Nemzy Povolzhja

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18.06.2014 Aufrufe

Perpetuum mobile 48 E ine der ersten Einwohnerinnen des Dorfes Krasnyj Jar, der wir begegneten, war Anna Wolkowa. Diese Frau erstaunte uns durch ihre Geisteskraft und ihre junge Seele. Wir wollten sie näher kennen lernen. Das Schicksal dieser Frau war nicht leicht. Anna Wolkowa wurde 1931 in der Ukraine in einer jüdischen Familie geboren. Sie hatte noch eine Schwester und zwei Brüder. Vor dem Krieg lebte die Familie in gesicherten Verhältnissen. Der Vater war Buchhalter von Beruf und versorgte seine Familie allein, die Mutter hat nie einen Beruf ausgeübt. Anna Wolkowa kann sich noch sehr gut daran erinnern, dass es in ihrem Elternhaus Kristall in Hülle und Fülle gab. In der Schule lernte Anna nicht besonders gut und gehörte zu den größten Rüteln. Bis zu Beginn der Bombardierung glaubten die Leute nicht, dass der Krieg ausgebrochen war, deshalb verließen sie die Ukraine zu spät. Die Familie von Anna Wolkowa verließ ihr Dorf erst, als die faschistischen Truppen dahin kamen. Die Familie fuhr mit zwei Pferdewagen. Auf einem befand sich das Familiengut, auf dem anderen - die Kinder und die Erwachsenen. Die Leute zogen sich als unendliche Kette den Weg entlang. Bei Uman gerieten sie in einen Bombenhagel, weswegen sie ihre gesamte Habe verloren. Hungrig und schmutzig kam die Familie von Anna Wolkowa nach Kiew, wo ihr Bruder vor dem Krieg studierte. Dort erfuhren sie, dass seine Hochschule nach Kasan evakuiert worden war, wo sie eich später auch getroffen haben. Der zweite Bruder

wurde von der Hochschule aus in die Armee eingezogen. Sein Schicksal ist unbekannt, aber aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er bei Brest getötet. Nach Krasnyj Jar kam die Familie zu Fuß. Außerdem hatte die Mutter fast den Verstand verloren, weil sie gezwungen war, ihre älteste Tochter in der Ukraine zu verlassen. Diese war schwanger, und ihre Schwiegermutter hatte sie einfach nicht weggelassen. Als die Familie nach Krasnyj Jar kam, hat sie eine Reihe von Wagenzügen der Russlanddeutschen getroffen, die aus den eigenen Häusern ausgesiedelt wurden. Das Dorf war völlig ausgestorben, denn hier hatten ausschließlich Deutsche gewohnt. In die von den Deutschen verlassenen Häuser zogen die Evakuierten ein. Sie waren von der Ordnung begeistert. Im Hof des von der Familie Wolkowa ausgewählten Hauses befanden sich einige Ställe: Kuhstall, Schweinestall, Hühnerstall und Schafstall. Inmitten des Hofes lag ein seltsamer Haufen. Das war getrockneter Mist. Dieser diente zu Heizzwecken und half vielen Familien, den kalten Winter zu überstehen. In den Häusern waren viele Haushaltsgegenstände zurückgeblieben: ein Bügeleisen, das mit Holzkohle angewärmt wurde, eine Waage, ein Fass, ein Schulterjoch und vieles andere. Die Sachen der Russlanddeutschen, die diese nicht mitnehmen konnten, leisteten den Evakuierten gute Dienste. Anna Wolkowa erinnert sich an die Russlanddeutschen und bewahrt deren Sachen sowie die Wärme ihres Heimes sehr sorgsam. Anna Wolkowa hat uns über den Tag des Sieges erzählt. In jedem Haus des Dorfes gab es ein Rundfunkgerät, aber die gesamte Bevölkerung eilte zum zentralen Radiomast, um dies erfreuliche Nachricht zu hören. Die Leute weinten, umarmten sich und gratulierten einander. Bis jetzt ist der Tag des Sieges der bedeutendste Feiertag für Anna Wolkowa. Die Familie beschloss, nicht in die Heimat zurückzukehren, denn ihr Haus war durch die faschistischen Truppen völlig zerstört worden. Als die Wolkows bereits die Hoffnung aufgegeben hatten, dass die älteste Schwester noch am Leben sein könnte, erhielten sie plötzlich eine Postkarte von ihr. Dort stand, dass sie und ihr Kind gesund seien. Uns erstaunte, dass die beiden, wie die Schwester berichtete, oft von deutschen Soldaten gerettet wurden. Diese warnten sie vor bevorstehenden Razzien, während die russischen Polizisten sehr brutal waren. Einige Jahre nach dem Krieg starb Annas Vater. Er Litt an einer schweren Krankheit, die ihn ans Bett gefesselt hatte. Er ist im Saratower Krankenhaus in den Armen seiner Tochter gestorben. Der Tod des Vaters erschütterte sie. Die Mutter half ihr, diese Tragödie zu überwinden. Sie war eine sehr mutige und weise Frau. Sie sagte: „Töchterchen, wir sind allein geblieben, wir dürfen nicht weinen, wir müssen diesen Kummer überstehen und weiter leben." Nach der Schule besuchte Anna Wolkowa eine technologische Berufsschule, die sie aber nicht abschloss, weil sie heiratete und einen Sohn zur Welt brachte. Die Dorfverwaltung beschloss, Anna Wolkowa als aktive Komsomolzin an eine Funktionärsschule zu schicken. Am 21.02.1952 kam sie nach Krasnyj Jar zurück, arbeitete in der dortigen Schule und absolvierte die geografisclie Fakultät der Uraler Pädagogischen Hochschule im Fernstudium. Sie begeisterte die Kinder für den Touris- 49

wurde von der Hochschule aus in die Armee eingezogen. Sein Schicksal ist unbekannt,<br />

aber aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er bei Brest getötet.<br />

Nach Krasnyj Jar kam die Familie zu Fuß. Außerdem hatte die Mutter fast den Verstand<br />

verloren, weil sie gezwungen war, ihre älteste Tochter in der Ukraine zu verlassen.<br />

Diese war schwanger, und ihre Schwiegermutter hatte sie einfach nicht weggelassen.<br />

Als die Familie nach Krasnyj Jar kam, hat sie eine Reihe von Wagenzügen der<br />

Russlanddeutschen getroffen, die aus den eigenen Häusern ausgesiedelt wurden.<br />

Das Dorf war völlig ausgestorben, denn hier hatten ausschließlich Deutsche gewohnt.<br />

In die von den Deutschen verlassenen Häuser zogen die Evakuierten ein. Sie<br />

waren von der Ordnung begeistert. Im Hof des von der Familie Wolkowa ausgewählten<br />

Hauses befanden sich einige Ställe: Kuhstall, Schweinestall, Hühnerstall und Schafstall.<br />

Inmitten des Hofes lag ein seltsamer Haufen. Das war getrockneter Mist. Dieser<br />

diente zu Heizzwecken und half vielen Familien, den kalten Winter zu überstehen. In<br />

den Häusern waren viele Haushaltsgegenstände zurückgeblieben: ein Bügeleisen, das<br />

mit Holzkohle angewärmt wurde, eine Waage, ein Fass, ein Schulterjoch und vieles andere.<br />

Die Sachen der Russlanddeutschen, die diese nicht mitnehmen konnten, leisteten<br />

den Evakuierten gute Dienste. Anna Wolkowa erinnert sich an die Russlanddeutschen<br />

und bewahrt deren Sachen sowie die Wärme ihres Heimes sehr sorgsam.<br />

Anna Wolkowa hat uns über den Tag des Sieges erzählt. In jedem Haus des Dorfes<br />

gab es ein Rundfunkgerät, aber die gesamte Bevölkerung eilte zum zentralen Radiomast,<br />

um dies erfreuliche Nachricht zu hören.<br />

Die Leute weinten, umarmten sich und gratulierten einander. Bis jetzt ist der Tag<br />

des Sieges der bedeutendste Feiertag für Anna Wolkowa. Die Familie beschloss, nicht<br />

in die Heimat zurückzukehren, denn ihr Haus war durch die faschistischen Truppen<br />

völlig zerstört worden.<br />

Als die Wolkows bereits die Hoffnung aufgegeben hatten, dass die älteste Schwester<br />

noch am Leben sein könnte, erhielten sie plötzlich eine Postkarte von ihr. Dort stand,<br />

dass sie und ihr Kind gesund seien. Uns erstaunte, dass die beiden, wie die Schwester<br />

berichtete, oft von deutschen Soldaten gerettet wurden. Diese warnten sie vor bevorstehenden<br />

Razzien, während die russischen Polizisten sehr brutal waren.<br />

Einige Jahre nach dem Krieg starb Annas Vater. Er Litt an einer schweren Krankheit,<br />

die ihn ans Bett gefesselt hatte. Er ist im Saratower Krankenhaus in den Armen<br />

seiner Tochter gestorben. Der Tod des Vaters erschütterte sie. Die Mutter half ihr,<br />

diese Tragödie zu überwinden. Sie war eine sehr mutige und weise Frau. Sie sagte:<br />

„Töchterchen, wir sind allein geblieben, wir dürfen nicht weinen, wir müssen diesen<br />

Kummer überstehen und weiter leben."<br />

Nach der Schule besuchte Anna Wolkowa eine technologische Berufsschule, die sie<br />

aber nicht abschloss, weil sie heiratete und einen Sohn zur Welt brachte.<br />

Die Dorfverwaltung beschloss, Anna Wolkowa als aktive Komsomolzin an eine<br />

Funktionärsschule zu schicken. Am 21.02.1952 kam sie nach Krasnyj Jar zurück, arbeitete<br />

in der dortigen Schule und absolvierte die geografisclie Fakultät der Uraler Pädagogischen<br />

Hochschule im Fernstudium. Sie begeisterte die Kinder für den Touris-<br />

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