04/2012 Die DVGW-Entscheidung
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<strong>04</strong>/<strong>2012</strong> <strong>Die</strong> <strong>DVGW</strong>-<strong>Entscheidung</strong><br />
EuGH, Rs. C‐171/11 (Fra.bo SpA ./. <strong>DVGW</strong>), Urteil<br />
des Gerichtshofs vom 12. Juli <strong>2012</strong><br />
aufbereitet von Philipp Kubicki und Magdalena Obajtek<br />
Das Wichtigste: An die Warenverkehrsfreiheit gem. Art. 34<br />
AEUV sind unter bestimmten Voraussetzungen auch Privatrechtssubjekte<br />
gebunden. Anzunehmen ist eine solche unmittelbare<br />
Drittwirkung nach der vorliegenden <strong>Entscheidung</strong> für den<br />
Fall, dass der Private zumindest in tatsächlicher Hinsicht über die<br />
Befugnis verfügt, den Zugang der betreffenden Ware zum Markt<br />
zu regeln. Entscheidend ist somit, ob ein Privatrechtssubjekt hinsichtlich<br />
des Marktzugangs von Waren ein Gefährdungspotential<br />
entfalten kann, welches dem mitgliedstaatlich veranlasster Maßnahmen<br />
gleicher Wirkung vergleichbar ist.<br />
1. Vorbemerkungen<br />
Im Zentrum der vorliegenden Rechtssache steht die Frage, ob und inwieweit<br />
Privatrechtssubjekte Verpflichtete der Warenverkehrsfreiheit gem. Art. 34<br />
AEUV sein können. Unstreitig sind Mitgliedstaaten und Unionsorgane an<br />
sämtliche Grundfreiheiten gebunden. Eine unmittelbare Drittwirkung wurde<br />
vom Gerichtshof bisher in einem nur begrenzten Umfang und vor allem für<br />
andere Grundfreiheiten entwickelt. Eine Bindung Privater an die Warenverkehrsfreiheit<br />
bejahte der Gerichtshof bis jetzt nur ein einziges Mal in einer<br />
<strong>Entscheidung</strong> aus dem Jahr 1981 (Dansk Supermarked, Rs. 58/80), setzte sich<br />
damals jedoch mit der konkreten Erscheinungsform der Drittwirkung nicht<br />
weiter auseinander. Ohne auf dieses Urteil Bezug zu nehmen, bestätigt der<br />
Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache nun ein weiteres Mal diese Verpflichtung<br />
auch aus Art. 34 AEUV. <strong>Die</strong>smal betrifft sie einen privaten und<br />
gemeinnützigen Verein, zu dessen satzungsmäßigem Zweck es u.a. gehört,<br />
technische Normen zu erstellen und Produkte aus dem Gas- und Wasserbereich<br />
zu zertifizieren.<br />
Bisherige Rechtsprechung zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten<br />
In erster Linie sind Mitgliedstaaten Adressaten der Grundfreiheiten, wobei der<br />
Gerichtshof den Begriff der mitgliedstaatlichen Maßnahmen weit auslegt. So<br />
rechnet er etwa auch das Handeln privatrechtlich organisierter juristischer<br />
Personen einem Mitgliedstaat zu, sofern dieser das Handeln der Privatperson<br />
rechtlich oder tatsächlich kontrollieren kann (Pechstein, <strong>Entscheidung</strong>en des<br />
EuGH, 7. Aufl. <strong>2012</strong>, Fall-Nr. 149, „Buy Irish“; Wall, Rs. C-91/08, Rn. 49 ff).<br />
Maßnahmen Privater überprüft der Gerichtshof am Maßstab der Grundfreiheiten<br />
nach ständiger Rechtsprechung hingegen nur unter bestimmten Voraussetzungen<br />
und bisher fast ausnahmslos im Rahmen der Personenverkehrsfreiheiten<br />
(Art. 45 AEUV, 49 AEUV und 56 AEUV). <strong>Die</strong> hiervon betroffenen<br />
Privatrechtssubjekte werden im Schrifttum unter dem Begriff der intermediä-
DeLuxe – Europarecht aktuell – 02/2011 DeLuxe – Europarecht aktuell – 02/2011<br />
ren Gewalten zusammengefasst. Kennzeichnend für diese ist vor allem – neben<br />
ihrer privatrechtlichen Organisationsform –, dass sie über eine besondere,<br />
staatlicherseits verliehene Macht verfügen, die ihnen eine rechtliche Autonomie<br />
einräumt etwa kollektive und verbindliche Regelungen zu treffen (vgl. etwa<br />
Pechstein, <strong>Entscheidung</strong>en des EuGH, 7. Aufl. <strong>2012</strong>, Fall-Nr. 179; Fall-Nr.<br />
197, 218). Intermediäre Gewalten sind allerdings ausschließlich im Bereich der<br />
ihnen übertragenen autonomen Rechtsetzungsbefugnisse bzw. der aufgrund<br />
ihrer Autonomie durchgeführten Tätigkeiten (Arbeitskampf, vgl. Pechstein,<br />
<strong>Entscheidung</strong>en des EuGH, 7. Aufl. <strong>2012</strong>, Fall-Nr. 197) an die Grundfreiheiten<br />
gebunden.<br />
Eine über intermediäre Gewalten hinausgehende Bindung sonstiger Privater an<br />
Grundfreiheiten anerkannte der Gerichtshof bisher nur für die Arbeitnehmerfreizügigkeit<br />
in der Rechtssache Angonese (Pechstein, <strong>Entscheidung</strong>en des<br />
EuGH, 7. Aufl. <strong>2012</strong>, Fall-Nr. 180). Darin wurde der Arbeitgeber als aus<br />
Art. 45 AEUV verpflichtet angesehen. Hiernach kann Art. 45 AEUV prinzipiell<br />
auf sämtliche Arbeitsverträge zur Anwendung gelangen.<br />
Bei der Warenverkehrfreiheit wurde eine Bindung Privater von Seiten des<br />
Schrifttums bisher überwiegend verneint, das Urteil Dansk Supermarked (Rs.<br />
58/80) als nicht verallgemeinerungsfähige Einzelfallentscheidung angesehen.<br />
Weitgehend als Substitut der fehlenden unmittelbaren Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit<br />
wird vor diesem Hintergrund die im Rahmen dieser<br />
Grundfreiheit entwickelte und bisher auch nur dort vom Gerichtshof zugrunde<br />
gelegte sogenannte Schutzpflichtkonstruktion betrachtet. Danach können<br />
Mitgliedstaaten unter Umständen verpflichtet sein, aktiv Maßnahmen zu ergreifen,<br />
um Beeinträchtigungen der Warenverkehrfreiheit zu verhindern, welche<br />
von Privatpersonen ausgehen und nur diesen zuzurechnen sind (Pechstein,<br />
<strong>Entscheidung</strong>en des EuGH 7. Aufl. <strong>2012</strong>, Fall-Nr. 156). Hierbei verfügen die<br />
Mitgliedstaaten über ein gewisses Beurteilungsermessen bzgl. der Eignung der<br />
von ihnen zu ergreifenden Maßnahmen zur Beseitigung der Beeinträchtigung.<br />
Im Schrifttum wird zwar eine Übertragung der Schutzpflichtenkonstruktion<br />
auf andere Grundfreiheiten befürwortet, eine Bestätigung seitens des Gerichtshofs<br />
steht bisher jedoch aus.<br />
Unmittelbare Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit<br />
Ohne auf die Schutzpflichtenkonstruktion einzugehen, fragte das vorlegende<br />
Gericht in der vorliegenden Rechtssache nach der unmittelbaren Bindung<br />
eines nach deutschem Recht eingetragenen Vereins, dessen gemeinnützige<br />
Tätigkeit u.a. darin bestand, Bauprodukte im Gas- und Wasserbereich auf ihre<br />
Konformität mit technischen Normen zu zertifizieren. Im Ausgangsfall verweigerte<br />
dieser Verein ein entsprechendes Zertifikat für ein in Italien gefertigtes<br />
und dort vertriebenes Bauprodukt, auch erkannte er eine in Italien hierfür<br />
ausgestellte Zulassungsbescheinigung nicht an. Hiergegen wandte sich der<br />
italienische Hersteller und klagte vor einem deutschen Gericht.<br />
Der Gerichtshof stellt zunächst allein mit Blick auf diese Maßnahmen und<br />
ungeachtet der Frage nach der Bindung des handelnden Vereins fest, dass das<br />
Erfordernis des Erwerbs nationaler Konformitätszeichen sowie die Nichtanerkennung<br />
EU-ausländischer Zulässigkeitsbescheinigungen als Maßnahmen<br />
gleicher Wirkung im Sinne des Art. 34 AEUV anzusehen sind und „ohne<br />
triftige Rechtfertigung“ gegen die Einfuhrfreiheit verstoßen (Rn. 22 f.).<br />
Sodann wendet sich der EuGH der Beantwortung der eigentlichen Vorlagefrage<br />
zu. Hierbei hebt er in dogmatisch korrekter Vorgehensweise zunächst hervor,<br />
dass die Maßnahmen des Vereins nicht der Bundesrepublik zugerechnet<br />
werden können, da weder eine staatliche Finanzierung besteht, noch in maßgebender<br />
Weise staatlicherseits Einfluss auf die Normungs- und Zertifizierungstätigkeit<br />
genommen wird (Rn. 24). <strong>Die</strong> fehlende Zurechnung macht<br />
anschließend den Weg frei zur Prüfung einer direkte Bindung des Vereins,<br />
wobei der Gerichtshof in diesem Zusammenhang weder auf die Schutzpflichtenkonstruktion<br />
eingeht noch eine dogmatische Begründung für die Rechtsfigur<br />
der unmittelbaren Drittwirkung im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit<br />
liefert (vgl. Rn. 26).<br />
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DeLuxe – Europarecht aktuell – 02/2011 DeLuxe – Europarecht aktuell – 02/2011<br />
Abstellend auf drei konkrete Umstände des Ausgangsrechtsstreits gelangt der<br />
Gerichtshof dabei im Ergebnis zu einer Bindung des Vereins (Rn. 27 ff.).<br />
Maßgeblich sei erstens, dass nationale Rechtsvorschriften eine Vermutung<br />
aufstellten, wonach die von diesem Verein zertifizierten Erzeugnisse dem<br />
nationalen Recht entsprechen würden. Zweitens sei der Verein zumindest<br />
faktisch die einzige Institution, welche die einschlägigen Bauprodukte zertifizieren<br />
könne – andere Möglichkeiten seien aufgrund tatsächlicher Umstände<br />
„wenig oder gar nicht praktikabel“. Drittens erschwere das Fehlen der Zertifizierung<br />
den Vertrieb der betreffenden Produkte erheblich, ungeachtet der<br />
Tatsache, dass die per Rechtsverordnung bestehende Zertifizierungsanforderung<br />
nur eine unverbindliche, allgemeine Verkaufsbedingungen im Verhältnis<br />
von Wasserversorgungsunternehmen und Verbrauchern darstelle. In der Praxis<br />
würden nämlich nur solche Bauprodukte gekauft, die über entsprechende<br />
Zertifikate verfügen würden. Für den Gerichtshof folgt aus diesen drei Umständen,<br />
dass der Verein aufgrund seiner „Ermächtigung zur Zertifizierung in<br />
Wirklichkeit über die Befugnis verfügt, den Zugang von Erzeugnissen [...] zum<br />
deutschen Markt zu regeln.“ (Rn. 31) und daher insoweit an Art. 34 AEUV<br />
gebunden ist.<br />
Entscheidend für den Gerichtshof ist somit vorliegend weniger eine – nach<br />
bisheriger Rechtsprechung relevante – staatlicherseits eingeräumten Rechtssetzungsautonomie<br />
bzw. eine darauf beruhende Ausübung von Maßnahmen<br />
(Satzungserlass, Streik o.ä.), als vielmehr eine durch unverbindliche Rechtsnormen<br />
begünstigte, weit reichende faktische Einflussnahme des Privatrechtssubjekts<br />
auf den zwischenstaatlichen Warenverkehr in Gestalt einer Marktzutrittsbehinderung.<br />
Gleichwohl dürfte sich diese <strong>Entscheidung</strong> in die bisherige Rechtsprechung<br />
des Gerichtshofs zur unmittelbaren Drittwirkung im Fall intermediärer Gewalten<br />
einordnen und als Fortsetzung dieser Linie ansehen lassen. <strong>Die</strong> eher auf<br />
faktischen Gegebenheiten beruhende Annahme einer intermediären Gewalt<br />
geht über die bisherigen Konstellationen dieser Fallgruppe zwar hinaus, dürfte<br />
aber den Spezifika der Warenverkehrsfreiheit geschuldet sein, in deren Bereich<br />
Fragen der Normung und Zertifizierung, die von Seiten des Staats oftmals –<br />
wie auch hier – lediglich in Bezug genommen werden, eine im Vergleich zu<br />
anderen Grundfreiheiten besondere Bedeutung zukommt.<br />
Verhältnis zur Schutzpflichtkonstruktion<br />
Nach der vorliegenden <strong>Entscheidung</strong> stellt sich vor allem die Frage, in welchem<br />
Verhältnis im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit nunmehr eine auf<br />
intermediäre Gewalten bezogene unmittelbare Drittwirkung einerseits und die<br />
Schutzpflichtenkonstruktion andererseits stehen. Nicht anzunehmen ist wohl<br />
in jedem Fall, dass letztere durch erstere nun vollständig verdrängt werden soll.<br />
Legt man den vorliegenden Maßstab sowohl an die Rs. Schmidberger (C-<br />
112/000) als auch an die Rs. „Spanische Erdbeeren“ an (Pechstein, <strong>Entscheidung</strong>en<br />
des EuGH, 7. Aufl. <strong>2012</strong>, Fall-Nr. 156), so kann mit Blick auf die<br />
dortigen Umstände nicht angenommen werden, dass die betroffenen Privaten<br />
über eine ähnlich intensive, faktische Einflussnahme auf den Marktzugang<br />
verfügt haben. <strong>Die</strong>s spricht dafür, dass für beide Verpflichtungskonstruktionen<br />
im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit Raum besteht, Schutzpflichten aus<br />
Art. 34 AEUV gegenüber den Mitgliedstaaten unterhalb der Schwelle intermediärer<br />
Gewalten bestehen.<br />
Etwas anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn der Gerichtshof mit dem<br />
hier vorliegenden Urteil eine weitergehende Bindung Privater – vergleichbar<br />
der Arbeitnehmerfreizügigkeit – bezwecken würde. Hierfür kann der <strong>Entscheidung</strong><br />
allerdings nichts entnommen werden, im Gegenteil stellt der Gerichthof<br />
im Obersatz seiner Prüfung einen Vergleich zur Behinderungswirkung<br />
staatlicher Maßnahmen auf, die bei weitergehender Bindung sonstiger Privater<br />
wohl kaum gegeben sein kann. Auch ist die Interessenslage im Rahmen der<br />
Warenverkehrsfreiheit eine andere als bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit: Im<br />
letzterem Fall kommt dem Arbeitgeber als abstraktem, aber ohne weiteres im<br />
Einzelfall konkretisierbarem Verpflichtungssubjekt über seine Rolle als Ver-<br />
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DeLuxe – Europarecht aktuell – 02/2011 DeLuxe – Europarecht aktuell – 02/2011<br />
tragspartei des Arbeitnehmers ein unmittelbarer Zugriff auf den „Marktzugang“<br />
des einzelnen Arbeitnehmers zu. Eine solche institutionell personalisierte<br />
Relation zwischen einem Grundfreiheitsbegünstigten und -verpflichteten<br />
besteht bei der sachlich geprägten Warenverkehrsfreiheit nicht.<br />
Im Ergebnis dürfte die Abgrenzung somit entlang der Rechtsfigur intermediärer<br />
Gewalten verlaufen, deren Konturen allerdings – wie in dieser <strong>Entscheidung</strong><br />
anschaulich vorgeführt – bisher nicht mit letzter Sicherheit bestimmt<br />
werden können, sondern von den Umständen des Einzelfalls abhängen.<br />
Weitere aufgeworfene Rechtsfragen<br />
Des Weiteren bleibt ungeklärt, inwiefern der Rechtfertigungsgrund der „sachlichen<br />
Gründe von privatem Interesse“ im vorliegenden Fall Anwendung fände.<br />
Neben den ausdrücklich in Art. 36 AEUV genannten Rechtfertigungsgründen<br />
kommen bei Handlungen Privater nach bisheriger Rechtsprechung zu den<br />
Personenverkehrsfreiheiten noch die sogenannten „sachlichen Gründe von<br />
privatem Interesse“ in Betracht. Eine Anwendung dieser Rechtfertigungskategorie<br />
auf den vorliegenden Fall bleibt fraglich.<br />
Eine dritte Problematik, die in der zweiten Vorlagefrage angelegt war, wurde<br />
vom Gerichtshof mangels Einschlägigkeit für den vorliegenden Fall außen vor<br />
gelassen. Hierbei geht es um das Verhältnis zwischen den Grundfreiheiten und<br />
den Wettbewerbsregeln (Art. 101 AEUV).<br />
.<br />
Zitiervorschlag: Kubicki/Obejtek, DeLuxe <strong>2012</strong>, <strong>DVGW</strong><br />
www.rewi.europa-uni.de/deluxe<br />
2. Vertiefende Lesehinweise<br />
• Nowak, Neues zur unmittelbaren horizontalen Drittwirkung und zur<br />
Konvergenz der Grundfreiheiten, Frankfurter Newsletter zum Recht<br />
der Europäischen Union (http://www.fireu.de)<br />
• Koenig/Haratsch/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. <strong>2012</strong>, Rn. 792<br />
ff., 827 ff.<br />
3. Sachverhalt<br />
Der <strong>DVGW</strong> (Deutsche Vereinigung des Gas- und Wasserfaches e.V. - Technisch<br />
Wissenschaftlicher Verein) ist ein in Deutschland eingetragener, privatrechtlicher<br />
und gemeinnütziger Verein, dessen Aufgabe besteht darin, Fachwissen<br />
im Bereich des Gas- und Wasserfachs zu sammeln, in Gestalt technischer<br />
Normen auszuformulieren und für Bauprodukte in diesem Bereich Zertifizierungen<br />
vorzunehmen. <strong>Die</strong> Fra.bo SpA ist eine Gesellschaft italienischen<br />
Rechts, die u.a. Verbindungsstücke zwischen Wasser- oder Gasrohrleitungsstücken,<br />
sogenannte Kupferfittinge, produziert.<br />
Im Jahr 1999 stellte die Fra.bo SpA beim <strong>DVGW</strong> einen Antrag auf Zertifizierung<br />
eines von ihr produzierten Kupferfittings. Daraufhin ist der italienischen<br />
Gesellschaft auch ein entsprechendes Zertifikat erteilt worden. Später jedoch<br />
hat der <strong>DVGW</strong> die Voraussetzungen für die Erteilung eines entsprechenden<br />
Zertifikats verschärft. Nach Inkrafttreten dieser Änderungen wäre die Fra.bo<br />
SpA gemäß der Regelungen des <strong>DVGW</strong> verpflichtet gewesen, einen Änderungsantrag<br />
zu stellen, um das Zertifikat weiterhin führen zu dürfen. Nachdem<br />
ein solcher Antrag nicht gestellt worden war, wurde das Zertifikat entzogen.<br />
Einen späteren Antrag auf Verlängerung des Zertifikats lehnte der <strong>DVGW</strong> mit<br />
der Begründung ab, ein entsprechendes Konformitätszertifikat gäbe es nicht<br />
mehr. Daraufhin erhob die Fra.bo SpA beim zuständigen nationalen Gericht<br />
Klage gegen den <strong>DVGW</strong> und machte geltend, eine Entziehung, bzw. Verweigerung<br />
des Zertifikats verstoße gegen die Warenverkehrsfreiheit. Das nationale<br />
Gericht hatte Zweifel bezüglich der Einschlägigkeit der Warenverkehrsfreiheit<br />
hinsichtlich der Bindung der <strong>DVGW</strong> und legte dem EuGH gem. Art. 267<br />
AEUV eine entsprechende Frage zur Vorabentscheidung vor. Konkret möchte<br />
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DeLuxe – Europarecht aktuell – 02/2011 DeLuxe – Europarecht aktuell – 02/2011<br />
das nationale Gericht wissen, ob eine privatrechtliche Einrichtung, die Normungs-<br />
und Zertifizierungstätigkeiten durchführt, die nach den nationalen<br />
Rechtsvorschriften als mit dem nationalen Recht konform angesehen werden<br />
und dadurch ein Vertrieb von Erzeugnissen, die nicht von dieser Einrichtung<br />
zertifiziert werden, erschwert wird, an die Warenverkehrsfreiheit gebunden ist.<br />
4. Aus den <strong>Entscheidung</strong>sgründen<br />
Zur ersten Frage<br />
17 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 28<br />
EG dahin auszulegen ist, dass er auf die Normungs- und Zertifizierungstätigkeiten<br />
einer privaten Einrichtung anzuwenden ist, wenn die Erzeugnisse, die<br />
von dieser Einrichtung zertifiziert wurden, nach den nationalen Rechtsvorschriften<br />
als mit dem nationalen Recht konform angesehen werden und dadurch<br />
ein Vertrieb von Erzeugnissen, die nicht von dieser Einrichtung zertifiziert<br />
wurden, erschwert wird.<br />
18 Einleitend steht fest, dass es sich bei dem im Ausgangsverfahren in Rede<br />
stehenden Kupferfitting um ein „Bauprodukt“ im Sinne der Richtlinie<br />
89/106/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der<br />
Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Bauprodukte<br />
(ABl. 1989, L 40, S. 12) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1882/2003 des<br />
Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. September 2003 (ABl. L 284,<br />
S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/106) handelt, das weder<br />
Gegenstand einer harmonisierten Norm noch einer europäischen technischen<br />
Zulassung noch einer auf Unionsebene anerkannten nationalen technischen<br />
Spezifikation im Sinne von Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie ist.<br />
19 Für Bauprodukte, die nicht unter Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 89/106 fallen,<br />
bestimmt Art. 6 Abs. 2 dieser Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten in ihrem<br />
Gebiet deren Inverkehrbringen gestatten dürfen, wenn diese Produkte nationalen<br />
Vorschriften, die im Einklang mit dem EG-Vertrag stehen, entsprechen, es<br />
sei denn, die europäischen technischen Spezifikationen bestimmen etwas anderes.<br />
20 Nationale Vorschriften über das Inverkehrbringen eines nicht von harmonisierten<br />
oder auf Unionsebene anerkannten technischen Spezifikationen erfassten<br />
Bauprodukts müssen somit, worauf im Übrigen in der Richtlinie<br />
89/106 hingewiesen wird, im Einklang mit den Verpflichtungen aus dem Vertrag,<br />
insbesondere dem in den Art. 28 EG und 30 EG aufgestellten Grundsatz<br />
des freien Warenverkehrs, stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. März<br />
2008, Kommission/Belgien, C-227/06, Randnr. 34).<br />
22 Insoweit ist zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung jede Regelung<br />
der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel<br />
unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, als eine<br />
Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen anzusehen<br />
und daher nach Art. 28 EG verboten ist (Urteile vom 11. Juli 1974, Dassonville,<br />
8/74, Slg. 1974, 837, Randnr. 5, vom 5. Februar 20<strong>04</strong>, Kommission/Italien,<br />
C-270/02, Slg. 20<strong>04</strong>, I-1559, Randnr. 18, und Kommission/Belgien,<br />
Randnr. 40). So stellt es für den Importeur bereits dann eine Behinderung<br />
des freien Warenverkehrs dar, wenn er davon abgehalten wird, die<br />
fraglichen Produkte in dem betreffenden Mitgliedstaat in den Verkehr zu bringen<br />
oder zu vertreiben (Urteil vom 24. April 2008, Kommission/Luxemburg,<br />
C-286/07, Randnr. 27).<br />
26 Somit ist zu prüfen, ob die Tätigkeit einer privatrechtlichen Einrichtung wie<br />
des <strong>DVGW</strong> insbesondere unter Berücksichtigung des rechtlichen Kontexts, in<br />
dem sie ausgeübt wird, ebenso wie staatliche Maßnahmen Behinderungen des<br />
freien Warenverkehrs zur Folge hat.<br />
27 Vorliegend ist erstens darauf hinzuweisen, dass der deutsche Gesetzgeber in<br />
§ 12 Abs. 4 AVBWasserV die Vermutung aufgestellt hat, dass die vom <strong>DVGW</strong><br />
zertifizierten Erzeugnisse dem nationalen Recht entsprechen.<br />
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DeLuxe – Europarecht aktuell – 02/2011 DeLuxe – Europarecht aktuell – 02/2011<br />
28 Zweitens ist zwischen den Beteiligten des Ausgangsverfahrens unstreitig,<br />
dass der <strong>DVGW</strong> die einzige Einrichtung ist, die die im Ausgangsverfahren in<br />
Rede stehenden Kupferfittings im Sinne von § 12 Abs. 4 AVBWasserV zertifizieren<br />
kann. In Bezug auf solche Erzeugnisse stellt der <strong>DVGW</strong> mit anderen<br />
Worten die einzige Möglichkeit dar, ein Konformitätszertifikat zu erhalten.<br />
29 Zwar haben der <strong>DVGW</strong> und die deutsche Regierung darauf hingewiesen,<br />
dass es neben der Zertifizierung durch den <strong>DVGW</strong> noch ein anderes Verfahren<br />
gebe, das darin bestehe, dass ein Sachverständiger mit der Prüfung beauftragt<br />
werde, ob ein Produkt den anerkannten Regeln der Technik im Sinne von<br />
§ 12 Abs. 4 AVBWasserV entspreche. Aus den Antworten auf die schriftlichen<br />
und mündlichen Fragen des Gerichtshofs geht jedoch hervor, dass dieses<br />
andere Verfahren zum einen wegen der administrativen Schwierigkeiten, die<br />
damit zusammenhängen, dass es keine spezifischen Verfahrensvorschriften für<br />
die Arbeit eines solchen Sachverständigen gibt, und zum anderen wegen der<br />
zusätzlichen Kosten, die durch die Einholung eines individuellen Gutachtens<br />
anfallen, wenig oder gar nicht praktikabel ist.<br />
32 Demzufolge ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 28 EG dahin<br />
auszulegen ist, dass er auf die Normungs- und Zertifizierungstätigkeiten einer<br />
privaten Einrichtung anzuwenden ist, wenn die Erzeugnisse, die von dieser<br />
Einrichtung zertifiziert wurden, nach den nationalen Rechtsvorschriften als mit<br />
dem nationalen Recht konform angesehen werden und dadurch ein Vertrieb<br />
von Erzeugnissen, die nicht von dieser Einrichtung zertifiziert wurden, erschwert<br />
wird.<br />
30 Drittens erschwert nach Ansicht des vorlegenden Gerichts in der Praxis das<br />
Fehlen einer Zertifizierung durch den <strong>DVGW</strong> den Vertrieb der betreffenden<br />
Erzeugnisse auf dem deutschen Markt erheblich. Auch wenn nämlich mit der<br />
AVBWasserV nur allgemeine Verkaufsbedingungen im Verhältnis zwischen<br />
Wasserversorgungsunternehmen und ihren Kunden festgelegt werden, von<br />
denen die Parteien frei abweichen können, geht aus den Akten hervor, dass in<br />
der Praxis fast alle deutschen Verbraucher nur solche Kupferfittings kaufen,<br />
die vom <strong>DVGW</strong> zertifiziert sind.<br />
31 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass eine Einrichtung wie der<br />
<strong>DVGW</strong> insbesondere aufgrund ihrer Ermächtigung zur Zertifizierung von<br />
Erzeugnissen in Wirklichkeit über die Befugnis verfügt, den Zugang von Erzeugnissen<br />
wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kupferfittings<br />
zum deutschen Markt zu regeln.<br />
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