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Die Utopie steht links! - eDoc

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1. <strong>Die</strong> verdienstvolle, 2002 von Fritz Keller editierte, Ausgabe vermischter<br />

Schriften Lafargues zur Geschichte und Politik enthält auch den 1866 verfassten<br />

kleinen Zeitungsartikel La corruption bourgeoise, <strong>Die</strong> bürgerliche Korruption,<br />

in dem sich die zentralen Elemente der Kritik Lafargues an der Gegenwart der<br />

zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich erkennen lassen. 24 Er ging davon<br />

aus, dass die Bourgeoisie als Klasse am Boden liege, moralisch und physisch<br />

verkommen, kurz: dekadent und wehrlos sei. »<strong>Die</strong> Bourgeoisie ist verfault, so<br />

wie es der Adel zur Zeit Ludwig XV. war. Sie besitzt keine Lebenskraft mehr –<br />

diese wurde völlig zerstört. Das war unvermeidlich. Schon unmittelbar nach<br />

dem Sieg schwanden ihre Kräfte, ihre Moral. Solange sie sich in Gegenwart<br />

des Adels befand, war sie zahlenmäßig und ihrer Begabung nach eine mächtige<br />

Klasse. Sie wollte, dachte, produzierte, stellte Überlegungen an, kämpfte<br />

– heute handelt, spekuliert sie, treibt Börsenwucher. Sie ist ein elender Haufen.<br />

Das Leben tierisch zu genießen, ist ihr einziges Ziel. Um das zu erreichen,<br />

ist ihr jedes Mittel recht. Ihr moralischer und körperlicher Verfall ist erschreckend.<br />

<strong>Die</strong> Macht ist zu einem Hindernisrennen geworden. <strong>Die</strong> politische<br />

Welt be<strong>steht</strong> nur aus Prostitution. Alle, die Herren wie die <strong>Die</strong>ner, sind<br />

nur gedungene Knechte – die einen des Geldes, die anderen eines Ranges<br />

oder Titels wegen.« (BK 16) <strong>Die</strong>se radikale Zeitdiagnose sucht innerhalb der<br />

Kampfschriften jener Jahre nach Vergleichbarem. In polemisch-satirischer<br />

Zuspitzung sah Lafargue die herrschende Klasse der Bourgeoisie in einem<br />

doppelten Bezug: Erstens zum Geld und zweitens zur Religion. Das Geld habe<br />

jegliche moralische Dimension zerstört. Reichtümer seien entstanden – oder<br />

übten eine solch verlockende Wirkung aus, dass alle normativen Schranken<br />

fallen. »Hallali! Das ist das Recht der Jäger! – Drauf los, mehr Moral, mehr<br />

falsche Scham. – Los, bedient euch der Zähne und Krallen. – Ja, die Stärksten,<br />

die Gerissensten sind die Könige! – Warum sich denn schämen? – Ist das Gold<br />

nicht der einzig vorhandene Gott? Gereicht es nicht zur Ehre, zur Tugend?<br />

Man richtet ganze Generationen zugrunde, man tötet sie, was macht’s? Geld<br />

stinkt nicht. In den Handelsstädten heißt es: ›Kurz und schmerzlos.‹ Gewaltige<br />

Reichtümer entstehen und vergehen im Verlauf einiger Jahre, und<br />

während der Prosperität treibt die Familie – eine zügellose Verschwendung.<br />

<strong>Die</strong> Frau leistet sich eine phantastische Toilette – der Gatte baut kleine Häuser,<br />

wo er seine Mätressen unterbringt – , ach ja, sie verstehen zu leben! Hast du<br />

Geld, dann wirst du glücklich sein.« (BK 18) <strong>Die</strong>sem Zustand der absoluten<br />

Zerrüttung der Oberschicht entspreche deren Umgang mit der Religion. Sie<br />

werde zur Scheinmoral, diene sie doch der Absicherung des lasterhaften und<br />

alles zerstörenden Lebens. Und eine zweite Funktion komme ihr zu: <strong>Die</strong> Unterdrückung<br />

des Dritten Standes in seiner modernen Gestalt des Proletariats.<br />

»<strong>Die</strong> Scheiterhaufen, die Foltern, die Fasten, die Kasteiungen sind verschwun-<br />

24 Verwendet wird die Ausgabe: Lafargue 2002, zitiert wird als BK.<br />

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