15.06.2014 Aufrufe

Die Utopie steht links! - eDoc

Die Utopie steht links! - eDoc

Die Utopie steht links! - eDoc

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

chem abgeneigt, wohl aber jedem Kriege, der nicht im Interesse des Handels<br />

lag. Und zu solchem Bekommen hatte sich Heinrich aus bloßer Eitelkeit und<br />

beeinflusst von feudalen Traditionen herbeigelassen. Da mussten Mores Ausführungen<br />

im Bürgertum ein williges Ohr finden.« (TMU 190f.) Und weiter<br />

heißt es: »More hatte mit seiner Utopia ein politisches Programm entworfen,<br />

das allgemeinen Beifall errang, er war damit in die erste Reihe der englischen<br />

Politiker getreten. Wenn er auch wollte, er konnte jetzt dem Hofe nicht länger<br />

fernbleiben, gerade wegen seiner kühnen Kritik des bestehenden Absolutismus.<br />

More hatte damit aufgehört, ein bloßer Privatmann zu sein; er, der Liebling<br />

Londons, der England beherrschenden Stadt, der Liebling der Humanisten,<br />

die damals die öffentliche Meinung machten, er war ein politischer<br />

Faktor geworden, den man gewinnen oder vernichten musste. Heinrich hatte<br />

schon früher versucht, More zu gewinnen; jetzt bot er alles auf, ihn in seine<br />

<strong>Die</strong>nste zu ziehen. <strong>Die</strong> Ablehnung einer solchen Aufforderung, wenn sie dringend<br />

gestellt war, bedeutete damals die Feindschaft des allmächtigen Königs,<br />

sie war gleichbedeutend mit Hochverrat, sie zog oft die Hinrichtung nach<br />

sich.« (TMU 191) Daher müsse, gerade vom historisch-materialistischen<br />

Standpunkt aus, in letzter Konsequenz doch Thomas Münzer vorgezogen<br />

werden. Morus ist der Utopist und als solcher der bürgerlichen Gesellschaft<br />

verhaftet, Münzer der Revolutionär. <strong>Die</strong> wissenschaftlich-intellektuelle Tradition<br />

des modernen Sozialismus verweise auf Morus, die revolutionär-handelnde<br />

auf Münzer. »Der erste, und wenn auch nicht der Form, so doch dem<br />

Endziel nach, schüchterne Protest gegen diese Anfänge des eben gekennzeichneten<br />

modernisierten, den Bedürfnissen der Warenproduktion angepassten<br />

Feudalismus waren die Bauernkriege. Sie bildeten gleichzeitig eine<br />

der letzten krampfhaften Zuckungen der sterbenden Marktgenossenschaft; sie<br />

waren aber auch die Vorläufer der großen Revolution von 1789.« (TMU 44)<br />

Kautskys Auseinandersetzung mit Morus bildet fast schon idealtypisch rein<br />

die Auffassungen des Marxismus mit Blick auf den utopischen Diskurs ab. Erstens<br />

betonte Kautsky die explizite und scharfe Kritik von Morus an den sozialen<br />

und ökonomischen Zuständen seiner Zeit, d. h. der einsetzenden Herausbildung<br />

der kapitalistischen und bürgerlichen Welt. Zweitens aber<br />

interpretierte er Morus als Humanist und damit als Vertreter (bzw. sogar als<br />

Sprecher und Theoretiker) eben des Bürgertums. <strong>Die</strong> Analogien dieser<br />

Annäherung zu dem Umgang Engels‘ mit den utopischen Frühsozialisten liegen<br />

auf der Hand. Das verdeutlicht nicht zuletzt der eigentliche Kritikpunkt<br />

Kautskys: Morus wende sich an den König und an die Kapitalisten, nicht aber<br />

– wie fast zeitgleich Münzer – ans Volk als Vorform des modernen Proletariats.<br />

Gleichzeitig aber zeigt gerade die Beschäftigung mit Kautsky auf, dass trotz<br />

aller <strong>Utopie</strong>-Kritik der Marxismus in starkem Maße daran interessiert war, die<br />

utopische Tradition als Ideen- und Autoritätsressource in das eigene Denken<br />

einzubinden. Genau dies ist der Grund, warum Kautsky alle totalitären bzw.<br />

28

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!