01.11.2012 Aufrufe

olympischer literatur-wettbewerb deutsch - englisch - französisch

olympischer literatur-wettbewerb deutsch - englisch - französisch

olympischer literatur-wettbewerb deutsch - englisch - französisch

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Und einmal glückte ihr ein Satz auf zirka 7,20 Meter. Doch ein<br />

übereifriger Helfer an der Weitsprunggrube löschte zu früh mit<br />

dem Rechen den Abdruck im Sand. Nach vertrackten Rückenbeschwerden<br />

konnte die inzwischen verheiratete Ingrid Mickler-<br />

Becker erst spät das Training für die Spiele von München 1972<br />

aufnehmen. Und scheiterte prompt in der Weitsprung-Qualifikation.<br />

"Es war das erste Mal eine Belastung da, die ich aber<br />

nicht wahrhaben wollte. Das Wort Druck, das heute fast in<br />

jedem Interview vorkommt, kannte ich gar nicht." Doch auch<br />

diesen Rückschlag steckte sie weg und legte mit der besten Zeit<br />

auf der Gegengeraden, der längsten Strecke, den Grundstein<br />

zum Triumph der bundes<strong>deutsch</strong>en Sprintstaffel über das DDR-<br />

Quartett. Ihre zweite olympische Goldmedaille konnte sie aber<br />

nicht so recht genießen. Zu sehr hatte das Geiseldrama den<br />

Erfolg überschattet. "Nach dem Rennen habe ich die Spikes<br />

ausgezogen. Und wusste: Das war's dann."<br />

"Ohne den Sport hätte ich mir gesagt: Ich studiere nicht und<br />

bleibe lieber in Geseke. Ich habe durch den Sport die Welt kennen<br />

gelernt und meinen Horizont ungeahnt erweitert." Die<br />

Verwaltungsangestellte holte das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg<br />

nach. Folgte dem Ruf von Professor Berno<br />

Wischmann zum USC und zur Universität nach Mainz. Studierte<br />

Sport, Pädagogik, Soziologie und Psychologie, schloss ihr Studium<br />

mit drei Diplomen und einem Vordiplom ab und erhielt den<br />

Kultusministerpreis für den besten Studienabschluss. "Ich hätte<br />

am liebsten immer weiter studiert." Lange Jahre unterrichtete sie<br />

mit Freude an einem Mainzer Gymnasium Sport und Sozialkunde,<br />

war zusätzlich in der Schullaufbahnberatung eingespannt.<br />

Ende der achtziger Jahre ließ sie sich für zwei Jahre vom Schuldienst<br />

beurlauben, ging mit ihrem Mann und ihrem Sohn<br />

Philipp nach Amerika. "Ich studierte noch einmal vier Semester<br />

an der University of Michigan. Die zwei Jahre waren ein Traum."<br />

In dieser Zeit wurde die ganze Familie vom Golfbazillus befallen,<br />

der sich inzwischen zu einer dauerhaften Epidemie ausgewachsen<br />

hat. Mittlerweile hat die frühere Leichtathletin ihr Handicap<br />

auf 9,5 verbessert, ohne mit ihren "Männern" mithalten zu<br />

können. Auch dieses Hobby betreibt sie locker, ohne je systematisch<br />

von einem Pro geschult worden zu sein. "Mit Sport hat das<br />

nichts zu tun. Das ist ein lockerer Spaziergang. Aber durch die<br />

Spielidee hat Golf einen hohen Aufforderungscharakter."<br />

Nach ihrer Rückkehr aus den USA wurde Ingrid Mickler-Becker<br />

1990 zur Staatssekretärin im rheinland-pfälzischen Ministerium<br />

für Familie, Sport und Soziales berufen. Ein Aufstieg, den ihr in<br />

Deutschland bis auf den heutigen Tag noch kein Athlet und<br />

noch keine Athletin nachgemacht hat. "Ich wollte das eigentlich<br />

gar nicht. Aber mein damals dreizehnjähriger Sohn sagte zu mir:<br />

‚Mama, mach doch den Job. Du schaffst das schon.' Es war dann<br />

schön, gestalten und die Entscheidung darüber selbst herbeiführen<br />

zu können." Die Beamten staunten über ihre Sachkompetenz<br />

und fahndeten nach einem Einflüsterer im Ministerium.<br />

"Den gab's aber nicht. Was die wenigsten wussten: Ich hatte ja<br />

zehn Jahre Verwaltungserfahrung auf dem Buckel, und ich<br />

konnte Haushaltpläne lesen." Eine wertvolle Fähigkeit.<br />

42<br />

Neben dem Beruf und einem intakten Familienleben mit ihrem<br />

Mann Friedel, ihrem Jugendfreund aus Geseke, und ihrem Sohn<br />

Philipp nahm sich Ingrid Mickler-Becker immer auch die Zeit für<br />

ehrenamtliches Engagement. 1969 bei der Europameisterschaft<br />

in Athen, als auf Betreiben der DDR der ehemals ost<strong>deutsch</strong>e<br />

Weltrekordläufer Jürgen May vom Start ausgeschlossen wurde<br />

und die bundes<strong>deutsch</strong>e Mannschaft als Geste gegenüber den<br />

Griechen nur in den Staffeln startete, profilierte sie sich als<br />

Athletenvertreterin. "Wir sind gegen die Mauern der Funktionäre<br />

gerannt." Die hatten sich auf mündliche Zusagen verlassen, dass<br />

May starten dürfe, anstatt das Regelwerk zu studieren.<br />

"Ich habe immer gepredigt: ‚Frauen dürfen nicht den Fehler<br />

machen wie Männer und zu viele Ämter annehmen.' Als wir<br />

nach Amerika gegangen sind, habe ich erschrocken festgestellt,<br />

dass ich siebzehn Ämter hatte." Nicht zuletzt setzte sie sich für<br />

Frauen im Sport und außerhalb des Sports ein. Die Konsequenz:<br />

Sie übt jetzt nur noch zwei Funktionen aus, ihre Mitgliedschaft<br />

im NOK und ihre Tätigkeit im Gutachterausschuss der Sporthilfe.<br />

Gerade die Arbeit für die Athleten liegt ihr besonders am Herzen.<br />

"Ich bin froh, dass ich zu meiner Zeit Sport getrieben habe. Ich<br />

könnte nie als Hauptberuf Sport treiben, ohne Berufsausbildung,<br />

ohne Studium, mit täglichem Training, täglicher Behandlung<br />

durch Physiotherapeuten, Trainings- und Essensfahrplänen. Das<br />

würde mich todunglücklich machen." Besorgt sieht sie den<br />

Wettlauf zwischen der Doping- und der Anti-Doping-Fraktion.<br />

Und warnt: "Es wäre tödlich, Doping freizugeben."<br />

Nach wie vor nimmt die Olympiasiegerin Anteil am Sport,<br />

verfolgt das Geschehen in der Leichtathletik, ohne noch oft in<br />

die Stadien zu gehen. Beim Frühstück beginnt sie ihre Zeitungslektüre<br />

mit dem Finanzteil einer überregionalen Frankfurter<br />

Zeitung, "aber von hinten, mit den Sportseiten". Samstags<br />

schaut sie "live" die Bundesliga auf Premiere. Sie freut sich, dass<br />

die "Meenzer" den Klassenverbleib geschafft haben, trauert aber<br />

mit den Bochumern, die absteigen mussten. Nach wie vor ist sie<br />

als freie Mitarbeiterin für ein großes Unternehmen tätig, für das<br />

sie Fragebögen für die Personalentwicklung entwirft.<br />

Es ist ruhig geworden im Haus. Ihr Sohn Philipp, ein begeisterter<br />

Schlagzeuger, lebt zur Zeit nach dem Jurastudium in Spanien.<br />

Dafür ist ihr Mann, der eine gute Stellung bei Opel bekleidete,<br />

im Ruhestand, den er zum nicht geringen Teil auf dem Golfplatz<br />

verbringt. Die beiden sind Mitglieder in fast allen Zornheimer<br />

Vereinen, nicht zuletzt auch beim TSV, bei dem Philipp viel<br />

versprechend Fußball gespielt hat. Sie gehen gerne zu den<br />

Fassenachtssitzungen der Weisenauer Burggrafen, schätzen das<br />

Theater und fühlen sich wohl in dem entspannten, ein wenig<br />

weinseligen Klima von Mainz. Haben dennoch den Faden in ihre<br />

Heimatstadt Geseke nicht abreißen lassen. Ruhe finden sie<br />

oberhalb der Stadt in ihrem Domizil zwischen den Weinbergen.<br />

Und es ist verständlich, dass Ingrid Mickler sagt: "Ich bin dankbar<br />

für ein tolles Leben." Beim Blick auf die Gegenwart und<br />

beim Blick zurück auf den Sport, der sie auf den richtigen Weg<br />

geführt hat.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!