alten.<br />

Für DIE LINKE ist jedoch wichtig zu erkennen,<br />

dass die Gegenseite nur einen<br />

solchen durchschlagenden Erfolg erringen<br />

konnte, weil er durch unser Versagen<br />

begünstigt wurde. Deshalb muss<br />

es in dem Umgang mit unserer eigenen<br />

Geschichte darum gehen, sorgsam auf-<br />

zudecken, worin die Ursachen für Fehlentscheidungen<br />

und Verstöße gegen<br />

die Grundsätze der Errichtung einer sozial<br />

gerechten und menschenwürdigen<br />

Ordnung bestanden, damit sichergestellt<br />

wird, das solche Fehler nicht<br />

wieder begangen werden. Und noch<br />

eines ist wichtig. Fehlentscheidungen,<br />

Misserfolge und Versagen bleiben keiner<br />

Bewegung, keiner Partei erspart,<br />

die in der Gesellschaft agieren. Deswegen<br />

gilt es aus der Geschichte der sozialistischen,<br />

insbesondere der kommunistischen<br />

Bewegung zu lernen, dass<br />

ein ehrlicher Umgang mit Fehlern unerlässlich<br />

ist. <strong>Die</strong> Losung, »Keine Fehlerdiskussion<br />

zuzulassen«, hat nicht nur<br />

keinen Nutzen gebracht, sie hat irreparablen<br />

Schaden zugefügt. Fehler machen<br />

ist menschlich, sie nicht einzugestehen<br />

und zur Korrektur nicht bereit zu<br />

sein, zieht schädliche Folgen nach sich,<br />

wie wir drastisch erleben mussten..<br />

Solche Präliminarien voranzustellen,<br />

halte ich für sehr sinnvoll. Damit könnte<br />

auch dem rationellen Kern der Bedenken,<br />

wie sie Michael Wolff in seinem Leserbrief<br />

massiv äußert, Rechnung getragen<br />

werden. 2 Allerdings gibt sein Beitrag<br />

auch Anlass, auf eine Unsitte linker Diskussionskultur<br />

zu sprechen zu kommen.<br />

Offenbar fällt es linken Kräfte immer<br />

noch schwer, sich von den unseligen<br />

Gepflogenheiten jenes Umgangs mit Ihresgleichen<br />

zu lösen, die dazu geführt<br />

haben, dass in der sozialistischen und<br />

vor allem kommunistischen Bewegung<br />

des 20. Jahrhunderts kein kreativer Diskurs<br />

zustande kommen konnte.<br />

Es ist auffällig: Wenn <strong>Linke</strong> miteinander<br />

diskutieren, werden, was bedauerlicherweise<br />

auch heute noch so ist, wie<br />

der Leserbrief von Michael Wolff erkennen<br />

lässt, Meinungsdifferenzen dazu<br />

benutzt, um sofort Abweichungen<br />

von einer imaginären vorgegebenen Linie<br />

vorzuwerfen. Statt von den gemeinsamen<br />

Positionen auszugehen und sich<br />

auf deren Grundlage argumentativ um<br />

Annäherung zu bemühen, werden in erster<br />

Linie die strittigen Positionen einander<br />

so gegenübergestellt, dass der<br />

unbefangene Leser den Eindruck gewinnen<br />

muss, hier liefern sich unversöhnliche<br />

Gegner ein Gefecht. Dann wimmelt<br />

es von »Fragwürdigem« in den Äußerungen<br />

der anderen und es wird »ein<br />

Vorbeimogeln an Tatsachen« unterstellt,<br />

um die Wortwahl des Leserbriefschreibers<br />

zu wählen.<br />

Viel sinnvoller wäre es doch, sachliche<br />

Einwände zu formulieren, die an die


Sachargumente des kritisierten Textes<br />

anschließen, dann würde sich zeigen,<br />

dass die Diskutanten oft gar nicht so<br />

weit auseinander liegen. Nehmen wir<br />

nur den Einwand von Michael Wolf gegen<br />

die Feststellung des Ältestenrates,<br />

dass die sozialistische Bewegung im<br />

20.Jh. einen »Höhepunkt« erreicht hatte.<br />

<strong>Die</strong> Tatsache, dass am Ende des<br />

Jahrhunderts die sozialistische Bewegung<br />

eine schwere Niederlage erlitten<br />

hat und die von ihr vertretene Konzeption<br />

einer sozialistischen Gesellschaft<br />

gescheitert ist, bedeutet ohne Frage<br />

einem Tiefpunkt. Andererseits schafft<br />

das die Tatsache nicht aus der Welt,<br />

dass die organisierte Arbeiterbewegung<br />

noch nie einen solchen Höhepunkt ihres<br />

Einflusses auf die gesellschaftliche Entwicklung<br />

verbuchen konnte, wie dies im<br />

20. Jahrhundert der Fall war. Bekanntlich<br />

haben Höhepunkte es an sich, zu<br />

Ausgangspunkten des Niedergangs zu<br />

werden, wenn politische Kräfte nicht fähig<br />

sind, durch eine flexible, auf neue<br />

Herausforderungen reagierende Politik<br />

die erreichten Positionen zu sichern.<br />

Im Volksmund sagt man nicht umsonst,<br />

dass man sich »tot siegen« kann. Ein<br />

Schicksal, dass übrigens nicht nur der<br />

sozialistischen Bewegung passiert ist,<br />

wenn ein Seitenblick auf aktuelle Erscheinungen<br />

erlaubt ist.<br />

Das aber ist gerade unserer Bewegung<br />

und namentlich ihren Führungskräften<br />

passiert. Im Vollgefühl der Macht wurde<br />

unterlassen, ständig ein ehrliche Bilanz<br />

über den durchschrittenen Weg zu ziehen<br />

und zu überprüfen, ob die verfolgte<br />

Strategie und die angewandten Mittel<br />

im Einklang mit den Zielstellungen standen:<br />

Vor allem bestimmte Krisensituationen<br />

hätten unbedingt der Anlass sein<br />

müssen, um unnachsichtig die Frage<br />

nach Ursachen der entstandenen Krisen<br />

zu stellen. Stattdessen wurde nur an<br />

Symptomen herumgedoktert und nicht<br />

bis zu »Systemfehlern« vorgedrungen.<br />

Das kann man aber heute nur produktiv<br />

machen, wenn man den geschichtlichen<br />

Weg der sozialistischen Bewegung in<br />

seiner Gesamtheit analysiert. Nur so<br />

lässt sich die Frage beantworten, warum<br />

trotz beachtlicher Erfolge und großer<br />

Möglichkeiten die sozialistische Alternative<br />

so kläglich gescheitert ist und<br />

damit auch richtige und wichtige Errungenschaften<br />

letztlich ihrer Wirkung beraubt<br />

wurden.<br />

Dem kann man aber nicht gerecht werden,<br />

wenn man der Geschichtssicht der<br />

<strong>Linke</strong>n eine undialektisch einseitige Negativ-Darstellung<br />

der Geschichte der<br />

sich sozialistisch verstehenden Länder<br />

einschließlich der DDR aufnötigen will,<br />

wie das Michael Wolff offenbar für richtig<br />

hält. Er begründet das damit, dass<br />

die realen Verhältnisse in diesen Ländern<br />

mit sozialistischen Idealen nichts<br />

zutun gehabt hätten. Ich kann dieser<br />

These nichts abgewinnen. Wenn, wie<br />

ich vermute, diese These verteten wird,<br />

um damit die Belastung heutiger alternativer<br />

politischer Bewegungen zu mindern,<br />

weil sie sich von den Geschehnissen<br />

dieser geschichtlichen Periode<br />

lossagen, so kann man nur sagen, dass<br />

sie einem kolossalen Irrtum unterliegen.<br />

Gegner des Sozialismus werden sich davon<br />

nicht beeindrucken lassen.<br />

Aber es stimmt auch sachlich nicht,<br />

dass eine breite Bewegung im vergangenen<br />

Jahrhundert große Opfer in<br />

Kauf nahm, um aus dem kapitalistischen<br />

System, das sie aus praktischem Erleben<br />

zu Recht für wirtschaftliche Ausplünderung,<br />

soziale Benachteiligung, für<br />

die Entstehung ökonomischer Krisen,<br />

von Kriegen und politischer Unterdrückung<br />

verantwortlich machten, auszubrechen,<br />

und die Vision einer freien, sozial<br />

gerechten und menschenwürdigen<br />

Gesellschaft zu verwirklichen. <strong>Die</strong>ser<br />

humanistischen Vision darf man wohl<br />

auch dann die Legitimation nicht versagen,<br />

wenn diese Entwicklung nicht zu<br />

dem angestrebten Ergebnis geführt hat.<br />

Solche rigorosen pauschalen Abwertungen<br />

sind aber nichts anderes <strong>als</strong> die<br />

Verweigerung der Legitimität von Gesellschaftsveränderungen,<br />

was sicherlich<br />

den heute Herrschenden durchaus<br />

Recht sein kann, aber nicht denjenigen<br />

Kräften, die an der Notwendigkeit<br />

festhalten, die Gesellschaft weiter zu<br />

demokratisieren und die verhängnisvollen<br />

Folgen kapitalistischer Profitgier<br />

zu beseitigen. Es ist <strong>als</strong>o mit dem Geschichtsverständnis<br />

einer Linkspartei<br />

schlichtweg unvereinbar, eine solche nihilistische<br />

Haltung gegenüber der Geschichte<br />

des Sozialismus zu kultivieren.<br />

Vielmehr müsste man dieser Periode mit<br />

dem schuldigen Respekt gegenübertreten,<br />

der sowohl die Anstrengungen und<br />

Leistungen würdigt, <strong>als</strong> auch die Ursachen<br />

und Entscheidungssituationen aufdeckt,<br />

die zu Misserfolgen, Fehlern und<br />

auch zu Verbrechen des Stalinismus geführt<br />

haben.<br />

Im Leserbrief von Michael Wolff sind <strong>als</strong>o<br />

Positionen zum Umgang mit der Geschichte<br />

formuliert, die einer produktiven<br />

Aneignung der geschichtlichen<br />

Erfahrungen nicht sonderlich dienlich<br />

erscheinen.. Das wird sofort deutlich,<br />

wenn man einige Thesen zu Ende denkt.<br />

Dazu gehört das sehr vordergründige<br />

Bemühen, die <strong>Linke</strong> zu veranlassen, sich<br />

möglichst nicht mit der DDR-Vergangen-<br />

heit und der Geschichte des Kampfes<br />

der Arbeiterbewegung in Verbindung zu<br />

bringen. So schreibt er beispielsweise:<br />

»<strong>Die</strong> guten Absichten und der oft Kräfte<br />

zehrende Einsatz vieler DDR-Bürger<br />

und SED-Mitglieder (der Autor dieser<br />

Zeilen eingeschlossen) hat letztlich weder<br />

den Zusammenbruch noch die Fehlentwicklungen<br />

und die im Namen des<br />

Sozialismus begangenen Verbrechen<br />

verhindern können. … Schlimmer noch,<br />

durch unseren Einsatz haben wir auch<br />

die Herrschaftsverhältnisse der DDR<br />

(Ich bleibe mal bei dieser) stabilisiert<br />

und damit vieles (z. b. auch den Mauertoten)<br />

billigend in Kauf genommen. Ein<br />

Bekenntnis zu unserer Verantwortung,<br />

Schuld bzw. Mitschuld ist kein Kniefall<br />

vor wem auch immer, sondern Verantwortung<br />

für einen ehrlichen Neuanfang<br />

linker Politik.« 3<br />

<strong>Die</strong>se Bemerkungen besagen eigentlich<br />

nichts anderes, <strong>als</strong> dass eigentlich alle<br />

DDR-Bürger, übrigens sogar die Mehrzahl<br />

der Oppositionellen, die ihrer Arbeit<br />

nachgegangen sind, auch wenn sie<br />

sich den sozialistischen Idealen nicht<br />

verpflichtet gefühlt haben, für alles und<br />

jedes, was in der DDR geschehen ist,<br />

verantwortlich sind. Denn sie haben<br />

alle auf die eine oder andere Art dazu<br />

beigetragen, die Funktionsweise des<br />

»Systems« aufrecht zu erhalten. Nach<br />

Wolff müssten sie dieses Verhalten auf<br />

das schärfste verurteilen und könnten<br />

nur <strong>als</strong> »reuige Sünder« eventuell die<br />

Berechtigung erwerben, sich heute <strong>als</strong><br />

»<strong>Linke</strong>« zu bezeichnen.<br />

Im Grunde genommen läuft ein solches<br />

Herangehen an die Geschichte darauf<br />

hinaus, dass jeder, der zum Beispiel in<br />

dieser Gesellschaft der Bundesrepublik<br />

Deutschland seiner Arbeit nachgeht, eine<br />

beliebige Verantwortung ausübt und<br />

überhaupt am öffentlichen Leben teilnimmt,<br />

eigentlich in einer linken Partei<br />

fehl am Platze ist; denn er hält das bestehende<br />

System mit all seinen Unzulänglichkeiten,<br />

seiner Krisenhaftigkeit,<br />

seiner sozialen Kälte, seiner Ausplünderung<br />

der Dritten Welt und seinen Kriegsabenteuern<br />

am Laufen, wogegen ja wohl<br />

eine Linkspartei in Opposition steht. Um<br />

auf diesen »starken Tobak« ebenso rigoros<br />

zu reagieren, bedeutet dies, dass eigentlich<br />

nur unschuldige Kinder und so<br />

genannte Aussteiger <strong>als</strong> Mitglieder für<br />

eine Partei infrage kommen, die eine alternative<br />

Politik vertritt.<br />

Wolff verwahrt sich zwar dagegen, mit<br />

seiner Haltung einen Kniefall vor »wem<br />

auch immer« zu begehen! Dass das<br />

nicht seine Absicht ist, will ich ihm gern<br />

zugestehen. Aber objektiv bewegt er<br />

sich nun einmal unbestritten auf Pfa-<br />

87


den, wie diejenigen Politiker und Journalisten,<br />

die unter anderem dem sächsischen<br />

Ministerpräsidenten Tillich zum<br />

Vorwurf machten, <strong>als</strong> stellvertretender<br />

Vorsitzender des Rates des Kreises Kamenz<br />

für Handel und Versorgung durch<br />

eventuell gute Amtsführung besonders<br />

verwerflich gehandelt zu haben, weil er<br />

dadurch das SED-Herrschaftssystem<br />

befestigt habe. <strong>Die</strong>ses Vorgehen zeigt,<br />

dass solcherlei Argumentationen nichts<br />

mit Wahrheitsfindung und Aufarbeitung<br />

von Geschichte zu tun haben, sondern<br />

politische Instrumentalisierung von Geschichte<br />

sind, indem sie Werkzeuge für<br />

eine politische Disziplinierung und Ausgrenzung<br />

schaffen. Dabei tut es nichts<br />

zur Sache, dass im Falle Tillich diesmal<br />

ein Angehöriger der herrschenden politischen<br />

Klasse durch diese Verfahrensweise<br />

in Verlegenheit gebracht werden<br />

sollte.<br />

Nun möchte ich noch einen letzten Gedanken,<br />

angeregt durch das Papier des<br />

Ältestenrates, äußern. <strong>Die</strong> Linkspartei<br />

ist auf dem Wege, eine gesamtdeutsche<br />

Partei zu werden, wozu es hohe Zeit ist.<br />

Das erfordert auch, bei der Bilanzierung<br />

der eigenen Geschichte diese Tatsache<br />

zu beherzigen.<br />

Zu unserer Geschichtsbilanz muss<br />

auch die Analyse des Wirkens aller lin-<br />

88<br />

ken Kräfte in Westdeutschland seit<br />

1945/1949 gehören. Im Papier des Ältestenrates<br />

wird durchaus auf die geschichtlichen<br />

Erfahrungen der SPD hingewiesen,<br />

aber das allein reicht nicht.<br />

Es geht um die vielen alternativen Ansätze<br />

und Anläufe, die teilweise in kritischer<br />

Distanz zu der Entwicklung in<br />

der DDR entstanden sind. Es gehört sich<br />

dabei nicht nur, deutliche Worte dafür<br />

zu finden, dass Fehler und Versagen,<br />

Repressionsakte und Vergehen der Partei-<br />

und Staatsorgane in der DDR dazu<br />

beigetragen haben, um alternative Bewegungen<br />

zu diskreditieren, sondern es<br />

gilt auch die Frage zu untersuchen, was<br />

an Aktionen in der BRD geeignet war, alternative<br />

Entwicklungen zu inaugurieren<br />

und was sie behindert hat.<br />

Man kann an der Tatsache nicht vorübergehen,<br />

dass alle diese Bewegungen<br />

letztlich auch gescheitert sind.<br />

Für eine unter heutigen Bedingungen<br />

zu entwickelnde alternative Politik ist<br />

es wichtig, sich der Erfahrungen zu bemächtigen,<br />

die unter kapitalistischen<br />

Verhältnissen von linken Kräften gesammelt<br />

wurden. Auch hier geht es sowohl<br />

um positive <strong>als</strong> auch negative Erfahrungen.<br />

Auch hier muss Stellung dazu<br />

bezogen werden, woran man anknüpft,<br />

und was man <strong>als</strong> total verfehlt ansieht.<br />

Es sei nur an die Aktionen der RAF erinnert.<br />

4 Nach meinem Dafürhalten gibt<br />

es dieser Hinsicht erheblichen Nachholbedarf.<br />

Abschließend möchte ich noch einmal<br />

unterstreichen, dass ich eine kontroverse<br />

Diskussion befürworte; denn nur<br />

dadurch können die verschiedensten<br />

Meinungen und Aspekte zur Geltung<br />

gebracht werden. Aber es sollte eine<br />

Suche unter Gleichgesinnten sein, die<br />

sich auch in der Form manifestieren<br />

muss, das heißt, sie muss allen Teilnehmern<br />

das Bestreben zubilligen, einen<br />

Beitrag zu einem tragfähigen Umgang<br />

mit der eigenen Geschichte leisten zu<br />

wollen.<br />

Professor Dr. Helmut Meier<br />

1 Siehe: Anregungen des Ältestenrates der Partei<br />

DIE <strong>Linke</strong> zum Umgang mit der Geschichte. In:<br />

Rundbrief. AG Rechtswextremismus/Antifaschismus<br />

beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE.<br />

4/08, S. 41 ff.<br />

2 Siehe: Michael Wolf: An Tatsachen nicht vorbeimogeln,<br />

in: ebenda, S. 45.<br />

3 Ebenda<br />

4 Vgl. hierzu die folgenden Beiträge im »Rundbrief«:<br />

Reiner Zilkenat, Christian Klar, Inge Viett, die RAF<br />

und die <strong>Linke</strong>, in: H. 1–2/2007, S. 37 ff; Birgit Wulf,<br />

Leserbrief, in: ebenda, H. 3–4/2007, S. 49 u. die<br />

»Anmerkungen« hierzu von Reiner Zilkenat, ebenda.


LESERBRIEFE<br />

Leserbrief zu Beiträgen im Heft 4/2008:<br />

Der Artikel »Zur linken Streitkultur in<br />

Deutschland…« von Dr. Horst Helas war<br />

für mich Anlass, einiges zu durchdenken<br />

und schriftlich festzuhalten.<br />

Zur Stalinismus-Problematik:<br />

Erstens: Ein Problem dürfte sein, dass<br />

die Mehrheit unserer Mitglieder eine<br />

Diskussion für nicht notwendig hält, sie<br />

auch keinen Bezug mehr zur Problematik<br />

Stalinismus und auch nicht das Wissen<br />

darüber haben. Ich meine, dass es<br />

auch unter uns <strong>Linke</strong>n Erscheinungen<br />

gibt, die ich dem Wesen des Stalinismus<br />

zuordnen würde (Glorifizierung der<br />

DDR, Negierung richtiger Erfahrungen<br />

und Tatsachen aus der DDR, keine objektive<br />

Geschichtsbewertung, Unsachlichkeit<br />

beim Streit, unbedingt recht haben<br />

wollen usw.).<br />

Zweitens: Stalinismus wird von vielen<br />

unserer Mitglieder sehr häufig <strong>als</strong> unmittelbare<br />

Politik Stalins bis 1953 betrachtet.<br />

Ich meine, dass der Stalinismus<br />

ein System darstellt, welches<br />

unmittelbar nach der Oktoberrevolution<br />

sich auszuprägen begann und sich<br />

in den folgenden Jahrzehnten in der<br />

UdSSR zu Machtmissbrauch, zur Politik<br />

des Verbrechens und der Diskriminierung<br />

der Ideen des Sozialismus/<br />

Kommunismus führte (geistige und physische<br />

Vernichtung Andersdenkender,<br />

Kollektivierungszwang, Hungersnot in<br />

der SU, sinnloses in den Tod treiben der<br />

eigenen Soldaten im II. Weltkrieg usw.).<br />

Stalin hätte aber niem<strong>als</strong> seine Maßnahmen<br />

durchsetzen können, wenn er<br />

nicht willige Vollstrecker gefunden hätte<br />

(Speichellecker, Karrieristen).<br />

Leider – und das ist die Tragik – waren<br />

auch viele Menschen von der Richtigkeit<br />

seiner Maßnahmen überzeugt (»Stalin<br />

wird schon wissen, was er macht«,<br />

»Unser Väterchen Stalin«). Hinzu kam<br />

auch, dass sich unter Stalin für viele Sowjetbürger<br />

die Lebensbedingungen verbesserten<br />

und Stalin <strong>als</strong> der Kopf des<br />

Sieges über die deutschen Faschisten<br />

galt.<br />

Drittens: In der Internationalen Arbeiterbewegung<br />

hat der Stalinismus<br />

meines Erachtens seine Ursachen darin;<br />

dass die SU das Vorbild für die Möglichkeit<br />

des Sieges der Unterdrückten<br />

wurde, die KPdSU die erste Macht ausübende<br />

kommunistische Partei war, die<br />

Kommunistischen Parteien den Marxismus-Leninismus<br />

nicht verarbeitet<br />

hatten, unkritisch sich verhielten, alles<br />

gläubig übernahmen was vom »Großen<br />

Vaterland aller Arbeiter« kam und in der<br />

Endkonsequenz jegliche stalinistische<br />

Handlungsweisen bedingungslos <strong>als</strong><br />

richtig und notwendig und im Interesse<br />

der Sowjetunion und der eigenen Partei<br />

betrachteten.<br />

Frage: Konnte man es überhaupt unter<br />

den Bedingungen des damaligen Entwicklungsstandes,<br />

der ständig größer<br />

werdenden faschistischen Gefahr, des<br />

konkreten Widerstandes usw. anders<br />

sehen? Waren die Fehler der einzelnen<br />

Parteien in der Kommunistischen Internationale<br />

»objektiv« hervorgerufen<br />

durch den großen Einfluss der KPdSU?<br />

Wir haben es heute leichter. Sprichwort<br />

»Der Abend ist klüger <strong>als</strong> der Morgen«.<br />

Viertens: Ich glaube, dass in unserer<br />

Entwicklung in der DDR der Stalinismus<br />

durch die Tatsache des Sieges im<br />

II. Weltkrieg, deieRolle der Besatzungsmacht,<br />

das Exil führender KPD-Funktionäre<br />

in der UdSSR, die unkritische Übernahme<br />

von »Erfahrungen« aus der SU in<br />

Ideologie, Politik, Kultur, Wirtschaft, der<br />

Einfluss der KPdSU auf SED usw. gefördert<br />

wurde und sich dann eine deutsche<br />

Erscheinungsform des Stalinismus<br />

herausbildete (z. b.: Rolle des Politbüros<br />

und des Gener<strong>als</strong>ekretärs, Überbetonung<br />

des Zentralismus, Negierung<br />

der Demokratie, die Unterordnung der<br />

Staatsmacht, Haltung zur SPD, unsere<br />

eigene Unterordnung unter die Parteidisziplin)<br />

Wir haben aus Stalin eine Kultfigur gemacht<br />

(Wahl in das »Ehrenpräsidium«,<br />

»4. Klassiker«, uneingeschränkte Bejahung<br />

seiner theoretischen Auffassungen,<br />

nicht zuletzt seine Anschauung:<br />

je weiter die Entwicklung zum Sozialismus<br />

geht, um so schärfer werde der<br />

Klassenkampf. Für uns – und das galt<br />

auch für mich – brach mit dem 20. Parteitag<br />

der KPdSU 1956 eine Welt zusammen,<br />

denn meine Generation ist<br />

mit dem Namen Stalin erzogen worden.<br />

Ich habe einmal versucht, den Begriff<br />

»Stalinismus« zu definieren. Es ist mir<br />

nicht gelungen und ich glaube, man<br />

kann die Vielfältigkeit seiner Erscheinungen<br />

auch nicht in eine Definition<br />

pressen. Wäre aber nicht eine Abgrenzung<br />

doch notwendig? Neigen wir eventuell<br />

dazu, alles was uns an unserer Bewegung<br />

nicht gefällt, <strong>als</strong> Erscheinungen<br />

des Stalinismus zu bezeichnen? Wenn<br />

ja, dann würden wir damit unsere eige-<br />

nen Mängel und Unzulänglichkeiten entschuldigen!<br />

Zum Artikel des Ältestenrates<br />

zur Auseinandersetzung mit<br />

der Geschichte:<br />

Erste Bemerkung:<br />

»<strong>Linke</strong> … betreiben die Auseinandersetzung<br />

mit geschichtlichen Themen zuerst<br />

um ihrer selbst willen. Es muss …<br />

erlaubt sein, eigene früher für absolute<br />

Wahrheiten gehaltenen Ansichten kritisch<br />

und selbstkritisch neu zu befragen«<br />

Ich meine, dass in unserer Partei die<br />

Auseinandersetzung über geschichtliche<br />

Ereignisse, Bewertungen usw. viel<br />

zu gering entwickelt ist. Das beginnt<br />

aber bereits bei den Leitungen. <strong>Die</strong> Erklärung<br />

des Ältestenrates habe ich zustimmend<br />

gelesen, musste aber feststellen,<br />

dass sie weitgehend unbekannt<br />

ist und kaum Beachtung findet. Deswegen<br />

muss ich sogar von einer Ignoranz<br />

unter großen Teilen der <strong>Linke</strong>n zur Bewertung<br />

geschichtlicher Prozesse, Personen<br />

usw. Sprechen.<br />

Zweite Bemerkung:<br />

Als ehemaliger Geschichts- und Staatsbürgerkundelehrer<br />

musste ich 1989/90<br />

begreifen, dass ich viele Details in der<br />

Politik der DDR f<strong>als</strong>ch eingeschätzt und<br />

somit auch nicht »objektiv« meinen<br />

Schülern übermittelt habe.<br />

Das tat ich nicht bewusst, sondern entsprechend<br />

den mir übermittelten bzw.<br />

bekannten Tatsachen. Mit Zorn und Verbitterung<br />

musste ich feststellen, dass<br />

die Parteiorgane der SED und auch die<br />

Staatsorgane uns in vielen Dingen belogen<br />

hatten und auch viele Historiker<br />

nicht die ihnen bekannten Wahrheiten<br />

schrieben, sondern sich der »Parteimeinung«<br />

anpassten: da betraf zum Beispiel<br />

Katyn, die Geheimabkommen zwischen<br />

dem faschistischen Deutschland und<br />

der UdSSR. Sehr interessant war dabei<br />

für mich in diesem Zusammenhang das<br />

im letzten Jahr veröffentlichte Buch von<br />

Professor Kurt Pätzold »<strong>Die</strong> Geschichte<br />

kennt kein Pardon« und seine Rezension<br />

im »Rundbrief«. Ich musste <strong>als</strong>o nach<br />

1989/90 umdenken und vieles neu bewerten.<br />

Dafür schäme ich mich nicht,<br />

auch wenn manche meiner Weggefährten<br />

in mir nun einen »Abweichler« sehen.<br />

Dritte Bemerkung:<br />

Wir – und auch ich – sprechen oft von<br />

einer objektiven Bewertung der Ge-<br />

89


schichte. Ich glaube, das ist nur bedingt<br />

richtig, denn unsere Meinungsbildung<br />

beruht doch oftm<strong>als</strong> auf den Meinungen<br />

anderer bei der Durcharbeitung von Literatur,<br />

des eigenen Erlebens und so ist<br />

immer ein subjektiver Faktor vorhanden.<br />

Sollten wir nicht besser von einer<br />

wahrheitsgemäßen Bewertung entsprechend<br />

des gegebenen Kenntnisstandes<br />

sprechen?<br />

Zur Problematik des<br />

Antisemitismus:<br />

Was verstehen wir unter Antisemitismus?<br />

Ich habe bisher keine wissenschaftlich<br />

begründete Erklärung dafür<br />

gefunden und meine, dass »Judenfeindlichkeit«<br />

zu wenig aussagt, denn der Antisemitismus<br />

tritt meines Erachtens in<br />

vielen Variationen auf.<br />

Ich denke, dass es in der DDR keinen offenen,<br />

aber einen versteckten Antisemitismus<br />

gab. Das zeigte sich in der Nichtbereitschaft,<br />

sich mit der Geschichte<br />

des Judentums öffentlich zu befassen,<br />

der Haltung zu bestimmten Persönlichkeiten<br />

jüdischer Abstammung, der Reduzierung<br />

der Jüdischen Geschichte in<br />

Lehrbüchern, wissenschaftlichen Abhandlungen<br />

usw. auf ein Minimum und<br />

auf die Nichtakzeptanz des Staates Israels.<br />

Doch ob »versteckter oder offener«<br />

Antisemitismus, Antisemitismus bleibt<br />

Antisemitismus. Ich war der erste im<br />

Kreis Guben, der sich mit der Geschichte<br />

der dortigen Jüdischen Gemeinde befasste<br />

und dazu auch im Gubener Heimatkalender<br />

1988 meine Ergebnisse<br />

veröffentlichte.<br />

90<br />

Antifaschismus schloss nicht Antisemitismus<br />

aus, denn wir haben den Begriff<br />

des Antifaschismus fast ausschließlich<br />

auf die Haltung zur UdSSR, führender<br />

Politiker, des Widerstandes von KPD-<br />

Mitgliedern gegen den Faschismus usw.<br />

begrenzt. Unsere Kranzniederlegungen<br />

am 8. Mai und andere Veranstaltungen<br />

ähnlicher Art wurden hinsichtlich der<br />

Teilnahme »organisiert«, doch die wenigsten<br />

Teilnehmer fühlten sich <strong>als</strong> Antifaschisten,<br />

einfach deswegen nicht,<br />

weil sie kaum noch Erinnerungen an<br />

den Faschismus hatten bzw. sein Wesen<br />

einzuschätzen wussten. Doch das<br />

kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen,<br />

denn wir haben doch immer den<br />

»antifaschistischen Charakter« der DDR<br />

betont und den Charakter und die Politik<br />

des Faschismus fast nur von seiner<br />

diktatorischen Form versucht aufzuarbeiten.<br />

Große Probleme habe ich zur Zeit mit<br />

meiner Haltung zum Staat Israel. Ich<br />

anerkenne selbstverständlich das Recht<br />

der jüdischen Menschen auf einen selbständigen<br />

eigenen Staat und ich unterscheide<br />

zwischen der Haltung dieser<br />

jüdischen Staatsbürger und der aggressiven<br />

Außenpolitik ihrer Regierung. Ich<br />

betrachte diese Außenpolitik <strong>als</strong> inhuman<br />

und unmenschlich und lehne sie<br />

strickt ab. Frage: Bin ich deshalb antisemitisch?<br />

Ich habe mich in den letzten Jahren besonders<br />

mit der faschistischen Politik<br />

von 1933 bis 1945 in Guben befasst und<br />

dazu auch im Gubener Heimatkalender<br />

eine Anzahl Beiträge veröffentlicht. Ver-<br />

sucht habe ich auch, den antifaschistischen<br />

Widerstand in Guben aufzuarbeiten<br />

und schriftlich niederzulegen. Ich<br />

will damit nur andeuten, dass ich mich<br />

mit der Problematik des Antisemitismus,<br />

Antifaschismus und Faschismus<br />

stärker befasse, <strong>als</strong> viele andere in unserer<br />

Stadt.<br />

Trotz der neuen Erkenntnisse, die ich<br />

seit 1989/90 gewonnen habe, blieb die<br />

DDR meine Heimat. Ich bin in ihr – Jahrgang<br />

1930 – aufgewachsen, ich half, sie<br />

mit zu gestalten und bin nun über die<br />

oftm<strong>als</strong> f<strong>als</strong>che und einseitige Darstellung<br />

des Lebens in der DDR durch die<br />

Medien, durch Politik und Historiker –<br />

besonders aus den alten Bundesländern<br />

– empört.<br />

Überzeugt bin ich davon, dass im Jahr<br />

2009 die Flut der Verleumdungen über<br />

unser Leben in der DDR weiter anwachsen<br />

wird und ich frage mich, was tut die<br />

Partei, der ich angehöre, dagegen. Wiederholt<br />

habe ich – wie bereits erwähnt –<br />

versucht, örtliche Parteiorgane für eine<br />

ehrliche Geschichtsaufarbeitung zu gewinnen,<br />

doch das Ergebnis ist unbefriedigend.<br />

Ich spreche mich für eine »objektive«<br />

oder besser wahrheitsgemäße Darstellung<br />

der geschichtlichen Entwicklung<br />

in den beiden deutschen Staaten und<br />

in der jetzigen BRD aus und versuche<br />

dafür auf regionalem Gebiet durch bestimmte<br />

Veröffentlichungen und Veranstaltungen<br />

meinen bescheidenen Beitrag<br />

zu leisten.<br />

Manfred Augustyniak


Leserbrief zum Heft 4/2008 des »Rundbriefs«<br />

»<strong>Die</strong> Rundbriefe, die ich seit dem Jahr<br />

2004 erhalte, habe ich stets aufmerksam<br />

gelesen und auch einzelne Artikel<br />

daraus mit dem Fotokopiergerät in<br />

der Geschäftsstelle der LINKEN abgelichtet<br />

und an Vorstandsmitglieder des<br />

Kreisverbandes Elbe-Elster (im Süden<br />

Brandenburgs gelegend.Red.) gegeben.<br />

(…) Aus dem Rundbrief 4/08 habe ich<br />

den Artikel ›Anregungen des Ältestenrats<br />

der Partei zum Umgang mit der Geschichte‹<br />

in 10 Exemplaren abgelichtet<br />

und verteilt. Ich halte die Bekanntmachung<br />

dieser Erklärung für besonders<br />

notwendig, da von Mitgliedern des Bundesvorstandes<br />

schon oft Geschichtslügen<br />

verbreitet wurden oder in Doku-<br />

Antisemitismus<br />

ist in der deutschenGesellschaft<br />

eine seit<br />

vielen Jahren relativunveränderte<br />

Einstellung<br />

eines großen Teils<br />

der Bevölkerung.<br />

Trotz dieses Befundes<br />

ist die<br />

Hartnäckigkeit<br />

der vielen Akteure beim Kampf um die Zurückdrängung des<br />

Antisemitismus in Deutschland bewunderns- und unterstützenswert.<br />

Mehrere Beiträge in dieser Publikation belegen<br />

die lange Entwicklungsgeschichte von Antisemitismus. Andere<br />

beleuchten aktuelle Aspekte dieses Phänomens. Sie<br />

bekräftigen, dass der Kampf gegen Antisemitismus einen<br />

unverwechselbar eigenständigen Platz in der Bekämpfung<br />

von Phobien verschiedenster Art innehat, der nicht relativiert<br />

werden sollte.<br />

Im Zentrum des Buches stehen die Referate und ausgewählte<br />

Diskussionsbeiträge der Antisemitismus-Konferenz der<br />

Rosa-Luxemburg-Stiftung vom 11. Januar 2007. Dort wurde<br />

das Bedürfnis bekräftigt, grundlegende Erfahrungen der<br />

Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus einem breiten<br />

Interessentenkreis zugänglich zu machen.<br />

<strong>Die</strong> Herausgeber möchten vier Aspekte ihrer grundsätzlichen<br />

Haltung benennen:<br />

1. Für Menschen, die sich zu „den <strong>Linke</strong>n“ zählen, ist der Antifaschismus<br />

ein unverzichtbarer Grundwert. Dass dieser Antifaschismus<br />

keinesfalls monolithisch zu verstehen ist, versteht<br />

menten der Partei Eingang fanden. Ich<br />

verurteile die Verschweigetaktik, da diese<br />

Erklärung des Ältestenrats nicht mal<br />

im »Disput« zu finden war.<br />

Das…Material über Rechtsextremismus<br />

halte ich für sehr wertvoll und wissenswert,<br />

vor allem für führende Genossen<br />

in unserer Kreisorganisation.<br />

Ablichtungen habe ich der Geschäftsstelle<br />

übergeben und je ein Exemplar<br />

den Kreisvorsitzenden und der Landtagsabgeordneten<br />

Carolin Steinmetzer-<br />

Mann zugestellt. Seit 1994 habe ich in<br />

den von mir erarbeiteten Wahlanalysen<br />

des Elbe-Elster-Kreises auf die Notwendigkeit<br />

des Kampfes gegen den Einfluss<br />

der rechtsextremen Parteien hingewie-<br />

Horst Helas, Dagmar Rubisch, Rainer Zilkenat (Hrsg.)<br />

sen. Bei der Kreistagswahl 2008 erhielt<br />

die DVU 5,1 Prozent der Stimmen<br />

(2003: 3,7 Prozent) und bekam 3 Sitze<br />

im Kreistag gegenüber 2 bei der vorherigen<br />

Wahl. Landesweit kam die DVU<br />

auf 1,6 Prozent. Im Elbe-Elster-Kreis<br />

ist es besonders das Schradenland im<br />

Altkreis Bad Liebenwerda, wo die DVU<br />

in manchen Orten mehr Stimmen hat,<br />

<strong>als</strong> die LINKE. Unser Kreisvorsitzender<br />

wohnt im Altkreis Bad Liebenwerda und<br />

beschäftigt sich seit einigen Jahren verstärkt<br />

mit dem Problem Rechtsextremismus/Antifaschismus.<br />

(…)«<br />

Gerhard Rohr,<br />

Finsterwalde (Brandenburg)<br />

Neues vom Antisemitismus:<br />

Zustände in Deutschland<br />

Texte 46 der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Karl <strong>Die</strong>tz Verlag Berlin 2008,<br />

175 Seiten, Broschur, 14,90 Euro, ISBN 978-3-320-02142-9<br />

sich von selbst. In Deutschland hat es vor wie nach 1945 immer<br />

Antifaschismen gegeben. Das entsprechende Handeln<br />

von Menschen verschiedener Herkunft und Weltanschauung<br />

gründet sich auch in der Gegenwart auf unterschiedliche Motive.<br />

Zudem meint Antifaschismus heute immer auch ein PRO,<br />

das Eintreten für bestimmte Grundwerte der bestehenden Gesellschaft,<br />

ihre Verteidigung wie Ausgestaltung.<br />

2. „<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>“ muss sich fast 60 Jahre nach der Gründung<br />

zweier deutscher Staaten und fast 20 Jahre nach der erneuten<br />

Herstellung der Einstaatlichkeit mit allen Facetten ihrer<br />

Geschichte differenziert, kritisch und sachlich auseinandersetzen.<br />

Auch hier versteht es sich von selbst, die äußeren<br />

Aspekte, beispielsweise die Zwänge des Kalten Kriegs, zu<br />

berücksichtigen. <strong>Die</strong>s sollte aber nicht zur Entschuldigung<br />

für Unzulänglichkeiten, Fehlentwicklungen und auch Verbrechen<br />

im jeweiligen Deutschland. <strong>Die</strong>s gilt auch für eine solche<br />

Frage wie die, ob es in der DDR Antisemitismus gegeben<br />

habe. <strong>Die</strong>ses Spezialthema der Geschichte der DDR verdient<br />

Aufmerksamkeit.<br />

3. Staatliche Organe, Wissenschaftler wie Publizisten sollten<br />

aufhören, zwischen Rechtsextremismus und sogenanntem<br />

Linksextremismus ein Gleichheitszeichen zu setzen – auch<br />

hinsichtlich des Antisemitismus. In Theorie wie gesellschaftlicher<br />

Praxis sollte man den Trennungsstrich zwischen all<br />

jenen Kräften, die die demokratische Grundordnung in<br />

Deutschland <strong>als</strong> ihren Handlungsrahmen ansehen, und jenen,<br />

die das „ganze System“ und „alle Systemparteien“<br />

überwinden wollen, klar kenntlich lassen.<br />

4. In Publizistik wie wissenschaftlicher Debatte erleben wir<br />

immer wieder, dass ein beliebiger Autor mit seinen Aussagen<br />

von Vorgestern immer wieder neu konfrontiert wird. <strong>Die</strong>s<br />

geschieht manchmal in der Erwartung, der Zitierte möge<br />

sich rechtfertigen.<br />

91


<strong>Die</strong> Pogrome begannen am 7. November 1938<br />

Horst Helas und Reiner Zilkenat haben<br />

anlässlich des 70. Jahrestages der antisemitischen<br />

Pogrome eine verdienstvolle<br />

Dokumentation vorgelegt, die noch<br />

einmal in einem Querschnitt die wichtigsten<br />

Aspekte dieses faschistischen<br />

Verbrechens benennt. <strong>Die</strong>se Ergänzung<br />

soll nur im Detail eine Erweiterung der<br />

Blickrichtung und eine notwendige Korrektur<br />

der historischen Chronologie<br />

bringen. Es geht um die Anfänge der Pogrome<br />

und damit auch deren politische<br />

Bewertung.<br />

Völlig zurecht schreiben Helas und Zilkenat:<br />

»Keine zentrale Direktiven – weder<br />

von Goebbels oder gar von Hitler<br />

unterschrieben – lagen dem Novemberpogrom<br />

zu Grunde. Gleichwohl wähnten<br />

sich die Anführer vor Ort durch den<br />

Trend der allgemeinen Politik gedeckt,<br />

ja ermuntert.«<br />

<strong>Die</strong>s gilt auch und gerade für die ersten<br />

Pogrome, die bekanntlich in Nordhessen,<br />

nämlich in Kassel, Sontra und Bebra<br />

stattfanden. Dort starteten die Pogrome<br />

nicht erst am 8. November, <strong>als</strong><br />

die Morgenzeitungen vom Attentat in<br />

Paris berichteten, sondern die Pogrome<br />

wüteten dort bereits am Abend des 7.<br />

November. <strong>Die</strong> Nachricht über das Attentat<br />

auf den Legationsrat vom Rath<br />

wurde natürlich auch im Radio verbreitet.<br />

Und in Kassel startete am Abend –<br />

nach einer Versammlung der örtlichen<br />

NSDAP – unter aktiver Mitwirkung von<br />

SS-Angehörigen aus Arolsen, die in Zivil<br />

mitmischten, der Sturm auf das jüdische<br />

Cafe Heinemann, anschließend<br />

92<br />

auf die große jüdische Synagoge in der<br />

Bremer Straße (Untere Königstraße)<br />

und das jüdischen Schul- und Gemeindezentrum<br />

in der Großen Rosenstraße.<br />

<strong>Die</strong> Pogrome begannen um 21 Uhr<br />

45 und dauerten bis etwa 1 Uhr, wobei<br />

die Zahlenangaben der Beteiligten<br />

schwankten. Bestätigt ist, dass neben<br />

einem organisierten Kern von gut dreißig<br />

Anführern sich noch mehrere Hundert<br />

Mitwirkende und Schaulustige<br />

beteiligten. Bilanziert wurde die Zerstörung<br />

von 20 jüdischen Geschäften und<br />

die Tatsache, dass es bis zum Vormittag<br />

des 8. November zu »Plünderungen<br />

kleineren Umfangs« gekommen sei. Bereits<br />

im Laufe des 8. November berichtete<br />

die Stapostelle Kassel direkt an SS-<br />

Gruppenführer Reinhard Heydrich in<br />

Berlin über diese Vorgänge. Der Bericht<br />

über die Kasseler Aktion machte seine<br />

Runde bis in die Staatskanzlei und<br />

diente <strong>als</strong> Vorbild für ähnliche Aktionen<br />

in den folgenden Tagen.<br />

Dabei war dieser Bericht noch nicht einmal<br />

vollständig. Denn in der nordhessischen<br />

Provinz kam es ebenfalls in dieser<br />

Nacht zu weiteren Ausschreitungen.<br />

Für Bebra liegen mehrere Berichte vor.<br />

In den Unterlagen des Prozesses, der<br />

1946 gegen die Verantwortlichen der<br />

Pogrome in Bebra vor dem Landgericht<br />

Kassel geführt wurde, heißt es: »Bei einer<br />

Parteiversammlung, die am Abend<br />

des 7. November im hessischen Hof<br />

stattfand, hatte der stellvertretende<br />

Kreisleiter die Judenaktion angekün digt<br />

und zur Vergeltung aufgefordert. Um<br />

dieser so genannten Vergeltungsaktion<br />

die gewünschte Richtung und das erstrebte<br />

Ausmaß zu geben, hatte die Parteileitung<br />

auswärtige Einsatztrupps herangezogen«.<br />

Hierbei handelte es sich<br />

um Kasseler SS-Angehörige.<br />

Da die örtliche NSDAP auf diese Kräfte<br />

einige Zeit warten musste, begannen die<br />

Ausschreitungen erst um Mitternacht.<br />

Ungeachtet dessen wurden die Synagoge,<br />

die jüdische Schule sowie Wohn- und<br />

Geschäftshäuser demoliert. In einem<br />

Bericht des Bürgermeisters von Bebra<br />

vom 23. November 1938 wurde auch<br />

der zweite Beweggrund der Pogrome anschaulich<br />

deutlich, nämlich die »polizeiliche<br />

Sicherstellung« von Waren aus jüdischem<br />

Besitz. Zerknirscht musste der<br />

Bürgermeister eingestehen: »Zu vermeiden<br />

war nicht, dass mehrere <strong>Die</strong>bstähle<br />

begangen wurden. Zum teil konnte das<br />

<strong>Die</strong>besgut wieder herbeigeschafft werden.<br />

Von der Parteileitung sind Gold-<br />

und Silbergegenstände der Polizei zur<br />

Aufbewahrung übergeben worden.«<br />

Merke: Wenn einzelne Nazis sich bei<br />

den Pogromen jüdisches Eigentum aneignen,<br />

ist es <strong>Die</strong>bstahl, wenn der Staat<br />

es macht, ist es legal.<br />

Und dieser ökonomische Aspekt der<br />

antisemitischen Ausschreitungen hat<br />

ebenfalls von Anfang an eine Rolle gespielt,<br />

nicht erst nach der Verkündigung<br />

der kollektiven Sühnezahlung, auf deren<br />

Basis verbliebenes jüdisches Eigentum<br />

»arisiert« wurde.<br />

Dr. Ulrich Schneider, Kassel


LITERATURBERICHT<br />

Neue Veröffentlichungen zur Geschichte der<br />

»Sudetendeutschen«<br />

Dr. Reiner Zilkenat<br />

93


REZERNSIONEN UND ANNOTATIONEN<br />

Der »Generalplan Ost« und die »Kollaboration«<br />

bildungsbürgerlicher Eliten mit dem Naziregime<br />

Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik<br />

im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 2008<br />

(Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungs gemein schaft, hrsg. von Rüdiger vom<br />

Bruch, Ulrich Herbert und Patrick Wagner, Band 3).<br />

Der »Generalplan Ost« und die »Kollaboration«<br />

bildungsbürgerlicher Eliten mit<br />

dem Naziregime<br />

Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft<br />

zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik<br />

im Kontext von Autarkie,<br />

Aufrüstung und Krieg, Franz Steiner<br />

Verlag, Wiesbaden 2008 (Studien zur<br />

Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft,<br />

hrsg. von Rüdiger vom<br />

Bruch, Ulrich Herbert und Patrick Wagner,<br />

Band 3).<br />

<strong>Die</strong> Deutsche Forschungsgemeinschaft<br />

(DFG) hat seit 1965 schon drei Darstellungen<br />

zu ihrer Geschichte in Auftrag gegeben.<br />

Aber unabhängig davon, ob Kurt<br />

Zierold, Thomas Nipperdey und Ludwig<br />

Schmugge oder Notker Hammerstein<br />

zur Feder griffen, sie alle umgingen, verharmlosten<br />

oder rechtfertigten die Verantwortung<br />

der DFG für die Ausrichtung<br />

der Forschungen auf Rüstung und Krieg<br />

in der Nazizeit. 1 Der vierte Anlauf soll das<br />

korrigieren und eine kritische Geschichte<br />

dieser Institution erbringen. Das von Rüdiger<br />

vom Bruch und Ulrich Herbert geleitete<br />

Projekt umfaßt inzwischen mehr<br />

<strong>als</strong> zwanzig Einzelprojekte, unter anderem<br />

eine Serie von Konferenzen, eine eigene<br />

Schriftenreihe, Stipendien, Qualifizierungsschriften<br />

und Ringvorlesungen.<br />

Eine DFG-Wanderausstellung zum »Generalplan<br />

Ost«, die im Februar 2008 auch<br />

in Berlin zu sehen war, wurde dem historischen<br />

Gewicht dieser Verbrechensplanung<br />

jedoch noch nicht gerecht.<br />

Einen integralen Teil des Großprojekts<br />

bildet die kürzlich veröffentlichte Dissertation<br />

von Sören Flachowsky. Deren Gegenstand<br />

ist nicht unmittelbar die DFG,<br />

sondern der 1937 gebildete Reichsforschungsrat<br />

(RFR). <strong>Die</strong>ser verkörperte eine<br />

zweite Etappe bei der Orientierung<br />

der staatlichen Wissenschaftsförderung<br />

auf die Bedürfnisse der Diktatur und<br />

Kriegsvorbereitung und blieb an die DFG<br />

gebunden. <strong>Die</strong> Entscheidungskompetenzen<br />

fielen an den Rat, die DFG hatte<br />

die Mittel auszuzahlen. So verkümmerte<br />

die DFG zur Kassenabteilung des<br />

RFR. Der Autor arbeitet diesen Zusammenhang<br />

explizit heraus, stellt die Ge-<br />

schichte dieser Institution seit dem ersten<br />

Weltkrieg dar und beweist, dass den<br />

stärksten Hebel jeglicher Forschungsförderung<br />

die Bedürfnisse der naturwissenschaftlichen<br />

und technischen Grundlagenforschung<br />

für den Krieg bildeten. An<br />

die interinstitutionelle Kooperation und<br />

Steuerung der Forschung durch die zu<br />

diesem Zweck gegründete »Kaiser-Wilhelm-Stiftung<br />

für kriegstechnische Wissenschaft«<br />

mitten im Ersten Weltkrieg<br />

knüpften alle späteren Fortsetzungen an.<br />

Voraussetzungen für die Gründung des<br />

RFR schufen Görings Vierjahresplan, der<br />

den rüstungswirtschaftlichen Kurs auf<br />

die Vorbereitung des Krieges festlegte,<br />

und ein Bündnis der ansonsten wenig<br />

einflußreichen Wissenschaftsbürokratie<br />

des Reichserziehungsministeriums mit<br />

dem Heereswaffenamt. <strong>Die</strong>ses Ministerium<br />

hatte schon zu Beginn der Nazidiktatur<br />

mittels einer Reichsakademie die<br />

Forschung steuern wollen, war aber gescheitert.<br />

Jetzt jedoch konnten die führenden<br />

Männer von Forschungsgemeinschaft<br />

und Forschungsrat, Bernhard Rust<br />

und Rudolf Mentzel, das OKW, die Luftwaffe<br />

und die Vierjahresplanbehörde <strong>als</strong><br />

Entscheidungsträger in die Rüstungsforschung<br />

einbinden. Der RFR setzte das<br />

Führerprinzip an die Stelle von Fachausschüssen,<br />

Fachspartenleiter entschieden<br />

allein und diktatorisch über Anträge.<br />

Natürlich regulierte der RFR nicht die gesamte<br />

Rüstungsforschung, diejenige für<br />

die Luftwaffe blieb z. b. selbständig.<br />

Flachowsky korrigiert zwei Fehlurteile:<br />

erstens die Ansicht, die DFG hätte hauptsächlich<br />

die »normale Forschung« gefördert,<br />

zweitens die Ausrede, daß der<br />

Reichsforschungsrat so uneffektiv gearbeitet<br />

hätte, dass er kaum Bedeutung<br />

für die Kriegsforschung habe gewinnen<br />

können und gescheitert sei. In der These<br />

vom Scheitern trafen und treffen sich<br />

divergente Interessen, zunächst die von<br />

hohen Mitarbeitern des RFR an ihrer eigenen<br />

Entlastung, dann die mancher<br />

US-Kommissionen nach 1945 an der<br />

Abwertung der Konkurrenz, bei Autoren<br />

der verschiedenen Geschichten der<br />

DFG die Apologetik für einen Auftragge-<br />

ber, der sich »völlig herkömmliche, unideologische<br />

Forschungen« (Notker Hammerstein)<br />

bescheinigen ließ, gegenüber<br />

der Wissenschaftsfeindlichkeit und forschungspolitischen<br />

Konzeptionslosigkeit<br />

der Nazidiktatur, deren Stiefkind angeblich<br />

die natur- und technikwissenschaftliche<br />

Forschung gewesen sei (Karl Heinz<br />

Ludwig).<br />

Flachowsky rückt hier einiges zurecht.<br />

Unbestreitbar ist, daß die vom Reichsforschungsrat<br />

vergebenen Mittel der<br />

DFG der Kriegs- und Expansionspolitik<br />

nicht nur dort dienten, wo es um Menschenversuche<br />

an politisch und rassisch<br />

Verfolgten oder um (Um)Siedlungsplanungen<br />

für die besetzten Ostgebiete<br />

ging. Bereits mit der Gründung war entschieden<br />

worden, daß Forschungen für<br />

den Vierjahresplan Priorität erhalten<br />

sollten. Gefördert wurden die Entwicklung<br />

von Radargeräten, Torpedosprengköpfen,<br />

Gas- und Biokampfstoffen, von<br />

Metalllegierungen für Geschoßführungsringe<br />

und Flugzeugmotoren, die Erschließung<br />

neuer Rohstoffvorkommen ebenso<br />

wie die Züchtung winter- bzw. dürreresistenter<br />

Getreidesorten und die im »Generalplan<br />

Ost« verankerten Maßnahmen<br />

der Vertreibung, Umsiedlung und des<br />

Völkermords.<br />

Gestützt auf eine solide Quellengrundlage<br />

belegt Flachowsky, daß dem RFR<br />

bei der Koordinierung der Rüstungsforschung<br />

eine zentrale Rolle zukam und er<br />

in der Endphase des Zweiten Weltkrieges<br />

die rüstungsrelevante Forschung über alle<br />

Fächer hinweg auf breiter Front finanzierte.<br />

<strong>Die</strong> menschenfeindlichen Ziele<br />

mußten den Wissenschaftlern nicht aufgezwungen<br />

werden, sie schrieen geradezu<br />

danach. Seit den Tagen des Ersten<br />

Weltkriegs hatte eine große Zahl nationalkonservativer<br />

Wissenschaftler die<br />

entsprechenden Netzwerke geschaffen<br />

und sie nahezu nahtlos über die Weimarer<br />

Republik in die faschistische Diktatur<br />

überführt. Flachowsky nennt dies<br />

»Selbstindienstnahme« und spricht von<br />

»Kollaboration« bildungsbürgerlicher Eliten<br />

mit dem Naziregime.<br />

97


Professor Dr. Werner Röhr<br />

1 Vgl. Kurt Zierold: Forschungsförderung in drei Epochen.<br />

Deutsche Forschungsgemeinschaft. Geschiche<br />

– Arbeitsweise – Kommentar, Wiesbaden<br />

1968; Thomas Nipperdey, Ludwig Schmugge: 50<br />

Jahre Forschungsförderung in Deutschland. Ein Abriß<br />

der Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />

1920 – 1970, Berlin-West 1970; Notker<br />

Hammerstein: <strong>Die</strong> Deutsche Forschungsgemeinschaft<br />

in der Weimarer Republik und im Dritten<br />

Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur,<br />

München 1999; vgl. auch: Karl Heinz Ludwig:<br />

Technik und Ingenieure im Dritten Reich, Düsseldorf<br />

1979.<br />

98


»Sie waren die Boys«. <strong>Die</strong> Geschichte von 732<br />

jungen Holocaust-Überlebenden.<br />

Martin Gilbert, Sie waren die »Boys«. <strong>Die</strong> Geschichte von 732 Holocaust-<br />

Überlebenden, Verlag für Berlin-Brandenburg, 560 Seiten.<br />

1996 war dieses Buch von Martin Gilbert<br />

in London erschienen, im Januar<br />

2008 konnte die deutsche Übersetzung<br />

präsentiert werden. Endlich!<br />

Seit 1968 gilt Martin Gilbert in Großbritannien<br />

<strong>als</strong> der »offizielle« Churchill-<br />

Biograf. Sein Buch über die »Boys« hat<br />

einen ganz anderen Gegenstand. Im<br />

Sommer 1945 erlaubte die britische Regierung,<br />

dass 1.000 jüdische Kinder und<br />

Jugendliche in das Land einreisen durften.<br />

Am Ende der Aktion waren es 732.<br />

<strong>Die</strong>se jungen Holocaust-Überlebenden<br />

hatten Grauenhaftes erlebt, sie waren<br />

zumeist Vollwaisen. Manche von ihnen<br />

hatten den Tod ihrer Eltern und Geschwister<br />

mit ansehen müssen. Worte<br />

wie »Ghetto«, »Arbeitslager« »Deportation«,<br />

»KZ«, »Todesmarsch«, waren für sie<br />

keine abstrakten Begriffe. Sie kannten<br />

sie aus eigenem Erleben. Nach Großbritannien<br />

kamen sie aus Auschwitz,<br />

Bergen-Belsen, Buchenwald, Theresienstadt<br />

und anderen Konzentrations-<br />

oder Zwangsarbeiterlagern.<br />

Sie waren schwer traumatisiert und<br />

brauchten viele Jahre, um wieder ein<br />

»normales Leben« führen zu können.<br />

Erwachsene, manche nicht viel älter <strong>als</strong><br />

die Betreuten und selbst jüdische Opfer<br />

des NS-Regimes, halfen ihnen durch<br />

Fürsorge und Zuwendung, mittels der<br />

Suche nach geeigneten beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten<br />

und mit vielfältigen<br />

Freizeitangeboten, sich allmählich<br />

im Alltag zurecht zu finden. <strong>Die</strong> 15 bis<br />

19 Jahre alten »Boys«, unter ihnen auch<br />

80 Mädchen, lernten es, wieder jung zu<br />

sein – mit allen Problemen von Heranwachsenden.<br />

Das Buch über die »Boys« besticht<br />

durch die Kompaktheit des Dargestellten.<br />

Eine persönliche Erinnerung nach<br />

der anderen wird vorgestellt, nur selten<br />

von zusammenfassenden Kommentaren<br />

begleitet. <strong>Die</strong> Nüchternheit und Fülle<br />

der wiedergegebenen Berichte über Erlebtes<br />

erschreckt in jedem der Einzelfälle.<br />

In der Summe lässt sich das ganze<br />

Ausmaß der Nazi-Verbrechen an den europäischen<br />

Juden dennoch nur erahnen.<br />

Das Wort »Kollektivbiografie« ist eigentlich<br />

der f<strong>als</strong>che Begriff für dieses Kompendium<br />

von Einzelschicksalen.<br />

Martin Gilberts Buch ist in 23 Kapitel unterteilt.<br />

Elf schildern Wege aus der Kindheit<br />

über das Erleben in der NS-Zeit bis<br />

zur Befreiung 1945. Der Leser bekommt<br />

im ersten Kapitel eine Vorstellung vom<br />

Leben in den jüdischen Gemeinden Polens,<br />

in Dörfern, kleinen und größeren<br />

Städten. Von Entbehrungen im Alltag<br />

und familiärer Geborgenheit ist ebenso<br />

die Rede wie davon, inwieweit jüdische<br />

Sitten und Bräuche befolgt wurden. All<br />

diese jüdischen Gemeinden (wie auch<br />

alle anderen in Ost- und Südosteuropa)<br />

existieren nicht mehr, ihre Mitglieder<br />

wurden zumeist ermordet.<br />

Und noch eines gehört zu den Kindheitserfahrungen<br />

der »Boys«. Perec Zylberberg<br />

aus Lodz resümiert: »Schon<br />

<strong>als</strong> Schulkind hatte ich viele Fälle von<br />

offenem oder verdecktem Antisemitismus<br />

seitens polnischer Kinder und Erwachsener<br />

erlebt; manchmal mehr von<br />

Seiten der Kinder, manchmal auch umgekehrt.<br />

Das Bewusstsein, dass dieser<br />

Antisemitismus existierte, begleitete<br />

uns ständig.« (S. 55).<br />

<strong>Die</strong> Hoffnung, dass für die Juden die<br />

deutsche Besatzungsmacht – wie in den<br />

Jahren des 1. Weltkrieges – ab September<br />

1939 wieder relativ mild vorgehen<br />

würde, erwies sich <strong>als</strong> trügerisch. Arek<br />

Hersch findet im Nachhinein die Worte,<br />

dass nach einer »allgemeinen Kampagne<br />

der Furcht«, was kommen würde,<br />

für Juden eine »neue Gestalt des Schreckens<br />

des Krieges« begann (S. 73). Geiselerschießungen;<br />

brennende Synagogen;<br />

Einrichtung von Ghettos in jedem<br />

kleinen Ort; schamlose Plünderungen<br />

und Denunziation, auch von früheren<br />

nichtjüdischen Nachbarn; Familientrennung;<br />

Deportation; Vergasungen<br />

oder Arbeitslager, nicht enden wollende<br />

Schläge und ständiger Hunger bestimmten<br />

für über fünf Jahre das Leben<br />

der »Boys«. Zum Zeitpunkt ihrer Befreiung<br />

waren »die wenigen Überlebenden<br />

an der äußersten Grenze ihrer Leidensfähigkeit<br />

angelangt.« (S. 258)<br />

In den Kapiteln elf bis zweiundzwanzig<br />

werden die verschiedenen Etappen<br />

des Ankommens der »Boys« in Großbritannien,<br />

die einzelnen Orte ihrer<br />

Unterbringung und Beispiele des Heimischwerdens<br />

in einem fremden Land<br />

beschrieben. <strong>Die</strong> meisten der »Boys«<br />

blieben in Großbritannien, aber auch die<br />

USA, Israel, Kanada, die Schweiz, Argentinien,<br />

Australien oder Brasilien wurde<br />

manchen von ihnen zur neuen Heimat.<br />

<strong>Die</strong> meisten der »Boys« lernten sich erst<br />

in Großbritannien kennen. Neue Freundschaften<br />

entstanden, die jahrzehntelang<br />

hielten. Nur wenige hatten das Glück,<br />

noch lebende Familienangehörige ausfindig<br />

zu machen oder Weggefährten<br />

wieder zu treffen, mit denen sie ein Teilstück<br />

ihres Leidensweges gegangen waren.<br />

Auch hier ist die Bilanz bitter – und<br />

sollte Nichtbetroffene immer wieder zu<br />

Sensibilität mit solchen »Zeitzeugen«<br />

mahnen. »Für die Überlebenden stellte<br />

es eine besondere Härte dar, dass das<br />

Schicksal ihrer Angehörigen niem<strong>als</strong><br />

vollständig aufgeklärt werden konnte.<br />

<strong>Die</strong> meisten Familienangehörigen wurden<br />

zwischen 1942 und 1944 ermordet,<br />

andere starben während der Todesmärsche<br />

des Jahres 1945. Doch die genauen<br />

Umstände ihres Todes sind unbekannt,<br />

da keinerlei Dokumente existieren. Nur<br />

die Asche, die in jedem Lager zuhauf zu<br />

finden ist, bezeugt das ganze Ausmaß<br />

der Vernichtung.« (S. 422)<br />

Das 23. Kapitel stellt die »’45 Aid Society«<br />

vor, die eigene Wohltätigkeitsorganisation<br />

der »Boys«, deren Mitglieder sich<br />

jährlich zum Wiedersehen und Gedankenaustausch<br />

treffen. Auch im hohen<br />

Alter verstehen sie sich und handeln<br />

<strong>als</strong> verschworene, solidarische Gemeinschaft.<br />

Ihr jährliches Gedenken an ihre<br />

Befreiung ist für die »Boys« dabei besonders<br />

wichtig.<br />

Komplettiert wird das Buch durch eine<br />

Liste der bis 1996 verstorbener »Boys«,<br />

historische Karten sowie ein Personen-<br />

und Ortsregister.<br />

Martin Gilbert wurde zu diesem Buchvorhaben<br />

von zwei »Boys« ermuntert<br />

und in den Mühen der Bearbeitung von<br />

über einhundertfünfzig Erinnerungsberichten<br />

zu einem einzigartigen Buch begleitet:<br />

Rabbi Hugo Gryn (1996 verstorben)<br />

und Ben Helfgott. Sie ermunterten<br />

Martin Gilbert zu dem Buchprojekt und<br />

begleiteten es bis zum erfolgreichen Abschluss<br />

1996.<br />

<strong>Die</strong>se beiden waren es auch, die ab<br />

1993 die anderen »Boys« dazu ermunterten<br />

Erinnerungen schriftlich festzuhalten,<br />

Verdrängtes noch einmal zu beschreiben,<br />

es völlig fremden Menschen<br />

mitzuteilen. Sie alle fällten auch diese<br />

Entscheidung, die Ihnen sehr viel abverlangte,<br />

jeder ganz für sich allein und<br />

schließlich sehr bewusst. Texte entstan-<br />

99


den, von denen manche zwanzig bis<br />

dreißig Seiten lang waren, alle ein eigenes<br />

Buch wert.<br />

<strong>Die</strong> »Boys« fanden darüber hinaus auch<br />

die Kraft, vor allem Jüngeren bei persönlichen<br />

Begegnungen von sich zu erzählen.<br />

Deren Aufmerksamkeit war ihnen<br />

eine große Genugtuung.<br />

<strong>Die</strong> »Boys« sind in der Geschichte des<br />

Holocaust und der Geschichte ihrer<br />

100<br />

Überlebenden etwas Besonderes. Das<br />

sehen sie selbst so. Der langjährige Vorsitzende<br />

der »’45 Aid Society« Ben Helfgott<br />

fand bei seinen Gefährten 1976 für<br />

folgende Worte lebhafte Zustimmung:<br />

»Wir haben bewiesen, dass das Elend<br />

und die Verzweiflung, die Brutalität und<br />

die Ungerechtigkeit, die wir zu erdulden<br />

hatten, nicht imstande waren, unseren<br />

Willen zu brechen. Wir haben uns nicht<br />

vom Hass verzehren lassen, sodass er<br />

am Ende uns selbst und andere zerstört<br />

hätte. Stattdessen haben wir uns daran<br />

gemacht, ein neues Leben aufzubauen.«<br />

(S. 493)<br />

Bleibt die Empfehlung: das Buch kaufen,<br />

lesen und andere zu ermuntern,<br />

Gleiches zu tun. empfehlen.<br />

Dr. Horst Helas


Reflexionen zum Rechtsextremismus in<br />

Ostdeutschland?<br />

Johanna Engelbrecht, Rechtsextremismus bei ostdeutschen Jugendlichen vor und<br />

nach der Wende, Peter Lang – Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt<br />

am Main 2008 (Res humanae. Arbeiten für die Pädagogik, hrsg. v. Hans-Joachim<br />

Plewig, Helmut Richter u. Horst Scarbath), 188 Seiten, 39 Euro.<br />

Das 2008 erschienene Buch von Johanna<br />

Engelbrecht »Rechtsextremismus bei<br />

ostdeutschen Jugendlichen vor und nach<br />

der Wende« ist vor allem für Pädagogen<br />

bestimmt. Es gliedert sich in elf Kapitel,<br />

von Begriffsdefinitionen bis hin zu der<br />

Frage, was man gegen Einfluss und Verbreitung<br />

des gegenwärtigen Rechtsextremismus<br />

unternehmen könnte. Dabei<br />

dienen die recht oberflächlich geratenen<br />

Kapitel zur Geschichte der DDR und der<br />

FDJ nur bedingt zur Klärung der im Buch<br />

aufgeworfenen Probleme.<br />

Entstanden ist die Publikation aus einer<br />

Abschlussarbeit an der Leuphana-Universität<br />

in Lüneburg, ihr Niveau überschreitet<br />

nicht das Niveau eines mittelmäßigen<br />

Seminarreferates. Inhaltlich werden bis<br />

auf einige Passagen zu den Erklärungsansätzen<br />

des heutigen Rechtsextremismus<br />

kaum neue Erkenntnisse geboten<br />

und seit langem bekannte fragwürdige<br />

Behauptungen wiederholt.<br />

Zumeist kommentiert die Autorin nur aus<br />

der umfangreich genutzten Sekundärliteratur<br />

bereits seit längerem bekannte Fakten<br />

und Analysen. Außer einigen Leipziger<br />

Publikationen werden Forschungen<br />

zum Rechtsextremismus aus den neuen<br />

Bundesländern kaum genutzt und auch<br />

nicht im umfangreichen Literaturverzeichnis<br />

aufgeführt. Theoretisch stützt<br />

sich Johanna Engelbrecht auf die Veröffentlichungen<br />

von Wilhelm Heitmeyer<br />

und im Schlussteil auf die Arbeiten von<br />

Franz Josef Krafeld.<br />

Der Schlüsselbegriff der Verfasserin für<br />

ihre Analyse des Rechtsextremismus in<br />

der DDR ist das dogmatisch-simple Axiom<br />

vom Autoritarismus. Wie bei vielen<br />

anderen Autoren von links bis rechtskonservativ<br />

werden alle gesellschaftlichen<br />

Prozesse in der DDR recht unterschiedslos<br />

damit in Verbindung gebracht. Da<br />

gibt es pauschalisierend die »autoritäre<br />

Persönlichkeit«, die »autoritäre Familie«,<br />

die »autoritäre Erziehung« usw. Dabei<br />

sind die diesen Begriffen zugrunde gelegten<br />

Fakten empirisch kaum belegbar.<br />

Autoritarismus kann Rechtsextremismus<br />

begünstigen, muss es aber nicht. Dort,<br />

wo 1990/91 Untersuchungen in Ostdeutschland<br />

zu dieser Thematik vorgenommen<br />

wurden, unterschieden sich die<br />

Ergebnisse kaum von solchen in West-<br />

deutschland. Viele seriöse Wissenschaftler,<br />

wie zum Beispiel Detlef Oesterreich,<br />

Walter Friedrich und Oskar Niedermeyer,<br />

lehnen deshalb die Kategorie »Autoritarismus«<br />

<strong>als</strong> verbindlichen Indikator für<br />

die gegenwärtige Rechtsextremismusforschung<br />

ab. Das Otto-Stammer-Institut<br />

der Freien Universität Berlin hat deshalb<br />

diesen Begriff aus seinem Kriterienkatalog<br />

zur Untersuchung des Rechtsextremismus<br />

herausgenommen.<br />

In den einleitenden Teilen des Buches<br />

(S. 36 ff.) kolportiert die Verfasserin viele<br />

der gängigen, simpel gestrickten Legenden<br />

zur Geschichte der DDR und zeichnet<br />

sich selbst durch eine diesbezüglich<br />

bemerkenswerte Unkenntnis aus. So<br />

ist für sie die SED schon seit 1946 eine<br />

kommunistische Partei, verkörpern die<br />

antifaschistischen Boden- und Industriereformen<br />

von 1945/46 in der damaligen<br />

Sowjetischen Besatzungszone durchweg<br />

eine »Entmachtung des Besitzbürgertums«,<br />

verlegt sie die Gründungsdaten<br />

der 1945/46 entstandenen Massenorganisationen<br />

FDGB und Kulturbund in<br />

das Jahr 1948 und der erste Ministerpräsident<br />

heißt bei ihr nicht Otto Grotewohl,<br />

sondern Walter Ulbricht. Unstimmig<br />

– um nicht zu sagen: unsinnig – ist<br />

gleichfalls ihre Behauptung, dass erst in<br />

den siebziger Jahren Erich Honecker auf<br />

Druck der Bevölkerung wirtschaftliche<br />

Beziehungen zu den westlichen Industriestaaten<br />

knüpfte.<br />

Der interessanteste Teil der vorliegenden<br />

Publikation sind die Kapitel zu den verschiedenen<br />

Theorien über die Ursachen<br />

des Rechtsextremismus in der DDR und<br />

den neuen Bundesländern. Eine zentrale<br />

Position nehmen dabei – wie schon<br />

erwähnt – die Aussagen des Bielefelder<br />

Soziologen und Jugendforschers Wilhelm<br />

Heitmeyer über Individualisierungstendenzen<br />

und die so genannten Modernisierungsverlierer<br />

ein. In diesem Kontext<br />

wird manches Zutreffende gesagt, aber<br />

auch manches Fragwürdige, was von Johanna<br />

Engelbrechten kaum kritisch reflektiert<br />

wird.<br />

Das Zweifelhafte trifft auch auf die Zustimmung<br />

der Verfasserin zu der abenteuerlichen<br />

»Töpchen-Theorie« des Hannoveraner<br />

Kriminologen Christian Pfeiffer zu (vgl.<br />

S. 132). <strong>Die</strong> vermeintlich wissenschaft-<br />

lichen »Erkenntnis« dieses Professors,<br />

der die Ursachen des DDR-Rechtsextremismus<br />

in der Reinlichkeitserziehung in<br />

den ostdeutschen Kindergärten verortet,<br />

stieß von Rügen bis zum Thüringer Wald<br />

auf heftigen Widerspruch und – weitgehend<br />

unabhängig von den weltanschaulich-politischen<br />

Affinitäten der sich Äußernden<br />

– auf eine einhellige Ablehnung.<br />

Als einen wesentlichen Mangel bei der<br />

Suche nach den Ursachen für den Rechtsextremismus<br />

sieht der Rezensent in der<br />

Unterbelichtung, zum Teil sogar in der<br />

Ablehnung einer Analyse solcher wesentlichen<br />

sozialökonomischen Faktoren wie<br />

der Massenarbeitslosigkeit, wachsender<br />

Armut, der um sich greifenden Zukunftsängste<br />

sowie in der weitgehenden Negation<br />

von politischen und sozialen Alltagserfahrungen<br />

in den neuen Bundesländern.<br />

Für sehr fragwürdig halte ich in diesem<br />

Zusammenhang auch die vom Herausgeber<br />

Hans-Joachim Plewig im Vorwort umrissene<br />

Position, dass nicht etwa »Armut,<br />

Arbeitslosigkeit und Desintegration die<br />

wesentlichen Ursachen für Rechtsextremismus<br />

seien. Das ist empirisch f<strong>als</strong>ch<br />

und politisch gefährlich.« (S. 8)<br />

<strong>Die</strong> Antworten der Autorin auf die Frage,<br />

was zur Zurückdrängung und Überwindung<br />

des Rechtsextremismus in<br />

den neuen Bundesländern getan werden<br />

könne, kreisen im Wesentlichen<br />

um die Theorie und Praxis der akzeptierenden<br />

Jugendarbeit des Bremer Wissenschaftlers<br />

Franz Josef Krafeld. Nach<br />

der »Wende« von 1989/90 führte deren<br />

Anwendung zu solchen überaus problematischen,<br />

ja unannehmbaren Erscheinungen,<br />

dass bekannte neonazistische<br />

Gewalttäter <strong>als</strong> staatsfinanzierte Betreuer<br />

bzw. Sozialarbeiter in neonazistischen<br />

Gruppen eingesetzt wurden. Bilanzierend<br />

kann man heute sagen, dass das Konzept<br />

der akzeptierenden Jugendarbeit in Ostdeutschland<br />

weitgehend gescheitert ist<br />

und deshalb nur noch von wenigen Politikern<br />

und Sozialbehörden bejaht wird.<br />

Abschließend sei vermerkt, dass der<br />

Preis des Buches im Vergleich zu ähnlichen,<br />

meistens umfangreicheren Publikationen,<br />

und vor allem angesichts dessen,<br />

was inhaltlich geboten wird, mit 39<br />

Euro bei weitem zu hoch bemessen ist.<br />

Dr. sc. Norbert Madloch<br />

101


<strong>Die</strong> NPD in den Parlamenten<br />

NiP-Redaktionskollektiv, Heinrich-<br />

Böll-Stiftung, weiterdenken –<br />

Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Hrsg.,<br />

<strong>Die</strong> NPD im sächsischen Landtag.<br />

Analysen und Hintergründe 2008,<br />

Druckhaus Dresden, Dresden 2008,<br />

96 Seiten.<br />

Projekt »Auseinandersetzung mit<br />

Rechtsextremismus in kommunalen<br />

Gremien Berlins – Dokumentation<br />

und Analyse«, Verein für Demokratische<br />

Kultur in Berlin e.V. (VDK),<br />

Hrsg., Berliner Erfahrungen. Zwei<br />

Jahre demokratische Ausein anderset<br />

z ungen mit Rechtsextremen in<br />

kommunalen Gremien, Berlin 2008,<br />

61 Seiten.<br />

Am 7. Juni werden die Sitze im Landtag<br />

des Freistaates Sachsen neu verteilt und<br />

auch die NPD stellt sich erneut zur Wahl.<br />

Nachdem sie 2004 mit zwölf Abgeordneten<br />

in das sächsische Parlament einzog,<br />

scheint ihr der Wiedereinzug sicher.<br />

Pünktlich zum so genannten »Superwahljahr«<br />

2009 legt das Redaktionskollektiv<br />

»Nazis in den Parlamenten« (NiP) Sachsen<br />

in Kooperation mit der Heinrich-Böll-<br />

Stiftung eine Publikation vor, die die Aktivitäten<br />

der NPD in Sachsen analysiert.<br />

In acht Beiträgen geben die Autor/innen<br />

einen Einblick in das Wirken der NPD inner-<br />

und außerhalb des Landtages und<br />

den Umgang der demokratischen Parteien<br />

sowie der Medien mit den rechtsextremen<br />

Abgeordneten. Gleichzeitig<br />

bietet der Sammelband einen Ausblick<br />

auf die kommende Wahlperiode.<br />

Beispielsweise kommt Chris Fisher zu<br />

der Erkenntnis, dass die NPD-Fraktion<br />

– wider Erwarten – trotz personeller<br />

Einbußen keineswegs in der Versenkung<br />

verschwunden ist. So stellten die NPD-<br />

Abgeordneten bis Sommer 2008 allein<br />

2.165 Kleine Anfragen, wie Michael<br />

Nattke in einer vergleichenden Analyse<br />

der NPD-Fraktionen in Sachsen und<br />

Mecklenburg-Vorpommern feststellt.<br />

Nattke zeigt zugleich aber auch Schwächen<br />

auf: So scheint es, entgegen den<br />

Erwartungen, keinen kontinuierlichen<br />

Austausch zwischen beiden Fraktionen<br />

zu geben. <strong>Die</strong>s zeigt sich bei Anträgen<br />

102<br />

der NPD, die sich in ihrer Stoßrichtung<br />

zwar durchaus ähneln, in Argumentation<br />

und Formulierung jedoch erhebliche<br />

Unterschiede aufweisen. Dabei wird allerdings<br />

unterschlagen, dass einige,<br />

meist besonders skandalträchtige, Anträge<br />

trotz allem den Weg durch Landesparlamente<br />

und kommunale Gremien<br />

finden. Als Beispiel sei nur der<br />

geschichtsrevisionistische Antrag für<br />

»Rote Stolpersteine gegen das Vergessen«<br />

genannt, der in einigen Berliner<br />

Bezirksverordnetenversammlungen für<br />

Aufregung sorgte, nachdem er bereits<br />

im Schweriner Schloss gestellt wurde.<br />

Kritisch beäugt wird der Umgang der demokratischen<br />

Parteien mit der NPD. Besonders<br />

CDU und FDP falle die Abgrenzung<br />

gegenüber den Rechtsextremen<br />

nicht immer leicht. »Auf kommunaler<br />

Ebene wird immer wieder von freundschaftlichen<br />

Kontakten einzelner Abgeordneter<br />

zu in den entsprechenden<br />

Parlamenten vertretenen Neonazis berichtet<br />

[…]« (S. 69).<br />

Mit einer weiteren Publikation, die sich<br />

mit den parlamentarischen Aktivitäten<br />

rechtsextremer Parteien befasst, stellt<br />

sich das Projekt »Auseinandersetzung<br />

mit Rechtsextremismus in kommunalen<br />

Gremien Berlins – Dokumentation und<br />

Analyse« vor. <strong>Die</strong> Broschüre analysiert<br />

Auftreten und Strategien der Rechtsextremen<br />

in den Bezirksverordnetenversammlungen<br />

Berlins. Seit 2006 sind<br />

dort Verordnete von NPD, DVU und »Republikanern«<br />

(REP) vertreten. So ziehen<br />

die Autor/innen zunächst eine Zwischenbilanz<br />

und stellen einerseits eine<br />

gewisse Stabilisierung der Präsenz der<br />

NPD fest. Andererseits hindern mangelnde<br />

kommunale Verankerung und der<br />

»Berliner Konsens« der demokratischen<br />

Parteien die NPD an einer Verstetigung<br />

ihrer Präsenz. Anträge der Rechtsextremen<br />

werden konsequent abgelehnt und<br />

in der Regel entgegnet nur ein/e Vertreter/in<br />

der demokratischen Parteien den<br />

rechtsextremen Initiativen. Trotz dieser<br />

Erfolge und der anhaltenden Stigmatisierung<br />

der Rechtsextremen in Berlin<br />

raten die Autor/innen, »die bisher ge-<br />

machten positiven und negativen Erfahrungen<br />

genauer in den Blick zu nehmen«<br />

und an einer »Weiterentwicklung demokratischer<br />

Handlungsweisen« (S. 37)<br />

zu wirken. Folglich wartet die Broschüre<br />

mit einem umfangreichen und nützlichen<br />

Anhang auf, in dem Praxisbeispiele<br />

aus der Auseinandersetzung mit<br />

Rechtsextremismus auf kommunaler<br />

Ebene sowie beispielhafte Anträge und<br />

Debatten dokumentiert sind.<br />

Trotz innerparteilicher Querelen ist die<br />

NPD auf dem Vormarsch: So verfügt sie<br />

bundesweit über dutzende Mandate und<br />

Kommunalparlamenten. Sie nutzt diese<br />

Möglichkeit, um ihr menschenverachtendes<br />

Gemeinschaftsmodell zu propagieren.<br />

An sachpolitischer Arbeit in den<br />

Kommunen jedoch zeigt sie kein Interesse.<br />

Trotzdem erfordert die Abgrenzung<br />

der demokratischen Parteien eine<br />

kontinuierliche Auseinandersetzung mit<br />

dem Rechtsextremismus. <strong>Die</strong> beiden<br />

vorliegenden Broschüren können Vertreter/innen<br />

aus Kommunal- und Landespolitik<br />

sowie zivilgesellschaftlichen<br />

Akteuren Anregungen und Hilfestellungen<br />

hierzu geben.<br />

Yves Müller<br />

Hinweis<br />

<strong>Die</strong> Broschüre »<strong>Die</strong> NPD im sächsischen<br />

Landtag. Analysen und Hintergründe<br />

2008« kann gegen Erstattung der Versandkosten<br />

über das Bildungswerk weiterdenken<br />

– Heinrich-Böll-Stiftung bezogen<br />

werden. Bestellungen bitte an<br />

schoenfelder@weiterdenken.de. Außerdem<br />

steht sie unter www.weiterdenken.<br />

de zum <strong>Download</strong> bereit.<br />

<strong>Die</strong> Broschüre »Berliner Erfahrungen.<br />

Zwei Jahre demokratische Auseinandersetzungen<br />

mit Rechtsextremen in kommunalen<br />

Gremien« kann über den Verein<br />

für Demokratische Kultur in Berlin<br />

e.V. (VDK) bestellt werden. Bestellungen<br />

bitte an doku-und-analyse@vdk-berlin.<br />

de. Sie kann auch unter www.mbr-berlin.de/Verein/Rechtsextremismus_in_<br />

den_BVVen heruntergeladen werden.


<strong>Die</strong> NPD in Mecklenburg-Vorpommern.<br />

Reihe DEMOKRATIEPOLITIK-<br />

(Politikwissenschaftliche Arbeitspapiere aus dem Arbeitsbereich Politische Theorie<br />

und Ideengeschichte)<br />

Herausgeber: Prof. Dr. Hubertus Buchstein, Universität Greifswald. Lehrstuhl für<br />

Politische Theorie und Ideengeschichte / Institut für Politikwissenschaft.<br />

In fortlaufender Folge (Hefte 2–4) sind<br />

bisher drei Broschüren in dieser Reihe<br />

erschienen, die sich explizit mit Problemen<br />

des Rechtsextremismus auseinandersetzen.<br />

Prof. Dr. Buchstein zeichnet<br />

<strong>als</strong> Herausgeber verantwortlich. Sie<br />

sind auch ins Internet eingestellt.<br />

Das Heft 2 von<br />

Benjamin Fischer:<br />

Ueckermünde – ein Refugium des<br />

Rechtsextremismus? (2006, 42 S.)<br />

untersucht, ob Ueckermünde, eine relativ<br />

kleine Stadt am Nordostende der<br />

Republik, in der ersten Hälfte des Jahrzehnts<br />

ein Refugium des Rechtsextremismus<br />

geworden ist. Es umfasst ein<br />

kurzes Lagebild der Kommune, die Aktivitäten<br />

der NPD im Ort, das Auftreten<br />

der Kameradschaften und vor allem<br />

von sogenannten Kulturkreisen wie dem<br />

HBP (Heimatbund Pommern). Zum späteren<br />

Einzug der NPD in den Schweriner<br />

Landtag auf Grund der Ansammlung<br />

entsprechenden Stimmenpotenti<strong>als</strong> der<br />

extremen Rechten trug vor allem das<br />

demagogische Wirken einer Bürgerinitiative<br />

»Schöner und sicherer wohnen in<br />

Ueckermünde« mit ihrer ausländerfeindlichen<br />

Hetze bei.<br />

Es sind nur wenige aber politisch profilierte<br />

Kader der NPD, die mit klaren<br />

Strategien für eine Verankerung des<br />

Rechtsextremismus in der gesellschaftlichen<br />

Mitte der Stadt sorgten. An zahlreichen<br />

Beispielen wird demgegenüber<br />

deutlich gezeigt, wie schwache demokratische<br />

Strukturen und Versagen<br />

kommunaler Behörden eine Mitschuld<br />

an der Entstehung eines solchen »Refugiums«<br />

tragen und die Notwendigkeit<br />

aktiver und offensiver politischer Auseinandersetzung<br />

mit den rechtsextremen<br />

Gruppen begründet.<br />

Das Heft 3 von<br />

Benjamin Barkow: <strong>Die</strong> Berichter stattung<br />

über die NPD in der regional en<br />

Presse Mecklenburg-Vorpommerns<br />

(2007, 51 S.)<br />

nimmt <strong>als</strong> Beispiele für die Untersuchung<br />

erstens die Anklamer Ausgabe<br />

des »Nordkurier« und zweitens die<br />

Str<strong>als</strong>under Ausgabe der »Ostseezeitung«.<br />

Im einzelnen erfährt man dabei<br />

etwas über die Anordnung dieser Berichterstattung<br />

in den Zeitungen, über<br />

den Umfang der Berichte zu den Ereignissen,<br />

Berichte über das Auftreten<br />

der NPD in der Stadtvertretung Anklam<br />

und im Kreistag OVP (Ostvorpommern)<br />

sowie in der Str<strong>als</strong>under Bürgerschaft.<br />

Dann erfolgt ein Vergleich der Berichterstattung<br />

in den beiden Zeitungen und<br />

eine Bewertung.<br />

Das Heft 4 von<br />

Laura Niemann: <strong>Die</strong> NPD im Landtag<br />

von Mecklenburg-Vorpommern.<br />

Ihre Parlamentsarbeit im ersten<br />

Jahr. (2008, 96 S.)<br />

ist das bisher umfangreichste Heft. Erfasst<br />

wird dabei das Geschehen im<br />

Schweriner Landtag von Ende 2006 bis<br />

Ende 2007. Vorangestellt ist eine Übersicht<br />

zum Auftreten rechtsextremer Parteien<br />

in Landtagen der Bundesrepublik<br />

in der Vergangenheit. Danach werden<br />

die Aussagen der NPD vor ihrem Einzug<br />

in den Landtag 2006 analysiert. Den<br />

Hauptteil bilden die Untersuchungen zu<br />

den von den NPD-Vertretern im Landtag<br />

gehaltenen Reden, die eingebrachten<br />

Entschließungs- und Gesetzesentwürfe<br />

sowie die Auseinandersetzungen der<br />

demokratischen Parteien im Landtag mit<br />

der NPD. <strong>Die</strong> faktenreiche und detaillierte<br />

Beschreibung von Laura Niemann<br />

ist zusätzlich durch Interviews gestützt.<br />

Für weiter reichende Schlussfolgerungen<br />

über Mecklenburg-Vorpommern<br />

hinaus ist hervorzuheben, dass die Autorin<br />

einerseits die Arbeit der NPD im<br />

Schweriner Landtag <strong>als</strong> vergleichsweise<br />

professionell und gut organisiert bewertet,<br />

dass zum anderen es aber auch den<br />

demokratischen Parteien vergleichsweise<br />

gut gelingt, die Provokationsstrategie<br />

der NPD ins Leere laufen zu lassen.<br />

103


Karl-Heinz Jahnke – Arbeiterbewegung und<br />

Antifaschismus: Bilanz eines Forscherlebens<br />

Karl-Heinz Jahnke, Gegen das Vergessen! Biographische Notizen. Forschungen zum<br />

Widerstand gegen die NS-Diktatur in Deutschland, Verlag Ingo Koch, Rostock 2008,<br />

203 Seiten.<br />

<strong>Die</strong>se Publikation des Rostocker Historikers<br />

Professor Karl-Heinz Jahnke ist sein<br />

persönlichstes Werk. Er hält umfassend<br />

Rückschau auf sein Wirken <strong>als</strong> engagierter<br />

Hochschullehrer und Forscher<br />

zur jüngsten deutschen Geschichte. Der<br />

Autor vermittelt den Lesern mehr <strong>als</strong> die<br />

Bilanz eines erfülltes Wissenschaftlerleben.<br />

Das Buch führt in die Vergangenheit<br />

und ist zugleich eine Reise in die<br />

Gegenwart und Zukunft.<br />

Zeitlebens hat Karl Heinz Jahnke in seinem<br />

wissenschaftlichen Wirken immer<br />

gegen »das Vergessen« geforscht<br />

und publiziert. Sehr treffend schreibt<br />

er, dass er, geprägt durch die Kriegsereignisse<br />

des Zweiten Weltkrieges, mithelfen<br />

wollte, eine neue Welt aufzubauen<br />

– frei von Völkermord, sozialer<br />

Ungleichheit und Verletzung der Menschenwürde.<br />

In diesem Sinne ist auch seine Rede<br />

<strong>als</strong> Vertreter der Studentenschaft anlässlich<br />

des Festaktes zur 500-Jahrfeier<br />

der Ernst-Moritz-Arndt-Universität am<br />

16. Oktober 1956 zu bewerten, in der<br />

er voller Stolz auf die großzügigen Ausbildungsmöglichkeiten<br />

für die Jugend,<br />

insbesondere für die Arbeiter- und Bauernkinder<br />

in der damaligen Deutschen<br />

Demokratischen Republik verwies.<br />

Knapp aber zugleich prägnant skizziert<br />

Karl Heinz Jahnke seine Schulzeit in Rostock,<br />

Grammow, Kavelstorf und in Bad<br />

Doberan. Bereits 1948 schloss sich der<br />

Autor der Kinderlandbewegung der FDJ<br />

und den Jungen Pionieren an. Freimütig<br />

schildert er, dass ihm die vier Schuljahre<br />

in Bad Doberan nicht leicht gefallen<br />

seien, da er kriegsbedingt erhebliche<br />

schulische Rückstände aufzuholen hatte.<br />

Sachlich beschließt der Autor diesen<br />

Lebensabschnitt mit der Feststellung,<br />

dass er einen politischen Reifeprozess<br />

durchlief und <strong>als</strong> Konsequenz dieser Erkenntnis<br />

in die SED eintrat.<br />

Einprägsam schildert der Autor die<br />

Etappen seines Studiums an der Ernst-<br />

Moritz-Arndt-Universität. Er betont dabei<br />

die fundierte Ausbildung zum Lehrer<br />

für Geschichte an Erweiterten Oberschulen.<br />

Zugleich verweist er darauf,<br />

dass am Historischen Institut in Greifswald<br />

Mediävisten die Forschung und<br />

Lehre prägten und dass das Gebiet der<br />

Neuzeit sich erst im Aufbau befand. We-<br />

104<br />

nig geschah auf dem Gebiet der Neuesten<br />

und Zeitgeschichte. Zielgerichtet<br />

wandte sich Karl-Heinz Jahnke dieser<br />

Thematik zu, indem er seine Diplomarbeit<br />

dem Thema »Zur Geschichte der<br />

SPD in Str<strong>als</strong>und« (1891–1914) widmete.<br />

Mit berechtigtem Stolz schreibt er,<br />

dass sein Staatexamen zu den Besten<br />

des Jahres 1957 gehörte und er die<br />

Möglichkeit erhielt, an der der Greifswalder<br />

Universität seine Studien und<br />

Forschungen fortzusetzen (vgl. S.22).<br />

Der Autor spart aber auch nicht die vielfältigen<br />

Schwierigkeiten in seinem damaligen<br />

Lebensweg aus. Der Leser erhält<br />

einen anschaulichen Einblick in die<br />

umfangreichen Aktivitäten <strong>als</strong> Forscher<br />

und <strong>als</strong> politisch engagierte Persönlichkeit<br />

in der FDJ-Hochschulleitung.<br />

Große Aufmerksamkeit widmet der Autor<br />

seinem Wirken <strong>als</strong> Historiker in Greifswald<br />

von 1957 bis 1968. Hier lotet er<br />

tiefgründig seine Erfolge, aber auch die<br />

ihm zugefügten Verleumdungen über sein<br />

Wirken in politisch bewegten Zeiten aus.<br />

Der Autor betont in seinem Rüc<strong>kb</strong>lick auf<br />

die Greifswalder Jahre, dass er sich hier<br />

vor allem auf die Erforschung des europäischen<br />

Widerstandes der Studenten gegen<br />

den Faschismus konzentrierte. Der<br />

Leser erfährt, dass unter seiner Federführung<br />

1957 die Idee zu dem Forschungsprojekt<br />

»Studenten Europas im Kampf<br />

gegen den Hitlerfaschismus« entwickelt<br />

wurde. Dazu fand er Partner in anderen<br />

Ländern. Im Oktober 1959 erschien<br />

zu dieser Thematik das Buch »Niem<strong>als</strong><br />

vergessen! Aus dem antifaschistischen<br />

Widerstandskampf der Studenten Europas«.<br />

Im Oktober des gleichen Jahres<br />

konnte unter seiner Leitung die erste<br />

wissenschaftliche Konferenz zum Thema<br />

»Europäische Jungend im Widerstand«<br />

in Greifswald durchgeführt werden. <strong>Die</strong><br />

Greifswalder Jahre des Historikers Karl-<br />

Heinz Jahnke sind seit seiner 1960 erfolgten<br />

Promotion und der im Frühjahr<br />

1966 verteidigten Habilitationsschrift vor<br />

allem dadurch gekennzeichnet, dass er<br />

<strong>als</strong> Forscher und Hochschullehrer sein<br />

selbst gewähltes Forschungsthema, den<br />

antifaschistischen Widerstand, und dabei<br />

vor allem den Anteil der Jugend nie verlassen<br />

hat; auch dann nicht, wenn andere<br />

Herausforderungen von ihm zu bewältigen<br />

waren.<br />

Völlig zu Recht stellt der Autor über diese<br />

Jahre fest: »Eine bedeutende Wegstrecke<br />

in der beruflichen Entwicklung<br />

war zurückgelegt. Mit 31 Jahren hatte<br />

ich habilitiert. Durch meine Leistungen<br />

in Forschung und Lehre erfuhr ich Annerkennung<br />

über Greifswald hinaus.«<br />

(S. 46)<br />

Im Ergebnis der gegen ihn erhobenen,<br />

ungerechtfertigen Verleumdungen musste<br />

der Autor 1968 zur Wilhelm-Pieck-<br />

Universität Universität nach Rostock<br />

wechseln. Begründet wurde dieser<br />

Wechsel unter anderem auch damit,<br />

dass nur noch in Rostock zur Jugendgeschichte<br />

geforscht und gelehrt werden<br />

sollte.<br />

Sein Wirken <strong>als</strong> Historiker in Rostock<br />

unterteilt der Autor in zwei Abschnitte.<br />

Im ersten skizziert er den neuen komplizierten<br />

Anfang am Historischen Institut<br />

der Rostocker Universität. Der gestandene<br />

Wissenschaftler mußte vertraute<br />

und bewährte Lehrveranstaltungen aufgeben<br />

und neue Kontakte zu den Studenten<br />

und Fachkollegen suchen. Es<br />

galt die Auszubildenden für sein Forschungsgebiet<br />

aufzuschließen und zu<br />

motivieren, nämlich für die Erforschung<br />

der deutschen Arbeiterbewegung und<br />

der Jugendgeschichte bis in die Gegenwart.<br />

Karl-Heinz Jahnke stand vor der Aufgabe,<br />

sich Grundlagen für eine systematische<br />

Forschungsarbeit zu schaffen.<br />

Der Autor schildert detailliert, wie er die<br />

zu bewältigenden Probleme meisterte.<br />

Wie viel Kraft und Zeit aufgewandt werden<br />

musste, um das von der politischen<br />

Führung geforderte Buch »Geschichte<br />

der Freien Deutschen Jungend« zu erarbeiten,<br />

kann man in diesem Kapitel<br />

nachlesen. <strong>Die</strong> Buchnutzer erfahren hier<br />

auch, wie groß die Freude aller Beteiligten<br />

war, <strong>als</strong> im Jahre 1982 das Werk<br />

endlich gedruckt vorliegen konnte.<br />

In der Zwischenzeit, nämlich am 1. September<br />

desselben Jahres, wurde Karl-<br />

Heinz Jahnke auch zum ordentlichen<br />

Professor für Geschichte der deutschen<br />

Arbeiterbewegung berufen. Lebendig<br />

und unterlegt mit aufschlussreichen<br />

Details beschreibt der Rostocker Historiker<br />

sein Wirken <strong>als</strong> Direktor der Sektion<br />

Geschichte in den Jahren von 1981<br />

bis 1986. <strong>Die</strong> letzen zwei Jahre skizziert


er <strong>als</strong> Jahre heftiger Auseinandersetzungen<br />

über den Niedergang der DDR<br />

und ihr schließliches Ende.<br />

Im Kapitel »Arbeit <strong>als</strong> Historiker in Rostock<br />

1991–2008« (S. 85–126) vermittelt<br />

und belegt der Verfasser durch eine<br />

Vielzahl von Episoden <strong>als</strong> Forscher<br />

und Publizist sowie aus dem liebevoll<br />

nachgezeichneten Familienleben, dass<br />

er selbst unter härtesten Lebensbedingungen<br />

an seiner Lebensmaxime »Gegen<br />

das Vergessen« tätig zu sein festgehalten<br />

hat.<br />

Ein Vorzug des Buches ist, dass der<br />

Autor mit zahlreichen Bild- und Textdokumenten<br />

seine wissenschaftlichen<br />

Weggefährten benennt und in seinen<br />

Ausführungen betont, dass er vor allem<br />

durch die Vielfalt seiner Kontakte im In-<br />

und Ausland so erfolgreich tätig sein<br />

konnte und auf ein erfülltes Leben <strong>als</strong><br />

Historiker verweisen kann.<br />

Typisch für ihn ist auch sein mahnender<br />

Hinweis auf offengebliebene Forschungs-<br />

und Publikationsvorhaben, die<br />

noch zu bewältigen sind<br />

Abgerundet wird die vorliegende Publikation<br />

durch das Kapitel »Dokumente«.<br />

Hier stellte er eine Fülle seiner veröffentlichten<br />

wissenschaftlichen Arbeiten<br />

vor und berichtet schonungslos über<br />

die Ereignisse an der Sektion Geschich-<br />

te der Rostocker Universität zwischen<br />

September 1988 bis Oktober 1990.<br />

Im Nachwort spürt man die Freude und<br />

Erleichterung des Autors dieses so persönlich<br />

angelegte Buch geschaffen zu<br />

haben. Jeder, der an der Geschichte der<br />

Arbeiter(jugend)bewegung interessiert<br />

ist und sich mit dem Antifaschismus in<br />

Geschichte und Gegenwart beschäftigt,<br />

sollte diesen lesenswerten Band, dem<br />

auch sehr aufschlussreiche Fakten zur<br />

Geschichte der DDR zu entnehmen sind,<br />

in die Hand nehmen.<br />

Dr. Günter Wehner<br />

105


106

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!