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Marek Ordylowski

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<strong>Marek</strong> Ordyłowski<br />

Das erste Jahr in Wrocław 1945/1946<br />

Wrocław, die an der Oder gelegene Stadt mit vier Zuflüssen, hat eine lange<br />

Geschichte. Ihre Anfänge reichen bis ins Altertum zurück. Die Stadt befand sich in<br />

polnischen, tschechischen, habsburgischen, preußischen, deutschen und wieder in<br />

polnischen Händen. Auf lateinisch heißt sie Vratislavia. Polen nennen sie Wrocław,<br />

die Tschechen Vratislav, die Deutschen Breslau. Seit 1000 Jahren ist die Stadt die<br />

Hauptstadt Schlesiens, ihr wichtigstes wirtschaftliches, kulturelles und religiöses<br />

Zentrum. Seit 1000 Jahren ist sie die Hauptstadt der katholischen Diözese und seit<br />

1929 der Erzdiözese.<br />

Im Jahr 1939 zählte die Stadt 630 000 Einwohner. Während des Krieges befand sie<br />

sich weitab von der Frontlinie und außerhalb der Reichweite der alliierten Luftwaffe.<br />

Sie galt als ruhiges Gebiet, in das viele Menschen aus bombardierten Regionen<br />

evakuiert wurden. Sie wurde damals als Luftschutzbunker des III. Reiches<br />

bezeichnet. Wrocław zählte im Januar 1945 zusammen mit den Flüchtlingen aus den<br />

Frontgebieten 1 Million Einwohner. Vom 19. Januar bis Mitte Februar verließen auf<br />

Befehl des Gauleiters Karl Hanke ungefähr 700 000 Personen die Stadt. Am 16.<br />

Februar schloss sich der Ring der sowjetischen Armee um die Festung Breslau und<br />

es begann die Agonie. Während der Kämpfe wurden ganze Viertel zerstört.<br />

Am 6. Mai 1945 kapitulierte die Festung Breslau mit einer schrecklichen Bilanz. Von<br />

30 000 Häusern überstanden gerade 10 000 die Belagerung. Im südlichen und<br />

westlichen Teil der Stadt lagen 90 Prozent in Schutt und Asche, in der Altstadt und<br />

im Zentrum 50 Prozent, in den restlichen Stadtteilen 10 bis 30 Prozent. Die<br />

wenigsten Schäden erlitten die Stadtteile Bischofswalde (Biskupin), Wilhelmsruh<br />

(Zacisze), Zimpel (Sępolno), Leerbeutel (Zalesie), Karlowitz (Karłowice). Die Stadt<br />

war mit 8 Millionen Kubikmeter Schutt übersät. Die Zerstörungen betrafen 80 Prozent<br />

des Elektrizitätswerkes, 100 Prozent des Beleuchtungsnetzes, 80 Prozent des<br />

Straßenbahnnetzes und der Gleise und 60 Prozent des Gaswerkes. Beschädigt<br />

wurden auch das System der Wasserleitungen und die Kanalisation. Von 658 km der<br />

Breslauer Straßen waren 300 km mit Schutt zugedeckt. Völlig zerstört waren 60<br />

Prozent der Industrieanlagen und der Rest befand sich in einem bedauernswerten<br />

Zustand. Zerstört wurden auch viele kulturelle und sakrale Baudenkmäler. In alle<br />

Winde zerstreut wurden Kunstwerke, Archivalien, Bibliotheksbestände. Viele Parks<br />

und Grünflächen mussten in Friedhöfe umgewandelt werden.<br />

In Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Alliierten in Jalta sollte Schlesien an<br />

Polen fallen als Kompensation für die Gebiete in Ostpolen, die von Russland besetzt<br />

wurden. Vor dem Krieg betrug die Fläche Polens 388 634 km². Jetzt sind es 312 679<br />

km². Am 9. Mai kam die polnische Verwaltungsmannschaft in Wrocław an, um in der<br />

Stadt die Macht zu übernehmen. Der neu ernannte Stadtpräsident Bolesław Drobner<br />

kannte Wrocław noch vor dem Krieg. Er hatte Chemie in Berlin und Freiburg studiert.<br />

Einer der Vizepräsidenten Ingenieur Kazimierz Kuligowski, Absolvent der Moskauer<br />

technischen Hochschule, war für die Kontakte mit den Russen verantwortlich. Er<br />

sprach fließend russisch, war trinkfest und besaß ein starkes<br />

Durchsetzungsvermögen. Das waren Eigenschaften, die für den Kontakt mit den<br />

Russen unerlässlich waren.<br />

1


In der Stadt befanden sich etwa 160 000 Deutsche, hauptsächlich Frauen und Kinder<br />

sowie Ältere, außerdem tausende Zwangsarbeiter, hauptsächlich Polen, aber auch<br />

Franzosen, Italiener, Holländer, Bulgaren, Litauer, Russen, Serben, Ukrainer,<br />

Tschechen und Ungarn. Alle waren in Arbeitslagern eingesperrt. Außerdem befanden<br />

sich in den Krankenhäusern 6000 verwundete und kranke deutsche Soldaten. Ein<br />

Teil von ihnen wurde von sowjetischen Ärzten betreut. Diejenigen, die fieberfrei<br />

waren, konnten selbstständig in Richtung Westen abmarschieren. Der Rest wurde in<br />

polnischen Krankenhäusern untergebracht. In den Ruinen versteckten sich zudem<br />

viele deutsche Soldaten, die auf der Suche nach Lebensmitteln oft Feuer legten. Das<br />

war in den Tagen vom 7. bis 10. Mai.<br />

In der Stadt befanden sich auch viele Deserteure und Marodeure, die die Sicherheit<br />

in Wrocław erheblich gefährdeten. Der Rektor der Universität, Prof. Stanisław<br />

Kulczyński, erinnerte an Banden betrunkener und plündernder Soldaten, die in die<br />

wissenschaftlichen Institute einbrachen. Auf der Suche nach Alkohol tranken sie<br />

Spiritus. Aber in diesem Spiritus waren für wissenschaftliche Zwecke Präparate, z.B.<br />

Fische, Schlangen, sogar verstorbene Neugeborene, eingelegt worden. Diese<br />

Präparate befanden sich im Institut für Pathologie der medizinischen Fakultät.<br />

Ein Problem waren auch die Menschenmassen, die von der Zwangsarbeit<br />

zurückkehrten, die in verlassenen Häusern und Lagern auf der Suche nach<br />

Lebensmitteln umherstreunten. Indem sie Feuer anzündeten, um die Treppenflure zu<br />

erleuchten, verursachten sie viele Brände.<br />

Die erste Aufgabe der neuen polnischen Machthaber bestand darin, ein normales<br />

Leben in der Stadt zu organisieren. Es galt die Feuer zu löschen, die Barrikaden in<br />

den Straßen zu beseitigen, die Wasserleitungen und alle städtischen Dienste in<br />

Betrieb zu nehmen, die Verteilung der Lebensmittel zu organisieren, die<br />

Produktionsbetriebe in Gang zu setzen. Das war eine ungewöhnlich schwierige<br />

Aufgabe, denn in Wrocław befand sich eine starke Garnison der Roten Armee, deren<br />

Kommandant der faktische Herrscher der Stadt war. Hinzuzufügen ist, dass neben<br />

den Soldaten und Zivilisten, die auf eigene Rechnung und Gefahr auf Raubzüge<br />

gingen, es noch sogenannte „trofiennyje roty“ gab, die Maschinen und Geräte im<br />

Rahmen des organisierten Raubs entwendeten. Es wurden Industrieanlagen,<br />

Druckereien, Energiestationen, Kunstwerke ausgeführt. Als interessante Einzelheiten<br />

sind zu erwähnen, dass selbst die Guillotine aus dem Breslauer Gefängnis<br />

mitgenommen wurde und sich heute in Kiew als ein Geschenk des polnischen Volkes<br />

befindet, aber auch die Starkstromleitung für die elektrische Eisenbahnlinie von<br />

Wroclaw nach Jelenia Góra (Breslau-Hirschberg).<br />

In den ersten Tagen nach der Kapitulation musste der Erwerb und die Verteilung von<br />

Lebensmitteln schnell gelöst werden. Große Mengen von Lebensmitteln wurden aus<br />

Furcht vor dem Verderben in provisorischen Lagern, z.B. in Läden oder Kellern<br />

untergebracht. Ein Teil der Lebensmittel war von der Bevölkerung am Vortag der<br />

Kapitulation gestohlen worden. Dazu zählten Stadtteile wie z.B.<br />

Biskupin/Bischofswalde, wo sich in jedem Haus einige Säcke Zucker und andere<br />

Vorräte befanden. Ein Teil der Lebensmittel wurde konfisziert, indem man den<br />

Bewohnern eine notwendige Menge für einige Wochen überließ. Im Breslauer Hafen<br />

befanden sich einige tausend Tonnen Zucker, in den Mühlen gab es Mehl und<br />

Getreide, in Magazinen gepökeltes Fleisch. Die größten Lebensmittelvorräte wurden<br />

in Armeemagazinen gelagert, die dann von sowjetischen Abteilungen übernommen<br />

2


und nach einigen Tagen der polnischen Führung übergeben wurden. Am schnellsten<br />

eröffneten die Bäckereien: die erste am 10. Mai 1945. Nach einem Monat arbeiteten<br />

schon 100. Sie wurden in der Regel von ihren bisherigen Besitzern geführt – von<br />

Deutschen.<br />

Anfangs erhielten die Mitarbeiter der neu entstandenen polnischen Verwaltung keine<br />

Zuteilungen, sondern mussten sich in Kantinen versorgen. Viele ernährten sich auf<br />

eigene Faust, indem sie in Ruinen, in verlassenen Wohnungen und Kellern auf<br />

Lebensmittel-Suche gingen. Lebensmittel gab es auch oft in den Betrieben, die ihre<br />

Arbeit wieder aufgenommen hatten.<br />

Weil die Geschäfte nicht funktionierten, waren die städtischen Lager/Magazine die<br />

einzige Quelle, die polnische und deutsche Bevölkerung mit Lebensmitteln zu<br />

versorgen. Sehr schnell entstanden Handelsplätze, wo die Deutschen Kleidung und<br />

andere Waren in Lebensmittel tauschten. Das war ein typischer Tauschhandel mit<br />

einer ungeklärten Valutasituation. Die deutsche Mark war in Umlauf und ebenso der<br />

polnische Złoty im Kurs von einer Mark zu zwei Złoty. Bis Ende Juli 1945 war<br />

faktisch die Mark in Umlauf. Erst ab 1. August wurde der Złoty die Umlaufvaluta.<br />

Der städtische Organismus kam relativ schnell in Gang. Schon am 12. Mai 1945 gab<br />

es den ersten Strom, am 15. Mai floss Wasser aus den Wasserhähnen, am 16. Mai<br />

wurde die erste Post versandt. Kunden waren Deutsche, die Briefe an ihre<br />

Verwandten schickten. Am 21. Mai traute der Präsident Wrocławs das erste<br />

Brautpaar. Im Mai wurde auch die Telefonzentrale in Betrieb genommen. Nebenbei<br />

sei gesagt, dass Ende Mai Mitarbeiter des Amtes für Telekommunikation in einem<br />

verschütteten Keller einen Mann fanden, der keine Ahnung davon hatte, dass der<br />

Krieg beendet war. Auch telefonische Verbindungen zwischen den<br />

niederschlesischen Städten wurden hergestellt. Am 8. Juni erschien in Wrocław die<br />

erste polnische Zeitung „Nasz Wrocław“ („Unser Wroclaw“). Am 16. Juni öffnete das<br />

erste Kino in der ulica Ogródowa (Gartenstraße). Am 21. Juni fuhr die erste<br />

Autobuslinie vom Stadtteil Karłowice (Karlowitz) nach Podwale.<br />

In den ersten Monaten nach Beendigung des Krieges gab es eine komplizierte<br />

Situation in der Verwaltung der Stadt. Die formelle Macht übte die Stadtverwaltung<br />

mit dem Präsidenten an der Spitze aus. Unabhängig von ihm amtierte der<br />

sowjetische Kriegskommandant, der die Stadt in zwölf regionale Kommandanturen<br />

aufteilte. Nach eigenem Ermessen besetzte er einen Teil der Betriebe und<br />

Einrichtungen und beschäftigte Deutsche zwangsweise, die für ihre Arbeit<br />

ausschließlich Lebensmittel erhielten. Außerdem existierten in Wrocław zwei<br />

Organisationen, die sich als antifaschistische darstellten. Eine von ihnen war die<br />

Vereinigung Deutscher Antifaschisten unter der Führung von Paul Marzoll. Sie zählte<br />

etwa 800 Mitglieder und arbeitete mit der polnischen Verwaltung zusammen. Sie<br />

lieferte ihr viele Faschisten aus, die sich versteckt hielten. Die Antifaschistische<br />

Freiheitsbewegung hingegen, geführt von Hermann Hartmann, arbeitete eng mit der<br />

sowjetischen Kommandantur zusammen. Sie besetzte mit den eigenen Leuten die<br />

Stadtteil-Bürgermeister und unter Umgehung einer Zusammenarbeit mit der<br />

polnischen Verwaltung eröffnete sie Quartierbüros und gründete eine<br />

Jugendorganisation. Weil die Russen Leute zur Beseitigung von Schutt auf den<br />

Straßen und zur Inbetriebnahme von Betrieben, zur Demontage von Objekten und<br />

Einrichtungen benötigten, beriefen sie Beamte, die Leute zur Arbeit verpflichteten.<br />

Deshalb eröffnete Hartmann ein Arbeitsamt, das die Leute zu den verschiedensten<br />

3


Arbeiten einteilte. Definitiv wurde diese Angelegenheit nach dem Potsdamer<br />

Abkommen entschieden und die antifaschistischen Organisationen wurden aufgelöst.<br />

Sowjetische Truppen blieben bis Oktober 1992 in Wrocław und schufen für sich eine<br />

Enklave unabhängig von der polnischen Verwaltung.<br />

Nach dem Potsdamer Abkommen begann eine intensive Ansiedlung der polnischen<br />

Bevölkerung und auf breiter Skala eine Aussiedlung der Deutschen. Im Ergebnis<br />

dessen wohnten Ende 1945 in Wrocław schon 53 000 Polen. Im Februar 1946 lebten<br />

in Wrocław 168 000 Menschen, darunter 110 600 Deutsche, Ende 1946 203 000<br />

Personen, darunter nur noch 18 000 Deutsche, im November 1947 wuchs die Zahl<br />

der Einwohner auf eine viertel Million, darunter 4205 Deutsche. In Wrocław wurden<br />

vor allem Ansiedler aus dem Osten (ehemaliges Ostpolen) ansässig, aber auch<br />

inländische Migranten aus den während des Krieges stark zerstörten Gebieten –<br />

Warschau und Umgebung, Großpolen, Zentralpolen. Zahlreich waren auch<br />

Remigranten aus Frankreich, die dort in den zwanziger Jahren Arbeit gesucht hatten.<br />

Die Herkunft der Ankömmlinge verrieten auch die Namen von gastronomischen und<br />

Dienstleistungs –Einrichtungen und Geschäften, die in dieser Zeit öffneten, z.B.<br />

Lemberger Bar, Bar Lemberger Hölle, Ostpolnisches Restaurant, Warschauer<br />

Restaurant, Posener Süßwarenladen, Warschauer Wirtshaus, Kielecker Bäckerei,<br />

Lemberger Friseur.<br />

Unter den Ankömmlingen in Wrocław befand sich eine nicht unbedeutende Zahl von<br />

Juden, die Häftlinge der Konzentrationslager in Niederschlesien waren. Im Mai 1945<br />

befanden sich in Wrocław etwa 5000 Juden, darunter etwa 2000 polnische. Zwischen<br />

den polnischen und deutschen Juden kam es zu verschiedenen Konflikten auf Grund<br />

kultureller und traditioneller Unterschiede. Unter den polnischen Juden gab es viele<br />

Orthodoxe, aber auch Chassiden, die jiddisch sprachen. Die deutschen Juden<br />

sprachen deutsch und waren eher liberal. Die Mehrheit der deutschen Juden verließ<br />

Niederschlesien innerhalb kurzer Zeit, während die Zahl der polnischen Juden vom<br />

Februar 1947 auf 20 534 Personen anwuchs. (Von 206 000 Einwohnern waren 190<br />

000 Polen und 16 000 Deutsche). Ein Grund war die Tatsache, dass nach den<br />

Kriegserlebnissen die Leute nicht dorthin zurückkehren wollten, wo rauchende<br />

Trümmer und Massengräber von Angehörigen waren. Ihr Aufenthalt an einem neuen<br />

Ort erlaubte ihnen, Depression und psychischen Zusammenbruch zu überwinden.<br />

Eine andere Sache war, dass durch Wrocław und Kłodzko die Strecke über Wien und<br />

dann nach Palästina führte. Viele Juden verließen auf dieser Route Polen. Ende<br />

1947 gab es etwa 6000. Sie hatten in Wrocław ein Theater, gesellschaftliche,<br />

politische und genossenschaftliche Organisationen, Jugend- und Sportklubs, eigene<br />

Presseorgane, Kindergärten, Klubs und Kulturhäuser.<br />

Zu den Problemen, die im ersten Jahr nach dem Krieg die Stadt besonders<br />

herausforderten, gehörte die Sicherheit. Präsident Boleslaw Drobner hatte, als er<br />

nach Wrocław kam, eine gewisse Zahl von Milizionären an seiner Seite. Zusätzlich<br />

kam aus Krakau ein Milizbataillon mit 550 Mann. Aber es musste die ganze<br />

Wojewodschaft, 33 Kreise abdecken. Das waren geringe Kräfte in Anbetracht der<br />

Anwesenheit einer ganzen Garnison der Roten Armee in der Stadt, einer großen<br />

Anzahl von Marodeuren aus verschiedenen Armeen. Diese Menschen waren<br />

demoralisiert vom Krieg und es fehlte vor Ort an einer starken Macht. Zusätzlich<br />

wälzten sich Massen von ausländischen Zwangsarbeitern durch die Stadt, die über<br />

Wrocław nach Hause zurückkehren wollten. Die Lage wurde durch zahlreich<br />

herumliegende Waffen erschwert, die jeder mitnehmen konnte. Im Gebiet<br />

4


Niederschlesiens gab es auch viele Personen, die sich vor der Staatsmacht<br />

versteckten: angefangen von gewöhnlichen Verbrechern, über Volksdeutsche, bis<br />

hin zu Mitgliedern verschiedener polnischer oder ukrainischer<br />

Untergrundorganisationen. Ich spreche hier nicht von Soldaten der Wlassow-Armee,<br />

der Wehrmacht oder SS, die versuchten in die westlichen Besatzungszonen zu<br />

gelangen.<br />

Die Zahl der wenigen Ordnungskräfte bewirkte, dass erst Ende Mai 1945 eine<br />

Operation mit Ordnungscharakter erfolgen konnte. Mit den vereinten Kräften von<br />

Miliz und NKWD wurde eine Aktion durchgeführt, die sich hauptsächlich gegen<br />

Funktionäre von Gestapo, Polizei und NSDAP richtete. Zugleich ging man gegen<br />

Marodeure vor, die sich in Ruinen versteckt hielten. Bei dieser Operation halfen<br />

insbesondere mit ihrer sehr guten Ortskenntnis die Funktionäre antifaschistischer<br />

Organisationen sowie Einwohner.<br />

Die allgemeine Schwäche der Ordnungskräfte bewirkte ein Gefühl der Straffreiheit für<br />

Verbrecher. Besonders gefährlich war es nachts und in den Ruinen. Erst die<br />

Einführung eines Regiments für Innere Sicherheit verbesserte die Situation in der<br />

Stadt. So wurde der Vizebürgermeister der Stadt (aus der Festungszeit) im<br />

Untergrund in der ul. Świdnicka gefasst. Er hatte zusammen mit einer Gruppe von<br />

Fanatikern Brände gelegt und Überfälle durchgeführt. Gefahren drohten durch Minen<br />

und weggeworfene Sprengmaterialien verschiedener Herkunft, die noch viele Jahre<br />

nach dem Krieg in der Stadt gefunden wurden.<br />

Ein Problem waren auch die durch Wrocław fahrenden Einheiten der Roten Armee.<br />

Der Stadtkommandant konnte oder wollte die Situation nicht beherrschen. Die<br />

Angelegenheit endete mit einer Intervention im Stab von Marschall Rokossowski in<br />

Legnica, der eine Brigade des NKWD nach Wrocław schickte, deren Funktionäre die<br />

Stadt durchkämmten und Deserteure festnahmen, oft gefasst mit Waffen in der<br />

Hand. Die des Raubes und schwerer Gewalttaten Verdächtigen wurden vor ein<br />

Standgericht gestellt. Damals wurden viele Todesurteile gefällt. Großes Aufsehen<br />

verursachte im Sommer 1945 die Festnahme des Stadtkommandanten Oberst<br />

Liapunow wegen Raubes von Gold und Schmuck. Er wurde öffentlich degradiert und<br />

aus Wrocław weggebracht. Die Welle des Banditentums führte im Oktober 1945 zur<br />

Einführung der Polizeistunde, die von 20.00 Uhr bis 5 Uhr früh dauerte. Während der<br />

Nacht konnten nur Personen unterwegs sein, die einen speziellen Passierschein<br />

besaßen. Gastronomische Einrichtungen schlossen um 19.00 Uhr. In der ersten Zeit<br />

der Polizeistunde wurden 1500 Personen festgenommen, von denen 800 für<br />

verschiedene Vergehen vor Gericht gestellt wurden. Im April 1946 wurde die<br />

Polizeistunde von 0 Uhr bis 5 Uhr morgens verkürzt, später dann völlig eingestellt.<br />

Wenn wir von Banditentum sprechen, handelt es sich in der Regel um Verbrechen<br />

von Marodeuren und Soldaten der Roten Armee, aber auch von Zivilpersonen, die<br />

von der Zwangsarbeit zurückkehrten. Während einer Sonderkonferenz der<br />

Stadtverwaltung im Januar 1946, die dieser Problematik gewidmet war, sagte der<br />

Stadtpräsident: „Das Verhältnis der Bevölkerung zur Roten Armee ist weiterhin von<br />

Misstrauen geprägt. Ursache dafür ist in hohem Maße die Sicherheitslage und die<br />

Unsicherheit für Hab und Gut und das Leben der Einwohner während der Nacht,<br />

aber auch am Tag gegenüber den Taten, die von Marodeuren oder sogar von<br />

Soldaten der Roten Armee begangen werden. Ein Ansteigen dieser Vorfälle war<br />

besonders im Stadtteil Karłowice/ Karlowitz, Psie Pole/ Hundsfeld, aber auch in<br />

Leśnica/ Deutsch Lissa zu beobachten. Überall gab es einen Zusammenhang mit<br />

5


dort befindlichen Zivillagern und Lagern für Sowjetsoldaten.“ Erst die Verwundung<br />

eines sowjetischen Generals im Februar 1946 führte zu einem radikalen Vorgehen.<br />

Im Zuge einer Spezialoperation wurden die Marodeursbanden zerschlagen. Durch<br />

die Auflösung der Lager für sowjetische Bürger im März sanken die Raubüberfälle<br />

nahezu auf Null. Man sollte auch erwähnen, dass es sogar internationale Banden<br />

gab, mit polnischen, russischen und deutschen Mitgliedern.<br />

Eine Plage, besonders in den Jahren 1945-1946, waren die Gewalttaten, verübt von<br />

Soldaten der Roten Armee. Die Gewalt gegenüber deutschen Frauen wurde vom<br />

sowjetischen Kommando nicht als Verbrechen angesehen. In einem der Flugblätter,<br />

die an die Soldaten der Roten Armee gerichtet waren, rief der bekannte Schriftsteller<br />

Ilja Ehrenburg die Soldaten auf: „ Tötet die Deutschen! So ruft das Vaterland. Lasst<br />

keine Gelegenheit aus… Brecht mit Gewalt den Rassehochmut der germanischen<br />

Frauen. Nehmt sie als rechtmäßige Beute. Tötet, ihr tapferen, vorwärtsstürmenden<br />

Rotarmisten!" Nach Berechnungen von Historikern vergewaltigten Soldaten der<br />

Roten Armee rund 2 Millionen deutsche Frauen, unabhängig davon vergewaltigten<br />

sie auf dem Vormarsch Polinnen, Ungarinnen, Tschechinnen und Slowakinnen. Es<br />

gab Meldungen über die Vergewaltigung von 9-jährigen Mädchen. Die Täter<br />

unterlagen immer ihrer Jurisdiktion, waren also praktisch straffrei. Solche Verbrechen<br />

gab es bis zum Ende des Aufenthalts der Roten Armee in Wrocław. Noch 1988 kam<br />

es zu einer Massenvergewaltigung von 6 Soldaten an einem 17-jährigen Mädchen.<br />

Raub hörte erst nach 1992 auf.<br />

Wie schon erwähnt, war die Festung Breslau gut mit Lebensmitteln versorgt.<br />

Besonders nach der Bombardierung der Ostseehäfen wurde hierher das Zentrallager<br />

der Kriegsmarine verlegt. Von den Vorräten konnte die Stadt bis Ende September<br />

1945 zehren. Mit diesen Lebensmitteln konnten die ankommenden Polen, die in<br />

Wrocław wohnenden Deutschen, aber auch die sich auf dem Heimweg befindenden<br />

Gefangenen verschiedener Nationalitäten versorgt werden. Erst ab September erhielt<br />

die Stadt Lebensmittel-Zuteilungen aus dem Wojewodschaftsamt. Anfangs gab es<br />

keine Geschäfte, keine Restaurants, keine Kantinen. Auf dem freien Markt dominierte<br />

der Tauschhandel. Die Rolle des Geldes übernahmen die Lebensmittel. Ab August<br />

gab es folgende monatliche Lebensmittelzuteilung: 2 kg Getreidemehl, 500g Zucker,<br />

2kg Grütze, 10kg Brot, 1,40 kg Schmalz, 70 g Marmelade, 12 g Getreidekaffee. Nicht<br />

immer wurden die Zuteilungen realisiert. Zum Beispiel wollten die Bäcker das Brot<br />

lieber zu Preisen des freien Marktes, also wesentlich teurer verkaufen. Eine Brotkarte<br />

beispielsweise hatte einen Wert von 1,50 Zl. Der freie Markt verlangte 20 Zl. Vor den<br />

Weihnachtsfeiertagen 1945 gab es eine Feiertagszuteilung: 2 kg Mehl, 2 kg Erbsen,<br />

1 kg Marmelade, 500 g Zucker, 100g Getreidekaffee sowie 200 g Waschmittel.<br />

Probleme mit der Kartenversorgung traten im ganzen besprochenen Zeitraum auf.<br />

Einfluss darauf hatte die schlechte wirtschaftliche Lage, die Kriegsschäden, aber<br />

auch die unzulängliche Verteilung der Kartenartikel. Fügen wir hinzu, obwohl das<br />

Kartensystem ineffizient war, so gab es die Lebensmittel auf dem freien Markt, aber<br />

natürlich zu einem wesentlich höheren Preis. In den ersten Wochen nach<br />

Beendigung des Krieges entstanden sehr schnell Handelsplätze und Marktstände:<br />

der erste in der Matthiasstraße, dann von 1946-1956 in der Josef-Stalin-Straße, 1956<br />

in der Straße Bohaterów Węgierskich, dann in der Straße Jedności Narodowej, dann<br />

auf dem Plac Strzelecki (Schiesswerderplatz). Ähnliche Plätze befanden sich am<br />

Hauptbahnhof, auf dem Platz Biskup Nanker (Ritterplatz), auf dem Grunwaldplatz<br />

(Scheitniger Stern), in der Halle an der Ogródowa-Straße und an einigen anderen<br />

Plätzen. Schon im Juni 1945 entstanden Geschäfte, zunächst Lebensmittelläden,<br />

6


danach Kommissionsgeschäfte mit beweglichem Hab und Gut von den ausreisenden<br />

Deutschen. Einige dieser Kommissionsgeschäfte betrieben Tauschhandel. Sie<br />

nahmen von den Ausreisenden hauptsächlich Garderobe, Schuhe, Silber,<br />

Maschinen, z.B. Nähmaschinen, Schreibmaschinen und tauschten dafür<br />

Lebensmittel, die aus Zentralpolen hierher gebracht wurden. Im Oktober gab es in<br />

Wrocław etwa 160 Lebensmittelläden, Ende 1946 waren es 1250, 182<br />

Galanteriewarenläden, 32 Buch- und Schreibwarenhandlungen, 42 Drogerien und<br />

Apotheken, 32 Läden mit technischen Artikeln, 31 Schuhläden, 19 Geschäfte für<br />

Haushaltswaren, 13 Parfümerien mit Kosmetikartikeln, 42 Läden mit Heizölspeicher.<br />

In Wrocław gab es zwei Arten von Lebensmittelgeschäften: Zum einen war es der<br />

Handel mit reglementierten Lebensmitteln zu festen Preisen, verteilt auf Karten nach<br />

Normen, zum anderen waren es Geschäfte, die sich nach Preisen des freien Marktes<br />

richteten und zu wesentlich höheren Preisen verkauften. Mit Lebensmitteln wurde<br />

auch in den verschiedensten Arten von Bretterbuden, bestehend aus Sperrholz und<br />

Pappe gehandelt. Überall wurde mit Fleisch gehandelt. Diesen Handel führten 80<br />

Prozent der Geschäfte unabhängig von der Branche.<br />

Unabhängig von den Einzelhandelsgeschäften wurden bereits 1945 Warenhäuser in<br />

Betrieb genommen, z.B. das Schlesische Warenhaus in der Świdnickastraße<br />

(Schweidnitzer Straße). Danach öffneten weitere renovierte Warenhäuser aus der<br />

Vorkriegszeit. Aber das größte, auch in Polen, war das Allgemeine Warenhaus, das<br />

im Gebäude der ehemaligen Gesellschaft AWAG öffnete. Ein wesentlicher Teil der<br />

Warenhäuser aus der Vorkriegszeit war während der Belagerung der Stadt zerstört<br />

oder beschädigt worden. Aber in Verbindung mit den neuen gesellschaftlichen<br />

Gegebenheiten wurden viele von ihnen einer anderen Verwendung zugeführt.<br />

Sehr schnell öffneten nach Kriegsende Bars und Restaurants, gewöhnlich in bereits<br />

bestehenden Lokalitäten. Im Februar 1946 gab es etwa 600. Neben gewöhnlichen<br />

Bars gab es auch Luxuslokale mit Tanz und ausgesuchtesten Speisen. Eine<br />

Besonderheit dieser Zeit waren preiswerte Gaststätten, die billige und nahrhafte<br />

Mahlzeiten anboten. Dazu gehörten die sogenannten Milchbars, wo die einfachsten<br />

und preiswertesten Speisen angeboten wurden, meistens aus Mehl und Kartoffeln,<br />

verschiedene Arten von Piroggen, Klößen, Piroggen mit Quarkfüllung, einfache<br />

Suppen wie Gemüse-, Tomaten-, Gurken- oder Obstsuppe. Diese Bars bildeten den<br />

Versorgungsraum für die Ärmsten, aber auch für Studenten. Preiswerte Kantinen<br />

boten auch verschiedene Organisationen an, wie das Komitee für Soziale Fürsorge<br />

Caritas oder jüdische Religionsvereinigungen.<br />

Eine große Stadt wie Wrocław konnte nicht ohne Dienstleistungsbetriebe sein. Sie<br />

entstanden in den vielen verlassenen Werkstätten, deren Besitzer die Stadt oft noch<br />

vor der Belagerung verlassen hatten. Letztendlich erforderte das Leben solche<br />

Dienstleistungsbetriebe. Neben verschiedenen Baufirmen, die Renovierungen<br />

vornahmen, entstanden Schuh-, Schneider-, Uhrmacherwerkstätten, Wäschereien,<br />

Färbereien, Friseursalons usw., aber auch Werkstätten, die Prothesen herstellten.<br />

Unter all diesen Dienstleistungsanbietern gab es eine Wahrsagerin Pari Banu, die<br />

ihre Dienste folgendermaßen anbot: „ Pari Banu hellseherisches Medium, das in<br />

Trance alles genau vorhersagt.“ Nach ihrer Ausreise beschäftigen sich Sinti-Roma-<br />

Frauen mit der Wahrsagerei. Über viele Jahre befand sich am Platz Strzegomski ein<br />

Sinti-Roma- Lager.<br />

7


Eine weitere Aufgabe stellte das Transportwesen dar. Anfangs benutzte man in<br />

Wrocław Rikschas und Kutschen, die Konzessionen von der Stadtverwaltung<br />

erhielten. 1946 tauchten die ersten Taxen auf. Die ersten Straßenbahnen fuhren am<br />

22. Juni von Biskupin zum Słowiański-Platz( Weißeburger Platz), die zweite verband<br />

den Hauptbahnhof mit dem Strzelecki-Platz (Schießwerder Platz). Bis Ende 1945<br />

fuhren drei Straßenbahnlinien und 3 Buslinien, 1946 waren es 11 Straßenbahn- und<br />

4 Buslinien.<br />

Wenn man über die Inbetriebnahme verschiedener städtischer Dienste spricht,<br />

sollten Strom und Gas nicht vergessen werden. Das Elektrizitätswerk gehörte zu den<br />

am schnellsten in Betrieb genommenen städtischen Unternehmen. Dieser Erfolg<br />

wurde durch provisorische Anschlüsse erreicht, die allerdings den Grund für viele<br />

Havarien bildeten. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, dass verschiede<br />

Stadtteile unterschiedlichen Strom hatten, Gleich- oder Wechselstrom, aber auch<br />

unterschiedliche Spannungen. Das Ergebnis waren häufige Stromabschaltungen und<br />

Havarien. Diese wurden auch häufig durch das Betreiben von Elektroöfen ausgelöst.<br />

Der Winter 1945/1946 war streng und es fehlte an Kohle. Das Elektrizitätswerk<br />

versuchte den Stromverbrauch zu begrenzen, in dem es Grenzwerte einführte. Im<br />

Oktober 1945 15 kWh für ein Zimmer, für die Wahl eines höheren Grenzwerts gab es<br />

zusätzlich eine höhere Gebühr. Außerdem verhängte die Stadt planmäßige<br />

Stromsperren, z.B. 1945 zwischen 22.00 Uhr und 6 Uhr morgens.<br />

Das Gaswerk begann mit seiner Arbeit am 7. August 1945. Etwas spät, aber<br />

während der Belagerung wurden 70 Prozent des Gasnetzes und der Anlagen<br />

zerstört und außerdem wurden im Juni zwei Unterstationen demontiert. Als erste<br />

erhielten die Einwohner von Karłowice (Karlowitz) Gas. Der Anschluss der anderen<br />

Stadtteile verlief langsamer. Als letzte wurden die Stadtteile Herrnprotsch,<br />

Klettendorf, Brockau, Stabelwitz und Deutsch-Lissa an das Gasnetz angeschlossen.<br />

Eine offene Frage für die Bevölkerung war auch die Wasserversorgung. Das Netz<br />

der Wasserleitung war an 3000 Punkten, die Kanalisation an 7000 Punkten<br />

beschädigt. Das erste Wasser floss im Gebiet Mathiasstraße am 15. Juni dank der<br />

Havariewasserleitung der Schultheiss-Brauerei AG. Im Mai und Juni erhielten weitere<br />

Stadtteile Wasser. Bis Ende 1945 wurden 25 km Wasserleitungen in Betrieb<br />

genommen.<br />

Sehr zügig und schnell begann die Stadtreinigung zu arbeiten. Zu den ersten<br />

Aufgaben zählte die Beseitigung der herumliegenden Toten. Weiterhin musste der<br />

Müll entsorgt und die Straßen von Trümmern beräumt werden. Über viele Monate<br />

nach dem Krieg hing in den Straßen der Gestank von verwesenden Leichen und<br />

verkohlten Brandstätten. Mit der regelmäßigen Müllabfuhr wurde erst im August 1945<br />

begonnen, erschwert durch fehlende Transportmittel. Vor dem Krieg verfügte die<br />

Straßenreinigung über 40 Autos und 77 Pferde. Nach dem Krieg verblieben 12 Autos<br />

und ein lahmendes Pferd.<br />

Vom ersten Tag nach dem Krieg hatte die Stadt Probleme mit dem<br />

Gesundheitsdienst. Keines der Krankenhäuser war vollständig funktionsfähig und in<br />

ihnen hielten sich nicht nur 6000 Soldaten, sondern auch etwa 2000 Zivilisten auf. Im<br />

Laufe weniger Wochen wurden einige Krankenhäuser funktionsfähig gemacht; das<br />

wichtigste wurde das Allerheiligenhospital. Bis Ende 1945 wurden 19 Krankenhäuser<br />

und Kliniken mit 3200 Betten für die Zivilbevölkerung in Betrieb genommen. Das war<br />

sehr notwendig geworden, denn Ende Juni 1945 brach eine Ruhrepidemie aus, die<br />

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aus den tschechischen Sudeten durch heimkehrende Breslauer eingeschleppt<br />

worden war. Es folgte Typhus. 1945 wurden etwa 500 Kranke mit Ruhr und 2000 mit<br />

Typhus behandelt. Damals gab es eine Massenimpfung und eine strenge Kontrolle<br />

der Wasserbrunnen. 1946 verschwanden diese Epidemien; allerdings gab es Typhus<br />

bis Mitte 1946 mit 160 Erkrankungen. Am Ende des Jahres war auch Typhus<br />

verschwunden.<br />

Eine Plage nach dem Krieg waren die Geschlechtskrankheiten. Sie verbreiteten sich<br />

durch die Vergewaltigungen, aber auch durch lockere Sitten, die der Krieg mit sich<br />

brachte. Ende 1945/ Anfang 1946 gab es monatlich 1500-2000 Erkrankte. In der<br />

Stadt wurden 3 Ambulanzen für die Behandlung von Geschlechtskrankheiten, 4<br />

Krankenhausambulatorien sowie 3 Abteilungen für Geschlechtskrankheiten in<br />

Krankenhäusern eingerichtet. Die Geschlechtskrankheiten wurden damals mit dem in<br />

Mode gekommenen Penizillin behandelt. Diese Plage ging erst 1948 im Zuge von<br />

Zwangsbehandlungen zurück.<br />

Eine Besonderheit stellte das kulturelle Leben dar. Unmittelbar nach Ende der<br />

Kriegshandlungen wurde es durch die Russen organisiert, die ein Symphoniekonzert<br />

veranstalteten. Es spielte das deutsche Symphonieorchester mit 60 Musikern. Das<br />

Konzert wurde in drei Sprachen in russisch, deutsch und polnisch auf Plakaten<br />

angekündigt. Außerdem fanden in dem einzig erhaltenen Theater, dem Liebig-<br />

Theater, deutsche Kabarett- und Revuevorstellungen statt. Zur Theatergruppe<br />

Liebig- Theater gehörten deutsche Antifaschisten. Sie wurde von Paula Eggers<br />

geleitet. Die erste polnische Vorstellung fand Ende Juni 1945 aus Anlass des Tages<br />

des Meeres statt. Weitere folgten nach dem immer gleichen Schema: Offizieller Teil<br />

und künstlerischer Teil, in dem sich polnische, zeitweise auch sowjetische Künstler in<br />

Begleitung eines deutschen Orchesters produzierten. Das Orchester spielte nur bis<br />

August, danach reisten die Musiker nach Deutschland aus und es kamen nach und<br />

nach polnische Künstler. Sie traten im Liebig-Theater in einem heute nicht mehr<br />

existierenden Gebäude in der ul. Ogródowa heute Piłsudski-Straße oder in der Oper<br />

auf.<br />

Die Mehrzahl der Kinos, 70 Prozent, wurde während der Belagerung zerstört.<br />

Deshalb funktionierte die polnische Verwaltung Säle ehemaliger Klubs oder<br />

Freimaurerlogen/ Old fellows/ usw. in Kinosäle um. Das erste Kino, das spielte, war<br />

das spätere Kino „Lalka“ am Lehmdamm (ul. Bolesława Prusa), das deutsche Filme<br />

zeigte. Das erste polnische Kino ab 16. Juni war das Kino „Warszawa“ in der ul.<br />

Ogródowa. Beide Kinos spielten schon im Juni 1945. Danach wurden weitere Kinos<br />

in allen Stadtteilen eröffnet. Das größte Wrocławer Kino „Śląsk“, früher Capitol,<br />

besaß 1200 Plätze und begann im Januar 1946 mit seinen Aufführungen. Es wurden<br />

hauptsächlich Komödien und leichte Filme ausgestrahlt. Danach gab es massenhaft<br />

sowjetische Filme „Ivan der Schreckliche“, „Der Schweinehirte“, „Im Namen des<br />

Vaterlandes“, Sekretär…“, „Um 6-Uhr abends nach dem Krieg“, „Sie verteidigte das<br />

Vaterland“, „Stalingrad“, „Die Welt lacht“, „Wolga-Wolga“ und andere, aber auch<br />

amerikanische Filme gab es zu sehen.<br />

Die erste Opernvorstellung fand am 8. September 1945 mit der Oper „Halka“ von<br />

Stanisław Moniuszko statt. Die Solisten kamen aus Krakau, der Chor aus Bytom. Im<br />

Dezember wurde der „ Der Barbier von Sevilla“ von Gioacchino Rossini gespielt, im<br />

Februar 1946 „Rigoletto“ von Giuseppe Verdi. Eine nicht geringe Rolle im kulturellen<br />

Leben spielte das Radio. Wegen der Zerstörung des Breslauer Senders 1945 wurde<br />

in den Straßen der Stadt ein Netz von Lautsprechern installiert, die in deutsch und<br />

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polnisch informierten. Im November gab es 10 solcher Lautsprecher. Erst am 29.<br />

September wurde ein Radiosender in Betrieb genommen. Aber seine Reichweite war<br />

begrenzt, zumal in ganz Niederschlesien 1948 nur 8000 Apparate registriert waren.<br />

Sehr schnell organisierte man Sportveranstaltungen. Der erste polnische Sportklub<br />

gründete sich schon am 16. Juni 1945 und erhielt den Namen Erster Sportklub<br />

„Ślęża“ (Lohe). Die ersten Sportveranstaltungen fanden am 19. Juli 1945 statt. Schon<br />

kurze Zeit später entstanden weitere Klubs und begannen mit regulären<br />

Wettbewerben im Fußball, Volley- und Basketball und in der Leichtathletik.<br />

Der zoologische Garten, in dem sich die Kinder während der Belagerung erholten,<br />

wurde am Ende schwer beschädigt. Die Tiere wurden in andere Gärten in Polen<br />

verbracht. Sie kehrten zur Eröffnung des Wrocławer Zoos 1948 zurück.<br />

Schulen nahmen schon 1945 ihre Arbeit auf. Das betraf sowohl Mittel- als auch<br />

Grundschulen. Im November begannen die Universität und die Technische<br />

Hochschule mit ihrem Studienbetrieb. Die Lehrkräfte kamen hauptsächlich aus<br />

Lemberg und Krakau. Anfänglich wurden die Lehrgebäude durch einen<br />

akademischen Sicherheitsdienst geschützt, der sich aus bewaffneten Studenten<br />

zusammensetzte. Er wurde Ende 1945 aufgelöst.<br />

Welche Stimmung herrschte in der Stadt? Sie war sehr unterschiedlich. In den ersten<br />

Wochen nach Beendigung der Kriegshandlungen herrschte eine Atmosphäre der<br />

Unsicherheit. Die Deutschen waren durch die bestehende Lage niedergeschlagen.<br />

Viele glaubten daran oder hatten zumindest die Hoffnung, dass sich die Situation<br />

ändern würde, dass Wrocław deutsch bleibt. Die Passivität der Deutschen wurde<br />

noch durch die Erlebnisse aus der Festungszeit verstärkt. Die Polen wiederum<br />

glaubten nicht an die Beständigkeit der Grenzveränderungen. Deshalb war in den<br />

ersten Wochen nach dem Krieg ein Zustrom von Plünderern aus Zentralpolen zu<br />

verzeichnen. Sie kamen mit der Losung „Nimm alles mit, denn Du bleibst sowieso<br />

nicht hier“. Das betraf Privatpersonen, ebenso verschiedene Warschauer<br />

Institutionen. Die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz brachten eine gewisse<br />

Stabilisierung und Überzeugung bei einem Teil der Polen, was die Dauerhaftigkeit<br />

der Nachkriegsgrenzen betraf, aber nicht bei allen und nicht bis zum Ende. Im<br />

allgemeinen Bewusstsein war die Stadt nicht polnisch und alle Polen und Deutschen<br />

erwarteten früher oder später die Rückgabe an Deutschland. Unter den Polen<br />

verstärkte sich die Furcht durch die Anwesenheit von Deutschen in der Stadt und das<br />

in überwiegender Zahl. Die Situation änderte sich erst Ende 1946 als die Deutschen<br />

etwa 10 Prozent der Einwohner in Wrocław stellten. Um die Atmosphäre zu ändern,<br />

wurde durch die Verwaltung der sog. Kampf gegen das Deutschtum eingeführt, der<br />

auf schnelle Änderung der Straßennamen in polnische und Beseitigung deutscher<br />

Inschriften und Denkmäler abzielte.<br />

Die deutsche Bevölkerung war auf einschneidende Veränderungen eingestellt. Sie<br />

war vom Gefühl der Trauer beherrscht, bedingt durch die Tatsache, die Heimat<br />

endgültig verlassen zu müssen. Das bedeutete auch den Abschied von der Leistung<br />

ganzer Generationen und den Verlust des kleinen schlesischen Vaterlandes.<br />

Deshalb kam es sowohl unter älteren als auch unter jungen Menschen zu Fällen von<br />

Selbstmord. Diese Erscheinung war typisch für die damalige Zeit, denn Selbstmord<br />

gab es auch unter Polen in Lemberg und Vilnius, polnische Städte, die der<br />

Sowjetunion angegliedert wurden. Auf die Stimmung der Deutschen schlug auch die<br />

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schwere ökonomische Lage, denn viele polnische Arbeitgeber brachen das Recht<br />

und zahlten ihnen nur Hungerlöhne und beschnitten ihnen auch eigenmächtig die<br />

Lebensmittelzuteilungen.<br />

Wenn es um die Stimmung der polnischen Bevölkerung geht, so kann man zwei<br />

Dinge beobachten: Ein Teil der Jugend, die nach Niederschlesien kam, glaubte, dass<br />

man hier ein neues und besseres Leben aufbauen kann, denn es gab Arbeit und<br />

große Möglichkeiten des Aufstiegs, Wohnung und auch Bildung. Unter den<br />

Umsiedlern aus dem Osten, ähnlich wie bei den Deutschen, herrschte Nostalgie<br />

nach der verlorenen Heimat. Viele Lemberger sangen deshalb das damals populäre<br />

Lied „Jedna bomba atomowa i wrócimy znów do Lwowa“. Anders war auch das<br />

Verhältnis zu den Deutschen. Die aus dem Osten kommenden Polen, die selbst<br />

Vertriebene waren, fühlten mit den Deutschen und oft versuchten sie auch, ihnen zu<br />

helfen. Es gab Fälle, wo sie ihnen bekannten Deutsche bis zur Grenze begleiteten<br />

und halfen, deren Hab und Gut zu transportieren. Polen aus Großpolen verhielten<br />

sich gewöhnlich anders. Oft forderten sie Rache für die Okkupation.<br />

Zusammenfassend kann man sagen, dass das erste Nachkriegsjahr ungewöhnlich<br />

schwer war. Die neue Verwaltung musste die stark zerstörte, in Trümmern liegende<br />

Stadt wiederbeleben, den Bevölkerungsaustausch vollziehen, das gesamte<br />

öffentliche Leben in Gang bringen. Erst dann konnte die Stadt wieder aufgebaut<br />

werden. Bei der Realisierung dieser Aufgaben musste die Verwaltung nicht nur mit<br />

objektiven Faktoren kämpfen, sondern zeitweise mit der eigenen Zentralmacht, die<br />

die Stadt als Vorratskammer für verschiedene Güter und Anlagen betrachtete. Trotz<br />

dieser Gegensätze und der der Stadt zugefügten Wunden, gelang es innerhalb eines<br />

Jahres Wrocław zu neuem Leben zu erwecken.<br />

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