Nemzy Povolzhja
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und gutmütige ältere Frau empfing uns mit offenen Armen. Nachdem wir uns mit dem<br />
Schicksal dieser russischen Lehrerin bekannt gemacht hatten, erfuhren wir vieles über<br />
die Geschichte sowohl des Dorfes als auch der Kusslanddeutschen, die im Wolgagebiet<br />
gelebt hatten. Vor dem Krieg waren ja die Russlanddeutschen und die Russen sehr<br />
freundlich zueinander und teilten miteinander Freud und Leid.<br />
Raissa Alexejewna wurde in der Ukraine im Dorf Neubuch am 1. September 1923<br />
geboren. Sie sagte uns, dass sie das deutsche Volk immer sehr gern hatte und dass sie<br />
mit großem Vergnügen in der Schule als Deutschlehrerin gearbeitet hatte. Mit 6 Jahren<br />
zog Raja mit der Familie ins Dorf Rownoje um, das in jener Zeit Seelman hieß.<br />
„Es gab zu wenig Bäume, die Wolga war nicht so wie heute, sie war klein, es gab einen<br />
Wald und Inseln. Am Ufer standen 6 Speicher. Im Dorf waren 14 Straßen, sie wurden<br />
als die Erste, die Zweite und so weiter genannt. Das Dorf war sehr groß, aber während<br />
des Krieges, als das deutsche Volk deportiert wurde, blieben hier sehr wenige<br />
Russen." So sah das Dorf Rownoje aus, als Raissa Alexejewna hierher gekommen war.<br />
Sie erzählte uns viel Interessantes über die Geschichte des Dorfes während der Deportation.<br />
„Als die ganze deutsche Bevölkerung ausgesiedelt wurde, kamen hierher Aussiedler<br />
und Flüchtlinge, die die leeren Häuser besetzten. Sie hatten aber keinen<br />
Brennstoff und deswegen brachen sie Zäune und Häuser ab. Auf diese Weise wurde<br />
das Dorf allmählich zerstört."<br />
Leider war diese Periode der Vernichtung nicht die einzige in der Geschichte des<br />
Dorfes. 1954 begann das Bauen der Staudämme am Fluss, damit die großen Schiffe auf<br />
ihm fahren konnten. Die Wolga begann, das Dorf Rownoje direkt einzusaugen. Während<br />
der Anstauung kam zuerst die Erste Straße unter Wasser. Alle 6 Speicher wurden<br />
weggespült. Danach - ein Teil der 2. Straße. Die Dorfbewohner erzählten, es hätte<br />
sogar einige Menschenopfer gegeben. Trotz dieser schwarzen Flecken in der Geschichte<br />
des Dorfes Rownoje sagt Raissa Alexejewna, dass es „früher" besser war. „Heute<br />
wird die Natur immer ärmer. Sie sehen ja, es gibt keine Schiffe und keine Anlegestelle<br />
mehr. Damals schwammen Fische im Fluss: Sterlete, Störe ... Die Ernährung war gut.<br />
Die Menschen arbeiteten hauptsächlich in der Landwirtschaft. Während des Krieges<br />
wurde Tabak für die Front angebaut."<br />
Als der Zweite Weltkrieg in Russland begann, erschien am 28. August 1941 der Erlass<br />
über die Deportation der Wolgadeutschen. „Wir, Russen, hatten Mitleid mit den<br />
Deutschen", erinnerte sich Raissa Alexejewna an jene schweren Tage. Jedes mal rufen<br />
solche Erinnerungen Tränen in ihren Augen hervor, und sie beginnt diese schweren Minuten<br />
ihres Lebens aufs Neue zu überleben.<br />
Zu den guten Erinnerungen zählt die russische Lehrerin auch die Tage des Aufenthaltes<br />
einer Landungstruppe im Kolchos. Sie halfen den Kolchosbauern bei den Feldarbeiten,<br />
und es gab da viel zu tun. Im Dorf Rownoje befanden sich 2 Kolchose: „Der<br />
17. Parteitag" und „Spartak". In diesen schweren Tagen arbeiteten auf den Feldern<br />
sogar die Kinder. „Die Kinder aus den fünften, sechsten, siebten Klassen ernteten<br />
auch. Schon ab 12 Jahren arbeiteten die Kinder, schon alle ständig." Wegen der reichen<br />
Ernte wurde im Dorf Rownoje eine Mühle gebaut. Die Mühle war gut und groß.<br />
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