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Mit jedem Schritt der mich dir näher bringt … - RMV

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GESCHICHTENWETTBEWERB 2013<br />

<strong>Mit</strong> <strong>jedem</strong> <strong>Schritt</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>mich</strong> <strong>dir</strong> <strong>näher</strong><br />

<strong>bringt</strong> <strong>…</strong><br />

Ein Projekt von


www.rmv.de<br />

Impressum<br />

Herausgeber<br />

Rhein-Main-Verkehrsverbund GmbH<br />

Werbung & Marktauftritt<br />

Alte Bleiche 5<br />

65719 Hofheim am Taunus<br />

Abdruck aller Geschichten mit freundlicher Genehmigung <strong>der</strong> Autoren.


VORWORT<br />

Anlässlich des UNESCO Welttags des Buches 2013 hatten <strong>RMV</strong> und die<br />

Stiftung Lesen zu einem Schreibwettbewerb aufgerufen. Dabei war <strong>der</strong><br />

Krea tivität (fast) keine Grenzen gesetzt. Lediglich drei vorgegebene Begriffe<br />

„S-Bahn verpasst“, „zu spät“, „Glück“ o<strong>der</strong> „Schicksal“ sollten in die Geschichte<br />

eingebaut werden.<br />

Eine Experten-Jury mit den Schriftstellern Matthias Altenburg (bekannt vor<br />

allem für seine Krimis unter dem Pseudonym Jan Seghers) und Dietrich Faber<br />

sowie Fantasy-Autor Jens Schumacher wählten aus allen Einsendungen<br />

„Windflieger“ von Alexa Pukall als Gewinner-Geschichte aus und prämierten<br />

neun weitere Einsendungen als beson<strong>der</strong>s wertvoll.<br />

ln dem hier vorliegenden Büchlein können diese Geschichten in voller Länge<br />

nachgelesen werden. Darüber hinaus wurde eine Auswahl weiterer Einsendungen<br />

aufgenommen, die auch liebenswert und lesenswert sind. Erlebnisse<br />

mit <strong>der</strong> S-Bahn, tatsächliche Begebenheiten, fiktionale Geschichten, lustig,<br />

kurios o<strong>der</strong> nachdenklich för<strong>der</strong>n den Spaß am Lesen und eignen sich<br />

auch zum Vorlesen.<br />

Das Vorlesen steht beson<strong>der</strong>s beim bundesweiten Vorlesetag im <strong>Mit</strong>telpunkt,<br />

zu dem 2013 die Wochenzeitung DIE ZEIT, Stiftung Lesen und Deutsche<br />

Bahn bereits zum zehnten Mal aufrufen. Der <strong>RMV</strong>, <strong>der</strong> sich ebenfalls an<br />

Deutschlands größtem Vorlesefest beteiligt, schenkt Ihnen diese Geschichtensammlung<br />

rund ums Unterwegssein.<br />

Gute Unterhaltung, stets gute Fahrt und viel Spaß beim Lesen und Vorlesen<br />

wünscht<br />

Ihr Rhein-Main-Verkehrsverbund<br />

3


INHALT<br />

Kapitel 1<br />

AUSGEZEICHNET<br />

Windflieger ............................................................................... 5<br />

Der perfekte Makel ................................................................... 8<br />

Zu spät ...................................................................................... 12<br />

Pünktlich sein leicht gemacht ................................................... 14<br />

Obuganies ................................................................................. 17<br />

Schienenersatzverkehr 2.0 ........................................................ 20<br />

Auf den zweiten Blick ............................................................... 22<br />

Unterwegs zu unbekanntem Ziel .............................................. 25<br />

Was für ein Tag! ........................................................................ 27<br />

Rücklichter ................................................................................ 30<br />

Kapitel 2<br />

VON DER LIEBE<br />

Frankfurt Singapur ..................................................................... 32<br />

Schnee ...................................................................................... 35<br />

Glück im Unglück ...................................................................... 37<br />

Diese verdammte Bahn! ........................................................... 39<br />

Pünktlich ................................................................................... 41<br />

Warten ...................................................................................... 43<br />

Kapitel 3<br />

VOM LEBEN<br />

Zufall ......................................................................................... 47<br />

Verpassen: ein Exkurs ............................................................... 50<br />

Palimpsest ................................................................................ 52<br />

Die Frau mit schwarzem Haar und rotem Schal ........................ 55<br />

<strong>…</strong> Bis man es versteht ............................................................. 58<br />

Wege des Schicksals ................................................................ 61<br />

Zu spät ...................................................................................... 63<br />

Fahrt nach Hessen Stern .......................................................... 65<br />

S-Bahn verpasst ........................................................................ 68<br />

Bahnkonzert in Es-Dur .............................................................. 70<br />

ZU GUTER LETZT<br />

Der Schwarzfahrer .................................................................... 73<br />

4


Kapitel 1: AUSGEZEICHNET<br />

Windflieger<br />

von Alexa Pukall<br />

Loran war gänzlich auf die Pflanze konzentriert, als <strong>der</strong> Fremde ihn ansprach.<br />

Seit Stunden hockte er schon auf dem Asphalt und starrte auf das<br />

kränkliche grüne Gewächs in einem Meer von Grau, als könne er sie damit<br />

überzeugen, ihm ihr Geheimnis zu verraten. Sein Rücken schmerzte und<br />

das kalte Licht <strong>der</strong> Sonne bereitete ihm Kopfschmerzen, und als jemand<br />

hinter ihm „Hey, hör mal“ sagte, war er für einen unendlichen Moment<br />

überzeugt, die Garde hätte ihn gefunden.<br />

Aber als er herumwirbelte, eine Ausrede bereits auf seinen zerfurchten Lippen,<br />

war da nur <strong>der</strong> Fremde, <strong>der</strong> ihn aus dem vergitterten U-Bahn-Schacht<br />

her anblickte.<br />

Loran stolperte so heftig rückwärts, dass er fast mit seinem Stiefel die<br />

Pflanze zerquetschte. Er fing sich hastig und baute sich so breit auf, wie<br />

sein schmächtiger Körper es zuließ; die Füße weit auseinan<strong>der</strong>, die Hände<br />

in Fäusten an seinen Seiten, den Blick stur gehoben. Es funktionierte: Hinter<br />

dem Maschendrahtzaun, <strong>der</strong> den Schacht versiegelte, wich <strong>der</strong> Fremde<br />

einen <strong>Schritt</strong> zurück.<br />

„Sorry, Mann“, sagte er.<br />

Loran sah sich hilflos um. Als kleiner Junge war er manchmal mit seinen<br />

Eltern in die Stadt gekommen, als dort noch Menschen lebten und arbeiteten,<br />

anstatt wie hungrige Tiere von einer Essensausgabe zur nächsten zu<br />

huschen. Als die Bahnen noch fuhren, bebten und rauschten die Zugangsschächte,<br />

als jagten Düsenflieger durch die Häuserschluchten. Doch das<br />

5


undesweiter vorlesetag 2013<br />

war viele Jahre her, und nun waren die Treppen vergittert und verriegelt, die<br />

Türen verschlossen und mit Brettern versperrt. Die einzigen Lebewesen,<br />

die noch durch die grauen Gänge irrten, waren die Ratten.<br />

Und, allem Anschein nach, <strong>der</strong> Fremde.<br />

Fremde waren gefährlich, da war die Garde deutlich. Aufrührerisch und<br />

gefährlich, sagten sie, und manchmal, wenn er den Soldaten auf den verlassenen<br />

Straßen nicht ausweichen konnte, stellten sie ihm Fragen: Wie<br />

heißt du? Wo kommst du her? Ist <strong>dir</strong> schon einmal ein Frem<strong>der</strong> begegnet?<br />

Bisher hatte Loran immer guten Gewissens verneint, aber es bestand kein<br />

Zweifel daran, dass dieser Mann ein Frem<strong>der</strong> war. Seine Kleidung war bunt<br />

und eigenartig, sein Bauch zu rund, seine Wangen zu voll. Niemand, <strong>der</strong><br />

sich mit den wöchentlichen Rationen <strong>der</strong> Garde durchschlagen musste,<br />

hatte so pralle Hüften. Vielleicht war er jemand Wichtiges, wo er her kam.<br />

Loran konnte es sich vorstellen. Nur gefährlich – nein, so sah er nicht aus.<br />

„Hey“, sagte <strong>der</strong> Fremde. Er hakte seine Finger in das Gitter und rüttelte<br />

daran – so laut, dass Loran meinte, die Garde schon um die nächste Ecke<br />

stampfen zu hören. „Du hast nicht zufällig einen Schlüssel o<strong>der</strong> so?“<br />

Loran trat einen <strong>Schritt</strong> zurück. Vielleicht sah <strong>der</strong> Fremde nicht gefährlich<br />

aus, aber Loran konnte es kaum riskieren. Er hatte eine Mission zu erfüllen,<br />

so hoffnungslos sie auch war. Denn Sanna hatte Samen aufgetan, kleine<br />

Tütchen, die beim Schütteln prasselten wie <strong>der</strong> saure Regen auf den Wellblechdächern.<br />

Und trotz ihrer Freude waren alle Versuche, die Pflanzen<br />

zum Leben zu erwecken, kläglich gescheitert. Cerr hatte bereits vorgeschlagen,<br />

einfach die Samen zu essen, auch wenn das das Todesurteil ihrer Visionen<br />

wäre. Doch solange sie für ihre Nahrungsmittel auf die Garde angewiesen<br />

waren, waren sie auch an die Stadt gebunden. Waren sie an <strong>der</strong>en<br />

Regeln gebunden. Und das konnten sie alle nicht mehr ertragen.<br />

Und so kehrte er sich entschieden von dem Fremden ab und <strong>der</strong> kleinen<br />

Pflanze wie<strong>der</strong> zu. Warum wuchs sie, um alles in <strong>der</strong> Welt, hier? Was hatte<br />

diese Pflanze bewegen können, mitten im Asphalt ihre Wurzeln zu schlagen,<br />

während in den Blumenbeeten in Lorans heruntergekommener Wohnung<br />

nur leblose Erde auf ihn wartete?<br />

„Echt jetzt?“, sagte <strong>der</strong> Fremde hinter ihm. Der Gitterzaun rasselte – so, als<br />

habe jemand sich dagegen fallen lassen. „Das wird ja immer besser hier.<br />

6


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Erst die letzte S-Bahn verpasst, und dann auf dem Weg nach draußen<br />

irgendwie verirrt, und jetzt weiß ich zwar nicht, wo ich bin, aber das hier ist<br />

garantiert nicht die Hauptwache. Und ich habe mir noch gedacht, Mann,<br />

Olli, ob das so 'ne gute Idee ist. Ich hätte ja auch bei meinem Kumpel auf<br />

<strong>der</strong> Couch pennen können, aber nein, ich musste ja unbedingt noch nach<br />

Hause.“<br />

Der Zaun rasselte erneut. „Und wenn ich endlich mal jemanden finde, ist<br />

dem ein mickriger Löwenzahn wichtiger als das hier.“<br />

Als Loran einen raschen Blick über seine Schulter warf, hatte <strong>der</strong> Fremde<br />

beide Hände in den Zaun gehakt, und rüttelte erneut, energisch, daran.<br />

Diesmal war es Loran egal. „Du kennst dich mit Pflanzen aus?“, fragte er,<br />

mit einem vorsichtigen Blick die Straße hinauf.<br />

Der Fremde schüttelte den Kopf. „Kenne ich <strong>mich</strong> mit Pflanzen aus?<br />

Mensch, Junge. Hab‘ ich Bio studiert o<strong>der</strong> nicht?“<br />

Als Loran ihn bloß ansah, stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. „Schon<br />

gut“, sagte er. „Ja, ich kenne <strong>mich</strong> mit Pflanzen aus.“<br />

Loran kam ein paar <strong>Schritt</strong>e <strong>näher</strong>. Einen Schlüssel hatte er nicht, aber mit<br />

dem rostigen Messer, das er sorgfältig vor <strong>der</strong> Garde versteckt hielt, konnte<br />

er das zerfressene Schloss aufhebeln. Das Gitter schob er beiseite, aber das<br />

Messer hielt er weiterhin in <strong>der</strong> Hand und <strong>der</strong> Fremde hielt sich entschieden<br />

davon fern.<br />

„Danke“, sagte er, deutlich leiser als zuvor. Er stockte einen Moment. „Du<br />

kannst mir nicht zufällig sagen, wo wir sind?“<br />

„In <strong>der</strong> Stadt“, sagte Loran.<br />

Der Fremde verzog das Gesicht. „Natürlich. Da hätte ich auch selbst drauf<br />

kommen können.“<br />

Loran stimmte dem insgeheim zu. Aber sie hatten schon genug getrödelt.<br />

Die Garde war nie fern, und Loran konnte nicht riskieren, dass sie den<br />

Fremden in die Finger bekamen. Es wäre schon schlimm genug, wenn sie<br />

misstrauisch wurden und genauere Nachforschungen über Loran und seine<br />

Freunde anstellten – aber nun, da <strong>der</strong> Fremde wie ein himmelsgesandter<br />

Retter in seinem Leben erschienen war, weigerte sich Loran, ihn wie<strong>der</strong><br />

aufzugeben.<br />

7


undesweiter vorlesetag 2013<br />

„Komm mit“, sagte er und fasste den Fremden am Arm. Zufall, Schicksal,<br />

wen kümmerte das schon? Wenn <strong>der</strong> Fremde ihnen mit den Pflanzen helfen<br />

konnte, dann würden sie schon bald nicht mehr auf die Garde angewiesen<br />

sein, und dann hielt sie nichts mehr in dieser gottverlassenen Stadt.<br />

Vielleicht war dieser Fremde die Antwort auf Lorans Fragen. Vielleicht war<br />

noch nicht alles zu spät.<br />

Der perfekte Makel<br />

von Sarah Friedrich<br />

Arndt Scheller war ein echter Sympath. Ob er ein Herz hatte, wusste selbst<br />

seine Mutter nicht. Dafür trug er die Krawatte stets am rechten Fleck, was<br />

im Gedränge <strong>der</strong> S-Bahn eine ziemliche Herausfor<strong>der</strong>ung war. Zumal er<br />

fast an den Ausdünstungen seiner <strong>Mit</strong>menschen erstickte.<br />

Beson<strong>der</strong>s störten ihn die Türken. Sie nahmen sämtliche Sitzplätze in Beschlag<br />

und unterhielten sich ausschließlich in ihrer Muttersprache. „Dass<br />

die nach 60 Jahren immer noch kein Deutsch können!“, empörte sich Arndt.<br />

Die Studentin neben ihm ließ sich ein spöttisches Grinsen entlocken. Sie<br />

strickte unablässig. Es wurde ganz ruhig. Nur noch das Sirren <strong>der</strong> Beleuchtung.<br />

Einer <strong>der</strong> Türken erhob sich.<br />

„Darf ich Ihnen meinen Platz anbieten? Ich sitze schon 60 Jahre hier, da tut<br />

so ein bisschen Stehen ganz gut.“<br />

Arndt zuckte, schüttelte verlegen den Kopf.<br />

Sie trug ihr durchgestuftes Haar kinnlang. Mausbraun und wie frisch aufgeschüttelt<br />

sah es aus. Und doch lag eine ständige Ruhe in ihrem Gesicht.<br />

„Schöne Wolle“, bemerkte Arndt.<br />

8


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

„Pff“, machte die Studentin.<br />

Rechte Masche, linke Masche. Rechte Masche, linke ...<br />

„Was wird das, wenn‘s fertig ist?“<br />

Sie hielt inne.<br />

„Wie schaffen Sie es bloß, mit größtmöglicher Sicherheit im absolut falschen<br />

Moment die unmöglichsten Sachen von sich zu geben?“<br />

„Was machen Sie beruflich?“, entgegnete er. „Diplomierte Wortverdreherin?“<br />

„So gut wie.“ Sie beugte sich vor und ließ die Nadeln erneut ruhen. „Germanistik-<br />

und Anglistikstudentin. Und nur zur Info: Diplom war gestern.“<br />

Sie stopfte eilig das Strickzeug in ihre Manteltasche und stieg aus. Arndt<br />

schaute ihr nach. Das Knäuel lag auf dem Bahnsteig. <strong>Mit</strong> <strong>jedem</strong> <strong>Schritt</strong> lösten<br />

sich Maschen in ihrer Tasche. Er sprang auf und rannte hinterher. Sie<br />

hatte einen ganz schönen Zahn drauf. Bei den Schließfächern angelangt,<br />

erstarrte er. Die Studentin entriegelte eines <strong>der</strong> Fächer. Ein beherzter Griff<br />

hinein. Was auch immer sie jetzt in ihren Händen hielt – sie vergrub ihre<br />

Nase darin. Sog den Geruch ein. Den Geruch zweier Wollknäuel. Gedankenverloren<br />

drehte sie sich um. Arndts Finger gaben nach. Fassungslos<br />

schaute sie ihn an. Das Knäuel in seiner Hand plumpste zu Boden.<br />

Sie hob es auf und marschierte davon.<br />

Die nächsten Tage stand er stets in <strong>der</strong> Tür, durch die sie ausstieg. Versperrte<br />

den Weg. Nicht einmal schaute sie auf. Ihr stolzer Blick ging an ihm vorbei.<br />

Sie wollte nichts und niemandem gefallen. Das kannte Arndt so gar<br />

nicht. Alle wollten ihm gefallen. Wollten sich einmal auf seinen polierten<br />

Schuhen spiegeln dürfen.<br />

Eines Morgens startete er einen weiteren Versuch.<br />

„Sagen Sie mir Ihren Namen?“, fragte er kühn.<br />

Sie hob die Augenbraue.<br />

„Sie erwarten doch wohl keine Entschuldigung?“, setzte er fort.<br />

„Für jemanden wie Sie gibt es keine Entschuldigung.“<br />

„Ist das die Absolution o<strong>der</strong> eine Feststellung?“<br />

Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.<br />

9


undesweiter vorlesetag 2013<br />

„Ella“, sagte sie. „Wie heißt du? Was machst du?“<br />

„Arndt. Qualitätssicherung“, antwortete er einsilbig. „Warum lagerst du die<br />

Wolle in dem Schließfach am Bahnhof?“<br />

„Tue ich nicht. Jemand legt sie dort ab und wirft mir den Schlüssel in den<br />

Briefkasten. Jeden Morgen.“<br />

„Wer macht so etwas?“<br />

„Ein Verehrer.“<br />

„Sicher?“, fragte er scharf.<br />

Ella schwieg.<br />

„Hältst du es für so unwahrscheinlich, dass <strong>mich</strong> jemand begehrt?“<br />

„Ich halte es für unwahrscheinlich, dass <strong>dir</strong> das jemand mit einem Wollknäuel<br />

beweist.“<br />

Wütend sprang sie auf.<br />

„Soll ich <strong>mich</strong> jetzt etwa wie<strong>der</strong> entschuldigen?“, entfuhr es ihm.<br />

„Nein“, fauchte sie. „Wofür denn? Du bist doch makellos! Wärst du eine<br />

Statue, wüsste nicht einmal das Moos, wo es seine Wurzeln schlagen sollte.<br />

Ganz davon zu schweigen, dass du den Tauben zu etepetete wärst, um<br />

auf dich zu scheißen!“<br />

Arndt hatte die S-Bahn verpasst. Er hatte zum Feierabend nur einen Absacker<br />

kaufen wollen. Verloren stand er am Bahnsteig. Und wartete auf eine<br />

Bahn, die bereits abgefahren war. Nein, es war noch nicht zu spät! Er rannte<br />

zu den Schließfächern. Und wenn es ihn die ganze Nacht kosten würde:<br />

Arndt wollte wissen, wer die Wollknäuel ins Schließfach legte. Immer wie<strong>der</strong><br />

griff er zur Flasche. Die Zeit wollte nicht vergehen. Mehrfach verscheuchte<br />

ihn eine Aufsicht. Es war eine Gratwan<strong>der</strong>ung zwischen gesellschaftlichem<br />

Sein o<strong>der</strong> Nicht-Sein. Zwischen Makel und Perfektion. Die<br />

Leute sahen einen Penner in ihm. Womöglich war er das schon immer gewesen.<br />

<strong>Schritt</strong>e <strong>näher</strong>ten sich. Das war‘s. Nun besiegelte sich sein Schicksal. Die<br />

Bahnhofsmission. O<strong>der</strong> noch schlimmer: die Polizei. Wollten ihn hier wegholen.<br />

10


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Es war nur ein Mann. Er ging zu den Fächern. Und er hatte Wolle dabei.<br />

„Halt“, krächzte Arndt.<br />

Der Mann musste doppelt so alt sein wie er. Ganz sicher ein Perverser.<br />

Arndt hob den Zeigefinger.<br />

„Was ... wollen Sie von Ella, hä?“<br />

„Sie kennen meine Tochter?“<br />

Das überraschte Arndt. Noch mehr: Der Mann setzte sich zu ihm. Packte<br />

eine Lunchbox aus. Und umwickelte seelenruhig eine Karotte mit Bacon.<br />

Kein Perverser. Definitiv ein Englän<strong>der</strong>.<br />

„Sie müssen etwas essen! Sie vertragen nichts. Wir tauschen?“<br />

Während Arndt die Karotte mümmelte, leerte Ellas Vater den Schnaps.<br />

Arndt hatte Schatten unter den Augen, als er Ella am nächsten Morgen<br />

gegenübertrat.<br />

„Dein Vater legt <strong>dir</strong> Wolle ins Schließfach. Er möchte dich kennenlernen.“<br />

Ihr blieb <strong>der</strong> Mund offen.<br />

„Du hast keinen Schließfach-Verehrer“, fuhr Arndt fort. „Nimm <strong>mich</strong>.“<br />

„Dich? Einen Kekstester?“<br />

„Was? Kekse testen?“, fragte Arndt verdutzt.<br />

„Du arbeitest doch in <strong>der</strong> Qualitätssicherung. Ich habe mir vorgestellt, dass<br />

du in <strong>der</strong> Fabrik Kekse probierst“, gestand sie.<br />

„Ich überprüfe Autoteile.“<br />

Sie stiegen aus. Nahmen den Weg zu den Schließfächern.<br />

Abrupt blieb Ella stehen.<br />

„Lass uns einen Kaffee trinken gehen.“<br />

Arndt zögerte: „Das ist das Netteste, das du je zu mir gesagt hast.“<br />

Sie zuckte die Achseln.<br />

„Ich weiß.“<br />

11


undesweiter vorlesetag 2013<br />

Er lächelte.<br />

„Wenn es Kekse dazu gibt, könnte ich mir sogar vorstellen, dass sich ein<br />

Krümel in meinen Mundwinkel verirrt.“<br />

Ella lachte.<br />

„Kekskrümel statt Taubenschiss und Moosbewuchs? Klingt nach dem perfekten<br />

Makel.“<br />

Zu spät<br />

von Magdalena Kirschstein<br />

Dienstag, 12.03.2013. 6:30 h, Morgendämmerung.<br />

Es ist kalt. Weißer Schnee rieselt herab und verwandelt sich dann auf <strong>der</strong><br />

Straße in eine schwarze, braune Brühe. Motorengeräusche, Auspuffgase.<br />

Die S-Bahn biegt um die Ecke.<br />

Er rennt. Ein 400-Meter-Sprint. Usain Bolt. 200 Meter. Kommt <strong>der</strong> Bahn<br />

immer <strong>näher</strong>. Schnauft, zischt, ein einziges Hecheln. Seine Füße pflügen<br />

sich durch den Schnee. S-Bahn verpasst. Zu spät. Er flucht. Der Kaffee war<br />

schuld. Dieser verdammte Kaffee wurde einfach nicht schnell genug kalt,<br />

um ihn herunterzukippen ohne Verbrennungen vierten Grades zu riskieren.<br />

Er wird zu spät zu seiner Klausur kommen. Mindestens eine halbe Stunde.<br />

Mathematikstudium im fünften Semester. Er schaut sich um. Offensichtlich<br />

ist er nicht <strong>der</strong> einzige, die Bahn verpasst hat. Er braucht unbedingt eine<br />

Zigarette. Jetzt sofort. Links neben ihm steht ein langhaariger Kerl in einem<br />

waldgrünen Parka. Er bittet ihn um eine Zigarette.<br />

Schicksal.<br />

Bestimmt Student. Denkt <strong>der</strong> Langhaarige. Er ist Nichtraucher. Der Bitte um<br />

eine Zigarette kann er nicht nachkommen. Schlechtes Wetter, grummelt er.<br />

Er hat die ganze Nacht an diesem Bahnhof verbracht. In den Obdachlosen-<br />

12


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

unterkünften war schon alles belegt. An Schlaf war nicht zu denken. Sein<br />

Rücken schmerzt. Er verflucht die harten Metallbänke. Er hat keine Ahnung,<br />

wohin er eigentlich will. Hauptsache weg.<br />

Schicksal.<br />

Er stellt sich an die Haltestelle <strong>der</strong> S-Bahn. Ist nervös, scharrt mit den Füßen.<br />

Er ist <strong>Mit</strong>te 50. Er denkt an seine Frau. Er denkt an seine drei Kin<strong>der</strong>,<br />

die er über alles liebt. Heute wird er von dem Arzt die Diagnose bekommen.<br />

Hoffentlich kein Krebs. Und was, wenn doch? Er hat eine Familie, trägt Verantwortung.<br />

Er hat Angst. Er hat nie daran gedacht, dass es ihn erwischen<br />

könnte. Die Autos rauschen an ihm vorbei. Er betet und hofft.<br />

Schicksal.<br />

Er steht da und wartet auf die Bahn. Noch immer kommt ihm alles so fremd<br />

vor. Die Menschen. Die Umgebung. Die Gerüche. Er hat Heimweh. Aber er<br />

kann nicht zurück. In seinem Land ist Krieg. Bil<strong>der</strong> tauchen vor seinen Augen<br />

auf. Bil<strong>der</strong>, die er nicht vergessen kann. Sie schießen mit Maschinenpistolen<br />

auf alles, was sich bewegt. In seinem Herkunftsland ist ein Menschenleben<br />

weniger wert als eine Patronenhülse. 5000 Euro hat seine Familie<br />

an einen Schlepper bezahlt. Damit er ein neues Leben anfangen kann.<br />

Jetzt ist er hier. In Deutschland. Sein Asylantrag läuft. Deutschland hat er<br />

sich an<strong>der</strong>s vorgestellt. Er teilt sich in <strong>der</strong> Unterkunft ein Zimmer mit fünf<br />

an<strong>der</strong>en Flüchtlingen. Es ist eng, ungemütlich und trostlos. Er fühlt sich<br />

einsam. Er fühlt sich nicht willkommen in diesem Land. Seine Zeit hier in<br />

Deutschland besteht hauptsächlich aus Warten. Warten auf eine Antwort<br />

bezüglich des Asylverfahrens. Das kann sich lange hinziehen, hat ihm sein<br />

Sozialarbeiter gesagt. Manchmal über Jahre.<br />

Schicksal.<br />

Sie steht zwischen dem Cola-Automaten und dem Mülleimer. Coca-Cola,<br />

Coca-Cola light, Fanta, Sprite. Glas, Papier, Plastik, Restmüll. Sie hasst ihren<br />

Job. Die Ausbildung, die sie begonnen hat. Aber irgendetwas muss sie<br />

ja schließlich machen. Sie hat sich informiert. War auf Ausbildungs messen,<br />

hat sich beraten lassen, Berufswahltests gemacht. Das Richtige hat sie<br />

aber nicht gefunden. Also hat sie halt irgendetwas gemacht. Jeden Morgen<br />

quält sie sich aus dem Bett. Fährt mit <strong>der</strong> Bahn zur Arbeit. Wozu das alles,<br />

fragt sie sich. Aber irgendwie muss es ja weitergehen. Wege entstehen<br />

beim Gehen, sagt sie sich. Sie ist schon viele Wege gegangen. Den richti-<br />

13


undesweiter vorlesetag 2013<br />

gen hat sie noch nicht gefunden. Sie ist frustriert. Sie zieht sich eine Cola<br />

am Automaten. Klack, klack.<br />

Schicksal.<br />

Schnell muss sie von ihrer Freundin noch die Englischhausaufgaben abschreiben.<br />

Sie nimmt ihren Ranzen als Schreibunterlage. Sie hat nur noch<br />

fünf Minuten. Dann kommt die Bahn. Sie hatte keine Zeit für Hausaufgaben.<br />

Sowieso ist ihr Leben viel zu ereignisreich, als das sie Lust hätte, sich<br />

mit Schule zu beschäftigen. Sie hat Wichtigeres im Kopf. Jungs zum Beispiel.<br />

Da ist dieser süße Typ in ihrer Parallelklasse. Blonde Haare, blaue<br />

Augen. Jakob heißt er. Der gefällt ihr schon länger. Aber sie traut sich nicht,<br />

ihn anzusprechen. Und dann will sie heute Nachmittag noch zu H&M. Die<br />

haben eine neue T-Shirt-Kollektion herausgebracht. <strong>Mit</strong> Glitzersteinen. So<br />

ein Shirt muss sie unbedingt haben. Und Nagellack. Den muss sie auch<br />

noch kaufen. Den darf sie bloß nicht vergessen.<br />

Schicksal.<br />

Pünktlich sein leicht gemacht<br />

von Annika Hauzel<br />

Von den ersten Sonnenstrahlen, die wärmend meine Wangen in helles Licht<br />

tauchen, wache ich auf. Entspannt öffne ich meine Augen und blicke in meinem<br />

Schlafzimmer umher. Es scheint noch nicht 9.00 Uhr zu sein, sonst<br />

hätte mein Wecker geklingelt. Ich könnte <strong>mich</strong> nochmal umdrehen und weiterschlafen,<br />

aber die Sonne strahlt überraschend intensiv durch die Spalten<br />

meiner Jalousie. Noch ein wenig verträumt blicke ich auf meinen Wecker<br />

und traue meinen Augen nicht: Es ist schon 10.18 Uhr? Ich bin viel zu spät.<br />

Um 1.00 Uhr beginnt heute meine Vorlesung, die pünktlich zu erreichen mit<br />

einem eigenen Auto kein Problem wäre. Aber als Student kann man sich ja<br />

nicht alles leisten und so zähle ich auf die Hilfe von Bus und Bahn.<br />

14


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

„Nicht schon wie<strong>der</strong>“, denke ich und renne ins Bad, um <strong>mich</strong> schnell fertig<br />

zu machen. Nach erstaunlichen 14 Minuten bin ich bereit, schnappe mir<br />

meinen Rucksack und eile aus meiner Wohnung zur Haltestelle. Zum Glück<br />

genau pünktlich, um meinen Bus zu bekommen. Während er zielstrebig<br />

den Weg nach Wiesbaden einschlägt, lenke ich <strong>mich</strong> mit dem Lesen eines<br />

spannenden Buches ab. Auf <strong>der</strong> Autobahn angekommen, bremst <strong>der</strong> Bus<br />

plötzlich ab und ich schaue erschrocken nach vorn: Stau! Ich werde wohl<br />

doch zu spät kommen.<br />

Nachdem <strong>der</strong> Bus die Unfallstelle hinter sich gelassen hat, zieht die Landschaft<br />

auf dem restlichen Weg zum Wiesbadener Bahnhof schnell an meinem<br />

Fenster vorbei. Ich haste in den Bahnhof, in <strong>der</strong> leisen Hoffnung, trotz<br />

<strong>der</strong> Verspätung meine Bahn noch zu erwischen. <strong>Mit</strong> <strong>jedem</strong> <strong>Schritt</strong>, <strong>der</strong><br />

<strong>mich</strong> dem Gleis <strong>näher</strong> <strong>bringt</strong>, verblasst meine Hoffnung ein bisschen mehr.<br />

Der Zug steht noch da, allerdings haben sich schon alle Türen geschlossen<br />

und als ich in Reichweite <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>sten Tür komme, setzt sich die Bahn mit<br />

einem Ruck in Bewegung. Ich stampfe auf und ärgere <strong>mich</strong>!<br />

Da kommt ein Mann mit schwarzem Hut und einer runden Brille auf <strong>mich</strong><br />

zu und spricht <strong>mich</strong> mit <strong>der</strong> typischen Werbe- und Anpreisstimme an: „Haben<br />

Sie sich verspätet und mal wie<strong>der</strong> Ihre S-Bahn verpasst? Denken Sie,<br />

dass Sie sich damit abfinden müssen? Ab heute nicht mehr, denn nun gibt<br />

es die <strong>…</strong>“ Hier schalte ich ab. Nicht schon wie<strong>der</strong> jemand, <strong>der</strong> mir einen<br />

Vertrag aufdrücken will, damit ich eine beliebige Zeitung für drei Monate<br />

kostenlos lesen darf. Wahrscheinlich möchte er mir sagen, dass ich ab heute<br />

immer Zeitung im Bahnhof lesen kann, wenn ich mal wie<strong>der</strong> die Bahn<br />

verpasst habe. Ich starre in die funkelnden Augen des Mannes, die hinter<br />

seiner silbernen Brille unnatürlich groß wirken, und merke nach einigen<br />

Sekunden, dass er schon länger nichts mehr sagt. „Nein danke, ich möchte<br />

keine Zeitung testen“, entgegne ich höflich und will <strong>mich</strong> gerade umdrehen,<br />

als er kopfschüttelnd „Das sollen Sie doch auch gar nicht“ entgegnet.<br />

Er drückt mir einen Flyer in die Hand, läuft einige <strong>Schritt</strong>e rückwärts und<br />

verschwindet lächelnd in einer Menschentraube, die gerade aus einer Bahn<br />

gequollen ist und zum Ausgang des Bahnhofs strömt.<br />

Verwirrt blicke ich auf den Flyer in meiner Hand und lese seine Aufschrift:<br />

Haben Sie Ihre Verbindung verpasst, müssen aber dringend Ihr Ziel erreichen?<br />

Dann haben wir die Lösung für Sie – Zeitreisen. Der neue Service des<br />

<strong>RMV</strong> macht es möglich: An ausgewählten Orten befinden sich Kabinen,<br />

mit denen Sie bis zu 30 Minuten in die Vergangenheit reisen können.<br />

15


undesweiter vorlesetag 2013<br />

Neben dem Text befindet sich ein mit „Jetzt auch am Wiesbadener Bahnhof“<br />

betiteltes Bild eines kleinen Containers mit Stuhl. Der schmale Eingang<br />

des Containers ist mit einem roten Tuch verhangen. Ich stecke den<br />

Flyer unachtsam in meinen Rucksack und weil ich sowieso nichts Besseres<br />

zu tun habe und 30 Minuten überbrücken muss, mache ich <strong>mich</strong> auf die<br />

Suche nach dieser Zeitreise-Kabine.<br />

Weil sie Ähnlichkeit mit einem Foto-Automaten hat, gehe ich zielstrebig an<br />

den Hinterausgang des Bahnhofs, wo ich tatsächlich neben dem Foto-Automaten<br />

die Zeitreise-Kabine entdecke, die genauso wie auf meinem Flyer<br />

abgebildet aussieht. Seltsam, dass hier sonst niemand steht. Die Menschen<br />

laufen einfach vorbei, ohne die neue Kabine eines Blickes zu würdigen.<br />

Weil ich nun neugierig bin, schiebe ich <strong>mich</strong> durch den schmalen Eingang,<br />

ziehe den Vorhang hinter mir zu und schaue <strong>mich</strong> im hell beleuchteten Inneren<br />

um. Hier gibt es nicht viel außer einem Touchscreen mit <strong>der</strong> Uhrzeit<br />

und einen roten Knopf. „Was soll‘s“, denke ich mir, schaue auf meine Uhr<br />

und ziehe 15 Minuten <strong>der</strong> jetzigen Uhrzeit auf dem Touchscreen ab. Dann<br />

drücke ich entschlossen auf den roten Knopf und schaue <strong>mich</strong> um. Es hat<br />

sich nichts verän<strong>der</strong>t. Mir ist es plötzlich sehr peinlich in dieser Kabine zu<br />

sitzen und ich schiebe mit rotem Kopf den Vorhang beiseite, um schnell zu<br />

verschwinden.<br />

Als ich auf dem Weg in den Bücherladen bin, um mir Neuerscheinungen<br />

anzusehen, komme ich an <strong>der</strong> Anzeigetafel vorbei und riskiere einen Blick<br />

darauf. Schon in vier Minuten fährt meine S-Bahn? Wie lang saß ich denn<br />

in <strong>der</strong> Kabine? Erschüttert schaue ich auf meine Uhr und stelle fest, dass<br />

ich eigentlich noch im Bus sitzen müsste, <strong>der</strong> staubedingt erst gleich am<br />

Bahnhof hält. Ohne weiter darüber nachzudenken, renne ich zu meinem<br />

Gleis und springe in die Bahn. An diesem Tag komme ich pünktlich zur Vorlesung.<br />

Als ich einige Tage danach wie<strong>der</strong> zu spät am Bahnhof ankomme und meine<br />

Bahn verpasse, weiß ich gleich, was zu tun ist. Ich laufe zum Hinterausgang<br />

und will die Kabine ein zweites Mal benutzen, doch an ihrer Stelle<br />

steht hier nur ein Post-Automat. Sie ist verschwunden. Das kann doch nicht<br />

sein. Plötzlich ärgere ich <strong>mich</strong> über meine Naivität. Wahrscheinlich habe<br />

ich das nur geträumt, wer kann schon durch die Zeit reisen? Ich sollte das<br />

lieber niemandem erzählen.<br />

16


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Um die Zeit bis zur nächsten Bahn zu überbrücken, setze ich <strong>mich</strong> auf eine<br />

Bank im Bahnhof und ziehe mein Buch aus dem Rucksack, das noch ein<br />

Stück Papier mit sich reißt, das langsam zu Boden gleitet. Ich hebe es auf<br />

und sehe den Flyer zur Zeitreise-Kabine. War es also doch kein Traum?<br />

Obuganies<br />

von Nicole Opitz<br />

„Oh Mann, jetzt haben wir die S-Bahn verpasst“, Leonie sah auf die Anzeigetafel<br />

und ließ frustriert ihren rechten Fuß über den Boden kreisen. Sie<br />

wollte nicht schon wie<strong>der</strong> zu spät zum Volleyballtraining kommen. Auf dem<br />

gegenüberliegenden Gleis beobachtete sie, wie ein Zug mit <strong>der</strong> Aufschrift<br />

„Bitte nicht einsteigen, Zug endet hier“ einfuhr. „Hey, wo fährt <strong>der</strong> Zug eigentlich<br />

hin?“, fragte Elias plötzlich verträumt. Leonie schmunzelte: „Das<br />

ist eine gute Frage – dass <strong>der</strong> Zug tatsächlich hier endet, kann nicht sein,<br />

denn dann würde er für immer hier stehen bleiben. Irgendwo muss er ja<br />

hinfahren.“ Verschmitzt sahen die beiden sich an. „Meinst du wirklich?“,<br />

grinste Leonie. Auf einmal stand eine faszinierende Frage zwischen den<br />

beiden, die Elias‘ Augen funkeln ließ.<br />

Nachdem Leonie entschlossen nickte, rannten sie zum an<strong>der</strong>en Gleis. „Die<br />

Türen sind noch offen, das Licht leuchtet grün“, Leonie war so aufgeregt,<br />

dass sie sich einbildete, man könne am gesamten Bahnhof ihren Herzschlag<br />

hören.<br />

Den Arm, den Elias sonst immer lässig runterhängen ließ, hob er entschlossen<br />

an, sodass er im rechten Winkel zu seinem Körper stand, seine Fingerspitzen<br />

zeigten auf den Auslöser zum Zugöffnen. Er drehte ruckartig den<br />

Kopf nach links: „Soll ich?“, fragte er Leonie grinsend. „Na sicher.“ Und<br />

innerhalb von zwei Sekunden waren sie im Zug verschwunden und versteckten<br />

sich auf <strong>der</strong> Toilette. Es war stockduster. Nach einigen Minuten<br />

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undesweiter vorlesetag 2013<br />

wurde Leonie ungeduldig und verdrehte die Augen, bis sie merkte, dass es<br />

im Dunklen niemand sehen konnte. Leonie und Elias mussten lange warten,<br />

bis sich <strong>der</strong> Zug in Bewegung setzte. Vorsichtig öffnete Leonie die Tür.<br />

„Endlich! Ich hatte schon das Gefühl, in diesem Kabuff zu ersticken“, sagte<br />

sie genervt und fing an durch das nächste Abteil zu tanzen. „Du spinnst<br />

total“, meinte Elias und schüttelte energisch den Kopf. Er setzte sich an<br />

einen Fensterplatz und versuchte zu erkennen, wo sie waren, dabei hielt er<br />

den Blick gespannt auf das Fenster gerichtet und fragte verwun<strong>der</strong>t: „Fahren<br />

wir gerade durch einen Wald?“<br />

Das Ziel des Zuges beschäftigte auch Leonie so sehr, dass die beiden sich<br />

zur Ablenkung lustige Spiele ausdachten. Irgendwann drückte sie ein vehementes<br />

Ruckeln an die Sitze.<br />

„Ich denke, es wäre besser, wenn wir uns jetzt gut festhalten, wer weiß,<br />

was <strong>der</strong> Zug in seiner Freizeit gerne macht“, neckte Elias Leonie, die zuvor<br />

die Augen weit aufgerissen hatte und nun fragte: „Spinne ich jetzt, o<strong>der</strong><br />

fliegen wir?“ –„Du spinnst! Du spinnst wirkli<strong>…</strong>“<br />

Doch bevor er sich aussprach, wurde es blendend hell und sie waren umgeben<br />

von grellem Licht. Die beiden waren sprachlos. Leonie fasste sich als<br />

Erste und begann in Erwägung zu ziehen, dass sie in einen Unfall involviert<br />

waren. „So ein Licht soll man doch angeblich vorm Tod sehen?“ Elias antwortete<br />

nicht, doch das musste er auch gar nicht, denn es fing wie<strong>der</strong> zu<br />

Ruckeln an, als sie begleitet von einem lauten Krachen durch ein Dorf fuhren,<br />

in dem viele Obstbäume standen und die Häuser so klein waren, dass<br />

man meinen konnte, sie wären für Zwerge gebaut. Der Zug hielt schlagartig<br />

in einem dicht besiedelten Dorf und bevor die beiden nach dem Grund suchen<br />

mussten, sahen sie ein Einhorn gemütlich über die Gleise laufen.<br />

„Das gibt’s doch nicht! Sag‘ doch auch mal etwas! Elias!“, Leonie packte<br />

ihn bei den Schultern. Erschrocken hob er den Kopf und gestand, dass er<br />

das alles gar nicht glauben konnte. „Als gäbe es eine reale Phantasiewelt,<br />

von <strong>der</strong> die Medien nie berichten würden. Und was war das Ruckeln vorhin,<br />

das so viel Druck auf unsere Ohren ausübte? Möglicherweise sind wir tatsächlich<br />

geflogen, das würde Sinn machen, denn wir waren zu diesem Zeitpunkt<br />

mitten in einem unbewohnten Wald, von dem aus ein fliegen<strong>der</strong> Zug<br />

ungesehen abheben könnte.“ – „Jetzt bist du aber <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> spinnt.<br />

Dann wären wir doch irgendwo im Himmel!“ Sie grübelten noch lange, wo<br />

sie sich befanden, und wussten nicht genau, ob sie erleichtert o<strong>der</strong> beunru-<br />

18


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

higt sein sollten, als die Wagons in ein größeres Gebäude hineinfuhren, über<br />

dessen Toren in bunten Großbuchstaben „ZUGGARAGE“ stand.<br />

Als <strong>der</strong> Zug im Gebäude hielt, wurde er geputzt von kleinen Wesen, die<br />

eine Art lila Heiligenschein über sich kreisen ließen und Nasen hatten, die<br />

ihnen bis zum Bauchnabel hingen. Leonie kam aus dem Kichern gar nicht<br />

heraus: „Die sehen wahnsinnig ulkig aus.“ Nach kurzer Zeit machten Leonie<br />

und Elias auf sich aufmerksam, indem sie an einem Fenster klopften.<br />

Als die Tür aufging, wurden sie äußerst freundlich von einem beson<strong>der</strong>s<br />

dicken Wesen empfangen, das beim Reden geübt seine Hände durch die<br />

Luft gleiten ließ.<br />

„Willkommen. Über das Glück Besuch zu empfangen freuen wir uns immer<br />

sehr. Es gibt nur wenige, die sich trauen diese Reise anzutreten. Ihr werdet<br />

euch wohl fragen, wer wir sind, warum wir hier arbeiten und wo ihr hier<br />

überhaupt seid. Zur ersten Frage: Wir sind Obuganies. In <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

wurde uns schon oft gesagt, dass wir ähnlich aussehen wie Zwerge,<br />

weil wir sehr klein sind, doch eigentlich haben wir mit den Zwergen, die auf<br />

<strong>der</strong> Erde wohnen, nichts zu tun. Wir sind schließlich auch viel dünner. Zur<br />

nächsten Frage: Im Zugputzen und -reparieren ist unser Geschlecht beson<strong>der</strong>s<br />

begabt und es macht uns auch richtige Freude, was die meisten Menschen<br />

nicht so recht glauben wollen. Wo wir sind, ist schon etwas schwieriger<br />

zu beantworten: Wir sind auf einer künstlich geschaffenen Ebene über<br />

den Erdplatten in <strong>der</strong> Erdatmosphäre. Halt gibt uns ein silberfarbenes <strong>Mit</strong>tel,<br />

das wir alle zwei Jahre über Gras, Fel<strong>der</strong> und Wiesen gießen müssen.<br />

Für Erdenmenschen sind wir deshalb unsichtbar, weil dieses <strong>Mit</strong>tel unter<br />

an<strong>der</strong>em auch dafür sorgt. Ein Chemiekonzern erschuf all das, was ihr hier<br />

sehen könnt, in den Jahren von 1972 bis 2143. Noch etwas sehr Wichtiges!<br />

Diese ‚Welt‘ muss unbedingt geheim gehalten werden, da uns die Erdenpolitik<br />

eine solche Existenz aus Sicherheitsgründen wohl niemals erlauben<br />

würde. Deshalb möchte ich euch bitten, dies hier niemandem zu erzählen.<br />

Nur durch einen solchen Zug, aus dem auch ihr gekommen seid, kann euch<br />

Erdbewohnern Einblick gewährt werden. Ihr seid eingeladen, so lange zu<br />

bleiben, wie ihr möchtet. Nun, macht euch einfach euer eigenes Bild.“<br />

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undesweiter vorlesetag 2013<br />

Schienenersatzverkehr 2.0<br />

von Cordula Hinkes<br />

Ratternd rauschte die Bahn auf Gleis 3 an mir vorbei. „S-Bahn verpasst.<br />

Komme später“, tippte ich in mein Mobiltelefon. So ein Mist! Ich durfte<br />

heute nicht zu spät kommen. Ausgerechnet heute sollte ich eine wichtige<br />

Präsentation vor Kunden halten. Meine Finger schmerzten. Es war eisig kalt<br />

und <strong>der</strong> Wind blies mir kleine, kalte Schneeflocken ins Gesicht. Mir blieb<br />

nichts an<strong>der</strong>es übrig, als zu warten. Meine Füße fühlten sich schon an wie<br />

Eisblöcke. Wo blieb denn nur die nächste Bahn? Laut Anzeigetafel sollte sie<br />

in neun Minuten kommen. Doch Pustekuchen! Nach einer Viertelstunde<br />

war immer noch keine Bahn in Sicht. Seltsam, dass ich heute offenbar die<br />

Einzige war, die am Bahnhof Frankfurt-Nie<strong>der</strong>rad auf eine S-Bahn wartete.<br />

Normalerweise sind die Bahnen zur Hauptverkehrszeit brechend voll mit<br />

Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit sind. Heute dagegen herrschte<br />

gähnende Leere an <strong>der</strong> Haltestelle.<br />

Während ich <strong>mich</strong> über mein verpasstes Meeting ärgerte, kam eine Person<br />

die Treppe zu den Gleisen hinaufgestiegen. Ich musste grinsen. Die Frau<br />

sah einfach zu seltsam aus: lange, zerzauste Haare, knallbunter Mantel,<br />

gras grüne Schuhe und eine rote Riesenbrille auf <strong>der</strong> Nase. „Ob die wohl<br />

denkt, dass Fasching ist?“, dachte ich. Die Frau grinste <strong>mich</strong> an. „Nee, das<br />

ist mein Business-Outfit“, sagte sie verschmitzt. Erschrocken zuckte ich<br />

zusammen. „Was?“ – „Na, du hast dich doch gefragt, ob ich denke, dass<br />

Fasching ist. Und das tu ich nicht. Ich mag es nur bunt“, entgegnete sie.<br />

„Können Sie etwa Gedanken lesen?“, fragte ich skeptisch. „Klar kann ich<br />

das. Und noch so einiges mehr“, meinte die bunte Dame. „Ich kann zum<br />

Beispiel in die Zukunft sehen.“ Nervös sah ich <strong>mich</strong> um. Aber außer mir<br />

und <strong>der</strong> seltsamen Frau waren lei<strong>der</strong> immer noch keine an<strong>der</strong>en Menschen<br />

auf dem Bahnhof zu sehen. „Äh, okay, und was sehen Sie da so?“, fragte<br />

ich vorsichtig. „Zum Beispiel, dass heute keine S-Bahn mehr fahren wird.<br />

Zu viel Schnee, vereiste Gleise.“ Ich schaute zur Anzeigetafel. Dort war die<br />

nächste Bahn immer noch in neun Minuten angekündigt. „Aha. Sind Sie da<br />

sicher?“ – „Natürlich!“, nickte sie. „Ich bin schließlich eine Helferhexe, und<br />

Helferhexen können in die Zukunft sehen. Zumindest in die Zukunft ihrer<br />

Schützlinge. Ist doch auch logisch, wie soll man denn sonst mitkriegen,<br />

20


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

dass jemand Hilfe benötigt?“ Sie grinste. Ich sah sie leicht verärgert an.<br />

„Helferhexe? Was soll das denn bitte sein? Ist das so ein Sektenkram? Für<br />

so einen Blödsinn habe ich echt keine Zeit; ich verpasse ein wichtiges Meeting“,<br />

schnaubte ich. Sie kicherte. „Das wirst du, wenn du <strong>dir</strong> hier weiter<br />

den Allerwertesten abfrierst und auf Züge wartest, die nicht kommen werden!“<br />

Ich fischte mein Handy aus <strong>der</strong> Jackentasche und wünschte, ich hätte<br />

meine Handschuhe nicht zuhause vergessen.<br />

„Dann rufe ich mir eben jetzt ein Taxi.“ Doch die Taxizentrale erklärte mir<br />

freundlich, dass sie wegen <strong>der</strong> extremen Schneeverwehungen ihren Dienst<br />

heute bis auf weiteres eingestellt hätten, da sie die Sicherheit <strong>der</strong> Fahrgäste<br />

unter den aktuellen Bedingungen nicht gewährleisten könnten. Die Frau,<br />

die sich für eine Hexe hielt, grinste <strong>mich</strong> immer noch an. „Das ist überhaupt<br />

nicht lustig! Ich muss zu einem wichtigen Meeting und habe keine Ahnung,<br />

wie ich das schaffen soll, wenn offensichtlich alle Verkehrsmittel ausgefallen<br />

sind“, schimpfte ich. „Du musst das als Wunsch formulieren, sonst<br />

funktioniert es nicht“, erklärte sie. Ich starrte sie an. „Äääh – Ich wünsche,<br />

dass ich rechtzeitig zu diesem Meeting komme“, formulierte ich. „Siehst<br />

du, geht doch!“, strahlte die verrückte Frau <strong>mich</strong> an. Motiviert begann sie,<br />

in ihrer riesigen Umhängetasche zu wühlen. „Tadaa!“ Sie zog etwas heraus,<br />

das wie ein run<strong>der</strong> Zollstock mit Pferdeschwanz aussah. „Das soll jetzt<br />

die Lösung meiner Probleme sein, o<strong>der</strong> was?“, spottete ich. Sie lächelte<br />

nur und klappte den Zollstock auseinan<strong>der</strong>. „Das ist ein Klappbesen; sehr<br />

praktisch, passt in jede Handtasche und ist genauso stabil und magisch<br />

wie ein normaler Besen“, erklärte sie mit ernster Stimme. „Und er ist deine<br />

einzige Chance, noch rechtzeitig zu deinem total wichtigen Meeting zu<br />

kommen. Auf den Straßen fährt heute nix – Schneechaos!“ Ich seufzte tief.<br />

Die Frau hatte eindeutig einen Knall. Aber auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite war sie<br />

gerade tatsächlich meine letzte Chance. Also fasste ich allen Mut zusammen<br />

und nahm hinter ihr auf dem Klappbesen Platz. „Startklar?“, fragte sie.<br />

„Startklar!“, antwortete ich, während mir insgeheim das Herz in die Anzugshose<br />

rutschte. Und schon hoben wir langsam vom Boden ab. Ich fragte<br />

<strong>mich</strong>, ob <strong>der</strong> Klappmechanismus das Gewicht von zwei erwachsenen<br />

Menschen wohl tragen würde, aber offenbar waren bei magischen Klappbesen<br />

gewisse physikalische Gesetze außer Kraft gesetzt. <strong>Mit</strong>tlerweile<br />

schwebten wir bereits etwa fünf Meter über dem Boden. Nach einem kurzen<br />

Blick nach unten entschied ich, besser die Augen zu schließen und vor<br />

allem nicht darüber nachzudenken, dass ich mit einer sogenannten Helferhexe<br />

auf einem Klappbesen flog. „Wie viel Zeit haben wir noch?“, rief die<br />

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undesweiter vorlesetag 2013<br />

Hexe. Ich öffnete ein Auge, um auf meine Armbanduhr zu schielen. „Nur<br />

noch zehn Minuten! Das schaffen wir nie!“ Sie lachte: „Das wollen wir<br />

doch mal sehen!“ Und schon beschleunigten wir auf gefühlte 50 km/h. Mir<br />

wurde leicht flau im Magen. Wenn man keinen Straßenverkehr berücksichtigen<br />

muss, erreicht man erstaunlich schnell die Frankfurter Innenstadt,<br />

stellte ich fest. Und schon setzte die Hexe zum Landeanflug auf einem Hinterhof<br />

an. „Damit wir keine Aufmerksamkeit erregen“, erklärte sie. „Von<br />

hier aus sind es noch zwei Minuten zu Fuß bis zu deinem Büro. Das schaffst<br />

du pünktlich!“<br />

Rums! Etwas unsanft landeten wir auf dem Boden. Ich habe <strong>mich</strong> selten so<br />

erleichtert gefühlt wie in diesem Moment. „Vielen Dank für diesen ungewöhnlichen<br />

Transport!“ Ich schüttelte <strong>der</strong> Hexe die Hand. „Was für ein<br />

Glück, dass ich dich am Bahnhof getroffen habe.“ Sie grinste. „Das war kein<br />

Glück! Ich bin eine Helferhexe, schon vergessen? Ich habe <strong>mich</strong> in meiner<br />

Hexenausbildung auf Logistik und Transportwesen spezialisiert und spüre,<br />

wenn jemand irgendwo den Dienst meines Klappbesens benötigt. Und<br />

jetzt lauf schon los, sonst kommst du doch noch zu spät!“ Sie klappte ihren<br />

Besen wie<strong>der</strong> auf. Einen Augenblick später war sie nur noch als bunter<br />

Fleck am Himmel zu erkennen. Und ich kam tatsächlich noch pünktlich zu<br />

meiner Präsentation.<br />

Auf den zweiten Blick<br />

von Lisa Bappert<br />

Die Mauer unter seinen schlanken Fingern war kalt und hart, unnachgiebig<br />

in jeglicher Hinsicht. Doch genau das war es, wonach es ihm gerade verlangte.<br />

Sie gab ihm halt. Seine grauen Augen suchten den dämmrig beleuchteten<br />

Bahnsteig ab. 4.03 Uhr zeigte die Uhr unter <strong>der</strong> Zuganzeige an.<br />

Er hatte die S-Bahn verpasst. Der letzte Zug nach Hause. Was hieß Zuhause?<br />

Ein kleines Zimmer voller einfacher Möbel in einer <strong>der</strong> äußersten Bezirke<br />

von Frankfurt. Gerade so viel, wie sich ein Student leisten konnte. Und<br />

jetzt? Er würde es nicht mehr nach Hause schaffen.<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Matt glitt er die kalte, geflieste Mauer hinab und saß auf dem harten Boden.<br />

Die kühle des viel zu kalten Märzes drang durch seine Finger, den Stoff<br />

seines knielangen, grauen Wollmantels und kroch bis tief hinein in seinen<br />

Körper. Er wusste, dass nur er alleine Schuld an diesem Zustand hatte.<br />

Wäre er dem verführerischen Kuss <strong>der</strong> Opiate nur niemals erlegen. Wie<br />

eine Schlinge hatten sie sich um seinen Hals gezogen und schnürten ihm<br />

nun mehr und mehr die Luft ab. Er wusste es und hatte versucht damit<br />

aufzuhören, es hinter sich zu lassen. Er wollte einfach nur nach Hause <strong>…</strong><br />

Seine hellen Augen suchten den Bahnsteig entlang und erfassten die wenigen<br />

Menschen, die sich um diese Uhrzeit an <strong>der</strong> Haltestelle Zoo aufhielten.<br />

Ein Manager, gut erkennbar an seinem akkurat sitzenden, hellen Anzug mit<br />

<strong>der</strong> blauen Krawatte über dem weißen Hemd. Der Mann hob den Blick,<br />

bemerkte die grauen Augen, die ihn beobachteten, und sah immer wie<strong>der</strong><br />

nervös auf die teure Uhr an seinem Armband, ehe er aus dem Pappbecher<br />

voller Kaffee trank. Eine Frau, etwa 22 Jahre, stand vor dem Plexiglas des<br />

Fahrplanaushangs und schien offenkundig nach ihrer Verbindung zu suchen.<br />

Einen Moment lang huschten ihre Augen zu ihm hinüber, dann waren<br />

diese wie<strong>der</strong> ganz mit ihrer Aufgabe <strong>der</strong> Suche beschäftigt. Sie kam<br />

offenkundig von einer Party, denn außer einem kurzen Rock mit Strumpfhosen<br />

trug sie nichts unterhalb <strong>der</strong> knielangen, dicken Winterjacke. In <strong>der</strong><br />

rechten Hand hielt sie ihre High-Heels, ganz so als seien diese Waffen zur<br />

Selbstverteidigung.<br />

Zwei Reihen weißer, unbequemer Plastikstühle reihten sich zu beiden Seiten<br />

des Bahnsteiges. Einer <strong>dir</strong>ekt in <strong>der</strong> Nähe von ihm, auf welchem eine<br />

Frau mittleren Alters saß. Sie blickte zu ihm, umfasste ihre Handtasche und<br />

schritt eilig zu <strong>der</strong> Bankreihe ihr gegenüber. Sie murmelte etwas, das wie<br />

„Pack“ und „Gesocks“ klang. Seltsam, vor kurzem hatte sie noch neben<br />

und mit ihm gefeiert.<br />

Seine fahlen Lippen zierten ein verächtliches Lächeln. So sehr nach „Pack“<br />

sah er doch gar nicht aus. Unter dem dunklen Wollmantel trug er ein flie<strong>der</strong>farbenes<br />

Hemd, dazu eine saubere, schwarze Hose. Was war daran bitte<br />

nicht in Ordnung? Er fuhr sich mit zitternden Händen über die Stirn,<br />

spürte den kalten Schweiß. Sein Körper schrie nach den Opiaten. Er wollte<br />

sie unbedingt. Doch er wehrte sich dagegen. Er kam eh nicht mehr nach<br />

Hause. Es war zu spät, seine Linie fuhr nicht mehr. Vielleicht schlief er ja an<br />

<strong>der</strong> Wand des Bahnsteiges ein. Es würde niemanden kümmern. Niemand<br />

würde danach fragen wie ...<br />

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undesweiter vorlesetag 2013<br />

Eine ältere Dame betrat den Bahnsteig und warf ihm einen Blick zu, ehe sie<br />

sich auf einen <strong>der</strong> weißen Plastikstühle in <strong>der</strong> <strong>dir</strong>ekten Nähe zu ihm setzte.<br />

Unter ihrer Winterjacke trug sie ein einfaches, geblümtes Kleid. Das weiße<br />

Haar war ordentlich gekämmt und aus warmen, dunklen Augen sah sie zu<br />

ihm hinab, blickte einen Moment den Bahnsteig entlang.<br />

„Es ist so viele Jahre her“, sagte sie leise. „Ich kam jeden zweiten <strong>Mit</strong>twoch<br />

im Monat, um meinen späteren Mann von seinen Armeeeinsätzen abzuholen.<br />

Ich war damals gerade erst 18 geworden.“ Sie lächelte und blickte zu<br />

ihm hinab.<br />

„Sie sehen ihm sogar ähnlich. Sie haben die gleichen traurigen Augen. Sie<br />

wirken so verloren“, sagte sie besorgt und musterte ihn genauer. Er seufzte<br />

schwer und strich sich mit dem Hemdärmel erneut über die Stirn. Der gesamte<br />

Stoff seines Hemdes war durchnässt und die Kälte kroch ungehin<strong>der</strong>t<br />

seine Glie<strong>der</strong> hinauf.<br />

„Wollen Sie nach Hause?“, erkundigte sie sich und er nickte.<br />

„Wann kommt denn Ihre S-Bahn?“ Irgendwann in einigen Stunden erinnerte<br />

er sich, wann genau wusste er nicht mehr. Er gab ihr zur Antwort, dass<br />

es noch dauern würde, und bemerkte ihren zutiefst besorgten Blick.<br />

„Wissen Sie was. Sie können mit mir fahren. Ich habe zwar nur eine kleine<br />

Couch, aber hier draußen werden Sie erfrieren.“ Er blinzelte irritiert, hob<br />

matt den Kopf. Hatte eine fremde Dame, eine Frau, die ihn nicht kannte,<br />

ihm gerade ihre Couch angeboten.<br />

„Aber Sie kennen <strong>mich</strong> nicht“, murmelte er. Sie lächelte sanft und zuckte<br />

mit den Schultern.<br />

„Und? Ich habe nichts Wertvolles zu Hause, das Sie mir wegnehmen könnten“,<br />

sagte sie und beugte sich hinab. „Außerdem sind Sie kein schlechter<br />

Mensch.“<br />

Er vernahm das quietschende Geräusch einer S-Bahn und kaum später<br />

donnerte das Gefährt wie ein wildes Monster mit ohrenbetäubendem Lärm<br />

ein. Die ältere Dame erhob sich und streckte ihm mit einem Lächeln die<br />

Hand hin, ergriff seinen Arm.<br />

„Kommen Sie. Ich helfe Ihnen. Fahren wir erst einmal.“ Er überlegte nicht<br />

einen Moment, ließ sich jedoch dann wi<strong>der</strong>standslos von ihr mitnehmen.<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Sie fuhren drei Stationen und kamen bei Alte Oper heraus. Sie schritt zu <strong>der</strong><br />

schmalen, grünen Tür mit <strong>der</strong> goldenen Hausnummer und öffnete diese.<br />

„Kommen Sie.“ Behutsam legte sie ihm die Hand auf den Rücken und<br />

schob ihn sanft, aber bestimmend in den Hausflur.<br />

Ihre Wohnung war einfach eingerichtet. Zwei Zimmer, ein winziges Bad.<br />

„Ich suche Ihnen etwas Frisches zum Anziehen heraus“, sagte sie und<br />

schob ihn in das Badezimmer.<br />

„Ich würde <strong>mich</strong> freuen, wenn Sie morgen noch zum Frühstück da wären“,<br />

sagte sie noch, ehe er die Badezimmertür schloss. Keuchend sank er zu Boden<br />

und spürte in seinem Rücken das warme Gehäuse einer Heizung. Diese<br />

Dame, er kannte nicht einmal ihren Namen, hatte ihm tatsächlich geholfen.<br />

Er blickte in den bodenlangen Spiegel ihm gegenüber, musterte die<br />

kurzen, schwarzen Lockenhaare und die grauen Augen, den gesamten zitternden<br />

Körper. Es war Schicksal, dass sie ihn gefunden hatte, und sein<br />

Glück, dass sie mehr gesehen hatte als nur den Junkie.<br />

Unterwegs zu<br />

unbekanntem Ziel<br />

von Maike Ruprecht<br />

Neulich hielt <strong>der</strong> <strong>RMV</strong> eine Überraschung für <strong>mich</strong> bereit.<br />

Ich nahm an, ich säße in <strong>der</strong> S4 Richtung Kronberg, <strong>der</strong> Zugzielanzeiger<br />

(ein wun<strong>der</strong>hübsches Wort übrigens) belehrte <strong>mich</strong> in grünleuchtenden<br />

Lettern eines Besseren. Dort stand kurz und bündig KRONB.<br />

„Interessant!“, dachte ich.<br />

Da war ich auch noch nicht. Mehr noch, habe ich bislang von <strong>der</strong> Existenz<br />

eines solchen Ortes nicht einmal etwas geahnt.<br />

25


undesweiter vorlesetag 2013<br />

Was mir irgendwie ganz lieb war, klang <strong>der</strong> Name doch unerfreulich grob<br />

und alles an<strong>der</strong>e als angenehm. Seine phonetische Gestalt beschwor in<br />

meinem Kopf Bil<strong>der</strong> herauf, von einer kargen Felslandschaft, bevölkert von<br />

einem uralten, verbitterten Zwergenvolk, das seinen Tag damit ver<strong>bringt</strong>,<br />

auf verhornten kleinen Füßen durch eine düstere Gegend zu schlurfen, immerzu<br />

„KRONB, KRONB!“ vor sich hinmurmelnd.<br />

Sozusagen ein Anti-Schlumpfhausen. Keine schöne Vorstellung.<br />

Gut, dass ich nicht bis dorthin fahren musste, dieses Schicksal wollte ich<br />

nicht teilen.<br />

Mein Ziel lag nur eine Station in westlicher Richtung von <strong>der</strong> Hauptwache<br />

entfernt und wurde in diesem Moment, jedenfalls ungefähr, auf <strong>der</strong> Zugzielanzeige<br />

angezeigt: TAUNUSA.<br />

Nun, das hörte sich schon bedeutend freundlicher an.<br />

TAUNUSA, wo mag das liegen? Irgendwo hinter den sieben Bergen? Ich<br />

bezweifelte, dass <strong>der</strong> <strong>RMV</strong> sein Schienennetz bereits so weit ausgebaut<br />

hat.<br />

Wohin also wird <strong>mich</strong> diese S-Bahn bringen?<br />

Ist TAUNUSA gar eine sagenhafte Wolkenstadt? Bestimmt verfügt <strong>der</strong><br />

<strong>RMV</strong> über eine bislang geheime Baureihe von fliegenden S-Bahn-Wagen,<br />

und ich und meine <strong>Mit</strong>reisenden sind auserwählt an <strong>der</strong> ersten Testreihe<br />

teilzunehmen. Von gespannten Erwartungen erfüllt, schaute ich aus dem<br />

Fenster. Jeden Moment werden wir uns von unseren irdischen Schienen<br />

lösen, hochmo<strong>der</strong>ne und zugleich mystische Flügel werden sich entfalten<br />

und uns mitsamt <strong>der</strong> S-Bahn in den Himmel emportragen, wo die Wolkenstadt<br />

TAUNUSA uns erwartet.<br />

Ich hoffte nur, dass unsere Luftreise nicht allzu lange dauert, wollte ich<br />

doch zu meiner Verabredung in dem unverhofften Shangri-La nur ungern<br />

zu spät kommen.<br />

Lei<strong>der</strong> geschah nichts Außergewöhnlicheres, als dass wir kurz darauf die<br />

Station Taunusanlage erreichten. Die entscheidende Abzweigung nach<br />

TAUNUSA hat die S-Bahn verpasst, o<strong>der</strong> wir waren eben doch nicht die<br />

Auserwählten.<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Dennoch ein großartiges Erlebnis, zu welch phantastischen, nie gekannten<br />

Orten einen <strong>der</strong> <strong>RMV</strong> zu beför<strong>der</strong>n vermag, und sei es nur in meiner Phantasie,<br />

beflügelt durch eine defekte Zugzielanzeige.<br />

Was für ein Tag!<br />

von Gabriele Kentrup<br />

Der Tag, <strong>der</strong> so wichtig war für Gisbert Frickelmann, fing lei<strong>der</strong> nicht gut an:<br />

Erst war er nach dem Duschen auf dem glatten Badezimmerboden ausgerutscht<br />

und mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen, ein Umstand, <strong>der</strong><br />

im Laufe des Tages noch zu einer schmerzhaften Beule am Hinterkopf führen<br />

sollte. Dann war sein Frühstücksei steinhart geworden, weil genau in<br />

dem Moment, wo er den Topf mit dem Ei vom Herd nehmen wollte, das<br />

Telefon klingelte. Wie schon befürchtet, war es seine Mutter, mit <strong>der</strong> ihn<br />

seit Jahr und Tag eine ausgeprägte Hassliebe verband. Da sie seit einiger<br />

Zeit unter Schlaflosigkeit litt, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht,<br />

ihren inzwischen 40-jährigen Sohn schon in aller Frühe anzurufen und ihn<br />

mit den neuesten Informationen zu ihrem Lieblingsthema „Was tun gegen<br />

Schlaflosigkeit?“ zu beschallen. Es hatte gute zwanzig Minuten gedauert,<br />

bis es Gisbert schließlich gelungen war, das Gespräch zu beenden, zuletzt<br />

mit dem auch ihr einleuchtenden Argument, er werde noch zu spät zu seinem<br />

Vorstellungsgespräch kommen. Ganz zum Schluss bemerkte sie noch,<br />

sie müsse unbedingt bald mit ihm über die Auswahl <strong>der</strong> neuen Frühjahrskollektion<br />

für ihren geliebten Pudel sprechen.<br />

Trotz Beule, hartem Ei und nervtötendem Telefonat mit seiner Mutter hatte<br />

Gisbert das gute Gefühl, dass heute sein Leben neu beginnen würde! Drei<br />

Monate Arbeitslosigkeit lagen hinter ihm, drei Monate, in denen nicht nur<br />

sein Selbstbewusstsein, son<strong>der</strong>n auch seine Sozialkontakte gelitten hatten,<br />

und in denen er in Frust, Langeweile und eigenen technischen Erfindungen<br />

von zweifelhaftem Nutzen versumpft war, aber nun schöpfte er Hoffnung,<br />

27


undesweiter vorlesetag 2013<br />

jedenfalls jobmäßig gesehen. In einem Wochenblatt hatte er unter <strong>der</strong><br />

Überschrift „Dem Ingenieur ist nichts zu schwör“ eine Stellenanzeige entdeckt,<br />

die zu ihm passte wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Auch das<br />

telefonische Vorgespräch mit dem Chef <strong>der</strong> kleinen Firma Daniel D., die<br />

ihm sehr sympathisch war, war viel versprechend verlaufen. Herr Flitzebeil<br />

hatte sich sogar für eine seiner Erfindungen interessiert!<br />

Heute sollte Gisbert um 08.30 Uhr bei <strong>der</strong> Firma Daniel D. sein, die nur wenige<br />

Gehminuten von <strong>der</strong> Hauptwache entfernt ihren Sitz hatte. Die Uhr<br />

zeigte 07.45 Uhr. Für den Fußweg von seiner Wohnung in <strong>der</strong> Alexan<strong>der</strong>straße<br />

zum Bahnhof Rödelheim brauchte er 5 Minuten, und die Fahrt von<br />

Rödelheim zur Hauptwache dauerte 13 Minuten. Die S-Bahn um 07.57 Uhr,<br />

um 08.07 Uhr o<strong>der</strong> allerspätestens um 08.12 Uhr würde also reichen, wenn<br />

nicht ein plötzlicher Wintereinbruch dazwischenfunkte. Schnell schlüpfte<br />

er jetzt in Slip, Unterhemd und Socken, zog ein frisches Hemd an und griff<br />

nach seinem Anzug, den er am Vorabend extra gebügelt hatte. Plötzlich fiel<br />

ihm auf, dass seine Schuhe nicht geputzt waren. Statt schwarz waren sie<br />

schmierig grau. Das ging natürlich gar nicht! Kurzerhand beschloss er, das<br />

Schuhputzzeug mitzunehmen und sich die Schuhe in <strong>der</strong> S-Bahn zu putzen.<br />

Schnell steckte er die Schuhcreme in die rechte und einen Lappen in<br />

die linke Jackentasche. Dann kämmte er sich noch schnell die Haare und<br />

verließ eilig, die Bewerbermappe unter dem Arm, das Haus.<br />

Als Gisbert den Bahnhof erreichte, war die S-Bahn von 07.57 Uhr schon da,<br />

und die grünen Lichter <strong>der</strong> Türen gingen soeben aus. Er fluchte auf den<br />

<strong>RMV</strong>, auf seine Mutter und schließlich auf sich selbst. Na gut, dann würde<br />

er die Schuhe eben HIER putzen. Er setzte sich auf eine Bank, nahm die<br />

Schuhcreme heraus, drückte jeweils eine großzügige Portion auf jeden<br />

Schuh und machte sich mit dem Lappen ans Werk, was ihm ungläubige<br />

Blicke vorbeihasten<strong>der</strong> Fahrgäste eintrug. Kurze Zeit später erstrahlten seine<br />

Schuhe in neuem Glanz, aber ach: Schwarz waren nun auch seine Fingerkuppen<br />

und die Fingernägel. Sie sahen aus wie früher nach einem Ölwechsel,<br />

damals, als er noch ein Auto besessen hatte und keine Jahreskarte<br />

des <strong>RMV</strong>. Wo sollte er sich denn jetzt bloß die Hände waschen? Die<br />

nächste S-Bahn konnte er jedenfalls vergessen. Unweit des Bahnhofs befand<br />

sich zum Glück eine Eckkneipe, wo sich um die Uhrzeit schon einige<br />

Leute an ihrem Kaffee festhielten. Er flitzte hinein und bat darum, die Toilette<br />

benutzen zu dürfen. Als er schließlich mit sauberen Händen wie<strong>der</strong> auf<br />

den Bahnsteig gehetzt kam, hatte er ein Déjà-vu: Die S-Bahn, diesmal die<br />

28


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

von 08.12 Uhr, stand schon da, und die grünen Lichter gingen gerade aus.<br />

S-Bahn verpasst! Schon sah er seinen Traumjob bei Daniel D. und sein neues<br />

Leben in weite Ferne rücken. Zu spät zum Vorstellungsgespräch zu erscheinen,<br />

war noch schlimmer als schmutzige Schuhe!<br />

In diesem Moment sah Gisbert plötzlich, dass in dem Führerhaus <strong>der</strong> S-<br />

Bahn ein alter Kumpel von ihm saß, Andreas Sorgenfrei. Dessen Traumjob<br />

war es immer gewesen, beim <strong>RMV</strong> zu arbeiten, denn ihn machte es glücklich,<br />

die Leute zur Arbeit, nach Hause o<strong>der</strong> zu ihren Freunden zu fahren.<br />

Wild gestikulierend versuchte Gisbert jetzt, auf sich aufmerksam zu machen,<br />

und Andreas schaute tatsächlich zu ihm herüber, lächelte, winkte und<br />

gab die Türen – oh Wun<strong>der</strong>! – noch einmal frei, denn er hatte den Ernst <strong>der</strong><br />

Lage erkannt. Und so nahm dieser Tag doch noch ein gutes Ende. Zwar gestaltete<br />

sich auch die S-Bahn-Fahrt nicht ohne Zwischenfälle, insbeson<strong>der</strong>e<br />

in Form eines kläffenden Pudels, <strong>der</strong> unbegreiflicherweise Gisberts Nähe<br />

suchte und ihm beinahe auf die frisch geputzten Schuhe gepinkelt hätte,<br />

und in Form eines Kontrolleurs, <strong>der</strong> freundlich, aber bestimmt, seine Fahrkarte<br />

verlangte, die sich lei<strong>der</strong> zuhause in seiner an<strong>der</strong>en Jackentasche befand,<br />

was für Gisbert ein erhöhtes Beför<strong>der</strong>ungsgeld in Höhe von 40 Euro<br />

nach sich zog, aber auch das konnte seine Laune nicht trüben. Gegen seine<br />

Gewohnheit kam er während <strong>der</strong> dreizehnminütigen Fahrt sogar, ausgelöst<br />

durch den Pudel, ins Gespräch mit seinem Banknachbarn und erzählte ihm<br />

von seiner Katze, die ihn an diesem Morgen aus irgendeinem Grund keines<br />

Blickes gewürdigt hatte. Egal! Dank <strong>der</strong> glücklichen Fügung, dass die S-<br />

Bahn um 08.12 Uhr ausgerechnet von seinem alten Kumpel gefahren wurde<br />

und dieser im entscheidenden Moment Herz gezeigt hatte, erreichte<br />

Gisbert die Firma pünktlich um 08.30 Uhr, bekam den Job als Ingenieur,<br />

dem nichts zu schwör ist, lernte in <strong>der</strong> Kantine auch noch seine spätere<br />

Frau kennen und beschloss, sich endlich mal wie<strong>der</strong> mit Andreas zu treffen.<br />

Was für ein Tag!<br />

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undesweiter vorlesetag 2013<br />

Rücklichter<br />

von Thomas Grimm<br />

Morgens um kurz nach 5 Uhr. Ein kaltes und tiefdunkles Schlafzimmer. Irgendwo<br />

auf dem Land, zwischen dem mittelgroßen Städtchen Hanau und<br />

dem noch größeren Frankfurt. 200 Bongo-Trommeln zusammen mit dem<br />

Gezwitscher von dreiunddreißig südamerikanischen Vogelarten erklangen<br />

aus Franks neuem Wellness-Wecker und sagten ihm, ja zwitscherten, trommelten<br />

und schrien es mitten ins Gesicht: Steh auf! Es ist an <strong>der</strong> Zeit, die<br />

Bettdecke zur Seite zu schieben und sich, wenn auch mit zerzaustem und<br />

deutlich sichtbar ungebügeltem Gesicht, schnellstens in die morgendliche<br />

Kälte zu begeben. Es war eben wie<strong>der</strong> einer dieser Tage, ich glaube, es war<br />

ein <strong>Mit</strong>twoch im April, an dem Frank diesen, SEINEN Wecker verfluchen<br />

und an die Wand hätte schmeißen wollen. Allein <strong>der</strong> noch fehlende Elan zu<br />

solch nachtgetränkter Zeit hin<strong>der</strong>te ihn an einer solchen Reaktion. Eigentlich<br />

ist solch eine Kurzschlusshandlung für den sonst so besonnenen, fast<br />

gleichgültig wirkenden Frank auch unvorstellbar. Hinzu kam ja noch, dass<br />

er für diesen sogenannten Wellness-Wecker erst vor wenigen Wochen ein<br />

schier kleines Vermögen hingeblättert hatte.<br />

Von wegen Wellness, dachte Frank. Wellness kam von gut. Und gut war an<br />

diesem Morgen so gar nichts. Welcher Marketingtyp kommt auf solch absurde<br />

Einfälle? Einen Wecker mit Wellness in Zusammenhang zu setzen.<br />

Und welcher Trottelkonsument fiel auf so was rein? Frank musste fast etwas<br />

schmunzeln. Sein ach so tolles Aufwachlicht mit dem noch tolleren<br />

Wellenrauschen! Als wenn das irgendwas an <strong>der</strong> Tatsache än<strong>der</strong>n würde,<br />

dass es noch so gottverdammt früh war und Frank das einladend wirkende<br />

Bett nun unumkehrbar verlassen muss. Eine Einbahnstraße in den Tag.<br />

Nicht anhalten, bloß nicht umkehren, nur aufstehen. Voran, voran, die Zeit<br />

drängt. Frank dachte, den kurzen Weg ins Bad schlurfend, genauso eine<br />

Situation musste die Kanzlerin damals mit ihrem „alternativlos“ gemeint<br />

haben. Von wegen große Politik! Diese kleinen alltäglichen Leiden müssten<br />

mal debattiert werden, da oben. <strong>Mit</strong> einer ordentlichen Portion Wut im<br />

Bauch stampfte Frank in seine Dusche und drehte den Wasserhahn auf maximale<br />

Hitze. Im heißen Wasserdampf des Bades lösten sich die quälenden<br />

Schwaden <strong>der</strong> morgendlichen Gedanken dann auch nach und nach auf. Das<br />

30


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Gefühl von Sauberkeit und die Gedanken an die anstehenden Tagesaufgaben<br />

vereinten sich in Franks Kopf.<br />

Nur wenige Minuten später zeigte sich dieser noch so junge Tag in seiner<br />

vollen Pracht: <strong>Mit</strong> <strong>der</strong> wilden Entschlossenheit eines 100-Meter-Läufers<br />

rannte Frank die genau siebenundsiebzig Stufen rauf auf den Bahnsteig.<br />

Seine beiden kleinen A<strong>der</strong>n oben an <strong>der</strong> Stirn, die Susanne immer so süß<br />

fand, vibrierten vor Aufregung. Oh nein, zu spät! Er hatte mal wie<strong>der</strong> die<br />

S-Bahn verpasst! Es war nun schon das zweite Mal in dieser Woche. Erschöpft<br />

sank Frank auf die kleine kalte Sitzbank in dem noch kleineren, aber<br />

wenigstens etwas windgeschützten Wartehäuschen. Die Papierreste vergangener<br />

Ankündigungen örtlicher Konzerte und Veranstaltungen flatterten<br />

im kalten Morgenwind. Jetzt empfand es Frank fast als ein großes<br />

Glück wenigstens diesen kleinen Becher, voll mit heißem Kaffee, zu besitzen.<br />

Wie ein zu beschützendes Kind hielt er den kleinen Pappbecher in seinen<br />

Händen. Er hatte ihn sich wie fast jeden Tag auf dem Weg hierher bei<br />

<strong>der</strong> kleinen Bäckerei an <strong>der</strong> Ecke geholt. Da roch es immer so herrlich nach<br />

frisch gebackenem Apfelstrudel. Frank musste unweigerlich an viele schöne<br />

Stunden seiner Kindheit, oben in einem Dorf an <strong>der</strong> Küste des Landes,<br />

denken. Hätte er damals gewusst, dass er Jahre später an einem kalten<br />

hessischen Bahnhof sitzen müsste, sich an einen Kaffeebecher klammernd<br />

und mit dem großen Verlangen sich für fehlende eigene Disziplin zu ohrfeigen<br />

<strong>…</strong> ja, dann wäre er wohl nie erwachsen geworden. Niemals, dachte<br />

Frank.<br />

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Kapitel 2: VON DER LIEBE<br />

Frankfurt Singapur<br />

von Katharina Fenkner<br />

Er hätte sie niemals gehen lassen dürfen. Wenn er nicht so feige gewesen<br />

wäre und sie gebeten hätte zu bleiben, wäre sie jetzt vielleicht nicht auf<br />

dem Weg zum Flughafen. Er schaute auf die Uhr: 7.10 h. In knapp zwei<br />

Stunden ging ihr Flug. Und dann war sie weg.<br />

Marias Wecker klingelte zum wie<strong>der</strong>holten Mal. Missmutig tastete sie danach,<br />

doch sie griff ins Leere. Mühsam öffnete sie die Augen ein kleines<br />

Stück. Oh, das war keine gute Idee. In ihrem Zimmer war es viel zu hell.<br />

Schnell schloss sie die Augen wie<strong>der</strong>. Moment, es war hell? Es war hell!<br />

<strong>Mit</strong> einem Ruck richtete sich Maria im Bett auf. Mist, Mist, Mist, sie musste<br />

zum Flughafen!<br />

Warum hatte er ihr nicht einfach gesagt, was er für sie empfand? Sicher, sie<br />

hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, dass sie keine feste Beziehung<br />

wollte. Doch das war vor Wochen gewesen, bevor alles an<strong>der</strong>s wurde.<br />

Auch er hatte sich damals geschworen, sein Herz nie wie<strong>der</strong> einer Frau zu<br />

öffnen. Und doch hatte Maria es irgendwie geschafft, sich in sein Leben zu<br />

mogeln, und nun saß er hier. Todunglücklich und ratlos.<br />

Sofort durchzuckte ein stechen<strong>der</strong> Schmerz ihren Kopf. Oh nein, auch das<br />

noch. Warum hatte sie sich gestern bloß so betrunken? Natürlich, es war<br />

ihr letzter Abend in Frankfurt gewesen, aber Alkoholexzesse waren normalerweise<br />

nicht ihr Fall. Aber dies war ja auch keine Normalsituation. Immerhin<br />

war sie auf dem besten Weg, Deutschland für immer den Rücken zu<br />

kehren. O<strong>der</strong> zumindest für die nächsten Jahre. Nach <strong>der</strong> Sache mit Tho-<br />

32


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

mas, ihrem Kollegen, war sie wirklich froh über das Angebot ihres Vorgesetzten<br />

gewesen, den Aufbau <strong>der</strong> neuen Nie<strong>der</strong>lassung in Singapur übernehmen<br />

zu dürfen. Und das, obwohl sie erst so kurz im Berufsleben stand.<br />

Er wurde von Minute zu Minute nervöser. Das ärgerte ihn. Jetzt war sowieso<br />

alles zu spät. Er hatte seine Chance verpasst. Die Chance, ihr zu sagen,<br />

dass er den Rest seines Lebens mit ihr verbringen will. Noch eineinhalb<br />

Stunden, dann war sie weg. Und er wie<strong>der</strong> allein, wie er es sich noch vor<br />

wenigen Wochen stets gewünscht hatte. Er hatte bisher nie Glück in <strong>der</strong><br />

Liebe gehabt. <strong>Mit</strong> dem Unterschied, dass er es diesmal war, <strong>der</strong> alles verbockt<br />

hatte. Wütend auf sich selbst stand er auf und begann, im Zimmer<br />

auf und ab zu laufen.<br />

Maria schaute auf die Uhr. Noch eine Stunde 20 Minuten, dann hob ihr<br />

Flieger ab. Das war verdammt knapp. Schnell zog sie sich an. Dann verließ<br />

sie mit ihrem Koffer die Wohnung. Ohne Frühstück und ohne Abschied. Es<br />

gab kein Zurück mehr. Sie warf den Schlüssel bei ihrem Vermieter in den<br />

Briefkasten und rannte zur Haltestelle.<br />

Es war zu spät. Es war zu spät? Er schaute erneut auf die Uhr. Noch eine<br />

Stunde 10 Minuten. Wenn er sich beeilte, konnte er sie am Flughafen noch<br />

abpassen. Er hatte noch eine Chance! Es würde unheimlich knapp werden,<br />

aber er musste es versuchen. Hoffentlich war sie noch nicht durch die Sicherheitskontrolle<br />

<strong>…</strong><br />

Genau vor ihren Augen fuhr <strong>der</strong> Zug ab. Sie hatte die S-Bahn verpasst! Sie,<br />

die stets so organisiert und überpünktlich war, hatte die S-Bahn verpasst.<br />

Solche Dinge passierten ihr in letzter Zeit öfter. Sie war zerstreut und mit<br />

ihren Gedanken nicht bei <strong>der</strong> Sache. Wenn sie ehrlich war, wusste sie auch,<br />

was bzw. wer daran schuld war. Schnell schob sie den Gedanken beiseite.<br />

Sie würde es sich jetzt nicht an<strong>der</strong>s überlegen. Sie hatten eine unverbindliche<br />

Liaison gehabt, mehr nicht. Mehr wollte keiner von ihnen. Dass sie es<br />

sich jetzt gerne an<strong>der</strong>s überlegt hätte, passte nicht zu ihrer Vereinbarung.<br />

Keine Gefühle. Sie würde darüber hinwegkommen. In Singapur gab es<br />

schließlich auch nette Männer. Doch das würde nicht das Gleiche sein <strong>…</strong><br />

Er sprang in die S-Bahn, gerade noch rechtzeitig, bevor sich die Türen<br />

schlossen. Er schaute auf die Uhr: noch 45 Minuten. Im Kopf rechnete er<br />

nach, wie lange er zum Flughafen brauchen würde. Vier Minuten zum<br />

Hauptbahnhof, sieben Minuten zum Stadion und dann noch weitere vier<br />

Minuten zum Flughafen. Ihm blieben also noch 30 Minuten, um Maria aus-<br />

33


undesweiter vorlesetag 2013<br />

findig zu machen und ihr zu sagen, was er ihr schon längst hätte sagen<br />

sollen. Hoffentlich reichte das <strong>…</strong><br />

Ungeduldig trommelte Maria mit den Fingern auf die Armlehne des Taxis.<br />

Wenn dieser Stau sich nicht bald auflöste, dann wäre es das mit ihrem Flug<br />

nach Singapur gewesen. Immerhin, wenigstens an das Ticket hatte sie gedacht.<br />

Angesichts des Gefühlschaos, in dem sie sich befand, hätte sie sich<br />

nicht gewun<strong>der</strong>t, wenn es mitsamt ihrem Pass noch in ihrer ehemaligen<br />

Wohnung läge. Warum hatte sie ihn auch ausgerechnet jetzt treffen müssen?<br />

Er konnte es kaum erwarten, dass die S-Bahn endlich hielt. Als Erster stürzte<br />

er aus dem Zug und rannte Richtung Abflughalle. Wenn es nur noch<br />

nicht zu spät war! Als er die Halle erreichte, schaute er sich hektisch um.<br />

Doch er entdeckte Maria nirgends. Sie war bestimmt schon durch die Kontrolle.<br />

Also versuchte er es dort. Verdammt, kein Durchgang ohne Ticket!<br />

Also zurück zur Abflughalle, eines kaufen. Hoffentlich hatte er seine Kreditkarte<br />

dabei <strong>…</strong><br />

Maria stürzte aus dem Taxi. Sie drückte dem verdutzten Fahrer 50 Euro in<br />

die Hand und hetzte mit ihrem Koffer zur Abflughalle. Noch 20 Minuten,<br />

das war viel zu knapp. Hoffentlich ließ man sie überhaupt noch einchecken.<br />

Ein verpasster Flug machte ihren ohnehin schon vermiesten Einstieg in Singapur<br />

sicherlich nicht besser.<br />

Nur mit Mühe konnte er ein Fluchen unterdrücken. Was sollte das heißen?<br />

Es gab keine Tickets mehr? Sein Lebensglück hing davon ab und die Dame<br />

am Schalter hatte nichts als ein bedauerndes Lächeln für ihn übrig. Resigniert<br />

wandte er sich ab.<br />

Oh nein, <strong>der</strong> Check-in war bereits geschlossen. Maria stampfte wütend auf,<br />

drehte sich um und lief <strong>dir</strong>ekt in einen Herrn. Auch das noch. Als sie den<br />

Blick hob, um sich zu entschuldigen, stockte ihr <strong>der</strong> Atem: „Oliver?“ Oliver<br />

brauchte einen Moment, um sich zu sammeln und die Fügung des Schicksals<br />

zu begreifen. Maria hier? Doch dann ergriff er seine Chance: „Maria,<br />

willst du <strong>mich</strong> heiraten?“ Und Maria fragte nicht nach, son<strong>der</strong>n antwortete,<br />

ohne zu zögern mit „Ja!“, bevor sie in seine Arme fiel.<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Schnee<br />

von Jasmin Werner<br />

„Vorsicht! Aus dem Weg“, rief eine Stimme hinter ihr, aber es war zu spät.<br />

Der rücksichtslose Fahrradrüpel fuhr schon an ihr vorbei und sie ließ vor<br />

Schreck ihre Einkaufstüte fallen. Diese fiel in den Schnee und sie versuchte<br />

sich gerade noch auf den Beinen zu halten, aber auf dem rutschigen Gehweg<br />

konnte sie ihr Gleichgewicht nicht halten und fiel auf ihre Einkäufe<br />

oben drauf. Sie fühlte, wie unter ihr die frischen Eier platzten. „Eine Entschuldigung<br />

wäre wirklich nett!“, schrie sie dem Fahrradfahrer hinterher.<br />

Heute war einfach nicht ihr Tag. Sie hatte die S-Bahn verpasst und deshalb<br />

war sie schon zu spät auf <strong>der</strong> Arbeit angekommen. Ihr Chef war völlig aus<br />

dem Häuschen gewesen, weil sie mit ihm noch einmal die Präsentation für<br />

das wichtige Meeting durchgehen sollte. Er gab ihr solche Dinge immer auf<br />

den letzten Drücker und erwartete, dass alles sofort und gleich erledigt<br />

würde. Gestern Abend hatte sie allerdings keine Zeit für Überstunden gehabt.<br />

Sie hatte ein Date. Genau genommen war es ein Blind-Date. Ihre<br />

Mutter hatte es für sie arrangiert. Sie war <strong>der</strong> Meinung, ihre Tochter bräuchte<br />

endlich einen Mann. Aber wo sollte sie ihn finden? Nach dem Studium<br />

und einem Jahr in England war sie in <strong>der</strong> Kanzlei ihres jetzigen Chefs als<br />

Assistentin eingestellt worden, und ehe sie wusste, was geschieht, war sie<br />

ein 35-jähriger Single, <strong>der</strong> mehr Zeit im Büro als daheim verbrachte, und<br />

die Kollegen sah sie mehr als ihre beste Freundin. Also wo einen Mann kennenlernen?<br />

Trotzdem war ein von Mama organisiertes Blind-Date das Letzte,<br />

was sie wollte. War doch egal, ob er Arzt war und <strong>der</strong> Sohn von Mamas<br />

neuer Freundin aus dem Yogaclub. Heute war ihr klar, dass sie es sich hätte<br />

sparen können. Der Abend war wie zu erwarten sterbenslangweilig gewesen.<br />

Wenigstens waren sich beide in einer Sache schnell einig gewesen.<br />

Sie machten es ihren Müttern zuliebe und hatten sonst nichts gemeinsam.<br />

Also hatten sie sich nach dem Essen höflich voneinan<strong>der</strong> verabschiedet<br />

und je<strong>der</strong> ging alleine nach Hause. Dennoch musste ihr Chef unvorbereitet<br />

in sein Meeting, da sie trotz schlecht gelaufenem Abend zu spät kam. Lei<strong>der</strong><br />

nahm ihr Chef ihr die verpasste Bahn nicht ganz ab. Und so sprach er<br />

den ganzen Tag kein nettes Wort mehr mit ihr und gab ihr Extraaufgaben,<br />

damit sie heute länger im Büro bleiben musste. Als sie das Büro endlich<br />

35


undesweiter vorlesetag 2013<br />

verlassen konnte, hatte sie gerade noch Zeit, schnell im Supermarkt vorbeizuschauen,<br />

um ihren leeren Kühlschrank wenigstens teilweise zu füllen.<br />

Auf dem Weg vom Supermarkt zu ihrer Wohnung ging sie in Gedanken<br />

schon mal das Telefonat mit ihrer Mutter durch, in dem sie sich rechtfertigen<br />

musste, warum sie sich nicht gleich gestern verlobt hatte.<br />

Da hörte sie das Rufen und nun lag sie im Schnee, unter ihr die zermatschten<br />

Eier, und sie hätte vor Scham im Erdboden versinken können. Am liebsten<br />

hätte sie dem miesen Kerl alles Mögliche hinterhergerufen, aber als sie<br />

aufstand, sah sie, dass <strong>der</strong> Fahrradfahrer sich umdrehte und zurückkam.<br />

„Es tut mir so leid. Oh Mann, heute ist nicht mein Tag“, rief er ihr zu. „Na<br />

und meiner erst.“ Murmelte sie vor sich hin. Als er vor ihr stand und sie<br />

anlächelte, dachte sie sich, dass er gar nicht übel aussah. Allerdings war ihr<br />

dreckiger, nasser Mantel dadurch für sie noch peinlicher. „Hi, ich bin Tobias.<br />

Ich bezahl <strong>dir</strong> natürlich die Reinigung. Wenn du mir deine Nummer<br />

gibst, rufe ich dich an und wir verabreden, wann ich <strong>dir</strong> das Geld bringen<br />

kann.“ Er sah sie an und lächelte mit seinen wun<strong>der</strong>vollen Grübchen. Sie<br />

gab ihm ihre Nummer, obwohl sie glaubte, er würde sich sowieso nicht<br />

melden. Aber um ihm hinterherzutelefonieren hatte sie we<strong>der</strong> Zeit noch<br />

Lust, also war dies wenigstens eine kleine Chance, die Reinigungskosten<br />

nicht selbst tragen zu müssen. Sie sah aus dem Fenster und den Schneeflocken<br />

nach, die unaufhörlich daran vorbei fielen. „Genauso ein Dreckswetter<br />

wie damals“, dachte sie bei sich. Damals war ihr Leben noch ganz<br />

an<strong>der</strong>s gewesen. War es Glück o<strong>der</strong> Schicksal? Vielleicht beides? Auf den<br />

ersten Blick war es nicht zu erkennen. Heute war es auf jeden Fall Glück.<br />

Das Telefon klingelte: „Hallo Mama. Ja, mir geht es gut. Tobias ist noch im<br />

Büro, aber er fährt heute früher los.“<br />

Sie blickte aus dem Fenster, hörte ihrer Mutter zu und streichelte ihren<br />

Bauch. Ob es wohl ein Christkind o<strong>der</strong> ein Neujahrsbaby werden würde?<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Glück im Unglück<br />

von Sabrina Holitzner<br />

„Oh nein, nicht schon wie<strong>der</strong> Schnee“, dachte Alexa, als sie morgens nach<br />

dem Aufstehen aus dem Fenster schaute. Am liebsten wäre sie <strong>dir</strong>ekt wie<strong>der</strong><br />

ins Bett gestiegen und hätte sich die Decke über den Kopf gezogen,<br />

aber dazu war keine Zeit, denn sie musste nach Darmstadt. Vor allem würde<br />

das von Mainz-Hechtsheim aus wie<strong>der</strong> eine Weile dauern.<br />

Seit knapp einem Monat machte Alexa nun schon Praktikum bei einer<br />

Darmstädter Zeitung. Nach dem Frühstück verließ sie das Haus und stapfte<br />

durch den Schnee zur Straßenbahn. Als sie endlich die Haltestelle erreichte,<br />

sah Alexa die vielen Leute, die dort standen. Normalerweise fuhr die<br />

Straßenbahn alle zehn Minuten, doch nach zwanzig Minuten war immer<br />

noch keine in Sicht.<br />

„Das darf doch nicht wahr sein, ausgerechnet heute, wo um 9.15 Uhr ein<br />

Redaktionsmeeting angesetzt ist und ich pünktlich sein muss. Ich komme<br />

doch viel zu spät“, grübelte Alexa. Inzwischen war sie vor lauter Schnee<br />

und Kälte fast zum Eisklotz erstarrt. Nach fast dreißig Minuten traf endlich<br />

die Straßenbahn ein, mit <strong>der</strong> sie zum Mainzer Hauptbahnhof fuhr. Ein Blick<br />

auf die Anzeige und Alexa wusste, dass sie ihre S-Bahn nach Bischofsheim<br />

verpasst hatte. Dort musste sie meistens in die Regionalbahn nach Darmstadt<br />

umsteigen, denn von Mainz aus fuhr nur alle sechzig Minuten ein<br />

durchgängiger Zug an ihr Ziel. Nun konnte sie zwar <strong>dir</strong>ekt mit <strong>der</strong> Regionalbahn<br />

von Mainz aus fahren, würde aber auf jeden Fall zu spät kommen.<br />

„So ein verdammter Mist, was sage ich bloß meinem Chef? Und das alles<br />

nur wegen dem blöden Schnee“, ärgerte sich Alexa. Sie musste wohl laut<br />

gedacht haben, denn ein junger, blon<strong>der</strong> Mann in einem beigen Mantel<br />

grinste sie schief von <strong>der</strong> Seite an und meinte: „Na, du hast wohl nicht so<br />

gute Laune? Mach <strong>dir</strong> nichts draus, die hab ich auch nicht. Wegen dem<br />

Schneechaos habe ich nämlich meinen Zug verpasst und komme jetzt viel<br />

zu spät in die Uni.“ „Ist doch nicht so tragisch, wenn du bloß in die Uni<br />

musst. Da sagt doch keiner was, wenn man mal ein bisschen zu spät<br />

kommt. Ich hingegen muss zu meinem Praktikumsplatz nach Darmstadt.<br />

Gerade heute haben wir ein wichtiges Redaktionstreffen, wo ich anwesend<br />

37


undesweiter vorlesetag 2013<br />

sein muss. Aber das ist schon um 9.15 Uhr. Das schaffe ich nie. Mein Chef<br />

hat bestimmt kein Verständnis für mein Zuspätkommen, weil er sagen wird,<br />

dass ich Schnee hätte einkalkulieren müssen“, jammerte Alexa. Daraufhin<br />

meinte <strong>der</strong> Student: „Von wegen. Ich muss heute ein wichtiges Referat<br />

halten. Mein Professor wird total wütend sein, wenn ich nicht erscheine.“<br />

Die Regionalbahn <strong>der</strong> beiden fuhr ein. Es stellte sich heraus, dass Dirk – so<br />

hieß <strong>der</strong> junge Mann – in Darmstadt Informatik studierte, aber wie Alexa in<br />

Mainz wohnte und täglich pendelte. Der Zug stoppte in Darmstadt und die<br />

beiden stiegen aus. Die ganze Fahrt hatten sie miteinan<strong>der</strong> geplau<strong>der</strong>t,<br />

denn sie waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen. In <strong>der</strong> Eingangshalle<br />

des Darmstädter Hauptbahnhofs trennten sich ihre Wege. Acht Stunden<br />

später saß Alexa wie<strong>der</strong> im Zug zurück nach Mainz. Sie war erleichtert,<br />

denn ihr Chef hatte doch Nachsicht mit ihr gehabt. Immer wie<strong>der</strong> musste<br />

sie an Dirk denken. Sie lagen nicht nur auf einer Wellenlänge, son<strong>der</strong>n er<br />

war auch noch richtig attraktiv. „Ob er eine Freundin hat?“, überlegte Alexa.<br />

Gleichzeitig fiel ihr auf, dass sie das wohl nie herausfinden würde, denn<br />

sie hatten in <strong>der</strong> ganzen Hektik am Morgen vergessen, Handynummern<br />

auszutauschen. Alexa hoffte, ihn am nächsten Tag wie<strong>der</strong> am Gleis anzutreffen,<br />

da er ja normalerweise ebenfalls früher fahren musste. Doch er kam<br />

nicht. Auch am darauffolgenden Tag war Dirk nicht zu erblicken. Wochen<br />

vergingen. An einem <strong>Mit</strong>twoch hatte Alexa bereits nach <strong>der</strong> <strong>Mit</strong>tagspause<br />

Arbeitsschluss und saß gegen 14 Uhr im Zug nach Mainz. Sie schaute aus<br />

dem Fenster und genoss die Aussicht, denn es schien endlich einmal die<br />

Sonne.<br />

Als die Regionalbahn in Groß-Gerau hielt, stoppte gerade ein Zug auf dem<br />

Nachbargleis. Alexa konnte ihren Augen kaum trauen, denn plötzlich entdeckte<br />

sie Dirk in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Bahn. Auch er schien sie bemerkt zu haben,<br />

denn er lächelte ihr zu und winkte. Ihre Blicke trafen sich. Doch innerhalb<br />

weniger Sekunden war <strong>der</strong> Glücksmoment wie<strong>der</strong> vorbei, weil beide Züge<br />

ihre Fahrt fortsetzten. Alexa hatte Dirk schon fast vergessen, doch jetzt, wo<br />

sie ihn wie<strong>der</strong> erblickt hatte, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihn<br />

wie<strong>der</strong>zusehen. Sie hegte erneut die Hoffnung, Dirk in Mainz o<strong>der</strong> Darmstadt<br />

zu begegnen. Doch er war wie vom Erdboden verschluckt. „Warum<br />

habe ich bloß nicht daran gedacht, mir seine Handynummer geben zu lassen?<br />

Dann säße ich jetzt nicht hier und würde grübeln, son<strong>der</strong>n ihn einfach<br />

anrufen“, regte Alexa sich auf. Fast zwei Monate waren vergangen und <strong>der</strong><br />

letzte Praktikumstag von Alexa rückte <strong>näher</strong>. Sie befand sich im Darmstädter<br />

Hauptbahnhof und hatte noch etwas Zeit, bevor ihre Regionalbahn fuhr.<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Daher entschied sie, noch etwas in <strong>der</strong> Bahnhofsbuchhandlung zu stöbern.<br />

Sie hatte einen Roman gegriffen, in den sie schon seit längerer Zeit hineinschauen<br />

wollte. Ganz vertieft in die Lektüre bemerkte Alexa nicht, wie sich<br />

eine Gruppe von Studenten <strong>näher</strong>te und nach den neuesten Sachbüchern<br />

Ausschau hielt. Dirk befand sich unter ihnen, doch Alexa war zu beschäftigt,<br />

um Notiz von ihm zu nehmen. Er erkannte Alexa ebenfalls nicht.<br />

Plötzlich schaute Alexa auf ihre Armbanduhr. Nur noch fünf Minuten bis zur<br />

Abfahrt des Zuges. Sie entschied sich, den Roman zu kaufen und auf <strong>der</strong><br />

Fahrt weiterzulesen, denn er war zu spannend, um ihn wie<strong>der</strong> zurück ins<br />

Regal zu stellen. Sie hetzte zu Gleis 7 und rempelte einen Mann an. Dieser<br />

drehte sich empört um und rief wütend: „Hey, hast du Tomaten auf den<br />

Augen? Kannst du nicht aufpassen, wo du hinrennst?“ Alexa konnte nicht<br />

fassen, wer da vor ihr stand. Sie hatte Dirk beinahe umgerannt. Die beiden<br />

grinsten sich an und eilten gemeinsam zum Zug, wo sie ihr Gespräch fortsetzten<br />

und zuerst ihre Handynummern austauschten, denn auch er hatte<br />

gehofft, sie wie<strong>der</strong>zusehen.<br />

„Das muss Schicksal sein“, sagte Alexa glücklich.<br />

Diese verdammte Bahn!<br />

von Ronja Podstatny-Scharf<br />

Melinda stand am Bahnhof Höchst auf Gleis 11 und ein eisiger Wind wehte<br />

ihr die braune Lockenpracht ins Gesicht. <strong>Mit</strong> kalten Händen strich sie die<br />

nervigen Haare weg und drehte sich so, dass sie von dem kalten Wind aus<br />

ihrem Gesicht geblasen wurden. Sie zog ihre Schultern ein, kuschelte sich<br />

in ihre Jacke und dachte: „Verdammt, wo bleibt denn diese verdammte<br />

Bahn?“ Um sie herum waren noch einzelne Schneehaufen zu sehen, das<br />

meiste war weggeschmolzen. Trotzdem war es bitterkalt und ihr Atem bildete<br />

kleine Wölkchen. Zitternd holte die 17-Jährige ihr Handy aus <strong>der</strong> Hosentasche<br />

und schaute auf die Uhr. Es war jetzt schon 18.02 Uhr. Die Bahn<br />

hätte schon längst da sein müssen und sie wäre auch schon fast zu Hause.<br />

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undesweiter vorlesetag 2013<br />

Sie wollte ja nur eine Station fahren. Da bemerkte sie, dass sie die einzige<br />

auf dem Bahngleis war.<br />

„Na ja, so viele Leute wollen um diese Uhrzeit wohl nicht nach Sossenheim<br />

– eher in die Innenstadt“, dachte sie, aber so wirklich überzeugt war sie<br />

nicht, denn es war unter <strong>der</strong> Woche und eigentlich sollten sich viele Menschen<br />

nach einem Arbeitstag auf den Heimweg machen.<br />

„Egal, dann fahre ich halt Bus“, entschied sie und lief zur Bushaltestelle.<br />

Dort stellte sie fest, dass <strong>der</strong> Bus entwe<strong>der</strong> noch nicht da o<strong>der</strong> schon abgefahren<br />

war. Ein Mann stand da und sie fragte ihn: „Bin ich schon zu spät,<br />

o<strong>der</strong> hab ich Glück gehabt und <strong>der</strong> 55er ist noch nicht da gewesen?“ Der<br />

Mann nahm seine Zigarette aus dem Mund, blies den Rauch weg und antwortete<br />

kurz angebunden auf ihre Frage: „Er müsste gleich kommen.“<br />

Dann drehte er sich weg, noch bevor Melinda sich bei ihm bedanken konnte.<br />

„Ok?!“, dachte sie bei sich, „vielleicht will er ja nichts mit mir zu tun haben<br />

...“ In diesem Moment kam <strong>der</strong> 55er und erlöste sie und den Mann aus<br />

<strong>der</strong> Kälte. Im Bus schaute Melinda wie<strong>der</strong> auf die Uhr. „Der Bus kommt<br />

aber zu einer komischen Uhrzeit. Es ist 18.04 Uhr. Normalerweise kommt<br />

er doch um 17.59 Uhr o<strong>der</strong> um 18.06 Uhr. Komisch ...“, dachte sie. Da fiel<br />

ihr ein, dass sie sich gestern die Uhr extra 5 Minuten vorgestellt hatte, damit<br />

sie ja rechtzeitig zum Vorstellungsgespräch kommen würde. Was sie ja<br />

auch getan hatte. Melinda hatte also nur vergessen, ihre Handy-Uhr zurückzustellen.<br />

„Oh, Mann, bin ich doof! Na ja, wenigstens bin ich in einer<br />

Viertelstunde zuhause“, murmelte sie und setzte sich auf einen Sitz. Dann<br />

stellte sie ihre Uhr richtig und setzte ihre Kopfhörer auf. Sie schaltete ihren<br />

iPod an und machte das Lied Let her go von Passenger an. Sie ließ sich von<br />

<strong>der</strong> Musik berieseln und beobachtete die vorbeiziehenden Straßen. Melinda<br />

war so in <strong>der</strong> Musik vertieft, dass sie beinah vergaß auszusteigen. Im<br />

letzten Moment sprang sie aus dem Bus. „Puh, das war knapp!“, flüsterte<br />

sie sich selbst zu. Dann machte sie sich auf den Heimweg. Sie wohnte nur<br />

ein paar Minuten von <strong>der</strong> Bushaltestelle entfernt. Lei<strong>der</strong> waren ein paar<br />

Minuten in dieser Kälte fast so schlimm, als wäre sie den Weg gelaufen.<br />

Aber eben nur fast. Sie blies in ihre Hände, um sie zu wärmen, und rieb sie<br />

aneinan<strong>der</strong>. Damit war sie so beschäftigt, dass sie den jungen Mann nicht<br />

sah und fast gegen ihn lief. Er blickte auf und seine eisblauen Augen sahen<br />

sie <strong>dir</strong>ekt an. Melinda erstarrte und schaute ihn an, während er schweigend,<br />

aber sie anblickend an ihr vorbeiging. Ihr Herz hatte einen Moment<br />

ausgesetzt und jetzt fing es umso schneller an zu schlagen.<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

„Diese Augen kenne ich doch!“, dachte sie. Diese Augen konnte sie doch<br />

nicht vergessen. Sie hatte sie so oft gesehen. Lei<strong>der</strong> in <strong>der</strong> letzten Zeit nur<br />

in ihren Träumen, aber egal: Sie hatte ihn wie<strong>der</strong>gesehen! Er war hier und<br />

sie hatte es sich so lange schon gewünscht, ihm wie<strong>der</strong> zu begegnen! Er<br />

war ihr bester Freund, <strong>der</strong> eine lange Zeit fast neben ihr gewohnt hatte. Er<br />

war ihr Ruhepol, <strong>der</strong> sie immer aufgemuntert hatte und ganz genau wusste,<br />

wie er sie zum Lachen <strong>bringt</strong>. Er war <strong>der</strong> Erste gewesen, mit dem sie<br />

Bahn zur Schule gefahren war. Er war <strong>der</strong> erste Junge, <strong>der</strong> ihr etwas geschenkt<br />

hatte. Er war <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> alle Geheimnisse von ihr kannte und<br />

von dem sie alles wusste. Diese wun<strong>der</strong>schönen Augen waren die Augen<br />

des Menschen, den sie am besten kannte – ja, den sie in ihrer Kindheit auswendig<br />

kannte – und den sie schon immer geliebt hatte. Sie hatten sich vor<br />

zwei Jahren aus den Augen verloren. Er hatte sich nicht mehr gemeldet<br />

und dann hatte sie erfahren, dass er umgezogen war. Sie war unglaublich<br />

traurig gewesen. Diese eisblauen Augen waren die Augen von Andi, <strong>der</strong> sie<br />

schon immer zum Erstarren gebracht hatte. Plötzlich wurde ihr ganz warm<br />

ums Herz. Sie spürte die Kälte nicht mehr und drehte sich mit einem Lächeln<br />

auf den Lippen um.<br />

„Das muss Schicksal sein! Hätte ich die S-Bahn nicht verpasst und meine<br />

Uhr nicht vorgestellt, sodass ich dachte, die RB hätte Verspätung, dann<br />

hätte ich ihn nie getroffen“, dachte sie und rief glücklich: „Andi!“ Er drehte<br />

sich um und grinste: „Ich dachte, du hättest <strong>mich</strong> vergessen!“<br />

Pünktlich<br />

von Lydia Saul<br />

Damals hatte ich noch kein Auto. Es gab auch keine Handys. Verabredungen<br />

mussten verbindlich sein. „Der Neunundzwanzigste? Das ist jetzt ungünstig.“<br />

Markus war am Telefon etwas ungehalten. „Wieso? Du fährst<br />

doch nicht etwa zwischen den Jahren in Urlaub? Ich dachte, du hättest<br />

geahnt, dass Marina und ich dieses Jahr noch heiraten wollen. Du solltest<br />

<strong>dir</strong> doch nichts vornehmen, hatte ich gesagt.“<br />

41


undesweiter vorlesetag 2013<br />

„Wie kann ich es <strong>dir</strong> am besten erklären? Also, ich hab da jemanden kennen<br />

gelernt ...“, druckste ich herum. „Du? Im Ernst? Das freut <strong>mich</strong> ja!<br />

Bring sie doch einfach mit!“, freute sich Markus. „So lange kenne ich sie<br />

nun auch wie<strong>der</strong> nicht, sonst hätte ich doch schon mal was gesagt. Sie hat<br />

am Neunundzwanzigsten Geburtstag und sie wird feiern wollen. Ich bin<br />

gespannt auf ihren Freundeskreis.“<br />

„Das kriegst du schon irgendwie hin. Georg, du bist mein bester und längster<br />

Freund. Es wäre mir echt wichtig dich als Trauzeugen zu haben.“<br />

Ja, ich habe das irgendwie hingekriegt. Anja ist wirklich ein Schatz! Sie<br />

kam auf die Idee in ihren Geburtstag reinzufeiern. Jetzt sitzen wir am neunundzwanzigsten<br />

um fünf Uhr früh im Zug. Die Trauung ist um 12.00 Uhr.<br />

Selbst wenn wir die S-Bahn in Frankfurt verpassen sollten, kämen wir immer<br />

noch rechtzeitig, selbst mit <strong>der</strong> übernächsten. Ich bin bei meinen<br />

Freunden dafür bekannt, immer und überall zu spät zu kommen. Aber Anja<br />

hat die Verbindung rausgesucht und dafür gesorgt, dass wir pünktlich im<br />

Zug sitzen. Wir sind zwar noch müde, aber glücklich.<br />

„Hmmm, Anja ... ich würd‘ so gern ...“, träumte ich. „Wegen einer technischen<br />

Störung verspätet sich unsere Weiterfahrt um 20 Minuten.“ Dann<br />

eben die nächste S-Bahn o<strong>der</strong> die übernächste ... egal. Hauptsache Anja<br />

liegt in meinen Armen, ihren Kopf an <strong>mich</strong> gekuschelt. Ihre Haare duften so<br />

gut ...<br />

„Wegen einer technischen Störung fällt dieser Zug aus. Steigen Sie bitte<br />

aus. Dieser Zug endet hier.“ Das ist jetzt nicht wahr! Gefühlt <strong>Mit</strong>ten-in-<strong>der</strong>-<br />

Nacht stehen wir in Salzkotten auf dem Bahnsteig. Es ist dunkel, es ist kalt,<br />

noch nicht einmal das Bistro hat geöffnet.<br />

„Wenn wir den nächsten Zug nehmen, sind wir frühestens um 12.50 Uhr<br />

da. Das wäre in <strong>jedem</strong> Fall zu spät. So lange können die nicht auf dich warten“,<br />

bemerkte Anja, die sich die möglichen Verbindungen angeschaut hatte.<br />

„Du musst Markus anrufen und ihm sagen, er muss sich einen an<strong>der</strong>en<br />

Trauzeugen suchen. Das ist zwar blöd, aber irgendwer findet sich bestimmt.<br />

Das könnt ihr dann euren Enkeln erzählen: Der Trauzeuge saß in Salzkotten<br />

fest!“<br />

„Mach keine Witze, das ist mir richtig unangenehm. Das glaubt er mir doch<br />

nie!“ Als die Zeit gekommen war, an <strong>der</strong> ich ein Brautpaar am Tag ihrer<br />

Hochzeit anrufen konnte, wurde ich blass. Anja sah <strong>mich</strong> erschrocken an,<br />

als ich aus <strong>der</strong> Telefonzelle kam.<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

„Was ist los?“ „Markus sagte grade, die Trauung sei erst um 13.00 Uhr ...“<br />

Ich habe nie erfahren, ob Markus mir absichtlich eine falsche Uhrzeit für<br />

seine Hochzeit genannt hatte. Ich habe auch nie erfahren, ob mir Markus<br />

die Geschichte mit Salzkotten je geglaubt hat. Aber es wurde alles gut. Wir<br />

erschienen etwas abgehetzt, aber doch deutlich vor dem Brautpaar auf<br />

dem Standesamt. Jahre später auf meiner Hochzeit mit Anja war ich pünktlich,<br />

zum zweiten Mal in meinem Leben überhaupt. Markus war wie immer<br />

deutlich früher da.<br />

Wer zu spät kam, war diesmal Anja. Irgendein Missverständnis mit dem Frisör,<br />

dann war auch noch die Ampel rot, die Schranke unten, Stau auf <strong>der</strong><br />

Bundesstraße und: Wer hat denn da in <strong>der</strong> Einfahrt geparkt? Da dachte ich<br />

nur: „Was für ein Glück, Anja und ich passen wirklich prima zusammen!“<br />

Warten<br />

von Carola Müller<br />

Jeden Tag die gleichen Gesichter. Tagein, tagaus. Morgens eine Stunde,<br />

abends eine Stunde. Fünf Tage die Woche. Hoffen, dass man nicht die S-<br />

Bahn verpasst hat. Ich steige ein, ich steige aus. Warten. Warten auf den<br />

nächsten Zug, <strong>der</strong> nicht kommt. Und kein Ende in Sicht.<br />

Jeden Tag um die gleiche Zeit steige ich in den gleichen Zug. Es ist drei<br />

nach acht, als eine Durchsage erfolgt: „Meine Damen und Herren, bitte<br />

beachten Sie: Die S2 nach Dietzenbach hat voraussichtlich ... fünf Minuten<br />

Verspätung. Wir bitten um Ihr Verständnis.“ Ich seufze. Verständnis habe<br />

ich schon lange keines mehr. Eine weitere unbestimmte Zeit des Wartens<br />

verbleibe ich regungslos am Bahnsteig. Gefühlte 15 Minuten später trifft<br />

mein Zug endlich ein. Es ist ein älteres Modell, an dessen Türen man ruckartig<br />

ziehen muss, damit sie aufgehen. Aber ich mag diese Modelle lieber<br />

als die neuen Züge, die voller Elektronik stecken, in dem <strong>der</strong> Zugführer<br />

43


undesweiter vorlesetag 2013<br />

nicht mehr ankündigen muss, welche Station er gerade anfährt, son<strong>der</strong>n<br />

eine hohe, unterkühlte Frauenstimme aus dem Off dies verkündet – nein,<br />

ich mag es, wenn eine tiefe Männerstimme „Zurückbleiben“ in ihr Mikrofon<br />

nuschelt und man es sich noch vorstellen kann, wer gerade die Lok in<br />

ihren Schienen hält.<br />

Ein an<strong>der</strong>er Vorteil des „3nach8-Zuges“ ist, dass er nicht so überfüllt ist wie<br />

<strong>der</strong> „18nach8-Zug“, noch, dass die Passagiere so hochmütig sind wie im<br />

„10nach8-Regio“, in dem scheinbar je<strong>der</strong> seinen Sitzplatz reserviert hat<br />

und man sich ja nicht neben sie setzen darf, denn da hat ja schon die Tasche<br />

desjenigen Platz genommen! Und falls man doch die Dreistigkeit besitzt<br />

und fragt, ob <strong>der</strong> Platz neben ihnen noch frei ist, stellen sie sich schlafend.<br />

Ich warte, bis <strong>der</strong> Zug stillsteht. Ich ziehe an <strong>der</strong> Tür und suche nach einem<br />

freien Sitzplatz, möglichst in Fahrtrichtung. Ich sehe <strong>mich</strong> um und entdecke<br />

meine Lieblingsmitreisende, die glatt als „10nach8-Regio“-Passagier<br />

durchgehen könnte. Sie sitzt natürlich ganz vorne und ist in ihre Lektüre<br />

vertieft, in die sie ihre lange Nase hineinsteckt.<br />

Ihre schwarze Laptoptasche samt Laptop, die schwarze Handtasche und<br />

ihr dazu passen<strong>der</strong> Mantel, liegen alle schön drapiert auf dem verblichenen,<br />

blauen Stoffbezug ihres Sitzes neben ihr, dessen Anmutung eindeutig<br />

signalisiert: „RESERVIERT“.<br />

Mehrere dazugestiegene Fahrgäste vor mir sehen den vermeintlich freien<br />

Platz, steuern hoffnungsvoll auf ihn zu, um doch im letzten Moment von<br />

ihm abzudriften, da die Ausstrahlung dieses nicht ausgewiesenen reservierten<br />

Platzes zu mächtig erscheint, und trollen sich davon.<br />

Ich lächele verschmitzt und ziehe meine ungefähr allmonatliche Show durch,<br />

trete <strong>näher</strong> und sage: „Entschuldigung?“. Sie blickt von ihrem Buch auf und<br />

sieht <strong>mich</strong> an, als hätte sie noch nie ein an<strong>der</strong>es menschliches Wesen vor ihr<br />

stehen gesehen, nein, als gäbe es überhaupt niemanden auf <strong>der</strong> Welt außer<br />

ihr selbst. Ich halte ihrem zunehmend mör<strong>der</strong>isch werdenden Blick stand<br />

und erwi<strong>der</strong>e ihn herausfor<strong>der</strong>nd. Sie blinzelt und resignierend wendet sie<br />

ihren Blick von mir ab, greift nach <strong>der</strong> Laptoptasche, legt sie auf ihren<br />

Schoss, stellt darauf die Handtasche ab, krönt dies alles noch mit ihrem<br />

Mantel und fährt mit ihrer Lektüre fort, als wäre nichts gewesen. Ich weiß<br />

jedoch, wie sehr sie sich ärgert, spüre die Eiseskälte, die von ihr ausgeht, als<br />

ich dann schließlich, nicht ohne Genugtuung, neben ihr Platz nehme.<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Der Zug ist mittlerweile in Bewegung und ich schaue auf die vorüberfließende<br />

Landschaft. Mir würde es durchaus Spaß machen, die an mir vorbeiziehenden<br />

Fel<strong>der</strong>, Städte und Wiesen zu betrachten, wenn ich sie nicht jeden<br />

Tag sähe. Es gibt kaum noch Neues zu entdecken und ich kann schon<br />

jeden Baum, jedes Haus vorhersagen. Enttäuscht wende ich meinen Blick<br />

ab und sehe zu meiner Überraschung „Karl-Heinz“ und „Marie“ am Gang<br />

stehen, die allem Anschein nach gerade hinzugestiegen sind. Die Namen<br />

sind freilich erfunden, aber wie ich finde passend. Weil mir nicht viel an<strong>der</strong>es<br />

übrig bleibt, als während meiner Zugfahrt aus dem Fenster zu schauen<br />

o<strong>der</strong> Musik zu hören, denke ich mir gerne Geschichten zu meinen Stammmitreisenden<br />

aus. Ich überlege, wo sie wohl jeden Morgen hinfahren, welchem<br />

Beruf sie nachgehen und ob sie glücklich sind o<strong>der</strong> nicht. Bei Marie<br />

und Karl-Heinz mache ich dies beson<strong>der</strong>s gerne. Karl-Heinz ist etwa <strong>Mit</strong>te<br />

fünfzig, wohlgenährt, trägt immer den gleichen Trenchcoat, egal ob Sommer<br />

o<strong>der</strong> Winter, zieht es lieber vor zu stehen und wirkt auf <strong>mich</strong> durchaus<br />

liebenswürdig. Außerdem hat er die Angewohnheit, die Tür an je<strong>der</strong> Station<br />

aufzuziehen, herauszuschauen und etwas frische Luft hineinzulassen,<br />

wenn er alleine Bahn fährt. Marie ist ungefähr im gleichen Alter wie Karl-<br />

Heinz, sieht jedoch jünger, sehr gepflegt und durchtrainiert aus und achtet<br />

darauf, dass ihre Schuhe stets zu ihrer Handtasche passen. Wenn die beiden<br />

sich unterhalten, sehe ich Karl-Heinz‘ Augen aufleuchten und spüre die<br />

Freude, dass er sich mit Marie austauschen kann. So unterschiedlich die<br />

beiden auch sind, ich habe das Gefühl, dass <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e jeweils <strong>der</strong> Richtige<br />

wäre, sie es jedoch auf Grund von Umständen, über die ich nichts Genaueres<br />

weiß, nicht zusammenfinden. Sei es Karl-Heinz‘ Schüchternheit o<strong>der</strong><br />

dass Marie einen goldenen Ring an ihrem Finger trägt. In meiner Fantasie<br />

sind die beiden das tragische Liebespaar im Spätsommer ihrer Jahre, jedoch<br />

schon zu festgefahren in ihren eigenen Lebensplänen, um den Sprung<br />

in eine gemeinsame Zukunft zu wagen. Ach, wahrscheinlich sind die beiden<br />

einfach nur Kollegen, die sich gut verstehen, mehr nicht. Ich werde es<br />

wohl nie erfahren.<br />

Meine Gedanken schweifen ab und ich überlege, ob es nur mir so geht<br />

o<strong>der</strong> ob sich die an<strong>der</strong>en Bahnfahrer auch solche Gedanken machen über<br />

nichts und wie<strong>der</strong> nichts, ob sie sich vorstellen, was ich so treibe, wohin<br />

meine Reise geht o<strong>der</strong> ob sie einfach nur ins Leere starren ohne irgendeinen<br />

Gedanken. Aber auch über dies nachzudenken führt <strong>mich</strong> nicht weiter.<br />

Die Zeit zieht sich dahin und ich kann nicht glauben immer noch vier Stationen<br />

vor mir zu haben. Es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor, die ich<br />

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undesweiter vorlesetag 2013<br />

mit sinnlosem Warten vergeuden muss mit <strong>der</strong> schrecklichen Gewissheit,<br />

dass sich nie etwas daran än<strong>der</strong>n wird.<br />

„Nächster Halt: Ostendstraße. Ausstieg in Fahrtrichtung links“, vernehme<br />

ich gedämpft. Ich seufze, erhebe <strong>mich</strong> und blicke noch einmal auf meine<br />

Sitznachbarin, die <strong>mich</strong> nach wie vor bewusst und trotzig ignoriert. Ich tue<br />

ihr es gleich und postiere <strong>mich</strong> an einer Tür. Die Bahn hält und ich steige<br />

aus.<br />

Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zu meiner Arbeitsstelle, so dass ich<br />

mir überlege, ob ich laufe o<strong>der</strong> in die Straßenbahn steige. Ich entscheide<br />

<strong>mich</strong> für Ersteres und lasse mir dabei ein wenig Zeit. Im Gebäude angekommen,<br />

begrüße ich meine Kollegen. Jeden Tag die gleichen Gesichter.<br />

Tagein, tagaus. Fünf Tage die Woche. Acht Stunden am Tag. Ich gehe zur<br />

Arbeit, ich gehe nach Hause. Und kein Ende in Sicht.<br />

Feierabend. Den Arbeitstag habe ich einigermaßen hinter <strong>mich</strong> gebracht.<br />

Und wie<strong>der</strong> beginnt das gleiche Spiel von vorne. Warten. Einsteigen. Umsteigen.<br />

Aus dem Fenster starren. Merkwürdige Leute beobachten. Aussteigen.<br />

Zuhause ankommen und langsam herunterkommen. Vor dem Fernseher<br />

sitzen und davor einschlafen. Die Gewissheit haben, dass morgen ein<br />

neuer, aber doch gleicher Tag ist ...<br />

Am nächsten Morgen warte ich wie immer auf meinen Zug. Es erfolgt eine<br />

Durchsage: „Meine Damen und Herren, bitte beachten Sie: Die S2 nach<br />

Dietzenbach ist voraussichtlich ... fünf Minuten zu spät. Wir bitten ...“ „ ...<br />

Wir bitten um Ihr Verständnis ... Pah, welches Verständnis, um Entschuldigung<br />

sollten sie uns bitten!“, murmelt es links neben mir. Diese Worte voller<br />

Wahrheit lassen <strong>mich</strong> aufsehen. Er fängt meinen Blick auf und ich lächele.<br />

Gemeinsam steigen wir ein paar Minuten später in den Zug.<br />

War es Glück o<strong>der</strong> Schicksal? Am nächsten Tag habe ich ihn wie<strong>der</strong>gesehen.<br />

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Kapitel 3: Vom Leben<br />

Zufall<br />

von Klaus-Dieter Berger<br />

Endlich war es so weit. Nach knapp sechs Monaten Arbeitslosigkeit hatte<br />

ich ein Vorstellungsgespräch. Und das nicht bei irgendwem, nein, son<strong>der</strong>n<br />

bei einer ganz renommierten Anwaltskanzlei in <strong>der</strong> Nähe vom Opernplatz.<br />

Ich konnte es kaum glauben, denn vor ein paar Wochen hatte mir das Job-<br />

Center lapidar gesagt, dass es für Juristen in Frankfurt selten freie Stellen<br />

gäbe, ich hätte lieber etwas Vernünftiges lernen sollen.<br />

Also dann, <strong>der</strong> Termin war um 10.00 Uhr. War alles in Ordnung? Schuhe<br />

geputzt, ordentliche Klamotten an, Haare windschnittig gekämmt, vom<br />

Outfit her konnte meiner Meinung nach nichts schiefgehen. Wo ist das Einladungsschreiben?<br />

Alles da, sicher verstaut. Vorsichtshalber hatte ich beschlossen,<br />

mit <strong>der</strong> S-Bahn in die Stadt zu fahren, um eventuellen Staus aus<br />

dem Weg zu gehen. Und ob man einen Parkplatz in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Oper<br />

bekommt, war auch ungewiss. Der S-Bahn-Haltepunkt Frankfurt-Berkersheim<br />

war verwaist, kein Mensch da. Die werden doch keine Störung haben,<br />

das würde mir gerade noch fehlen. An <strong>der</strong> elektronischen Auskunft<br />

gab es jedenfalls keinen Hinweis darauf.<br />

Fünf Minuten noch bis zur Abfahrt, also erst mal ein Ticket kaufen. Zum<br />

Glück hatte ich passendes Kleingeld für den Automaten, klappt ja alles bestens.<br />

Die Schranken gehen runter, die Bahn kommt. Pünktlich!! Und einen<br />

Sitzplatz bekomme ich auch noch. Mir gegenüber sitzt ein Herr, elegant<br />

gekleidet, schaut irgendwie gelangweilt aus, ist bestimmt ein Banker. Die<br />

haben es gut, fangen spät an zu arbeiten, verdienen Unmengen an Geld,<br />

kommen vielleicht noch in <strong>der</strong> ganzen Welt rum auf Firmenkosten. Der<br />

könnte bestimmt 1. Klasse fahren, vielleicht doch kein Banker.<br />

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Wo sind wir eigentlich? Frankfurt-Galluswarte. Jetzt ist die Bahn doch ganz<br />

schön voll geworden, aber bis zur Taunusanlage dauert es ja nicht mehr<br />

lange. Langsam fahren wir in den Tunnel rein und bleiben ruckartig stehen.<br />

Auch das noch, hoffentlich geht es bald weiter, aber ich habe ja noch über<br />

eine halbe Stunde Zeit bis zu meinem Termin. Diese Warterei ist schrecklich,<br />

keine Durchsage, nichts. Doch, jetzt grummelt etwas aus dem Lautsprecher<br />

in <strong>der</strong> Bahn, nur verstehen kann man nichts. Am Ende war so etwas<br />

wie: Wir bitten um Ihr Verständnis. Der Lärmpegel in <strong>der</strong> Bahn ebbt<br />

immer weiter ab, je<strong>der</strong> schaut irgendwie genervt.<br />

Ob ich den Herrn mal frage, was er verstanden hat? Der schaut immer noch<br />

so gelangweilt wie vor 25 Minuten, als ich eingestiegen bin. Langsam kriege<br />

ich Panik, Schweiß überzieht meinen ganzen Körper, was ist, wenn ich<br />

zu spät komme. Die Hoffnung schwindet, mir ist einfach schlecht. Dabei<br />

hatte ich so viel Zeit eingeplant, dass ich sogar diese S-Bahn hätte verpassen<br />

können. Und jetzt stehen wir im Tunnel rum.<br />

„Ist Ihnen schlecht, kann ich etwas für Sie tun?“, fragt <strong>mich</strong> plötzlich <strong>der</strong><br />

Herr. „Nein, nein, es geht schon. Ich habe um 10.00 Uhr nur einen für <strong>mich</strong><br />

ganz wichtigen Termin“, antworte ich ihm. „Haben Sie verstanden, was da<br />

durchgesagt wurde?“ Er schaute <strong>mich</strong> nur an und schüttelte den Kopf. „Keine<br />

Ahnung, aber für Störungen sollten die einfach eine Bandansage machen,<br />

das würden die Fahrgäste jedenfalls verstehen. Sie fahren diese Strecke<br />

wohl selten, denn hier gibt es bald jeden Tag irgendeine Störung. Neulich<br />

standen wir über eine Stunde im Tunnel, da hatte sich so ein Idiot auf<br />

die Schienen gelegt und sich überfahren lassen. Wenn die sich schon umbringen<br />

wollen, sollen sie es doch nicht auf Kosten <strong>der</strong> Fahrgäste und vor<br />

allem des Zugpersonals machen. Das ist bestimmt kein schönes Gefühl,<br />

einen Menschen zu überfahren. Aber sehen Sie, wir fahren ja schon weiter.“<br />

Schon, <strong>der</strong> hat ja keine Ahnung. In 10 Minuten habe ich meinen Termin,<br />

wird ganz schön knapp werden, hoffentlich komme ich nicht zu spät. Und<br />

was macht das für einen Eindruck, wenn ich völlig abgehetzt dort erscheine?<br />

Vielleicht ist es besser, einfach umzukehren und nach Hause zu fahren.<br />

Nein, feige bin ich nicht. Diese Chance lasse ich mir nicht entgehen, sechs<br />

Monate arbeitslos ist genug.<br />

Endlich, Station Taunusanlage. Es ist 5 Minuten vor zehn. Das schaffe ich<br />

doch locker, schnell an die Tür, damit ich <strong>der</strong> Erste bin. Beim Aussteigen<br />

höre ich noch ein „Viel Glück und Erfolg“ hinter mir herrufen. Ich werde es<br />

brauchen.<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Glücklicherweise ist die Kanzlei <strong>dir</strong>ekt am Anfang <strong>der</strong> Bockenheimer Landstraße.<br />

Was für ein Prachtbau, polierte Messingschil<strong>der</strong> mit allen möglichen<br />

Firmennamen an <strong>der</strong> Eingangstür, sogar ein Pförtner sitzt unten. „Haben<br />

Sie einen Termin?“, werde ich von ihm gefragt. „Fahren Sie bitte in den<br />

zweiten Stock und melden sich dort, Sie werden erwartet.“<br />

Fahren? Auf keinen Fall! Nachher bleibt <strong>der</strong> Aufzug stecken, ich nehme lieber<br />

die Treppe. Nur nicht zu spät kommen. Zweiter Stock, das zieht sich<br />

ganz schön, eigentlich sind die Treppen kein Problem für <strong>mich</strong>, aber nach<br />

<strong>der</strong> ganzen Aufregung mit <strong>der</strong> Hinfahrt bleibt mir ganz schnell die Puste<br />

weg. Ich glaube, früher wurden die einzelnen Etagen in den Häusern höher<br />

gebaut, o<strong>der</strong> bilde ich mir das nur ein?<br />

Eine freundliche Dame empfängt <strong>mich</strong> mit dem Hinweis, dass ich <strong>mich</strong><br />

etwas gedulden muss, da ihr Chef noch unterwegs sei. Ob ich einen Kaffee<br />

möchte, werde ich gefragt. Der beruhigt <strong>mich</strong> bestimmt etwas. Wir plau<strong>der</strong>n<br />

ein wenig, dabei erfahre ich, dass ihr Chef ein absoluter Verfechter des<br />

öffentlichen Nahverkehrs sei und nahezu jeden Tag aus <strong>der</strong> Wetterau mit<br />

<strong>der</strong> S-Bahn in die Kanzlei fährt. Sie lächelt dabei ein wenig und fügt schnippisch<br />

hinzu, dass sie ja die Klienten vertrösten muss, wenn mal wie<strong>der</strong> eine<br />

Störung angesagt sei und sie aus diesem Grund seine Termine verschieben<br />

muss. Früher sei er mit dem Auto in die Stadt gefahren, aber auf Dauer sei<br />

das Autofahren stressiger und viel kostspieliger. Sein Hobby sei es zudem,<br />

auf <strong>der</strong> Fahrt die Fahrgäste in seiner Nähe zu beobachten. Manchmal erzählt<br />

er darüber wirklich lustige Dinge, so dass er bestimmt einen erfolgreichen<br />

Roman über seine Beobachtungen schreiben könnte, lachte seine<br />

Vorzimmerdame.<br />

In diesem Moment öffnete sich vor mir eine Tür. Ich konnte vor Überraschung<br />

kaum schlucken, es war <strong>der</strong> Herr, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> S-Bahn mir gegenüber<br />

gesessen hatte, also doch kein Banker. Er lächelte etwas und meinte: „Ich<br />

glaube, wir kennen uns ja schon, folgen Sie mir doch bitte in mein Büro.“<br />

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undesweiter vorlesetag 2013<br />

Verpassen: ein Exkurs<br />

von Joachim Spanger<br />

Zu spät. S-Bahn verpasst. Es ist kalt und die hämisch rotglühenden Schlusslichter<br />

<strong>der</strong> S-Bahn entschwinden meiner Sicht in einer Melange aus Regen,<br />

Schnee, Signallichtern und den Rufen einer älteren Dame, die ihren Roland<br />

sucht, keine Ahnung wer das ist. <strong>Mit</strong> <strong>der</strong> Ausfahrt <strong>der</strong> Bahn dehnt sich die<br />

Zeit in unverschämter Weise aus, während gleichzeitig <strong>der</strong> Raum sich dramatisch<br />

verkleinert, dazu verdammt auf dieser winzigen Betonplattform zu<br />

warten, beginne ich mit meinem hospitalistischen Auf- und Abwan<strong>der</strong>n.<br />

Ich zünde mir eine Zigarette an, gefährde meine Gesundheit und die an<strong>der</strong>er<br />

anwesen<strong>der</strong> Menschen. Ich denke nach, nehme einen weiteren Zug<br />

und verstoße dabei auch noch gegen die Hausordnung des Bahnhofes, ich<br />

bin ganz offenkundig ein unmoralischer Mensch. Das Wort Verpasst wabert<br />

mir vorwurfsvoll durch den Kopf. Verpasst, das ist nicht nur ein Wort,<br />

stelle ich fest. Verpasst, das ist ein Prozess und drückt sich in mannigfaltiger<br />

Art und Weise aus. Manchmal ist es ein simples „Zurücktreten bitte“<br />

o<strong>der</strong> das nervtötende Geräusch <strong>der</strong> sich schließenden U-Bahn-Türen. Eine<br />

verpasste S-Bahn ist nicht nur ein Sammelsurium an Blech, Eisen, Schrauben<br />

und Fe<strong>der</strong>n, mehr als die Summe aus den vorangegangenen Umständen;<br />

verschlafen, verlaufen, vertrödelt, verplant etc.<br />

Ein verpasster Zug bedeutet auch die Chance etwas zu verpassen. Das damit<br />

verbundene Hätte-Wäre-Könnte verdichtet sich mit dem Schließgeräusch<br />

<strong>der</strong> Wagontüren zur audio-visuellen Realität; dem Konjunktiv. Ich<br />

schnippe die Asche meiner Zigarette ab.<br />

Ein Vorstellungsgespräch, die Traumfrau o<strong>der</strong> -mann, denen wir hätten begegnen<br />

können, während wir im Kiosk uns einen Schnaps zur Vorbereitung<br />

des Vorstellungsgespräches gekauft hätten, hätten wir die Bahn nicht verpasst.<br />

So wird das Aufheulen <strong>der</strong> Elektromotoren eines Zuges zum Verlust<br />

an potentiellen Erinnerungen. Orte, Zugabteile, an die wir uns wehmütig<br />

hätten erinnern können und unsere Lippen von melancholischer Heiterkeit<br />

leicht verziehen könnten. Wer erinnert sich nicht an die zerkratzte Scheibe<br />

in <strong>der</strong> Vierer-Sitzgruppe, die man mit einem beson<strong>der</strong>en Menschen geteilt<br />

hat, ebenso wie den trocken-modrigen Geruch <strong>der</strong> U-Bahn-Schächte?<br />

50


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

O<strong>der</strong> an das Gefühl sich genau an dieser Stelle, Scheibe, Kratzer und das<br />

Loch im Sitzpolster zufällig wie<strong>der</strong>zufinden? Schicksal? Die alltäglichen Absurditäten,<br />

die wir als Homo urbanis in den ratternden und schaukelnden<br />

Wagons über- und unter Tage erleben und erlebt haben. Es sind solche<br />

Momente, welche einen Wagon in eine Zeitkapsel verwandeln können, optisch,<br />

akustisch und – ja, olfaktorisch. Letzteres ist nicht immer ein Segen.<br />

Vor lauter Denkerei habe ich mir den Zeigefinger an meiner Zigarette verbrannt.<br />

Aber immerhin, zehn Minuten Wartezeit sind herum und ich habe<br />

das Gefühl die graue Masse in meinem Schädelinneren sei doch zu etwas<br />

zu gebrauchen. Weiter im Text. Eine Schneeflocke fällt auf meine Unterlippe<br />

und verliert sich in einem leichten Prickeln; ein molekularer Abgesang.<br />

Übrigens – so fällt mir scharfsinnig ein – sind Menschen auch in <strong>der</strong> Lage<br />

Bahnhöfe zu verpassen, <strong>der</strong> geneigten Leserschaft wird diese ironische<br />

Anspielung auf Albert Einstein nicht entgehen. Es sind jene zuvor beschriebenen<br />

Momente, welche dazu führen, dass wir an Stationen und Orten ankommen,<br />

welche wir nie ansteuern wollten. Ikea zum Beispiel o<strong>der</strong> morgens<br />

um fünf am Waldstadion – wir hören Morpheus im Off schadenfroh kichern –<br />

aufzuwachen. Verpassen, kann <strong>der</strong> Mensch eigentlich verpassen? Ergeben<br />

sich nicht tagtäglich Situationen o<strong>der</strong> Gelegenheiten – die Bahn, den Bus<br />

o<strong>der</strong> das Flugzeug zu verpassen –, welche uns wütend, manchmal traurig<br />

machen o<strong>der</strong> aber ein leeres Gefühl <strong>der</strong> Hilflosigkeit hinterlassen? Ich zünde<br />

mir eine weitere Zigarette an, inhaliere den Rauch und atme selbigen langsam<br />

wie<strong>der</strong> aus, ich hülle <strong>mich</strong> in blauen Dunst und graue Gedanken. Eine<br />

Zeitung flattert im Wind, sie ist irgendwie am Bahnsteig festgeklebt, flehentlich<br />

windet sie sich, scheint entkommen zu wollen, sie tut mir leid.<br />

Sind es nicht diese Verpassens-Momente, die die Welt schlagartig an<strong>der</strong>s<br />

aussehen lassen? Jedes kleine Detail reicht nun aus, um uns von Rage in<br />

Verzweiflung zu stürzen. Der Typ vor mir, welcher mit <strong>der</strong> Farbkombination<br />

seiner Kleidung gegen die Genfer Konventionen verstößt, <strong>der</strong> Pulk Jugendlicher<br />

und dieses wirklich tödliche Parfum <strong>der</strong> Hipster-Tante neben mir. Ich<br />

bin versucht den Kampfmittelräumdienst zu rufen. Das Verpassens-Moment<br />

verleiht uns die erstaunliche Gabe winzige Details wahrzunehmen –<br />

im Guten wie im Schlechten. Diese Details lassen uns unsere Umgebung<br />

nicht nur sehen, nein wir atmen sie. Der Gestank o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Duft des Vergessens<br />

changiert dabei in einem Crescendo <strong>der</strong> Gefühle. Übrigens muss ich<br />

feststellen, dass ich ein Loch im Schuh habe und eine namenlose Flüssigkeit<br />

hineinsickert. Genervt rolle ich die Augen. Sieben Minuten noch.<br />

51


undesweiter vorlesetag 2013<br />

Aber tatsächlich verpassen? Das Verpassens-Verpassen, dafür muss Mensch<br />

sich schon anstrengen, wir suchen uns aus, was wir verpassen wollen und<br />

was nicht. Etwas zu verpassen heißt dieses Etwas wahrzunehmen, das Verpassen<br />

dieses speziellen Verpassens eröffnet neue verpassenswürdige Situationen.<br />

Verwirrt von meinen eigenen Gedanken schlussfolgere ich: Ob<br />

nun Ärger o<strong>der</strong> Freude, im Verpassen liegt die Kunst verborgen jeden Moment<br />

und damit auch die eigene wahrgenommene Lebenszeit zu verlängern.<br />

Eine Art urbaner Jungbrunnen, dessen Magie sich aus Uhrzeit und<br />

Gelegenheit zusammensetzt; wo mo<strong>der</strong>ne Strebsamkeit und Gelassenheit<br />

sich gegenüberstehen, aber ein Füllhorn an Zufriedenheit bieten können.<br />

Wenn man, so wie ich jetzt, bei minus sieben Grad am Bahnhof Rödelheim<br />

steht, erscheint all dies grenzenlos naiv. Aber allein die Tatsache, dass mir<br />

diese Gedanken eben durch den Kopf schossen, macht mein S-Bahn-Verpassen<br />

wie<strong>der</strong> lohnenswert. Verpassen gleich Chance? Kann Mensch eine<br />

Chance denn überhaupt verpassen? Chance bedeutet im Französischen<br />

Glück. Ein beruhigen<strong>der</strong> Gedanke.<br />

Die Bahn fährt ein, in wildem Protest schreien die Bremsen auf und zerschneiden<br />

meine Gedanken. Ich frage <strong>mich</strong>, während ich in den Wagon<br />

steige, was ich wohl mit dem Eintreten in dieses Gefährt hier auf dem<br />

Bahnhof verpasse. O<strong>der</strong> eben nicht.<br />

Palimpsest<br />

von Ingrid Schäflein<br />

Sie hatte nur diese leuchtenden Farben im Kopf. Farben, die Licht und vorbehaltlose<br />

Lebensfreude verheißen. <strong>Mit</strong> Leichtigkeit, fast Schwerelosigkeit<br />

aufgetragen, übereinan<strong>der</strong>, nebeneinan<strong>der</strong>. Daraus entstanden riesige Bil<strong>der</strong>,<br />

in die man tauchen konnte, Details, Muster hinter Mustern entdecken<br />

konnte, als ob man in den nächtlichen Sternenhimmel schaute, und nach<br />

und nach hinter <strong>jedem</strong> Stern, <strong>jedem</strong> kleinsten Glimmen, ein weiteres<br />

52


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Leuchten entdeckt, die Weite des Universums erahnt. Vor wenigen Tagen<br />

hatte sie in <strong>der</strong> Schirn die Ausstellung des Malers Francesco Clemente besucht.<br />

Zuerst war sie nicht beson<strong>der</strong>s begeistert von seinen fast wandgroßen<br />

Aquarelltableaus, fand die Kunstwerke zwar ästhetisch schön, aber irgendwie<br />

zu bunt, zu eindeutig, zu offensichtlich. Je mehr sie sich jedoch<br />

mit den Bil<strong>der</strong>n beschäftigte, sich den Körpern und Symbolen <strong>näher</strong>te, sie<br />

dann wie<strong>der</strong> von Weitem betrachtete, desto faszinierter war sie von <strong>der</strong>en<br />

Ausstrahlung und einer Welt, die über die Farbe alles in allem verband,<br />

gleichzeitig versteckte und doch offensichtlich machte.<br />

Sie war beschwingt von <strong>der</strong> Vorstellung, sich diesen Kunstwerken nun auf<br />

eine ganz an<strong>der</strong>e Art zu <strong>näher</strong>n. Um sieben Uhr wollte sie zum Yoga mit<br />

Francesco Clemente, wie die Veranstaltung im Internet angekündigt wurde,<br />

in <strong>der</strong> Schirn sein. Fast hätte sie die S-Bahn verpasst, hatte in aller Eile<br />

kurz vor halb sieben ihr Büro an <strong>der</strong> Theodor-Heuss-Allee Richtung Westbahnhof<br />

verlassen. Um die Schulter gehängt eine helle Tasche, in <strong>der</strong> sich<br />

gebügelte weiße Kleidung befand: eine weite Hose aus dünner Baumwolle<br />

und eine Art ärmelloser Kaftan, <strong>der</strong> mit kleinen Bän<strong>der</strong>n unter <strong>der</strong> Brust<br />

herum geschlossen wurde. Sie wollte dem Strahlen <strong>der</strong> Aquarelle ein klares<br />

Weiß entgegensetzen. Als Unterlage hatte sie ein kleines Schaffell dabei.<br />

Nun saß sie gegen die Fahrtrichtung in <strong>der</strong> S-Bahn, schaute nach draußen,<br />

und freute sich an <strong>der</strong> Sonne, die vorbeiziehende Mauern und Gebäude<br />

abendlich beleuchtete. „Entschuldigung, dass ich Sie belästigt habe.“ Sie<br />

schaute auf, sie hatte zwar gemerkt, dass nach dem Halt an <strong>der</strong> Messe jemand<br />

auf <strong>der</strong> gegenüberliegenden Sitzbank Platz genommen hatte, aber<br />

sie war zu sehr damit beschäftigt, ihre Augen schweifen zu lassen. Jetzt<br />

bemerkte sie den schwarzen Regenschirm, <strong>der</strong> auf ihre Tasche gefallen<br />

war. „Sie haben <strong>mich</strong> doch nicht einmal mit Ihrem Regenschirm berührt.“<br />

Sie lächelte ihn an und sah dann wie<strong>der</strong> aus dem Fenster. „Sie haben wohl<br />

auch Angst, dass es regnen wird“, bemerkte er mit einem Blick auf ihre<br />

Le<strong>der</strong>stiefel zum hellen Sommerrock. „Nein, ich trage einfach gerne Stiefel.<br />

Auch im Sommer.“ Er begann über die an<strong>der</strong>en Fahrgäste, die nur noch in<br />

ihre Smartphones starrten, Kopfhörer aufhatten und ihre Umwelt überhaupt<br />

nicht mehr wahrnehmen würden, zu sprechen. Ein gepflegter <strong>Mit</strong>tfünfziger<br />

mit offenen grauen Augen, weißen Haaren, beigem Trenchcoat,<br />

dunkelgrauen Stoffhosen, polierten schwarzen Le<strong>der</strong>schuhen und diesem<br />

eleganten schwarzen Regenschirm. Offenbar jemand, <strong>der</strong> schöne Dinge<br />

schätzte und sie sich leistete. Doch auch wenn er lächelte, spürte sie in<br />

seiner Wortwahl eine negative innere Haltung. Nicht ihr gegenüber, aber<br />

53


undesweiter vorlesetag 2013<br />

eine zutiefst negative Einstellung, als ob in seinem Leben hochfliegende<br />

Pläne durchkreuzt worden waren. Enttäuschung schwang in je<strong>der</strong> seiner<br />

Bemerkungen mit, fad und zäh wie ein alter Kaugummi, <strong>der</strong> von einem<br />

selbst unbemerkt am Hosenboden klebt. Sie versuchte ganz bewusst, mit<br />

ihren Antworten eine neutrale Sicht auf die Dinge zu geben. Er warf, um sie<br />

einzuschätzen, wie es ihr schien, ein paar Stichworte ins Gespräch, was in<br />

<strong>der</strong> Oper läuft, die letzte Ausstellung im Liebieghaus – er hatte natürlich die<br />

Museumsuferkarte. Da erzählte sie ihm von ihrem Vorhaben, zum Yoga in<br />

die Schirn zu gehen. Erzählte von <strong>der</strong> Magie <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>, was sie in ihnen<br />

sah, und dass sie insgeheim hoffte, dem Künstler vielleicht sogar persönlich<br />

zu begegnen. Und während sie ihrer Begeisterung freien Lauf ließ,<br />

spürte sie, dass diese Begegnung es vielleicht schaffen würde, die Wahrnehmung<br />

ihrer Zufallsbekanntschaft für den restlichen Tag zu verän<strong>der</strong>n. Er<br />

wollte eigentlich an <strong>der</strong> Hauptwache aussteigen, entschied sich dann aber,<br />

bis zur Konstablerwache mitzufahren und zu seinem eigentlichen Ziel zurückzulaufen.<br />

Sie verabschiedeten sich kurz und sie rannte, da sie spät dran<br />

war, durch die Station und die Treppen nach oben.<br />

Als sie über den Platz <strong>der</strong> Konstablerwache Richtung Dom hastete, fing es<br />

zu nieseln an. Sie genoss die kühlenden Tropfen, denn sie spürte, wie sie<br />

ins Schwitzen geriet. Direkt hinter ihr hörte sie feste <strong>Schritt</strong>e. „Darf ich Ihnen<br />

meinen Schirm anbieten?“ Er kam mit hochgerecktem Arm, in <strong>der</strong><br />

Hand den geöffneten Schirm, hinter ihr her gerannt. Sie war in Gedanken<br />

schon weit weg von <strong>der</strong> kleinen Szene in <strong>der</strong> S-Bahn. Er war ihr doch tatsächlich<br />

hinterhergerannt, hatte sie gestoppt, sich dann vor sie gestellt, mit<br />

so einem Gesicht, als ob gleich, ob er wollte o<strong>der</strong> nicht, etwas von Gewicht<br />

passieren würde. „Ich weiß auch nicht, was in <strong>mich</strong> gefahren ist, darf ich<br />

<strong>mich</strong> Ihnen vorstellen? Mein Name ist Thomas Bertold.“ Er reichte ihr förmlich<br />

eine Visitenkarte. Sie stellte sich ebenfalls mit Vor- und Zunamen vor,<br />

entschuldigte sich, dass sie keine Visitenkarte dabei hätte, ließ ihn stehen<br />

und lief Richtung Museum davon.<br />

Francesco Clemente kam dann lei<strong>der</strong> doch nicht zum Yoga. Eine Frau, die<br />

mit dieser Aktion Werbung für ihre Schule machen wollte, leitete die Stunde<br />

an.<br />

Gewohnheitsmäßig schloss sie, wie es in <strong>der</strong> Yogatradition, die sie praktizierte,<br />

üblich war, die Augen. <strong>Mit</strong> geschlossenen Augen konnte sie viel besser<br />

nach innen sehen, sich selbst erkunden. Hinter ihr befand sich das<br />

wun<strong>der</strong>bare Bild mit zwei nackten Frauen, die sich über einen nach hinten<br />

54


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

gebeugten Männerkörper hinweg umarmten. Seitlich von den beiden Sonnen,<br />

Augen, Blüten, Harlekinkleidung. Sie spürte die Kraft <strong>der</strong> Farben hinter<br />

ihr auf dem Tableau, das Glück ganz bei sich zu sein, ihren Körper zu dehnen<br />

und ihre Gedanken loszulassen.<br />

Am folgenden Sonntag besuchte sie noch einmal die Ausstellung in <strong>der</strong><br />

Schirn. Als sie ihren Freund zu einem Bild führte, das ihr beson<strong>der</strong>s gefiel,<br />

sah sie ihn wie<strong>der</strong>. Er sah sie an, erkannte sie nicht, und sie tat nichts, um<br />

das zu än<strong>der</strong>n. Er stand entspannt, mit gelöstem Gesicht, locker auf seinen<br />

Regenschirm gestützt, am Rande einer Gruppe, die eine Führung hatte. Er<br />

schaute auf das Bild mit dem Titel A History of the Heart in Three Rainbows<br />

und lächelte.<br />

Die Frau mit schwarzem Haar<br />

und rotem Schal<br />

von Frank Haser<br />

Wie<strong>der</strong> einmal ein Meeting, von dem rasch klar war, dass es nicht Plattform<br />

gewonnener Einsichten genährt aus gemachten Erfahrungen ist, son<strong>der</strong>n<br />

lediglich <strong>der</strong> Befriedigung persönlicher Eifersüchteleien dienen würde; inhaltsleere<br />

Reden getarnt im brunftigen Geschrei selbst ernannter Platzhirsche;<br />

Alpha-Tiere mit Omega-Argumenten – darob Weinen o<strong>der</strong> Lachen –<br />

in beiden Fällen kopfschüttelnd fassungslos.<br />

Jaja, ihr seid die Größten, aber bitte findet ein Ende, meine Bahn fährt in<br />

wenigen Minuten.<br />

Ich mag sie gerne kriegen – ich muss sie kriegen – und das hat seinen<br />

Grund.<br />

Vielleicht hab‘ ich ja Glück, und die S-Bahn kommt zu spät.<br />

Wie könnt‘ auf das Bild ich verzichten, das dort auf <strong>mich</strong> wartet?<br />

55


undesweiter vorlesetag 2013<br />

Mein Ausblick jeden Tag.<br />

Wenn ihr von ihm bloß wüsstet – ihr ließet vor <strong>der</strong> Zeit <strong>mich</strong> gehen.<br />

Der Große Häuptling hat gesprochen, löst die Versammlung auf, schnell<br />

den Mantel über, die Treppen runter, ich sehe die Menschen wartend an<br />

<strong>der</strong> Bahnstation – ich atme durch – alles gut.<br />

Da fährt sie ein, die Bahn, meine Komplizin, die mir täglich hilft, zu meinen<br />

Lieben, meinem Zuhause zu kommen.<br />

Zu mir.<br />

Gespannt schau‘ ich den einfahrenden Wagons nach, spähe in sie hinein,<br />

meist sitzt sie doch in Wagen drei – in den letzten Tagen hatte sie einen<br />

roten Schal umgebunden in wun<strong>der</strong>samer Symbiose zu ihrem schwarzen<br />

Haar – da sehe ich sie.<br />

Ich steige in den Zug, nicht <strong>dir</strong>ekt zu ihr, nehme nicht neben ihr Platz, geschweige<br />

denn vis-a-vis von ihr – nein – mein Platz kann nur in angemessener<br />

Entfernung sein – ich mag sie sehen, sie betrachten, wie man ein Gemälde<br />

im Museum betrachtet und wirken lässt, sich von ihm umarmen<br />

lässt, Gedanken und Gefühle schenkend, for<strong>der</strong>nd, sie zuzulassen.<br />

Wie hinter Glas sitzt sie da, nimmt sich aus <strong>der</strong> umgebenden Szenerie heraus;<br />

allabendlich lesend – ein Buch in ihrer Hand.<br />

Ich betrachte sie und hoffe dabei, dass sie es nicht bemerkt.<br />

Als Letztes mag ich aufdringlich erscheinen, ansprechen würde ich sie nie,<br />

ich habe keinen Gedanken daran – es geht allein mir um ihr Bild.<br />

Durch sein Betrachten komme ich zur Ruh‘, wenn ich könnte, wollte ich<br />

<strong>mich</strong> jetzt schon befreien von den Zeichen meiner taghellen Funktionalität,<br />

meinem Anzug, den ich im einverständigen Kompromiss mit meinem Arbeit-<br />

und Brotgeber trage; meinem Handy, das jede Zeit und jede Entfernung,<br />

jeden Wunsch nach innerer Beschaulichkeit aufhebt.<br />

Mein Blick nach links und rechts – nicht ein je<strong>der</strong> fühlt wie ich.<br />

Die Welt dreht sich schneller und schneller, und nicht ein je<strong>der</strong> mag abspringen<br />

von dem Karussell.<br />

Wo sammelt sich die Zeit, die man durch die Segnungen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Zeit gewinnt?<br />

56


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Bilden sich hier Guthaben, gibt es einen Trog, ein Fass, aus dem sich bei<br />

Bedarf gewonnene Zeit schöpfen lässt gleich einem Seemann, <strong>der</strong> auf hoher<br />

See bei Flaute und Sonnenglut die Schöpfkelle in das Wasserfass<br />

taucht und den aufgebrochenen Lippen Lin<strong>der</strong>ung verschafft?<br />

Eine Verlängerung gibt es nur im Spiel, im sportlichen Wettkampf, das Leben<br />

selbst kennt keine Extra-Zeit.<br />

Und doch gehen wir Menschen diesen selbstgewählten Weg, gottgleiche<br />

Wesen in eigener Definition – ach, wäre er nur weg, all dieser Ballast, käme<br />

es nur daher, ein einzig großes befreiendes, glückbringendes Lachen, das<br />

unsere Endlichkeit bejaht und uns erkennen lässt, dass einzig doch im Lächeln<br />

des geliebten Menschen unser Lebenssinn liegt.<br />

Die Frau mit schwarzem Haar und rotem Schal – ihr Anblick ist mir ein<br />

abend liches Geleit von <strong>der</strong> Hektik des Alltags zu <strong>der</strong> Langsamkeit meiner<br />

betulichen Seele.<br />

Von Schnell zu Langsam – <strong>der</strong> Wechsel mag nicht einem jeden gelingen.<br />

Bei dem Blick auf an Ohren gehaltene Handys – das Herz ist weit entfernt –,<br />

beim Blick auf aufgeklappte Computerbildschirme mit Ziffern und Skalen,<br />

die morgen schon Makulatur sind und von neuen Graphiken überschrieben<br />

werden, muss ich plötzlich lächeln – fallen mir dabei doch die Beatles ein.<br />

Fiel doch auch ihnen <strong>der</strong> Wechsel von Langsam auf Schnell sehr schwer.<br />

Lennon komponierte den langsamen Teil zu dem letzten Stück auf „Sgt.<br />

Peppers Lonely Hearts Club Band“ („I read the news today – oh boy<strong>…</strong>“),<br />

McCartney den schnellen <strong>Mit</strong>telteil.<br />

Es bedurfte 40 Musiker des Londoner Philharmonic Orchester, diese beiden<br />

Teile und die 24 Takte zwischen ihnen damit zu füllen, auf <strong>der</strong> tiefsten<br />

Note ihres jeweiligen Instrumentes ganz leise, ja fast schüchtern zu beginnen,<br />

um am Ende den höchsten Ton in E-Dur in voller Lautstärke zu spielen.<br />

Welch‘ eine Reise für den Zuhörer, wenn er sich denn auf sie einlassen<br />

mag.<br />

Meine Frau Mama, die eher auf die frühen Sachen <strong>der</strong> Jungens steht und<br />

<strong>der</strong> damit verbundenen Zeitreise zu den Anfängen ihrer Entdeckung <strong>der</strong><br />

Anziehungskraft junger Kerle, ließ es sich nicht nehmen, <strong>mich</strong> darauf hinzuweisen,<br />

dass in ihren Ohren manch Baustellenlärm einen angenehmeren<br />

Klang hervorbrächte.<br />

57


undesweiter vorlesetag 2013<br />

Nun – ich hab‘ sie trotzdem lieb.<br />

Der Zugführer bremst ab, die Fahrt verlangsamt sich.<br />

Gleich hält <strong>der</strong> Zug und entlässt uns Menschen.<br />

Wir sind in unseren Wegen dem Zug so verschieden nicht – gehen wir<br />

doch meist auch auf vorbestimmten Wegen, unsichtbaren Gleisen gleich.<br />

Sie schaut nicht auf, die Frau mit rotem Schal, als ich <strong>mich</strong> für heut‘ verabschiede.<br />

Welch‘ Gedanken hat sie mir geschenkt – sollt‘ ich es sie wissen lassen?<br />

Aber nein – meine Wahrheit kann nicht ihre sein.<br />

Caspar David Friedrich hat von mir nichts gewusst und meinen Empfindungen,<br />

die sein Genie und seine Farben in mir auslösen werden, als sie vor<br />

200 Jahren die Leinwand berührten.<br />

Wie gern wär‘ ich einmal nur <strong>der</strong> Mönch am Meer ...<br />

Und doch – was tät‘ ich ohne sie – die Frau mit schwarzem Haar und rotem<br />

Schal?<br />

Ob sie wohl verwun<strong>der</strong>t reagiert, wenn ich <strong>der</strong> Namenlose sie die Namenlose<br />

morgen darum bitten werde, unseren Jahresurlaub miteinan<strong>der</strong> abzustimmen?<br />

<strong>…</strong> Bis man es versteht<br />

von Marija Schufrin<br />

Schon wie<strong>der</strong> die letzte S-Bahn verpasst. Dass ihr das auch immer passieren<br />

musste. Traurig blickte sie den glühenden Rücklämpchen hinterher, die<br />

sich in <strong>der</strong> Dunkelheit entfernten. Langsam wurde es auffällig: Das Leben<br />

meinte es anscheinend nicht so gut mit ihr, ständig hatte sie das Gefühl,<br />

58


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

etwas zu verpassen. Nicht weit entfernt von <strong>der</strong> Haltestelle leuchtete das<br />

matte Licht einer Dönerbude. Die Stühle waren bereits hochgestellt und<br />

<strong>der</strong> Besitzer machte sich schon für den Feierabend bereit. Alles bereitete<br />

sich für die Nacht vor. Nur sie hatte Schwierigkeiten damit, endlich zu Hause<br />

anzukommen. Gleichgültig machte sie sich auf den Fußmarsch. Der<br />

würde sie wie<strong>der</strong> eine Stunde kosten. Gedankenversunken kickte sie eine<br />

leere Dose vor sich hin und fragte sich, warum es ihr so schwer fiel, einfach<br />

mal ohne Schwierigkeiten nach Hause zu kommen. Schließlich kannte sie<br />

ja den Weg, sie kannte die Zeiten des Fahrplanes. Es war, als hielte sie eine<br />

undefinierbare Kraft ständig davon ab, den <strong>dir</strong>ekten, einfachen Weg zu<br />

nehmen. „Irgendeinen Sinn muss das doch haben“, dachte sie vor sich hin.<br />

„Ich glaub ja eigentlich nicht an so was, aber vielleicht begegne ich auf<br />

diesem Weg ja tatsächlich meinem Schicksal, meiner Bestimmung und<br />

werde endlich verstehen, dass meine ganzen Missgeschicke allein diese<br />

Begegnung zum Ziel hatten.“ Doch es blieb alles beim Alten. Es war nicht<br />

das erste Mal, dass sie einen solchen Fußmarsch auf sich nehmen musste,<br />

und es sollte auch nicht <strong>der</strong> letzte sein. Alle sie liefen absolut gleichgültig<br />

ab, ohne dass sich irgendwelche Wun<strong>der</strong> ereigneten. Ihr Glaube an ein<br />

Wun<strong>der</strong> auf ihrem Weg verlor zwar immer mehr an Intensität, doch schaute<br />

sie sich dennoch immer wie<strong>der</strong> um, versuchte diesem Weg immer und<br />

immer wie<strong>der</strong> auch nur irgendeinen Sinn, irgendeinen Zweck abzugewinnen.<br />

Doch vergeblich. Sie kam immer frustriert und leer zuhause an. Setzte<br />

sich vor den Fernseher und floh in die Märchenwelt, in <strong>der</strong> es noch Wun<strong>der</strong><br />

gab.<br />

Es war April, <strong>der</strong> letzte Arbeitstag vor Ostern. Sie machte sich auf den Weg,<br />

die Zeit gab keine Ruhe. Zu dem Termin durfte sie nicht zu spät kommen.<br />

Sie hatte ihrem Chef versprochen, dass sie ihm alle Ehre macht, dass sie<br />

ihn vertritt und seine Idee vorstellt. Sie musste sich beeilen, es war wichtig.<br />

Geschafft, die Kunden waren begeistert. Unglaublich, was sie alles konnte,<br />

wenn sie bloß wollte.<br />

Dieses Wetter, wieso regnet es denn plötzlich? Sie hatte damit nicht gerechnet,<br />

<strong>der</strong> Regenschirm lag schön bequem im Flur ihres schönen Heims.<br />

Die raren Tropfen vermehrten sich und sie eilte auf <strong>der</strong> Suche nach einem<br />

schützenden Dach in Richtung Haltestelle. Im Lauf blickte sie auf die Uhr<br />

an ihrem Handgelenk, wischte die Tropfen von <strong>der</strong> Scheibe. Der Sekundenzeiger<br />

bewegte sich nicht. Die Uhr muss wohl feucht geworden sein. „Verdammt“,<br />

schimpfte sie.<br />

59


undesweiter vorlesetag 2013<br />

Keuchend erreichte sie die Haltestelle. Keine S-Bahn zu sehen. „Naja, das<br />

Übliche eben“, dachte sie sich. Es regnete immer noch in Strömen, kurzerhand<br />

entschloss sie sich, in <strong>der</strong> Dönerbude nach Unterschlupf zu fragen.<br />

Wie ein begossener Pudel stand sie an <strong>der</strong> Glasscheibe und blickte hinein.<br />

Der Besitzer hatte seine Hand schon am Lichtschalter, als er sie bemerkte.<br />

Zwei liebevolle Augen blickten sie an. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie noch nie<br />

einem Dönerverkäufer ernsthaft in die Augen geschaut hatte. Er ließ sie<br />

rein und lud sie auf einen Tee ein. Er holte ihr von irgendwo ein Handtuch<br />

her und setzte den Wasserkocher auf. „Als ich jung war“, begann er plötzlich<br />

in die Stille hinein zu erzählen, „da wusste ich noch nicht so recht, was<br />

ich mal werden möchte. Etwas Großartiges wollte ich werden, etwas erreichen<br />

wollte ich in meinem Leben. Ich hielt ständig Ausschau nach Chancen<br />

und konnte sehr schlecht damit umgehen, wenn ich mal eine verpasste.<br />

Ich war stets <strong>der</strong> Überzeugung, das wäre meine Schuld und ich müsste<br />

<strong>mich</strong> dafür schämen. Ich hasste <strong>mich</strong> dafür.<br />

<strong>Mit</strong> je<strong>der</strong> neuen Errungenschaft stiegen auch meine Ansprüche. An <strong>mich</strong><br />

und an die Gelegenheiten, die immer seltener wurden, weil ich sie kräftig<br />

nach ihrer Qualität aussortierte. Irgendwann sah ich vor lauter Ansprüchen<br />

überhaupt keinen Sinn mehr in meinem Leben und in meiner Existenz.“ Sie<br />

blickte zu ihm hoch, so als würde sie fragen wollen: „Und nun?“ Da wurde<br />

<strong>der</strong> Monolog unterbrochen. „Papa, Papa“, schallte es und sie hörte jemanden<br />

eine Treppe heruntertrampeln. Sie sah nur zwei Zöpfe aus einer Tür<br />

gegenüber <strong>der</strong> Eingangstür heraussausen und schon waren die kleinen<br />

Ärmchen um den Hals ihres Gastgebers geschwungen. Eine weibliche<br />

Stimme ertönte: „Liebes, komm wie<strong>der</strong> ins Bett“, kurz bevor sich auch die<br />

Person dazu im Türrahmen zeigte. „Schatz, tut mir leid, sie wollte <strong>dir</strong> nur<br />

noch schnell ‚gute Nacht‘ sagen“, fuhr sie mit einem sanften Blick zu ihrem<br />

Mann fort. Als sie die Besucherin bemerkte, lächelte sie sie freundlich an.<br />

Der Geruch des Tees füllte den Raum. Es roch nach Liebe.<br />

Es hatte aufgehört zu regnen. Unsere arme Seele blickte hoch und dachte<br />

sich: „Ich möchte auch nach Hause.“ „Danke für alles“, sagte sie leise.<br />

Stand auf und ging. Gerade als sie den Fuß über die Schwelle setzte, sah<br />

sie die S-Bahn an die Haltestelle kommen. Sie überquerte die Straße,<br />

drückte den Knopf und stieg ein.<br />

War es nun bloß Glück, ... o<strong>der</strong> vielleicht das Schicksal, mit welchem sie<br />

endlich einverstanden war?<br />

60


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Wege des Schicksals<br />

von Lydia Kopecz<br />

Tom hatte einen miesen Wochenstart hinter sich.<br />

Am Montag musste er die Umzugskisten seiner Freundin, randvoll mit Büchern<br />

gefüllt, in ihre neue Wohnung im vierten Stock schleppen. Deshalb<br />

stritt Tom sich Dienstag heftig mit ihr. „Dir würde es bei Deiner Lesegeschwindigkeit<br />

nicht schaden, zumindest ein paar Bücher im Jahr zu lesen!“,<br />

hatte sie ihm an den Kopf geworfen. Zu allem Überfluss wurde am<br />

<strong>Mit</strong>twoch vom Möbelhaus ein nicht bestelltes Bücherregal geliefert. Dafür<br />

musste er allerdings auf seinen neuen Schreibtisch verzichten.<br />

Damit nicht genug, heute Morgen fuhr ihm die S-Bahn vor <strong>der</strong> Nase weg<br />

und er musste eine geschlagene Viertelstunde die Gesellschaft seiner überaus<br />

mitteilungsbedürftigen Nachbarin ertragen, die keuchend keine Minute<br />

nach Abfahrt <strong>der</strong> Bahn am Bahnsteig ankam und fragte: „Na, auch die<br />

Bahn verpasst? Das ist ja schade, aber so sehen wir uns mal und haben<br />

Zeit, mal zu schwatzen.“ Tom verfluchte sein Schicksal. Dass ihm in dieser<br />

Woche aber auch gar nichts erspart blieb. Er wünschte sich nichts sehnlicher,<br />

als dass ihn die Bahn doch von seinem Elend erlöse. Er schwor sich,<br />

dann auch nie wie<strong>der</strong> über kleine Verspätungen zu meckern, son<strong>der</strong>n die<br />

zusätzliche Zeit damit zu nutzen, endlich wie<strong>der</strong> ein Buch zu lesen. Als hätte<br />

die S-Bahn ihn erhört, fuhr sie, kaum hatte er den Gedanken zu Ende<br />

gedacht, in den Bahnhof ein. Seine Nachbarin war er damit schon mal los,<br />

weil sie aus für ihn unerfindlichen Gründen immer genau in den mittleren<br />

Wagen einstieg. In den an<strong>der</strong>en fühle sie sich immer so unwohl. Das war<br />

für Tom die Chance, zu sagen, er müsse lei<strong>der</strong> vorne einsteigen, da er dann<br />

bessere Chancen habe, seinen Anschlusszug zu erwischen.<br />

An <strong>der</strong> nächsten Station stiegen Kontrolleure ein. Tom zückte sein e-Ticket<br />

und reichte es zur Kontrolle. Die Reaktion des Bahnbediensteten traf ihn<br />

völlig unerwartet: „Aha, Sie nutzen also jetzt Ihre Fahrzeit sinnvoll und erfreuen<br />

sich an einem Buch, statt auf unschuldige Bahnfahrer und Verkehrsgesellschaften<br />

zu schimpfen. Das lob‘ ich mir!“ „Wie bitte? Woher <strong>…</strong> Wie<br />

können Sie das wissen?!“ Der Kontrolleur zwinkerte ihm zu, schwenkte das<br />

61


undesweiter vorlesetag 2013<br />

e-Ticket und meinte lachend: „Wenn Sie wüssten, wozu die mo<strong>der</strong>ne Technik<br />

alles in <strong>der</strong> Lage ist <strong>…</strong>“ Damit ließ er den völlig perplexen Tom mit seiner<br />

Fahrkarte zurück und setzte die Kontrolle fort. Dieser konnte nicht fassen,<br />

was ihm grade passiert war. Unmöglich hätte <strong>der</strong> Mann mitbekommen<br />

können, woran er gedacht hatte. Bis er darauf angesprochen wurde, hatte<br />

Tom seine Wartezeit am Bahnhof und die damit zusammenhängenden Gedanken<br />

schon völlig verdrängt. Er hatte auch seinen Schwur, nicht mehr zu<br />

meckern, nicht wirklich ernst gemeint. Geschweige denn wollte er ein<br />

Buch lesen, was er, nebenbei bemerkt, erst einmal anschaffen müsste.<br />

Aber jetzt wurde ihm doch etwas mulmig zu Mute. Woher kannte dieser<br />

ominöse Kontrolleur seine Gedanken? Dass sie auf seinem e-Ticket gespeichert<br />

waren, hielt er für sehr unwahrscheinlich. Aber war es nicht genauso<br />

absurd, sich vorzustellen, jemand könne seine Gedanken lesen? Unruhig<br />

rutschte er auf dem Sitzpolster hin und her. Nach langem Abwägen kam<br />

Tom schließlich zu dem Schluss, auf Nummer sicher zu gehen, sich ein<br />

Buch zu kaufen und die Bahnfahrten zu genießen.<br />

Er setzte sein Vorhaben gleich am Nachmittag um und machte sich in eine<br />

große Buchhandlung auf. Schon beim Eintreten fühlte er sich förmlich erschlagen<br />

von <strong>der</strong> Menge an Büchern, die hier zum Verkauf standen. Er<br />

dachte bei sich: „So, wie wäre es jetzt nochmal mit einer kleinen Kauf-Hilfe?<br />

Wenn ich <strong>mich</strong> schon dazu durchringe, den Laden zu betreten, kann ich<br />

doch was als Gegenleistung erwarten!“ Wen genau er damit ansprechen<br />

wollte, wusste er nicht. Um ehrlich zu sein, solche Überlegungen wollte er<br />

auch gar nicht erst anfangen. Tom steuerte zunächst den Tisch mit den<br />

Bestsellern an. Aber natürlich sagten ihm Titel wie „Die verlorenen Spuren“<br />

o<strong>der</strong> „Winter <strong>der</strong> Welt“ absolut nichts. Also beschloss er, sich auf die Cover<br />

zu fixieren. Gefiel ihm eines, las er den Klappentext durch. Irgendwie fand<br />

er jedoch nichts, was ihn ansprach. „Darf ich Ihnen ein Buch empfehlen?<br />

Sie scheinen sich nicht entscheiden zu können, was Ihnen zusagt“, erklang<br />

die Stimme eines <strong>Mit</strong>arbeiters <strong>der</strong> Buchhandlung rechts von ihm. Sehr erleichtert,<br />

eine in seinen Augen kompetente Beratung gefunden zu haben,<br />

nahm er das Hilfsangebot an. Tom beschrieb auf Nachfrage, wofür er sich<br />

generell interessierte: Action- und Strategiespiele, Reisen, vor allem in<br />

nördlich gelegene Län<strong>der</strong> wie Island, bloß keine Politik, dafür aber ein wenig<br />

Geschichte, jedoch nur die wirklich alte, nichts, was über das 12. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

hinausging. Der <strong>Mit</strong>arbeiter dachte ein wenig nach und führte Tom<br />

dann in Richtung <strong>der</strong> Fantasy- und historischen Romane. Währenddessen<br />

unterhielten sich die beiden weiter und Tom begann, den <strong>Mit</strong>arbeiter dieser<br />

62


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

Buchhandlung zu mögen. Er versuchte nicht, ihm irgendeinen dicken<br />

schweren und vor allem teuren Wälzer aufzudrücken, son<strong>der</strong>n schien ernsthaft<br />

daran interessiert, ein zu seinem Kunden passendes Buch zu finden.<br />

Insgesamt fielen fünf Bücher in die engere Auswahl. <strong>Mit</strong> diesen setzten<br />

sich Tom und <strong>der</strong> Berater an einen niedrigen Tisch im Laden und ließ Tom<br />

sich ein wenig über die Lektüren erzählen. Ihm kam <strong>der</strong> Gedanke, dass Bücher<br />

wohl doch gar nicht so furchtbar seien und er sich vielleicht sogar einen<br />

Gefallen damit getan hatte, sich mit ihnen zu beschäftigen. Plötzlich<br />

hatte er den Drang, seinem Gegenüber von den Erlebnissen in <strong>der</strong> Bahn zu<br />

berichten. Das tat er dann auch, obwohl er halb erwartete, ausgelacht und<br />

für verrückt erklärt zu werden. Aber Toms Gesprächspartner nickte nur verständnisvoll<br />

und tat hie und da seine Zustimmung kund. Als Tom fertig erzählt<br />

hatte und ihn erwartungsvoll ansah, stand er auf, drückte ihm eines<br />

<strong>der</strong> fünf Bücher in die Hand und verabschiedete sich mit den Worten: „Sie<br />

haben heute den ersten <strong>Schritt</strong> auf den richtigen Weg getan: Versuchen<br />

Sie, die positive Seite Ihres Lebens zu sehen und nicht die negativen Dinge.<br />

Dabei werden Ihnen dieses Buch und ruhige Minuten in <strong>der</strong> Bahn wertvolle<br />

Dienste leisten.“ Schon zum zweiten Mal an diesem Tag war Tom überrascht<br />

davon, was ihm gesagt wurde. Aber er nahm die Äußerung des<br />

Beraters hin, kaufte das Buch und verließ den Buchladen mit dem guten<br />

Gefühl im Bauch, dass die Woche besser enden würde, als sie angefangen<br />

hatte.<br />

Zu spät<br />

von Silke Bley<br />

Samstagabend. Der Gradmesser für gute Unterhaltung steht auf Tiefgrün,<br />

ich habe die Zeit in bester Gesellschaft vergessen und auch den Fahrplan<br />

meiner Linie nicht im Kopf. Zu spät für die letzte, zu früh für die erste, was<br />

tun? Also zurück an die Erdoberfläche und nach einem eierschalenfarbenen<br />

Wagen Aussicht halten. Der Retter in <strong>der</strong> nächtlichen Not ist ein junger<br />

63


undesweiter vorlesetag 2013<br />

Mann indischer Herkunft, <strong>der</strong> sich sichtlich und redegewandt über Kundschaft<br />

freut. Na gut, besser als ein Schweigen hinterm Steuer. „Wo wollen<br />

Sie hin? Da war ich ja noch nie <strong>…</strong>“ Sicher hat Frankfurt Straßen, die ein Taxifahrer<br />

noch nie befahren hat, aber einen ganzen Stadtteil nicht zu kennen,<br />

ist ungewöhnlich. Wie man denn da hinkäme, ich möge ihn <strong>dir</strong>igieren. Als<br />

Nichtautofahrerin und kürzlich Zugezogene, zudem müde und in <strong>der</strong> Erwartungshaltung,<br />

dass diese Dienstleistung Ortskenntnis inkludiert, frage ich<br />

nach einem Navigationsgerät und gebe nach Verneinen die grobe Richtung<br />

an (nach Norden, also eher Westen, so in etwa Bockenheim, o<strong>der</strong> vielleicht<br />

orientieren wir uns am Spargel?). Er entscheidet sich für einen Weg über<br />

die Autobahn, ruft aber sicherheitshalber „noch mal den Cousin an, ist mein<br />

ersten Tag und ich vertrete auch nur!“ Ich ahne, dies wird keine Durchschnittsfahrt<br />

und halte <strong>mich</strong> vorsichtshalber gut fest und kontrolliere den<br />

Sicherheitsgurt, denn über eine Freisprechanlage verfügt <strong>der</strong> Wagen nicht<br />

und mein Chauffeur versucht sich in Multitasking. Gerade auf <strong>der</strong> A66 gibt<br />

<strong>der</strong> Cousin eine alternative Route durch. Gesagt, getan, zackig den Rückwärtsgang<br />

rein, Gas gegeben und rückwärts runter von <strong>der</strong> Autobahn <strong>…</strong><br />

Wie gut, dass uns <strong>der</strong> rückwärtige Verkehr sowieso überholt, mit einer<br />

Hand am Ohr und an<strong>der</strong>er am Steuer fahren wir vorwärts als auch rückwärts<br />

Schlangenlinien, vor denen <strong>der</strong> ordentliche Verkehrsteilnehmer Abstand<br />

hält. Mir bleibt das Herz stehen resp. die Luft kurzzeitig weg und<br />

staune über meines Taxifahrers Gemütsruhe und Hemdsärmeligkeit; „über<br />

Autobahn ist Umweg, sagt mein Cousin“. Außerdem stellt er das Taxameter<br />

ab, „einigen wir uns dann“. Nun also durch die Stadt, ist ja noch mal<br />

gutgegangen. Ich gebe im Projekt Routefinden mein Bestes, dito <strong>der</strong> immer<br />

noch live zugeschaltete Cousin, irgendwo in <strong>der</strong> <strong>Mit</strong>te liegt wohl <strong>der</strong> <strong>dir</strong>ekte<br />

Weg nach Hause. An einer roten Ampel, ich kann inzwischen durchatmen,<br />

da ich <strong>mich</strong> wie<strong>der</strong> auskenne und <strong>mich</strong> vom Fond aus, was die Reiseroute<br />

angeht, durchsetzen kann, kommen wir hinter einem an<strong>der</strong>en Taxi<br />

zum Stehen. Als die hintere Tür sich öffnet, ein blon<strong>der</strong> weiblicher Schopf<br />

zum Vorschein kommt und den letzten vermutlich schlecht gemischten<br />

Cocktail auf den Asphalt ergießt, bin ich froh, wenigstens bei halbwegs klarem<br />

Kopf geblieben zu sein. Mein Fahrer indessen behält aufgeweckt plau<strong>der</strong>nd<br />

die Nerven und seine gute Laune, startet nach dem Kennenlernen<br />

von – für ihn – neuen Frankfurter Stadtteilen und Ausprobieren neuer Funktionen<br />

seines Mobiltelefons die übliche Taxikonversation. Ich antworte<br />

brav, das lenkt von <strong>der</strong> Angst um Leib und Leben ab, falls diese Fahrt meine<br />

letzte sein soll und das nächste Wendemanöver auf <strong>der</strong> Autobahn weniger<br />

glimpflich verläuft. Doch unser Schutzengel war wachsam (o<strong>der</strong> war es<br />

64


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

<strong>der</strong> Cousin?), wir rollen in meine Straße, wir habens geschafft! Vor meiner<br />

Haustüre wünscht mir mein wackrer Pfadfin<strong>der</strong> fröhlich eine gute Nacht,<br />

und „bis zum nächsten Mal! War gut!“, während ich mir mit noch wackeligen<br />

Knien vornehme, noch heute den Fahrplan meiner Linie auswendig zu<br />

lernen, für den Fall, dass es mal wie<strong>der</strong> später wird.<br />

Fahrt nach Hessen Stern<br />

von Stefanie Weller<br />

Ich hätte <strong>mich</strong> einfach nicht darauf einlassen sollen. In meinem Arm spüre<br />

ich jetzt deutlich das Gewicht des Katzenkorbes, in dem unsere Katze Sabi<br />

sitzt. Ich werfe einen kurzen Blick durch die gitterartige Öffnung an <strong>der</strong> Seite<br />

und vergewissere <strong>mich</strong>, dass dieses seltsame Wesen tatsächlich dort<br />

drin sitzt. Ihr richtiger Name lautet eigentlich Momosabe, aber wir nennen<br />

sie alle nur Sabi. Ich schaue auf meine Uhr – gleich müssten wir am Bahnhof<br />

ankommen. Ich nutze die restliche Zeit, um den heutigen Morgen und<br />

seinen chaotischen Ablauf noch einmal gedanklich durchzugehen. Ich lag<br />

vorhin noch auf <strong>der</strong> Couch in unserem Wohnzimmer, hielt die Zeitung in<br />

<strong>der</strong> Hand und trank meinen Kaffee. Das ist ein in <strong>der</strong> Woche lange ersehntes<br />

Ritual für <strong>mich</strong>. Ich lese und genieße das Faulsein. Die Kin<strong>der</strong> schlafen<br />

um diese Zeit noch o<strong>der</strong> beschäftigen sich selbst und ich kann <strong>mich</strong> so<br />

richtig in das Lesen vertiefen. Aber heute Morgen machte mir meine Tochter<br />

Kathrin einen Strich durch die Rechnung. Sie baute sich plötzlich vor mir<br />

auf und mit <strong>der</strong> Ruhe war es schlagartig vorbei.<br />

Unsere Tochter wollte heute mit Sabi zu einem Schönheitswettbewerb für<br />

Katzen fahren.<br />

Unsere Sabi ist nämlich preisgekrönt. Dreimal haben wir das kleine Biest<br />

schon auf das Podest von unserem Katzenverein heben dürfen. Ok, ich<br />

muss wohl korrigieren. Sabi haben wir emporgereckt und sie hat sich sanft<br />

auf dem obersten Podest nie<strong>der</strong>gelassen. Heute sollte es das vierte Mal<br />

65


undesweiter vorlesetag 2013<br />

werden. Dafür hat meine Tochter lange im Voraus geplant, Sabi mit teuren<br />

Schönheitsmitteln gewaschen, sie durchgewuschelt und geknetet und sich<br />

selbst neue Schuhe und eine neue Bluse gekauft. Die Sinnhaftigkeit ihrer<br />

neuen Kleidung in diesem Zusammenhang hatte ich zwar nicht ganz verstanden,<br />

aber das hatte auch niemand von mir erwartet. Jedenfalls steht<br />

Kathrin dann heute Morgen plötzlich vor mir, verschnupft und knatschig<br />

und sagt: „Papa, ich bin krank, kannst du bitte mit Sabi fahren?“<br />

Warum sollte ich?! Ich bin ein erwachsener Mann. Was hätte ich davon, mit<br />

einem Wollhaufen am Sonntagvormittag irgendwohin zu fahren? Um in einer<br />

überfüllten Lagerhalle mit an<strong>der</strong>en Wollhaufen das vernichtende Ergebnis<br />

„lei<strong>der</strong> verloren“ abzuwarten? Als meine Tochter dann aber ihre großen<br />

Augen gemacht hat, war natürlich alles klar. Es wäre sonst ja auch „sooo<br />

schade“<strong>…</strong> Ich habe Momosabe also in ihren Korb geknüllt und in aller Eile<br />

das Haus Richtung U-Bahn verlassen. Die haben wir gerade so bekommen.<br />

Jetzt wechsle ich den Katzenkorb von <strong>der</strong> linken in die rechte Hand, bevor<br />

mir <strong>der</strong> Arm abfällt. Momosabe findet das großartig, o<strong>der</strong> auch nicht, sie<br />

hüllt sich in geheimnisvolles Schweigen. Momosabe ist übrigens die Abkürzung<br />

für „Motzige Motzkatze, sauhübsche Bella“. Und ich finde meine<br />

Tochter hat sich den passenden Namen für das Tier ausgedacht. Ich glaube,<br />

keine Katze kann so viel motzen und so schön gucken – gleichzeitig.<br />

Gerade kommen wir am Bahnhof an. Die Leute schieben <strong>mich</strong> aus <strong>der</strong> Tür<br />

hinaus und hinter uns pfeift es, als sich die Türen <strong>der</strong> U-Bahn wie<strong>der</strong> automatisch<br />

schließen. Sabi rülpst kurz, als <strong>der</strong> erste Windzug in ihr Körbchen<br />

weht. Ein kurzer Blick auf die Uhr bestätigt meine Befürchtung. Ich bin zu<br />

spät. Soll ich jetzt rennend die Treppen nehmen? Und bei <strong>jedem</strong> <strong>Schritt</strong> die<br />

Katze so durchrütteln, dass ihre Augen später vor dem Preisrichter immer<br />

noch auf und ab tanzen? Nein, das wäre keine gute Idee. Also war‘s das,<br />

die S-Bahn nach Hessen Stern haben wir verpasst. In dem Moment höre<br />

ich auch das heulende Geräusch <strong>der</strong> abfahrenden Waggons. Ich seufze tief<br />

und finde die Welt extrem ungerecht. Doch während ich schon unsere<br />

Rückreise gedanklich zu planen beginne, sehe ich ihn: den Mann mit dem<br />

Katzenkorb.<br />

Auch so ein von <strong>der</strong> Familie Getriebener, vermute ich. Und hier in diesem<br />

Kaff kann seine Erscheinung nur eins bedeuten: dass wir das gleiche Ziel<br />

haben. Und ER will gerade in sein Auto steigen. Ich ergreife die Gelegenheit<br />

und spreche ihn an: Auf meine Frage nach Ziel und <strong>Mit</strong>fahrt und meinem<br />

traurigen „S-Bahn verpasst“ ernten wir ein Nicken, außerdem ein<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

„Steigen Sie ein.“ Ich schiebe <strong>mich</strong> also mit Sabi auf die Rückbank, auf<br />

dem Vor<strong>der</strong>sitz ist die Katze des Mannes untergebracht. Was für ein Zufall<br />

das Ganze, denke ich. Wir fahren los und ich lege meine Hand ruhig auf<br />

den Katzenkorb von Sabi. Just in dem Moment kommt Bewegung in meine<br />

Hand. Sabi stört die Nähe zu <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Katze offensichtlich, denn ich<br />

höre bereits das tiefe Unbehagen <strong>der</strong> ganzen Welt aus ihrem tiefsten Inneren<br />

hervorkommen.<br />

Ich finde es bemerkenswert, welche Geräusche aus einer Katze kommen<br />

können, wenn sie sich für irgendetwas bereit macht. Und das tut Sabi. Ich<br />

merke, wie mein Arm regelrecht mit unter Spannung gerät, als meine Katze<br />

die Katze von dem netten Herrn gedanklich vernichtet.<br />

Die an<strong>der</strong>e Katze hat sich lediglich für das Starren aus zwei Suppentellern<br />

entschieden. Ich habe das Gefühl, ich kann hören, wie Sabi jetzt während<br />

<strong>der</strong> gesamten Fahrt einen geheimen Plan fasst.<br />

Wir sind in <strong>der</strong> Lagerhalle, es ist bereits Nachmittag. Ich habe dem netten<br />

Herrn gedankt, meine Katze vorgeführt und eine Wurst mit Senf gegessen.<br />

Bier gab es auch, aber das war mir zu teuer. Jetzt stehe ich vor meiner Katze<br />

und denke an die Vorführung. Ich kenne jetzt den geheimen Plan. Meine<br />

Katze war so hübsch anzusehen, dass ich <strong>mich</strong> nach meiner richtigen Katze<br />

suchend umgeschaut habe. Trotzdem kann ich die Verkündung des Ergebnisses<br />

nicht glauben. Wir haben gewonnen. Mir werden die Hände geschüttelt<br />

und ich halte eine blaue Rüschenschleife in den Händen. Gott sei<br />

Dank muss ich sie <strong>der</strong> Katze nicht vor allen Leuten umbinden, stattdessen<br />

hebe ich Sabi sanft empor auf das oberste Podest. Dabei denke ich, dass es<br />

heute zwar Glück war, dass wir unsere <strong>Mit</strong>fahrer getroffen haben und ich<br />

meine Couch immer noch vermisse, dass Sabi aber auch da oben hingehört.<br />

Später nehme ich sie wie<strong>der</strong> an <strong>mich</strong>, streichele ihr über das Fell und<br />

lasse sie sanft zurück in ihren Korb gleiten.<br />

Und sie sieht <strong>mich</strong> daraus an, als wäre es das Selbstverständlichste <strong>der</strong><br />

Welt, ganz oben zu sein.<br />

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undesweiter vorlesetag 2013<br />

S-Bahn verpasst <strong>…</strong><br />

von Kerstin Sommer<br />

„Ich hab‘ die S-Bahn verpasst, tut mir leid“ – wie oft musste ich mir schon<br />

diese halbseidene Entschuldigung von meinen Schülern anhören. Und immer<br />

antwortete ich in einer schon als manisch bezeichnenden Weise „<strong>…</strong><br />

dann fahr eine S-Bahn früher los, um ein Zuspätkommen zu vermeiden“.<br />

Zwischen meinen Schülern und mir herrschte ein eingefahrenes Muster,<br />

ein sinnloser Ritus, <strong>der</strong> keine echte Begegnung zwischen uns aufkommen<br />

ließ. Im Gegenteil verwendeten wir diesen Automatismus, um jegliche echte<br />

zwischenmenschliche Begegnung zu vermeiden, um ja nur schnell an die<br />

vermeintlich eigentliche Aufgabe <strong>der</strong> reinen Wissensvermittlung übergehen<br />

zu können.<br />

Eine scharfe Linie <strong>der</strong> Abgrenzung meiner Welt und ihrer Welt, in <strong>der</strong> alleine<br />

<strong>der</strong> Lehrstoff eine tragende Rolle spielte. Die Vorgaben unserer Kultur,<br />

die nicht mehr in Frage gestellt wurden, in <strong>der</strong> alleine die Einhaltung von<br />

dessen „Regeln“ und Höflichkeitsformen als erstrebenswert erachtet werden,<br />

um dadurch eine möglichst angenehme, sprich ökonomisch rentable<br />

Position, einnehmen zu können. Ein guter von mir belegter Abschluss sollte<br />

dafür entscheidend sein.<br />

Meine Vorbildfunktion eines Lehrers beherrschte ich gut, meine pädagogischen<br />

Kniffe und Lebenserfahrung verhalfen mir selbst bei unterdurchschnittlichen<br />

Schülern eine Notenverbesserung zu erzielen. Auch bei klassischen<br />

Teenagerschwierigkeiten war ich gut informiert und einfühlsam.<br />

Sprich beste Voraussetzungen für meine Schüler ihrem Erwachsenwerden<br />

mit einem guten Fundament entgegenschreiten zu können.<br />

Doch immer wie<strong>der</strong> dieses „tut mir leid, aber die S-Bahn kam lei<strong>der</strong> zu<br />

spät“.<br />

Innerlich begann ich gegen diese Worte zu rebellieren, gegen diesen<br />

gleichgültig hingeworfenen Satz, <strong>der</strong> mir respektlos erschien – ich konnte<br />

und wollte diese Worte nicht mehr hören müssen. Dieses Mosaikgeflecht<br />

von Schülern, die ihr verblassendes „Kind sein“ festhalten wollen, und eines<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

nervigen Lehrers, <strong>der</strong> seine Zufriedenheit daran misst, wie gut die Schüler<br />

auf ihn reagieren bzw. seine Lehrinhalte bereitwillig annehmen.<br />

So wie vormals diese Worte meinerseits immer wie<strong>der</strong> angenommen und<br />

durch meine Antwort doch früher loszufahren legimitiert wurden, so sehr<br />

wuchs in mir eine negative Fixierung auf die Worte „S-Bahn verpasst“.<br />

Meine Ablehnung steigerte sich immer mehr, bis es zu dem folgenden Ereignis<br />

kam:<br />

„Meine S-Bahn ist heute nicht gekommen, tut mir leid, dass ich zu spät<br />

bin“. Ich verfolgte den in den Raum kommenden und seinen Platz aufsuchenden<br />

Schüler mit meinen Augen und wartete, bis er sich hingesetzt<br />

hatte, um ihn dann sogleich mit Freundlichkeit nach den Einzelheiten des<br />

Zuspätkommens zu befragen. Der Schüler reagierte zunächst erstaunt,<br />

dass ich, <strong>der</strong> Lehrer, nachfragte. Zudem zeigte sich Misstrauen in seinen<br />

Gesichtszügen, die deutlich seine Unsicherheit zeigte, wie auf solch eine<br />

unvertraute Wendung <strong>der</strong> Alltagsroutine zu begegnen sei. Ich wurde genauestens<br />

taxiert, um eine etwaige angemessene Reaktion darauf ableiten<br />

zu können. Zudem zeigte sich auch Verärgerung über diese überraschte<br />

Näherung, ja man kann es schon als einen Übergriff in seine Sphäre werten.<br />

Doch ich ließ nicht locker und wartete leicht angespannt, wie er seine<br />

Antwort beginnen würde.<br />

Er kapitulierte vor meiner freundlichen Neutralität und erzählte, dass er zunächst<br />

den Wecker nicht gehört habe, was unter an<strong>der</strong>em daran lag, dass<br />

er am Abend zuvor an einer Geburtstagsfeier teilgenommen hatte und dadurch<br />

erst recht früh ins Bett gekommen war. Trotz Auslassen eines Frühstücks<br />

und schnellem <strong>Schritt</strong> Richtung Haltestelle konnte er die reguläre<br />

S-Bahn nicht mehr erreichen, die nächste Bahn würde erst in 30 Minuten<br />

eintreffen. Diese Zeit nutzte er, um sich, statt nervös auf die nächste S-Bahn<br />

zu warten, in ein am Bahnsteig angrenzendes Kaffee zu setzen und ein kleines<br />

Frühstück zu bestellen. Bio-Rührei mit Zwiebeln, dazu frischgebackenes<br />

Butterbrot und einen dampfenden Kaffee.<br />

Ich bedankte <strong>mich</strong> für sein Vertrauen <strong>der</strong> offenen Worte und erwähnte<br />

mein Bedauern darüber, solch ein gutes Frühstück verpasst zu haben.<br />

Dann entschuldigte ich <strong>mich</strong> bei allen Schülern dafür, dass durch mein<br />

Nachfragen ein Teil <strong>der</strong> Schulstunde „verpasst“ wurde. Ein sich in mir ausbreitendes<br />

zufriedenes ruhiges Gefühl verhalf mir mit Leichtigkeit auf den<br />

anstehenden Lehrstoff zurückzugreifen und fortzufahren.<br />

69


undesweiter vorlesetag 2013<br />

Die Alltagsroutine hatte uns zurück, doch diesen Moment einer echten<br />

menschlichen Begegnung, abseits des Lehrer/Schüler-Verhältnisses konnte<br />

uns keiner nehmen.<br />

Vielen Dank – S-Bahn verpasst!<br />

Bahnkonzert in Es-Dur<br />

von Nik Henne<br />

Haydn läuft im Radio. Trompetenkonzert in Es-Dur, erster Satz Allegro.<br />

Schnelles Treiben. Die Violinen klingen fröhlich, wie die vielen Menschen,<br />

die sich morgens früh auf den Weg zur Arbeit machen. Munter schließen<br />

sie die Tür hinter sich und steuern zielstrebig den nächsten Bahnhof an.<br />

Ganze Menschenmassen drängen sich dort, um sich von den Bussen und<br />

Zügen zum richtigen Ort bringen zu lassen. Die Hörner ertönen, die Busse<br />

sind im Anmarsch und gewähren den Wartenden Einlass. Im Minutentakt<br />

fahren Busse und Züge an und ab, werden Arbeiter und Angestellte pünktlich<br />

zu ihrer Arbeitsstelle gefahren.<br />

Einsatz <strong>der</strong> Solotrompete. Sie ruft den Menschen freudig zu, die ihre S-Bahn<br />

verpasst haben. „Die nächste kommt bestimmt, macht euch keine Sorgen“,<br />

erklingt aus ihrem Schaft. Die Fahrt beginnt. An den Hauptstraßen öffnen<br />

Geschäfte, <strong>der</strong> Duft von frischgebackenem Brot strömt durch den Bus,<br />

spielende Kin<strong>der</strong> auf dem Weg zur Schule ergattern heiße Semmeln.<br />

Die Hörner ertönen abermals, das Ziel ist erreicht. Frohen Mutes geht <strong>der</strong><br />

Weg weiter in Richtung Innenstadt. Geschäftsmänner, Maurer, Verkäufer,<br />

allesamt wirken sie wie ein Motor, <strong>der</strong> an diesem Morgen langsam an Fahrt<br />

gewinnt. Immer mehr Menschen tummeln sich auf den Straßen, tauschen<br />

sich aus, frühstücken und lesen Zeitung.<br />

Die Violinen verstummen, lediglich eine einzelne Trompete erklingt. Die<br />

Straßen in <strong>der</strong> Stadt sind wie leergefegt, die Arbeit hat begonnen. Nur eini-<br />

70


<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

ge wenige sind noch unterwegs. Ein Kaffee und ein Stück Kuchen zu viel,<br />

ein zu großer Andrang an <strong>der</strong> Kasse, zu lange auf den Kollegen gewartet,<br />

<strong>der</strong> verschlafen hat. Und schon wie<strong>der</strong> zu spät.<br />

Zweiter Satz, Andante. Die Violinen erklingen in ruhigem, schüchternem<br />

Klang. Die Menschen machen sich an die Arbeit, nur wenige sind noch<br />

nicht dort angekommen. Busse und Bahnen fahren ruhiger, bereiten sich<br />

auf den nächsten Ansturm vor. Unzählige Telefonate, Briefe und E-Mails<br />

machen sich auf den Weg durch die ganze Stadt, über die Grenzen<br />

Deutschlands hinaus bis hin über die Weltmeere auf an<strong>der</strong>e Kontinente. Ein<br />

je<strong>der</strong> macht seine Arbeit, unbehelligt von den Augen an<strong>der</strong>er, und doch<br />

darum bemüht, gesehen zu werden. Es ist ein Arbeitstag wie je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e.<br />

Dennoch hält je<strong>der</strong> Tag etwas Neues bereit, das nur entdeckt und erobert<br />

werden muss. Eine neue Chance, einen neuen Job o<strong>der</strong> neue Freundschaften.<br />

Viele junge Menschen verwirklichen ihre Hoffnungen, gehen den<br />

nächsten <strong>Schritt</strong> in die Zukunft. Immer wie<strong>der</strong> Crescendo und Decrescendo,<br />

die Trompete steigert sich wie<strong>der</strong>kehrend und wird wie<strong>der</strong> leiser. Irgendjemand<br />

hat sein Ziel erreicht, ein an<strong>der</strong>er wie<strong>der</strong>um ist gefallen. Unbemerkt<br />

vom Rest des Orchesters reißen einzelne Stimmen aus, um sich zu<br />

verwirklichen; machen sich einzelne Menschen bemerkbar, die zuvor in <strong>der</strong><br />

gesamten Masse untergegangen sind. Und <strong>der</strong> Anfang von dem allen ist<br />

stets gleich. Der Weg zur Arbeit, auf dem noch niemand erahnen kann, was<br />

danach passiert. Und auf dem noch je<strong>der</strong> die Hoffnung hat: Heute werde<br />

ich es sein, dem das Schicksal einen neuen Weg bereithält. Nur einmal<br />

werde ich das Crescendo sein.<br />

Der Feierabend naht. Der Sekundenzeiger bewegt sich immer schwerfälliger,<br />

je weiter sich <strong>der</strong> Minutenzeiger <strong>der</strong> 12 <strong>näher</strong>t. Die letzten Arbeiten<br />

werden verrichtet; eine unheimliche Anspannung herrscht in den Büros<br />

und in den Aufenthaltsräumen, zwischen den Gängen ersterben die Gespräche.<br />

Die gesamte Aufmerksamkeit gilt lediglich <strong>der</strong> kleinen Uhr an <strong>der</strong><br />

Wand, die angetrieben von feinster Mechanik mit genauster Präzision den<br />

Sekundenzeiger vorantreibt. Die Trompete erstirbt schließlich. Eine vollkommene<br />

Stille tritt ein, in <strong>der</strong> das leiseste Atmen und die kleinste Bewegung<br />

einem Tsunami gleichen. Die 12 ist erreicht.<br />

Dritter Satz, Allegro. Finale, die Violinen läuten den Feierabend ein, fröhlich<br />

kommen die Hörner hinzu. Die Menschen strömen auf die Straße, in freudiger<br />

Erwartung auf den restlichen Tag. Der Tag bot viel Platz für Planungen,<br />

Überlegungen und Wünsche. Für alle gibt es jetzt nur ein Ziel: so<br />

71


undesweiter vorlesetag 2013<br />

schnell wie möglich diese Pläne umzusetzen, Freunde besuchen, die Sonne<br />

genießen, Sport machen. Die Erfolge des Tages feiern, sich von den<br />

Nie<strong>der</strong>lagen erholen.<br />

Die Busse und Züge stehen schon bereit, um die Menschenmassen erneut<br />

zu ihrem Wunschziel zu bringen. Die Motoren laufen, die Tore sind geöffnet<br />

und empfangen all die, die um Einlass beten. Schnell sind die ersten Busse<br />

voll, die nächsten stehen schon bereit. Im Minutentakt fahren Busse und<br />

Bahnen an und ab, stetig läuft <strong>der</strong> Motor weiter, bis auch <strong>der</strong> letzte Wartende<br />

einen Platz ergattert hat und den Weg nach Hause angetreten ist.<br />

Letzter Durchgang <strong>der</strong> Trompete, <strong>der</strong> Tag geht allmählich zu Ende. Und <strong>der</strong><br />

nächste Tag steht schon hinten an mit <strong>der</strong> Gewissheit, dass auch morgen<br />

<strong>der</strong> Motor nicht stillstehen wird; dass <strong>der</strong> Motor nie stillstehen wird, solange<br />

auch nur ein Mensch noch ein Ziel hat.<br />

Tutti, das gesamte Orchester erstrahlt kraftvoll und verabschiedet die Busse,<br />

Züge und Bahnen in Richtung Heimat. „Adieu, ihr Reisenden, bis Morgen.“<br />

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<strong>RMV</strong> · Stiftung Lesen<br />

ZU GUTER LETZT<br />

Der Schwarzfahrer<br />

von Gerhard Steil<br />

Prolog<br />

„S-Bahn verpasst“?<br />

Das ist durchaus passiert!<br />

Auch wenn’s in diesen Zeilen hier<br />

nicht ganz genau notiert.<br />

„Zu spät“,<br />

ergibt sich klar im Text.<br />

Warum noch extra nennen?<br />

Denn wer den Text gelesen hat,<br />

<strong>der</strong> wird’s genau erkennen.<br />

Und „Schicksal“ ist ein großes Wort,<br />

mit dem man Text verkleidet.<br />

Man kann indessen „Glücklich“ sein,<br />

auch wenn man’s Wort vermeidet.<br />

Der Schwarzfahrer<br />

Ein Mann, <strong>der</strong> später aufgewacht,<br />

als er zuvor gewollt,<br />

<strong>der</strong> hat sich, nach durchzechter Nacht,<br />

zum Bahnhof hin getrollt.<br />

73


undesweiter vorlesetag 2013<br />

Er kämpfte mit <strong>der</strong> Müdigkeit,<br />

da fuhr <strong>der</strong> Zug schon ein.<br />

Am Ausgang stand voll Bangigkeit<br />

ein altes Mütterlein.<br />

Erst bot er seine Hilfe an,<br />

wie immer sehr charmant,<br />

dann sah er, wie die City-Bahn<br />

am Horizont verschwand.<br />

Der Mann, in seiner Zuversicht,<br />

war fröhlich eingestellt<br />

und wusste, dass auf lange Sicht<br />

die nächste S-Bahn hält.<br />

Die S-Bahn kam, wie er’s gewöhnt,<br />

und diesmal hat’s geklappt.<br />

Er hat sich, mit <strong>der</strong> Welt versöhnt,<br />

den schönsten Platz geschnappt.<br />

Doch weil <strong>der</strong> Mann noch müde war,<br />

da schlief er bald schon ein<br />

und sollte, ach wie son<strong>der</strong>bar,<br />

am falschen Bahnhof sein.<br />

Er hatte, wie man ahnen mag,<br />

indessen keine Ruh,<br />

es kam an diesem Unglückstag<br />

noch knüppeldick hinzu.<br />

Ein Kontrolleur bemerkte schnell,<br />

dass Recht und Karte fehlt,<br />

und hatte ernst und offiziell<br />

die Folgen nicht verhehlt.<br />

So geizt das Leben dann und wann<br />

mit Leichtigkeit und Dank.<br />

Stattdessen war <strong>der</strong> müde Mann<br />

am Ende auch noch blank.<br />

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www.rmv.de


Die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist per se zwar nicht<br />

abenteuerlich, doch wer sich darauf einlässt, erlebt manche<br />

Überraschung und kann oft Ungewöhnliches entdecken. Genauso<br />

verhält es sich mit dem Lesen:<br />

Es entführt in an<strong>der</strong>e Welten und man lässt den Alltag weit<br />

zurück. Der <strong>RMV</strong> startete 2013 zusammen mit <strong>der</strong> Stiftung Lesen<br />

einen Geschichten-Wettbewerb zum Welttag des Buches:<br />

Hier ist eine Auswahl <strong>der</strong> besten Einsendungen.<br />

„...Gespannt schau ich den einfahrenden Wagons nach, spähe in sie<br />

hinein, meist sitzt sie doch in Wagen drei – in den letzten Tagen hatte<br />

sie einen roten Schal umgebunden in wun<strong>der</strong>samer Symbiose zu ihrem<br />

schwarzen Haar – da sehe ich sie ...“<br />

aus FRANK HASER „Die Frau mit schwarzem Haar und rotem Schal“<br />

Vorlesetag 1301

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