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Die Utopie steht links! - eDoc

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Herrschaft eines Weltstaates auf den ganzen Globus. Und dies ist nicht nur<br />

eine Kritik aus dem 21. Jahrhundert. Sie kann sich vielmehr auf eine Quelle berufen,<br />

die einige Jahre nach Bellamys Rückblick erschien. William Morris<br />

suchte die Auseinandersetzung mit dem Konzept des amerikanischen Staatssozialismus<br />

und schuf mit News from Nowhere ein ökologisches und anarchistisches<br />

Gegenbild. 34 Dass Morris’ Roman tatsächlich als Reaktion auf Bellamys<br />

Entwurf zu lesen ist, hat auch Hiltrud Gnüg in ihrer Analyse herausgestellt.<br />

»William Morris, heute mehr als Erneuerer des Kunsthandwerks, als<br />

Vorläufer der Jugendstilbewegung bekannt, ein Kleinunternehmer, der seinen<br />

eigenen kunstgewerblichen Betrieb unterhielt, engagierte sich im politischen<br />

Kampf, schuf eine Zelle der ›Democratic Federation‹, gründete schließlich die<br />

radikale ›Socialist League‹. In seinem 1890 erschienenen Roman News from Nowhere<br />

verbindet er seine an Ruskin und den Präraffaeliten orientierten ästhetischen<br />

Ideale mit einem sozialistischen Programm, das auf völliger Eigentumslosigkeit<br />

basiert. Sein Utopia liest sich, trotz seiner kommunistischen<br />

Grundlage, wie eine Antwort auf Bellamys Industrie-Modell. Sein London der<br />

Zukunft, das in nichts mehr einer modernen, durch Industrie geprägten Großstadt<br />

ähnelt, stellt ein völliges Gegenbild zu Bellamys Großtrust-Boston dar.« 35<br />

Einen wichtigen Punkt teilt Morris freilich mit Bellamy, der gleichzeitig ein innovatives<br />

Moment der <strong>Utopie</strong>produktion um 1900 darstellt. Der Besucher<br />

Utopias identifiziert sich mit dem vorgefundenen utopischen Ort. Bereits kurz<br />

nach 1700 hatte der französische Reisende und Offizier Baron de La Hontan<br />

dieses Verfahren angewendet, das die Gegenwartskritik des Autors zusätzlich<br />

abzusichern vermag. Bei Morris kommt es, paradigmatisch gebrochen, zu seinem<br />

entscheidenden Ausdruck. Der Politikwissenschaftler Richard Saage<br />

schrieb in diesem Zusammenhang: »Anfangs hat der ›Gast‹ mit seinem von<br />

der viktorianischen Epoche geprägten Wertesystem Probleme, sich mit den<br />

<strong>Utopie</strong>rn zu verständigen. Doch dann trifft er auf den alten Hammond, der<br />

dem Fremden die utopische Welt erklärt. Ihm gelingt es, bei seinem Gast Verständnis<br />

für die fremde Lebensweise und ihre gesellschaftlichen Institutionen<br />

zu wecken, weil er selber die Zivilisation der viktorianischen Epoche aufgrund<br />

seiner historischen Studien kennt. Auf diese Weise macht der Roman<br />

den Leser in Gestalt eines Dialogs mit dem ganzen Szenario des utopischen<br />

Entwurfs vertraut, wie wir es seit Morus kennen: <strong>Die</strong> Zeitkritik wird ebenso<br />

wenig ausgespart wie das wirtschaftliche und politische System dieses idealen<br />

Gemeinwesens.« 36 Doch darf diese eine Übereinstimmung nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

dass Morris’ Roman das Gegenbild zu Bellamys Superstaat<br />

zeichnet. Denn der utopische Raum ist bei ihm nicht nur landwirtschaftlich<br />

34 Verwendet wird die von Wilhelm Liebknecht herausgegebene 2. Auflage: Morris 1914, zitiert wird als<br />

NN.<br />

35 Gnüg 1999, S. 159.<br />

36 Saage 2002, S. 162f.<br />

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