olympischer literatur-wettbewerb deutsch - englisch - französisch
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Hosen und blauen Blazern.<br />
Sie gratulierten mir aber<br />
nicht, sondern sagten: ‚Ob<br />
wir dich mitnehmen können<br />
nach Rom, das wissen wir<br />
noch nicht, und höchstwahrscheinlich<br />
geht es auch<br />
nicht.' Da hab ich gesagt:<br />
Und ich fahre doch nach<br />
Rom. Denn ich habe schon<br />
meinen Hut, meinen grauen<br />
Faltenrock, meinen blauen<br />
Blouson, meinen Kleidersack,<br />
habe meine Fahrkarte, für die<br />
habe ich 100 Mark bezahlt.<br />
Und das gebe ich Ihnen nicht<br />
her. Ich fahre." Ingrid Becker sprach von ihrer Teilnahme am<br />
olympischen Jugendlager, die Funktionäre aber meinten den<br />
Start bei den Olympischen Spielen. Wie sich herausstellte,<br />
hatten die Kampfrichter die Latte gegen ihren Willen auf 1,68<br />
Meter gelegt. Das war <strong>deutsch</strong>er Rekord und Olympianorm.<br />
Wenig später gewann sie in Hannover die gesamt<strong>deutsch</strong>e<br />
Olympia-Ausscheidung. Eine Ausnahmegenehmigung machte<br />
der Siebzehnjährigen als Jüngste den Weg in die gesamt<strong>deutsch</strong>e<br />
Olympiamannschaft frei.<br />
Die Olympischen Spiele von Rom 1960 waren ihr erstes großes<br />
internationales Sportfest. "Ich war hingerissen von dem bunten<br />
Treiben im Olympischen Dorf." Und sogar während ihres Hochsprung<strong>wettbewerb</strong>s<br />
fotografierte sie alles, was sich um sie<br />
herum bewegte. Ihr Betreuer Heinz Fallak hatte ihr eingeschärft,<br />
dass sie alphabetisch nach Jolanda Balas dran käme. Mit dieser<br />
Gewissheit ließ sie sich auch nicht von einem italienischen<br />
Kampfrichter irritieren, der in seiner Landessprache immer<br />
wieder aufgeregt auf sie einredete. Erst ausländische Athletinnen<br />
machten ihr begreiflich, dass der Hochsprung<strong>wettbewerb</strong><br />
schon weit fortgeschritten war und sie endlich springen müsste.<br />
Auf die Entgegnung der unerfahrenen Deutschen: "Ich spring<br />
doch erst, wenn die Balas springt…" , erklärten sie ihr: "Die<br />
rumänische Weltrekordlerin fängt erst an, wenn wir alle schon<br />
ausgeschieden sind." Und tatsächlich: Die Balas gewann mit<br />
1,85 Meter, während Ingrid Becker mit zwei Sprüngen über 1,65<br />
und 1,68 Meter immerhin Olympianeunte wurde.<br />
Das Erlebnis der Spiele von Rom aber hatte das olympische<br />
Feuer in der jungen Athletin für ein ganzes Leben entfacht. "Ich<br />
war siebzehn, kam aus dem kleinen Geseke, es war mein erster<br />
Flug, ich war das erste Mal von zu Hause weg, ohne Aufpasser.<br />
Es gab Schalen voller Früchte, die hab ich vorher noch nie<br />
gesehen. Die Schlussfeier war schlicht und ergreifend, keine<br />
Inszenierung wie heute. Die Zuschauer haben plötzlich ihre<br />
Programmhefte angesteckt. Das Stadion war ein Lichtermeer.<br />
Und ich hab vor Rührung geheult wie ein Schlosshund."<br />
Ihr nächstes Ziel war klar: Auch vier Jahre später wieder dabei<br />
sein. Was ihr gelang. Und sie genoss 1964 die Tage von Tokio,<br />
das damals noch so exotisch fern war wie für uns heute der<br />
Mond. "1963 war ich das erste Mal in Tokio zu vorolympischen<br />
Wettkämpfen. Der Pfarrer in der Kirche forderte die Gemeinde<br />
auf: ‚Wir wollen beten, dass Ingrid wieder heil nach Hause<br />
kommt.' Das Flugticket kostete 4.500 Dollar. Das waren bei<br />
einem Wechselkurs von einem Dollar zu 4,20 D-Mark rund<br />
20.000 Mark. Dafür konnte man in Geseke ein Haus kaufen. Da<br />
ist mir schlagartig klar geworden, wie privilegiert ich war."<br />
Ingrid freute sich bei den Spielen aus vollem Herzen über ihren<br />
vierten Platz im Weitsprung, einen Zentimeter an der Bronzemedaille<br />
vorbei. Und sie konnte nicht verstehen, dass viele mit<br />
einem "ganz schön, aber schade ..." reagierten.<br />
Für Mexiko 1968 war ihr Ehrgeiz geweckt. "Ich sagte mir, wenn<br />
ich mit so wenig Training Vierte geworden bin, dann kann ich<br />
auch Olympiasiegerin im Weitsprung werden." Doch Montezumas<br />
Rache, eine bekanntermaßen heftige Darmgrippe, machten<br />
ihre Träume zunichte. "Na dann eben der Fünfkampf", hat sich<br />
Ingrid Becker gesagt, die gerade noch rechtzeitig wieder zu<br />
Kräften gekommen war. Alles lief gut. Doch vor dem Kugelstoßen<br />
fuhr ihr der Schreck in die Glieder. "Ich hatte zwar Spikes<br />
und meinen Hochsprungschuh, nicht aber die Turnschuhe<br />
eingepackt. Und barfuß oder mit Doktor Scholls Fußlatschen, die<br />
ich damals in Mexiko gerne trug, anzutreten, wäre sinnlos<br />
gewesen. Meta Antenen (die Schweizer Mehrkämpferin) fragte<br />
für mich bei Konkurrentinnen nach einigermaßen passenden<br />
Schuhen. Und so absolvierte ich den ersten Versuch in den<br />
Schuhen einer meiner schärfsten Konkurrentinnen aus der<br />
Sowjetunion, den zweiten in den Schuhen von Liese Prokop, der<br />
heutigen österreichischen Ministerin, und den dritten in Schuhen<br />
der Marke Brütting." Statt der möglichen fünfzehn, sechzehn<br />
Meter kam nur eine Weite von 11,48 Meter heraus. Aber<br />
mit Hilfe ihrer Widersacherinnen hatte sie ihre Chance gewahrt.<br />
"Ich frage mich, ob diese Hilfsbereitschaft auch heute im Profizeitalter<br />
noch möglich wäre."<br />
Im Hochsprung des Fünfkampfs prasselte tropischer Regen vom<br />
mexikanischen Himmel herab. Aus der Stadionkurve erschallten<br />
Anfeuerungsrufe. "Einer rief mehrmals: ‚Ingrid, halte durch!' Das<br />
war Max Schmeling, der später immer wieder zu mir sagte:<br />
‚Ingrid, weißt du noch damals Mexiko? Das war toll.'" Während<br />
die anderen Wettkämpferinnen auf der rutschigen Anlage hinter<br />
ihren Möglichkeiten zurückblieben, erzielte Ingrid Becker mit<br />
1,71 Meter persönliche Bestleistung. Und tatsächlich: Mit einem<br />
<strong>deutsch</strong>en Rekord im abschließenden 200-Meter-Lauf (23,5<br />
Sekunden) konnte die schlanke Westfälin ihren ersten Olympiasieg<br />
perfekt machen. Nach der Rückkehr stand Geseke Kopf.<br />
20.000 Menschen waren in dem Ort (zwischen Lippstadt und<br />
Paderborn), der nur 13.000 Einwohner hatte. "Doch so stürmisch<br />
ich gefeiert wurde, so gut haben die Geseker mich aufgefangen.<br />
Ich gehörte einfach dazu."<br />
Nur mit ihrem Traum, Olympiasiegerin im Weitsprung zu werden,<br />
wurde es nichts. Mit ihrem Europameistertitel in Helsinki<br />
avancierte sie zur Favoritin für München 1972. Sie war drauf<br />
und dran, die erste Siebenmeterspringerin der Welt zu werden.<br />
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