Nemzy Povolzhja
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Die Zeit heüt alle Wunden<br />
Als das Gespräch mit Iwan Michajlowitsch Webert schon beinahe zu Ende war,<br />
baten wir ihn, uns interessante Menschen au nennen, mit denen wir nicht nur<br />
über ihr Schicksal, sondern auch über die Geschichte des Dorfes sprechen könnten. Er<br />
empfahl, uns an Natalia Fjodorowna Teplotinskaja zu wenden. Natalia Fjodorowna<br />
wunderte eich sehr, dass wir gekommen waren: „Was kann ieh euch erzählen?" Aber<br />
es stellte sich heraus, dass sie doch viel zu erzählen hatte. Das verstanden wir schon am<br />
Anfang unseres Gesprächs.<br />
Natalia Fjodorowna begann ihre Erzählung: „Ich wurde im Jahre 1917 geboren."<br />
Dies versetzte uns in Verwunderung, da nicht viele Menschen dieses Alters noch am<br />
Leben sind.<br />
Natalia Fjodorowna Schreiner wurde im Gebiet Saratow im Dorf Neubailak in einer<br />
einfachen Familie geboren. Ihr Vater hieß Fjodor Iwanowitsch Schreiner und ihre<br />
Mutter — Ekaterina Neuberger. Die Familie Schreiner war, wie auch viele andere Familien<br />
dieser Zeit, sehr groß, besondere wenn man das mit der heutigen Zeit vergleicht.<br />
Die Familie hatte acht Kinder: drei Brüder und fünf Schwestern.<br />
Die Familie war nicht arm. Sie hatten Vieh: Pferde, Kühe und Schafe. Der Vater<br />
war Arbeiter, die Mutter führte den Haushalt, weil acht Kinder und die Hausarbeit<br />
sehr viel Zeit in Anspruch nahmen. Der Vater hatte viel zu arbeiten, das Geld war<br />
immer knapp. Eigenhändig bauten sie Weizen und Roggen an. Zu Hause züchteten sie<br />
Tabak. Der Anbau des Tabaks ist eine schwierige Sache. Damit beschäftigten sich die<br />
Mutter und die älteren Kinder. Natalia Fjodorowna war unter den jüngeren Kindern,<br />
deshalb blieb auch immer ein wenig Zeit für verschiedene Streiche. Natalia Fjodorowna<br />
war ein nicht so kluges Kind, deswegen ging sie nicht in die Schule und blieb ungebildet.<br />
Das aber hinderte sie nicht daran, ein interessantes Leben zu haben sowie Kinder,<br />
Enkel und Urenkel großzuziehen.<br />
Sie besuchte sehr oft die lutherische Kirche, in der sehr oft getauft und getraut<br />
wurde. Natalia Fjodorowna erinnert sich daran, dass ihre Mutter sonntags die Kinder<br />
in die Kirche führte. Zu Hause lasen sie die Bibel, sprachen Gebete vor dem Schlafen<br />
und sangen religiöse Lieder.<br />
Nach der Arbeit trafen sich die Erwachsenen, um Lieder zu singen und sich au erholen.<br />
Sehr lustig begingen sie die Feste Weihnachten und Neujahr, mit vielen Geschenken,<br />
mit Tänzen und Liedern. Nicht immer aber bringt das Neujahr Glück.<br />
Die Vorbereitung der Neujahrsfeier 1930 begann wie immer, jeder machte etwas.<br />
Ein Ferkel wurde geräuchert, die Mutter machte den Teig für den Kuchen, die Kinder<br />
schmückten das Haus. Am Abend aber kamen unbekannte Menschen. Wir mussten das<br />
Nötigste zusammenpacken und das Haus verlassen. Dann haben sie den Vater fortgeführt.<br />
Die Mutter und die Kinder waren von Entsetzen gepackt. Am nächsten Morgen<br />
kamen dieselben Leute und fingen an, Vieh und andere Sachen wegzunehmen. Die<br />
Mutter nahm etwas zu essen (einen Mehlsack, Sauerkraut, Gemüse) und ging mit ihren<br />
Kindern zur Schwester ihres Mannes. Über den Vater hat man ihnen nichts erzählt,<br />
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