04/2013 Der Fall Åkerberg Fransson
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04/2013 Der Fall Åkerberg Fransson
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1. Vorbemerkungen<br />
<strong>04</strong>/<strong>2013</strong> <strong>Der</strong> <strong>Fall</strong> <strong>Åkerberg</strong><br />
<strong>Fransson</strong><br />
EuGH, Rs. C-617/10 (<strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong>), Urteil<br />
des Gerichtshofs vom 26. Februar <strong>2013</strong><br />
aufbereitet von Philipp Kubicki<br />
Das Wichtigste: Eine Durchführung von Unionsrecht im Sinne<br />
von Art. 51 Abs. 1 S. 1 EU-Grundrechtecharta und damit eine<br />
Bindung der Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte ist immer<br />
dann gegeben, wenn die betreffende nationale Vorschrift oder<br />
Maßnahme in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Ist<br />
das mitgliedstaatliche Handeln nicht vollständig durch das Unionsrecht<br />
bestimmt, so steht es nationalen Behörden und Gerichten<br />
frei, nationale Grundrechte anzuwenden, soweit hierdurch<br />
weder das Schutzniveau der Grundrechtecharta, noch der Vorrang,<br />
die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt<br />
werden.<br />
Die Frage nach der Bindung der Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte ist<br />
seit längerem Gegenstand europarechtlicher Diskussionen. Mit der Rechtsverbindlichkeit<br />
der EU-Grundrechtecharta (GRCh) im Zuge des Lissabonner<br />
Vertrags hat diese Auseinandersetzung insbesondere mit Blick auf Art. 51 Abs.<br />
1 S. 1 GRCh neuen Schwung erhalten, der durch das vorliegende Urteil nochmals<br />
verstärkt werden dürfte. Nach der genannten Bestimmung sind die Mitgliedstaaten<br />
an die Grundrechtecharta ausschließlich bei der Durchführung des<br />
Rechts der Union gebunden. Diese Formulierung weicht von der bis dahin<br />
ständigen Rechtsprechung des EuGH zu den als allgemeine Rechtsgrundsätze<br />
entwickelten, ungeschriebenen EU-Grundrechten ab, wonach die Mitgliedstaaten<br />
bereits im Anwendungsbereich des Unionsrechts (früher: Gemeinschaftsrechts)<br />
an diese gebunden sind. Unklar ist allerdings nicht nur der Gleichlauf<br />
des EU-Grundrechtsschutzes aus den beiden genannten Rechtsquellen (vgl.<br />
Art. 6 Abs. 1 und 3 EUV) in Bezug auf staatliche Maßnahmen. Umstritten ist<br />
insbesondere seine Reichweite im Einzelnen und entsprechend das Verständnis<br />
der jeweiligen Anwendungsvoraussetzungen. In der Konsequenz geht es<br />
dabei um die Frage, in welchem Umfang die EU-Grundrechte nicht nur ihrem<br />
ursprünglichen Primärzweck zufolge die EU-Hoheitsgewalt zähmen, sondern<br />
auch mitgliedstaatlichen Kompetenzen – ähnlich wie die Grundfreiheiten –<br />
Grenzen setzen und damit zugleich nationale Grundrechte verdrängen oder<br />
zumindest in Konkurrenz zu ihnen treten. Mit der Rs. <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> hat<br />
der EuGH diesen Umfang zumindest potentiell erheblich ausgeweitet. Nur<br />
kurze Zeit später, am 24.<strong>04</strong>.13, nahm das BVerfG dies in seinem Urteil zur<br />
Antiterrordatei (1 BvR 1215/07) zum Anlass, um eine verfassungskonforme<br />
Lesart dieser EuGH-Entscheidung anzumahnen.<br />
Das EuGH-Urteil<br />
Ausgangspunkt für das unionsrechtliche Verfahren in der Rs. <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong><br />
war ein schwedisches Steuerstrafverfahren gegen einen schwedischen<br />
Bürger u.a. wegen Falschangaben zu seiner Mehrwertsteuererklärung. Bereits
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zuvor wurden gegen ihn wegen des gleichen Sachverhalts steuerrechtliche<br />
Sanktionen verhängt. Für das Strafgericht stellte sich nun die Frage, ob einer<br />
möglichen Bestrafung nicht das auch unionsrechtlich in Art. 50 GRCh geregelten<br />
Verbot der Doppelbestrafung entgegenstehe. Im Rahmen des Vorlageverfahrens<br />
musste der EuGH jedoch zunächst zu klären, ob dieses EU-<br />
Grundrecht vorliegend überhaupt anwendbar war.<br />
Mehrere an dem Verfahren beteiligte Mitgliedstaaten, die Europäische Kommission<br />
als auch der Generalanwalt Cruz Villalón in seinen Schlussanträgen<br />
verneinten diese Frage, da ihrer Ansicht nach weder die steuerrechtlichen<br />
Sanktionen noch das Strafverfahren auf der Durchführung von Unionsrecht<br />
beruhten (vgl. Rn. 16).<br />
<strong>Der</strong> Gerichthof – als Große Kammer entscheidend (!) – gelangte hingegen zur<br />
gegenteiligen Auffassung und bejahte vorliegend die Voraussetzung des<br />
Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh für die Bindung der Mitgliedstaaten in zwei Schritten<br />
(Rn. 17 bis 31):<br />
Zunächst stellt der EuGH mit Blick auf den Wortlaut überraschend fest, dass<br />
Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh seine bisherige Rechtsprechung zur mitgliedstaatlichen<br />
Grundrechtsbindung bestätigt, wonach nationale Bestimmungen dann<br />
am Maßstab der EU-Grundrechte zu messen sind, wenn sie in den Geltungsbzw.<br />
Anwendungsbereich (die Begriffe werden in der deutschen Sprachfassung<br />
des Urteils offensichtlich synonym verwendet) des Unionsrechts fallen (Rn. 18<br />
f.). Überraschend ist diese Feststellung deshalb, weil die Formulierung des<br />
Art. 51 Abs. 1 GRCh ursprünglich gerade die weiterreichende Rechtsprechung<br />
des Gerichtshofs zumindest für den Charta-Bereich eingrenzen und auf die<br />
allgemein anerkannte sog. agency-Situation zurückführen sollte, in denen die<br />
Mitgliedstaaten lediglich als verlängerter Arm der EU-Hoheitsgewalt zwingende<br />
unionalen Vorgaben innerstaatlich vollziehen (Verordnungen) oder umsetzen<br />
(Richtlinien). Dieses Ansinnen wird allerdings durch die als „nützliche<br />
Interpretationshilfe“ bezeichneten Erläuterungen zur Grundrechtecharta, die<br />
nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV bei deren Auslegung gebührend zu berücksichtigen<br />
sind, nicht unerheblich konterkariert. Denn in den Erläuterungen zu<br />
Art. 51 GRCh wird insoweit die bisherige Rechtsprechung zur mitgliedstaatlichen<br />
Grundrechtsbindung in Bezug genommen. Und so verwundert es nicht<br />
weiter, dass der Gerichthof diese Erläuterungen zur Bestätigung seiner Auffassung<br />
heranzieht (Rn. 20). Im Ergebnis stellt der EuGH hierdurch jedenfalls<br />
den Gleichlauf der beiden EU-Grundrechtsquellen bezüglich der mitgliedstaatlichen<br />
Bindung her.<br />
Dieses Anliegen ist grundsätzlich zu begrüßen. Entscheidend ist hierbei allerdings<br />
vielmehr, in welcher Weise der EuGH sodann die Formel vom Geltungs-<br />
bzw. Anwendungsbereich des Unionsrechts oder der so verstandenen<br />
Durchführung desgleichen ausfüllt. Vorliegend begründete der Gerichtshof die<br />
Anwendungsvoraussetzung wie folgt (Rn. 25 bis 27): Die Mehrwertsteuerrichtlinie<br />
2006/12 verpflichte die Mitgliedstaaten allgemein, die Erhebung der<br />
Mehrwertsteuer zu gewährleisten und Betrug hiergegen zu bekämpfen. Im<br />
Übrigen gebiete Art. 325 AEUV generell die Bekämpfung von Handlungen,<br />
die gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtet sind. Zudem umfassten<br />
die EU-Eigenmittel Einnahmen aus dem mitgliedstaatlichen Mehrwertsteueraufkommen.<br />
Somit führe jedes Versäumnis bei der Erhebung der<br />
Mehrwertsteuern potenziell zu einer Verringerung der Mehrwertsteuermittel<br />
für den Unionshaushalt. Vor diesem Hintergrund handele es sich bei dem<br />
Steuerstrafverfahren gegen Herrn <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> wegen unrichtiger Angaben<br />
zur Mehrwertsteuer (zumindest auch) um eine Durchführung des Unionsrechts<br />
im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh.<br />
In die bisher gängigen <strong>Fall</strong>gruppen lässt sich diese Konstellation nur bedingt<br />
einordnen: da weder die Mehrwertsteuerrichtlinie noch Art. 325 AEUV zwingende<br />
Vorgaben zur Umsetzung dieser allgemeinen Verpflichtungen enthalten,<br />
liegt jedenfalls keine agency-Situation vor. Auch dienten die dem Straf- und<br />
dem Steuerverfahren zugrunde liegenden Vorschriften nicht dem Ausfüllen<br />
von Umsetzungs- oder Vollzugs- bzw. Ermessensspielräumen (vgl. Rn. 28), die<br />
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den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit Richtlinien oder Verordnungen<br />
zukommen (vgl. hierzu Fuchs, DeLuxe 1/2012, N.S.). Schließlich sind auch<br />
keine Grundfreiheiten oder die Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV einschlägig,<br />
im Rahmen derer EU-Grundrechte als Schranken oder Schranken-Schranken<br />
zur Anwendung gelangten.<br />
Gleichwohl entspricht die <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong>-Konstellation der hinter den<br />
beiden letzt genannten <strong>Fall</strong>gruppen stehenden Tendenz, wonach es nicht darauf<br />
ankommt, dass mitgliedstaatliches Handeln – wie bei der agency-Situation – vollständig<br />
durch Unionsrecht bestimmt wird. Das Neue in kasuistischer Hinsicht ist diesmal,<br />
dass für die mitgliedstaatliche Bindung sogar allgemein-sachbezogene<br />
Handlungspflichten genügen, die sich hier kumulativ aus dem Primärrecht<br />
(Art. 325 AEUV) und dem Sekundärrecht (Mehrwertsteuerrichtlinie) ergeben,<br />
soweit nur die in Frage stehenden nationalen Vorschriften oder Maßnahmen<br />
zumindest in objektiver Hinsicht zu deren Erfüllung einen Beitrag leisten. Auf<br />
die mitgliedstaatliche Veranlassung bzw. Motivation zur Anwendung der betreffenden<br />
Maßnahmen kommt es nicht an.<br />
<strong>Der</strong>artige allgemeine Handlungspflichten sind in zahlreichen Richtlinien aus<br />
unterschiedlichen Rechtsbereichen enthalten. Potentiell unterliegt somit das<br />
gesamte nationale Recht der EU-Grundrechtsbindung und zwar auch dort, wo<br />
das EU-Recht eben keine oder kaum inhaltliche (und zwingende) Vorgaben<br />
aufstellt – sei es, weil die EU übertragene Kompetenzen insoweit noch nicht<br />
ausgeübt hat, sei es, weil die betreffenden materiellen Zuständigkeiten bei den<br />
Mitgliedstaaten verblieben sind.<br />
Hierdurch etabliert der Gerichtshof die EU-Grundrechte als – neben die<br />
Grundfreiheiten und die Freizügigkeit tretende – Kompetenzausübungsschranken<br />
für (autonomes) nationales Recht im Rahmen der von den Mitgliedstaaten<br />
wahrgenommenen Zuständigkeiten. <strong>Der</strong> Unterschied zu den genannten<br />
Gewährleistungen besteht nur noch darin, dass die EU-Grundrechte die<br />
Eröffnung des (nunmehr weit zu verstehenden) Anwendungsbereichs des<br />
Unionsrechts voraussetzen, da sie diesen nicht – wie die Grundfreiheiten und<br />
die Freizügigkeit – aus sich selbst heraus begründen können (vgl. Kubicki, De-<br />
Luxe 2/<strong>2013</strong>, Iida). Ungeachtet dieser Akzessorietät werden die EU-<br />
Grundrechte in der <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong>-Konstellation vollends ihres ursprünglichen<br />
Gewandes entkleidet, nämlich die EU-Hoheitsgewalt, ggf. vermittelt<br />
über die Mitgliedstaaten, einer autonomen unionalen Grundrechtskontrolle zu<br />
unterwerfen.<br />
Weitere Konsequenz dieser EuGH-Rechtsprechung ist die Intensivierung<br />
einer bereits bestehenden, zweifachen Konkurrenzsituation: materiell zwischen<br />
den EU-Grundrechten und den nationalen Grundrechten und prozessual<br />
zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten, in Deutschland<br />
dem BVerfG, hinsichtlich der grundrechtlichen Deutungshoheit.<br />
Dass dem Gerichtshof beide Konkurrenzsituationen bewusst sein durften,<br />
lässt sich aus Rn. 29 schlussfolgern: Danach steht es nationalen Behörden und<br />
Gerichten in Fällen, in denen mitgliedstaatliches Handeln nicht vollständig<br />
durch das Unionsrecht bestimmt wird, frei, nationale Grundrechte anzuwenden,<br />
soweit hierdurch weder das Schutzniveau der Grundrechtecharta, noch<br />
der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrecht beeinträchtigt<br />
werden. <strong>Der</strong> EuGH öffnet durch diese, in der praktischen Handhabung sicher<br />
nicht unproblematische Formel einer parallelen Anwendung von EU-<br />
Grundrechten und nationalen Grundrechten die Tür, stellt letztere allerdings<br />
unter einen unionalen „Soweit“-Vorbehalt, der ihm das letzte Wort in (konkurrierenden)<br />
Grundrechtsfragen sichern soll.<br />
Die Antwort des BVerfG<br />
Die Antwort des BVerfG kommt postwendend und angesichts der potentiellen<br />
Reichweite der <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong>-Konstellation auch wenig überraschend.<br />
Gegenstand des Urteils zur Antiterrordatei war zwar eine Prüfung des<br />
einschlägigen Gesetzes am Maßstab grundgesetzlicher Grundrechte (1 BvR<br />
1215/07). Gleichwohl äußert sich das BVerfG auch zur Einschlägigkeit unio-<br />
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naler Grundrechte sowie einer ggf. hieraus resultierenden Vorlage an den<br />
EuGH (vgl. Rn. 88 bis 91). Hierbei knüpft das BVerfG zunächst an seine<br />
bisherige Rechtsprechungslinie an, wonach die EU-Grundrechte dann als Prüfungsmaßstab<br />
für nationale Vorschriften ausscheiden, wenn letztere nicht durch Unionsrecht<br />
determiniert sind. Insoweit fehle es an einer Durchführung des Unionsrechts im<br />
Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh, so dass eine mitgliedstaatliche Bindung an<br />
die Charta nicht bestehe.<br />
Hiervon ausgehend untersucht das BVerfG die Bindung hinsichtlich des Antiterrordateigesetzes.<br />
Zwar bestünde eine Vielzahl von Berührungspunkten zum<br />
Unionsrecht, aus denen sich eine mittelbare Beeinflussung unionsrechtlich<br />
geordneter Rechtsbeziehungen ergeben könne (vgl. Rn. 89, 90), hieraus folge<br />
aber keine Determinierung hinsichtlich der Einrichtung und Ausgestaltung der<br />
Antiterrordatei: Denn es gebe kein Unionsrecht, das die Mitgliedstaaten zu<br />
Einrichtung einer derartigen Datei verpflichtet, sie daran hindert oder insoweit<br />
inhaltliche Vorgaben macht (Rn. 90). Vor diesem Hintergrund lehnt es eine<br />
Vorlage an den EuGH ab (Rn. 88, 91).<br />
Aus dieser Subsumtion wird deutlich, was das BVerfG unter einer Determinierung<br />
nationaler Vorschriften durch Unionsrecht und damit einer Durchführung<br />
im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh versteht: Unionsrecht muss das<br />
nationale Recht durch Gebot, Verbot oder inhaltliche Ausgestaltung – in den<br />
Worten des EuGH – bestimmen.<br />
Ob gerade die Bestimmung bzw. Determinierung durch inhaltliche Ausgestaltung<br />
„vollständig“ sein muss, kann den Ausführungen des BVerfG allerdings<br />
nicht entnommen werden. An seinem grundsätzlich engen Verständnis des<br />
Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh lässt das BVerfG jedoch keinen Zweifel. Ausdrücklich<br />
in Bezug auf das vorliegende EuGH-Urteil stellt das BVerfG fest, dass<br />
dieses nicht so verstanden werden dürfe, dass für eine Bindung der Mitgliedstaaten<br />
„jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des<br />
Unionsrecht oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreiche.“ (Rn. 91). Denn<br />
eine solche Lesart dieser Entscheidung würde dem kooperativen Miteinander<br />
zwischen den beiden Höchstgerichten zuwiderlaufen, weil sie zur Folge hätte,<br />
dass das Urteil „offensichtlich als Ultra-vires-Akt zu beurteilen wäre oder Schutz und<br />
Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise gefährdete, dass dies die<br />
Identität der durch das Grundgesetz errichteten Verfassungsordnung in Frage stellte.“ (Rn.<br />
91)<br />
An Deutlichkeit sind diese Formulierungen wohl kaum zu überbieten. Das<br />
Bemühen beider verfassungsrechtlichen Integrationsvorbehalte (ultra-vires-<br />
Kontrolle und Identitätskontrolle) bezeugt zudem unmissverständlich, welch<br />
hohe Bedeutung das BVerfG der Frage nach der mitgliedstaatlichen Bindung<br />
an die EU-Grundrechte einräumt. Ob diese Ausführungen im Nachhinein<br />
wieder nur als drohendes Spitzen verfassungsrechtlicher Lippen bewertet oder<br />
vielleicht erstmals auch mal ein Pfeifen im Kooperationsverhältnis vernommen<br />
werden könnte, wird maßgeblich davon abhängen, wie die Fachgerichte und<br />
sodann der EuGH diese Mahnung aufnehmen werden.<br />
Aus den Ausführungen des BVerfG wird schließlich noch etwas deutlich: dem<br />
engen Verständnis des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh liegt zugleich eine klare<br />
Trennung der Grundrechtssphären zugrunde, welche für die wohl als Entgegenkommen<br />
gedachte Möglichkeit der parallelen Anwendung nationaler und<br />
unionaler Grundrechte unter der Ägide des Gerichtshofs keinen Raum lässt.<br />
Nur soweit Unionsrecht nationales Handeln determiniert, ist dieses nach<br />
BVerfG an EU-Grundrechten zu messen, außerhalb dieses Bereichs dagegen<br />
ausschließlich an den nationalen Grundrechten.<br />
Fazit<br />
Mit der Entscheidung in der Rechtssache <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> weitet der EuGH<br />
die EU-Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten potentiell erheblich aus, das<br />
BVerfG tritt dieser Entwicklung nur kurze Zeit später in seinem Urteil zur<br />
Antiterrordatei entschieden entgegen. Die Bindungsproblematik wird vor dem<br />
Hintergrund dieser beiden Urteile endgültig zur kompetentiellen Gretchenfra-<br />
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DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong> DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong><br />
ge zwischen den beiden Höchstgerichten. Man mag dem BVerfG vorwerfen,<br />
dass es sie nicht in einer Vorlage direkt an den Gerichtshof gerichtet hat. Ob<br />
dem Verhältnis beider Gerichte hierdurch allerdings gedient worden wäre,<br />
erscheint fraglich, da die Vorlagefrage wohl eine eher rhetorische gewesen<br />
wäre. Blickt man hingegen auf den materiellen Kern der Auseinandersetzung,<br />
so kommt man nicht umhin, die durch den EuGH forcierte Entwicklung der<br />
mitgliedstaatlichen EU-Grundrechtsbindung kritisch zu sehen. Denn sie führt<br />
dazu, dass die EU-Grundrechte zunehmend in Bereiche hineinwirken, die in<br />
den Kompetenzen der Mitgliedstaaten verblieben sind. Dort zielen sich nicht<br />
mehr auf eine Bändigung der durch die Mitgliedsstaaten vermittelten EU-<br />
Hoheitsgewalt, sondern bilden – neben den Grundfreiheiten und der Freizügigkeit<br />
– den rechtlichen Rahmen für die Ausübung mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten,<br />
die nur noch rudimentär durch das Unionsrecht berührt werden<br />
müssen, um in den Fokus dieser Kompetenzausübungsschranken zu geraten.<br />
Für diesen Funktionswandel der EU-Grundrechte liefert der Gerichtshof<br />
weder eine ausreichender Begründung, noch weisen die Verträge hierfür die<br />
notwendige rechtliche Legitimation auf. Allein die Sicherung der Einheitlichkeit<br />
des Unionsrechts kann hierfür nicht genügen, wenn es gerade keine konkreten<br />
unionalen Vorgaben materieller Art gibt, deren Einheitlichkeit gesichert<br />
werden kann. Die Grenzziehung zwischen der unionalen und der nationalen<br />
Grundrechtsphäre mag im Einzelfall nicht einfach sein. Das Kriterium der<br />
Determiniertheit durch Unionsrechts bietet jedoch sowohl aus unionsrechtlicher<br />
als auch aus verfassungsrechtlicher Sicht eine konfliktvermeidende Richtschnur.<br />
Zitiervorschlag: Kubicki, DeLuxe 4/<strong>2013</strong>, <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong><br />
www.rewi.europa-uni.de/deluxe<br />
2. Vertiefende Lesehinweise<br />
• Latzel, Eine misslungene Karlsruher Trotzreaktion, F.A.Z. vom<br />
3.5.<strong>2013</strong>, S. 7<br />
• Lenz, EuGH-Urteil „<strong>Fransson</strong>“ – Kein Anlass zum „Richterkrieg“,<br />
EWS <strong>2013</strong>, S. 1<br />
• Rabe, Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten, NJW <strong>2013</strong>, 1407 ff.<br />
• Rathke, Autoritative Erziehung im europäischen Verfassungsgerichtsverbund,<br />
vom 26.<strong>04</strong>.<strong>2013</strong>, juwiss.de<br />
• Tyhm, Von Karlsruhe nach Bückeburg – auf dem Weg zur europäischen<br />
Grundrechtegemeinschaft, vom 28.02.<strong>2013</strong>, www. verfassungsblog.de<br />
• Winter, Deutliche Worte des EuGH im Grundrechtsbereich, NZA<br />
<strong>2013</strong>, 473 ff.<br />
3. Sachverhalt<br />
Herr <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> wurde vor einem schwedischen Gericht wegen Steuerhinterziehung<br />
in einem schweren <strong>Fall</strong> angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, in<br />
seinen Steuererklärungen falsche Angaben gemacht zu haben, wodurch dem<br />
Staat u.a. beinahe Einnahmen der Mehrwertsteuer in bedeutender Höhe entgangen<br />
wären.<br />
Bereits vor dem Strafverfahren wurden Herrn <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> wegen derselben<br />
Tat der Abgabe unzutreffender Steuererklärungen für die betreffenden<br />
Zeiträume in einem steuerverwaltungsrechtlichen Verfahren Steuerzuschläge<br />
als verwaltungsrechtliche Sanktionen auferlegt, die zudem zu verzinsen waren.<br />
Eine Anfechtung vor dem Verwaltungsgericht wurde seitens Herrn <strong>Åkerberg</strong><br />
<strong>Fransson</strong> nicht vorgenommen.<br />
Dem vorlegenden Strafgericht stellte sich in der Sache die Frage, ob die Anklage<br />
gegen Herrn <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> unzulässig ist, weil er in dem steuerlichen<br />
Verfahren bereits wegen derselben Tat mit einer verwaltungsrechtlichen Sank-<br />
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tion bestraft wurde und ein Strafverfahren somit gegen das Verbot der Doppelbestrafung<br />
gemäß Art. 4 des Protokolls Nr. 7 und Art. 50 der Charta verstoßen<br />
würde. Nachdem der Gerichtshof die Anwendbarkeit der EU-<br />
Grundrechte auf den vorliegenden <strong>Fall</strong> bejahte, stellte er sodann hierzu fest,<br />
dass das Verbot der Doppelbestrafung einer parallelen Verhängung von steuerlicher<br />
und Strafrechtssanktion nicht entgegenstehe, sofern die sofern die<br />
steuerliche Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter aufweise.<br />
4. Aus den Entscheidungsgründen<br />
16 Die schwedische, die tschechische und die dänische Regierung, Irland,<br />
die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission halten die<br />
Vorlagefragen für unzulässig. <strong>Der</strong> Gerichtshof sei nur für deren Beantwortung<br />
zuständig, wenn die gegen Herrn <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> festgesetzten steuerlichen<br />
Sanktionen sowie das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren, die Gegenstand<br />
des Ausgangsverfahrens seien, auf der Durchführung von Unionsrecht beruhten.<br />
Dies sei aber weder bei der nationalen Rechtsvorschrift, aufgrund deren<br />
die steuerlichen Sanktionen festgesetzt worden seien, noch bei der nationalen<br />
Rechtsvorschrift, die als Grundlage der Anklage diene, der <strong>Fall</strong>. Gemäß Art. 51<br />
Abs. 1 der Charta fielen die Sanktionen und das Strafverfahren also nicht unter<br />
den in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatz ne bis in idem.<br />
17 Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Anwendungsbereich der Charta,<br />
was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in Art. 51 Abs. 1 der Charta<br />
definiert ist. Danach gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der<br />
Durchführung des Rechts der Union.<br />
18 Diese Bestimmung der Charta bestätigt also die Rechtsprechung des<br />
Gerichtshofs zu der Frage, inwieweit das Handeln der Mitgliedstaaten den<br />
Anforderungen genügen muss, die sich aus den in der Unionsrechtsordnung<br />
garantierten Grundrechten ergeben.<br />
19 Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich im Wesentlichen,<br />
dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in<br />
allen unionsrechtlich geregelten <strong>Fall</strong>gestaltungen, aber nicht außerhalb derselben<br />
Anwendung finden. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass<br />
er eine nationale Rechtsvorschrift nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen<br />
kann, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Sobald<br />
dagegen eine solche Vorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt,<br />
hat der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene Gerichtshof<br />
dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt,<br />
um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu<br />
können, deren Wahrung er sichert (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 18.<br />
Juni 1991, ERT, C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 42, vom 29. Mai 1997,<br />
Kremzow, C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Randnr. 15, vom 18. Dezember 1997,<br />
Annibaldi, C-309/96, Slg. 1997, I-7493, Randnr. 13, vom 22. Oktober 2002,<br />
Roquette Frères, C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Randnr. 25, vom 18. Dezember<br />
2008, Sopropé, C-349/07, Slg. 2008, I-10369, Randnr. 34, vom 15. November<br />
2011, <strong>Der</strong>eci u. a., C-256/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht,<br />
Randnr. 72, sowie vom 7. Juni 2012, Vinkov, C-27/11, noch nicht in<br />
der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 58).<br />
20 Diese Definition des Anwendungsbereichs der Grundrechte der Union<br />
wird durch die Erläuterungen zu Art. 51 der Charta bestätigt, die gemäß Art. 6<br />
Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu<br />
berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010,<br />
DEB, C-279/09, Slg. 2010, I-13849, Randnr. 32). Gemäß diesen Erläuterungen<br />
„[gilt d]ie Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten<br />
Grundrechte für die Mitgliedstaaten … nur dann, wenn sie im Anwendungsbereich<br />
des Unionsrechts handeln“.<br />
21 Da folglich die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten<br />
sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts<br />
fällt, sind keine <strong>Fall</strong>gestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht<br />
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DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong> DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong><br />
erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit<br />
des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta<br />
garantierten Grundrechte.<br />
22 Wird dagegen eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst,<br />
ist der Gerichtshof nicht zuständig, um über sie zu entscheiden, und die möglicherweise<br />
angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine<br />
neue Zuständigkeit begründen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 12. Juli<br />
2012, Currà u. a., C-466/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht,<br />
Randnr. 26).<br />
23 Diese Erwägungen entsprechen denen, die Art. 6 Abs. 1 EUV zugrunde<br />
liegen, wonach durch die Bestimmungen der Charta die in den Verträgen festgelegten<br />
Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert werden. Ebenso<br />
dehnt die Charta nach ihrem Art. 51 Abs. 2 den Geltungsbereich des Unionsrechts<br />
nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet<br />
weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert<br />
sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben (vgl. Urteil<br />
<strong>Der</strong>eci u. a., Randnr. 71).<br />
24 Vorliegend ist zunächst festzustellen, dass die gegen Herrn <strong>Åkerberg</strong><br />
<strong>Fransson</strong> festgesetzten steuerlichen Sanktionen und das gegen ihn eingeleitete<br />
Strafverfahren teilweise im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Mitteilungspflichten<br />
auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer stehen.<br />
25 In Bezug auf die Mehrwertsteuer geht zum einen aus den Art. 2, 250<br />
Abs. 1 und 273 der Richtlinie 2006/12/EG des Rates vom 28. November<br />
2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1), die den<br />
Wortlaut der Art. 2 und 22 Abs. 4 und 8 der Richtlinie 77/388 in der Fassung<br />
des Art. 28h dieser Richtlinie übernommen haben, und zum anderen aus Art. 4<br />
Abs. 3 EUV hervor, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und<br />
Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten<br />
in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten<br />
und den Betrug zu bekämpfen (vgl. Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Italien,<br />
C-132/06, Slg. 2008, I-5457, Randnrn. 37 und 46).<br />
26 Außerdem sind die Mitgliedstaaten nach Art. 325 AEUV verpflichtet,<br />
zur Bekämpfung von rechtswidrigen Handlungen, die sich gegen die finanziellen<br />
Interessen der Union richten, abschreckende und wirksame Maßnahmen<br />
zu ergreifen, insbesondere müssen sie zur Bekämpfung von Betrug, der sich<br />
gegen die finanziellen Interessen der Union richtet, dieselben Maßnahmen<br />
ergreifen wie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen ihre eigenen finanziellen<br />
Interessen richtet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 2010,<br />
SGS Belgium u. a., C-367/09, Slg. 2010, I-10761, Randnrn. 40 bis 42). Da die<br />
Eigenmittel der Union gemäß dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses<br />
2007/436/EG, Euratom des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der<br />
Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 163, S. 17) u. a. die<br />
Einnahmen umfassen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes<br />
auf die nach den Unionsvorschriften bestimmte einheitliche Mehrwertsteuer-<br />
Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben, besteht ein unmittelbarer Zusammenhang<br />
zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung<br />
des einschlägigen Unionsrechts und der Zurverfügungstellung entsprechender<br />
Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union, da jedes Versäumnis<br />
bei der Erhebung Ersterer potenziell zu einer Verringerung Letzterer führt<br />
(vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2011, Kommission/Deutschland,<br />
C-539/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht,<br />
Randnr. 72).<br />
27 Folglich sind steuerliche Sanktionen und ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung<br />
wegen unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer, wie im <strong>Fall</strong><br />
des Angeklagten des Ausgangsverfahrens, als Durchführung von Art. 2,<br />
Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112 (früher Art. 2 und 22 der<br />
Richtlinie 77/388) sowie von Art. 325 AEUV und somit als Durchführung des<br />
Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen.<br />
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DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong> DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong><br />
28 Die Tatsache, dass die nationalen Rechtsvorschriften, die den steuerlichen<br />
Sanktionen und dem Strafverfahren zugrunde liegen, nicht zur Umsetzung<br />
der Richtlinie 2006/112 erlassen wurden, vermag dieses Ergebnis nicht in<br />
Frage zu stellen, da durch ihre Anwendung ein Verstoß gegen die Bestimmungen<br />
dieser Richtlinie geahndet und damit die den Mitgliedstaaten durch den<br />
Vertrag auferlegte Verpflichtung zur wirksamen Ahndung von die finanziellen<br />
Interessen der Union gefährdenden Verhaltensweisen erfüllt werden soll.<br />
29 Hat das Gericht eines Mitgliedstaats zu prüfen, ob mit den Grundrechten<br />
eine nationale Vorschrift oder Maßnahme vereinbar ist, die in einer Situation,<br />
in der das Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht<br />
bestimmt wird, das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der<br />
Charta durchführt, steht es somit den nationalen Behörden und Gerichten<br />
weiterhin frei, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden,<br />
sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie<br />
vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit<br />
des Unionsrechts beeinträchtigt werden (vgl. für diesen letzten Aspekt<br />
Urteil vom 26. Februar <strong>2013</strong>, Melloni, C-399/11, noch nicht in der amtlichen<br />
Sammlung veröffentlicht, Randnr. 60).<br />
30 Dabei haben die nationalen Gerichte, wenn sie Bestimmungen der Charta<br />
auslegen sollen, die Möglichkeit und gegebenenfalls die Pflicht, den Gerichtshof<br />
um eine Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV zu ersuchen.<br />
31 Aus diesen Erwägungen folgt, dass der Gerichtshof befugt ist, die Vorlagefragen<br />
zu beantworten und dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise<br />
zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit der nationalen Regelung<br />
mit dem in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatz ne bis in idem beurteilen<br />
zu können.<br />
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