11.06.2014 Aufrufe

04/2013 Der Fall Åkerberg Fransson

04/2013 Der Fall Åkerberg Fransson

04/2013 Der Fall Åkerberg Fransson

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

1. Vorbemerkungen<br />

<strong>04</strong>/<strong>2013</strong> <strong>Der</strong> <strong>Fall</strong> <strong>Åkerberg</strong><br />

<strong>Fransson</strong><br />

EuGH, Rs. C-617/10 (<strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong>), Urteil<br />

des Gerichtshofs vom 26. Februar <strong>2013</strong><br />

aufbereitet von Philipp Kubicki<br />

Das Wichtigste: Eine Durchführung von Unionsrecht im Sinne<br />

von Art. 51 Abs. 1 S. 1 EU-Grundrechtecharta und damit eine<br />

Bindung der Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte ist immer<br />

dann gegeben, wenn die betreffende nationale Vorschrift oder<br />

Maßnahme in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Ist<br />

das mitgliedstaatliche Handeln nicht vollständig durch das Unionsrecht<br />

bestimmt, so steht es nationalen Behörden und Gerichten<br />

frei, nationale Grundrechte anzuwenden, soweit hierdurch<br />

weder das Schutzniveau der Grundrechtecharta, noch der Vorrang,<br />

die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt<br />

werden.<br />

Die Frage nach der Bindung der Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte ist<br />

seit längerem Gegenstand europarechtlicher Diskussionen. Mit der Rechtsverbindlichkeit<br />

der EU-Grundrechtecharta (GRCh) im Zuge des Lissabonner<br />

Vertrags hat diese Auseinandersetzung insbesondere mit Blick auf Art. 51 Abs.<br />

1 S. 1 GRCh neuen Schwung erhalten, der durch das vorliegende Urteil nochmals<br />

verstärkt werden dürfte. Nach der genannten Bestimmung sind die Mitgliedstaaten<br />

an die Grundrechtecharta ausschließlich bei der Durchführung des<br />

Rechts der Union gebunden. Diese Formulierung weicht von der bis dahin<br />

ständigen Rechtsprechung des EuGH zu den als allgemeine Rechtsgrundsätze<br />

entwickelten, ungeschriebenen EU-Grundrechten ab, wonach die Mitgliedstaaten<br />

bereits im Anwendungsbereich des Unionsrechts (früher: Gemeinschaftsrechts)<br />

an diese gebunden sind. Unklar ist allerdings nicht nur der Gleichlauf<br />

des EU-Grundrechtsschutzes aus den beiden genannten Rechtsquellen (vgl.<br />

Art. 6 Abs. 1 und 3 EUV) in Bezug auf staatliche Maßnahmen. Umstritten ist<br />

insbesondere seine Reichweite im Einzelnen und entsprechend das Verständnis<br />

der jeweiligen Anwendungsvoraussetzungen. In der Konsequenz geht es<br />

dabei um die Frage, in welchem Umfang die EU-Grundrechte nicht nur ihrem<br />

ursprünglichen Primärzweck zufolge die EU-Hoheitsgewalt zähmen, sondern<br />

auch mitgliedstaatlichen Kompetenzen – ähnlich wie die Grundfreiheiten –<br />

Grenzen setzen und damit zugleich nationale Grundrechte verdrängen oder<br />

zumindest in Konkurrenz zu ihnen treten. Mit der Rs. <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> hat<br />

der EuGH diesen Umfang zumindest potentiell erheblich ausgeweitet. Nur<br />

kurze Zeit später, am 24.<strong>04</strong>.13, nahm das BVerfG dies in seinem Urteil zur<br />

Antiterrordatei (1 BvR 1215/07) zum Anlass, um eine verfassungskonforme<br />

Lesart dieser EuGH-Entscheidung anzumahnen.<br />

Das EuGH-Urteil<br />

Ausgangspunkt für das unionsrechtliche Verfahren in der Rs. <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong><br />

war ein schwedisches Steuerstrafverfahren gegen einen schwedischen<br />

Bürger u.a. wegen Falschangaben zu seiner Mehrwertsteuererklärung. Bereits


DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong> DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong><br />

zuvor wurden gegen ihn wegen des gleichen Sachverhalts steuerrechtliche<br />

Sanktionen verhängt. Für das Strafgericht stellte sich nun die Frage, ob einer<br />

möglichen Bestrafung nicht das auch unionsrechtlich in Art. 50 GRCh geregelten<br />

Verbot der Doppelbestrafung entgegenstehe. Im Rahmen des Vorlageverfahrens<br />

musste der EuGH jedoch zunächst zu klären, ob dieses EU-<br />

Grundrecht vorliegend überhaupt anwendbar war.<br />

Mehrere an dem Verfahren beteiligte Mitgliedstaaten, die Europäische Kommission<br />

als auch der Generalanwalt Cruz Villalón in seinen Schlussanträgen<br />

verneinten diese Frage, da ihrer Ansicht nach weder die steuerrechtlichen<br />

Sanktionen noch das Strafverfahren auf der Durchführung von Unionsrecht<br />

beruhten (vgl. Rn. 16).<br />

<strong>Der</strong> Gerichthof – als Große Kammer entscheidend (!) – gelangte hingegen zur<br />

gegenteiligen Auffassung und bejahte vorliegend die Voraussetzung des<br />

Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh für die Bindung der Mitgliedstaaten in zwei Schritten<br />

(Rn. 17 bis 31):<br />

Zunächst stellt der EuGH mit Blick auf den Wortlaut überraschend fest, dass<br />

Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh seine bisherige Rechtsprechung zur mitgliedstaatlichen<br />

Grundrechtsbindung bestätigt, wonach nationale Bestimmungen dann<br />

am Maßstab der EU-Grundrechte zu messen sind, wenn sie in den Geltungsbzw.<br />

Anwendungsbereich (die Begriffe werden in der deutschen Sprachfassung<br />

des Urteils offensichtlich synonym verwendet) des Unionsrechts fallen (Rn. 18<br />

f.). Überraschend ist diese Feststellung deshalb, weil die Formulierung des<br />

Art. 51 Abs. 1 GRCh ursprünglich gerade die weiterreichende Rechtsprechung<br />

des Gerichtshofs zumindest für den Charta-Bereich eingrenzen und auf die<br />

allgemein anerkannte sog. agency-Situation zurückführen sollte, in denen die<br />

Mitgliedstaaten lediglich als verlängerter Arm der EU-Hoheitsgewalt zwingende<br />

unionalen Vorgaben innerstaatlich vollziehen (Verordnungen) oder umsetzen<br />

(Richtlinien). Dieses Ansinnen wird allerdings durch die als „nützliche<br />

Interpretationshilfe“ bezeichneten Erläuterungen zur Grundrechtecharta, die<br />

nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV bei deren Auslegung gebührend zu berücksichtigen<br />

sind, nicht unerheblich konterkariert. Denn in den Erläuterungen zu<br />

Art. 51 GRCh wird insoweit die bisherige Rechtsprechung zur mitgliedstaatlichen<br />

Grundrechtsbindung in Bezug genommen. Und so verwundert es nicht<br />

weiter, dass der Gerichthof diese Erläuterungen zur Bestätigung seiner Auffassung<br />

heranzieht (Rn. 20). Im Ergebnis stellt der EuGH hierdurch jedenfalls<br />

den Gleichlauf der beiden EU-Grundrechtsquellen bezüglich der mitgliedstaatlichen<br />

Bindung her.<br />

Dieses Anliegen ist grundsätzlich zu begrüßen. Entscheidend ist hierbei allerdings<br />

vielmehr, in welcher Weise der EuGH sodann die Formel vom Geltungs-<br />

bzw. Anwendungsbereich des Unionsrechts oder der so verstandenen<br />

Durchführung desgleichen ausfüllt. Vorliegend begründete der Gerichtshof die<br />

Anwendungsvoraussetzung wie folgt (Rn. 25 bis 27): Die Mehrwertsteuerrichtlinie<br />

2006/12 verpflichte die Mitgliedstaaten allgemein, die Erhebung der<br />

Mehrwertsteuer zu gewährleisten und Betrug hiergegen zu bekämpfen. Im<br />

Übrigen gebiete Art. 325 AEUV generell die Bekämpfung von Handlungen,<br />

die gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtet sind. Zudem umfassten<br />

die EU-Eigenmittel Einnahmen aus dem mitgliedstaatlichen Mehrwertsteueraufkommen.<br />

Somit führe jedes Versäumnis bei der Erhebung der<br />

Mehrwertsteuern potenziell zu einer Verringerung der Mehrwertsteuermittel<br />

für den Unionshaushalt. Vor diesem Hintergrund handele es sich bei dem<br />

Steuerstrafverfahren gegen Herrn <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> wegen unrichtiger Angaben<br />

zur Mehrwertsteuer (zumindest auch) um eine Durchführung des Unionsrechts<br />

im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh.<br />

In die bisher gängigen <strong>Fall</strong>gruppen lässt sich diese Konstellation nur bedingt<br />

einordnen: da weder die Mehrwertsteuerrichtlinie noch Art. 325 AEUV zwingende<br />

Vorgaben zur Umsetzung dieser allgemeinen Verpflichtungen enthalten,<br />

liegt jedenfalls keine agency-Situation vor. Auch dienten die dem Straf- und<br />

dem Steuerverfahren zugrunde liegenden Vorschriften nicht dem Ausfüllen<br />

von Umsetzungs- oder Vollzugs- bzw. Ermessensspielräumen (vgl. Rn. 28), die<br />

2


DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong> DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong><br />

den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit Richtlinien oder Verordnungen<br />

zukommen (vgl. hierzu Fuchs, DeLuxe 1/2012, N.S.). Schließlich sind auch<br />

keine Grundfreiheiten oder die Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV einschlägig,<br />

im Rahmen derer EU-Grundrechte als Schranken oder Schranken-Schranken<br />

zur Anwendung gelangten.<br />

Gleichwohl entspricht die <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong>-Konstellation der hinter den<br />

beiden letzt genannten <strong>Fall</strong>gruppen stehenden Tendenz, wonach es nicht darauf<br />

ankommt, dass mitgliedstaatliches Handeln – wie bei der agency-Situation – vollständig<br />

durch Unionsrecht bestimmt wird. Das Neue in kasuistischer Hinsicht ist diesmal,<br />

dass für die mitgliedstaatliche Bindung sogar allgemein-sachbezogene<br />

Handlungspflichten genügen, die sich hier kumulativ aus dem Primärrecht<br />

(Art. 325 AEUV) und dem Sekundärrecht (Mehrwertsteuerrichtlinie) ergeben,<br />

soweit nur die in Frage stehenden nationalen Vorschriften oder Maßnahmen<br />

zumindest in objektiver Hinsicht zu deren Erfüllung einen Beitrag leisten. Auf<br />

die mitgliedstaatliche Veranlassung bzw. Motivation zur Anwendung der betreffenden<br />

Maßnahmen kommt es nicht an.<br />

<strong>Der</strong>artige allgemeine Handlungspflichten sind in zahlreichen Richtlinien aus<br />

unterschiedlichen Rechtsbereichen enthalten. Potentiell unterliegt somit das<br />

gesamte nationale Recht der EU-Grundrechtsbindung und zwar auch dort, wo<br />

das EU-Recht eben keine oder kaum inhaltliche (und zwingende) Vorgaben<br />

aufstellt – sei es, weil die EU übertragene Kompetenzen insoweit noch nicht<br />

ausgeübt hat, sei es, weil die betreffenden materiellen Zuständigkeiten bei den<br />

Mitgliedstaaten verblieben sind.<br />

Hierdurch etabliert der Gerichtshof die EU-Grundrechte als – neben die<br />

Grundfreiheiten und die Freizügigkeit tretende – Kompetenzausübungsschranken<br />

für (autonomes) nationales Recht im Rahmen der von den Mitgliedstaaten<br />

wahrgenommenen Zuständigkeiten. <strong>Der</strong> Unterschied zu den genannten<br />

Gewährleistungen besteht nur noch darin, dass die EU-Grundrechte die<br />

Eröffnung des (nunmehr weit zu verstehenden) Anwendungsbereichs des<br />

Unionsrechts voraussetzen, da sie diesen nicht – wie die Grundfreiheiten und<br />

die Freizügigkeit – aus sich selbst heraus begründen können (vgl. Kubicki, De-<br />

Luxe 2/<strong>2013</strong>, Iida). Ungeachtet dieser Akzessorietät werden die EU-<br />

Grundrechte in der <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong>-Konstellation vollends ihres ursprünglichen<br />

Gewandes entkleidet, nämlich die EU-Hoheitsgewalt, ggf. vermittelt<br />

über die Mitgliedstaaten, einer autonomen unionalen Grundrechtskontrolle zu<br />

unterwerfen.<br />

Weitere Konsequenz dieser EuGH-Rechtsprechung ist die Intensivierung<br />

einer bereits bestehenden, zweifachen Konkurrenzsituation: materiell zwischen<br />

den EU-Grundrechten und den nationalen Grundrechten und prozessual<br />

zwischen dem EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten, in Deutschland<br />

dem BVerfG, hinsichtlich der grundrechtlichen Deutungshoheit.<br />

Dass dem Gerichtshof beide Konkurrenzsituationen bewusst sein durften,<br />

lässt sich aus Rn. 29 schlussfolgern: Danach steht es nationalen Behörden und<br />

Gerichten in Fällen, in denen mitgliedstaatliches Handeln nicht vollständig<br />

durch das Unionsrecht bestimmt wird, frei, nationale Grundrechte anzuwenden,<br />

soweit hierdurch weder das Schutzniveau der Grundrechtecharta, noch<br />

der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrecht beeinträchtigt<br />

werden. <strong>Der</strong> EuGH öffnet durch diese, in der praktischen Handhabung sicher<br />

nicht unproblematische Formel einer parallelen Anwendung von EU-<br />

Grundrechten und nationalen Grundrechten die Tür, stellt letztere allerdings<br />

unter einen unionalen „Soweit“-Vorbehalt, der ihm das letzte Wort in (konkurrierenden)<br />

Grundrechtsfragen sichern soll.<br />

Die Antwort des BVerfG<br />

Die Antwort des BVerfG kommt postwendend und angesichts der potentiellen<br />

Reichweite der <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong>-Konstellation auch wenig überraschend.<br />

Gegenstand des Urteils zur Antiterrordatei war zwar eine Prüfung des<br />

einschlägigen Gesetzes am Maßstab grundgesetzlicher Grundrechte (1 BvR<br />

1215/07). Gleichwohl äußert sich das BVerfG auch zur Einschlägigkeit unio-<br />

3


DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong> DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong><br />

naler Grundrechte sowie einer ggf. hieraus resultierenden Vorlage an den<br />

EuGH (vgl. Rn. 88 bis 91). Hierbei knüpft das BVerfG zunächst an seine<br />

bisherige Rechtsprechungslinie an, wonach die EU-Grundrechte dann als Prüfungsmaßstab<br />

für nationale Vorschriften ausscheiden, wenn letztere nicht durch Unionsrecht<br />

determiniert sind. Insoweit fehle es an einer Durchführung des Unionsrechts im<br />

Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh, so dass eine mitgliedstaatliche Bindung an<br />

die Charta nicht bestehe.<br />

Hiervon ausgehend untersucht das BVerfG die Bindung hinsichtlich des Antiterrordateigesetzes.<br />

Zwar bestünde eine Vielzahl von Berührungspunkten zum<br />

Unionsrecht, aus denen sich eine mittelbare Beeinflussung unionsrechtlich<br />

geordneter Rechtsbeziehungen ergeben könne (vgl. Rn. 89, 90), hieraus folge<br />

aber keine Determinierung hinsichtlich der Einrichtung und Ausgestaltung der<br />

Antiterrordatei: Denn es gebe kein Unionsrecht, das die Mitgliedstaaten zu<br />

Einrichtung einer derartigen Datei verpflichtet, sie daran hindert oder insoweit<br />

inhaltliche Vorgaben macht (Rn. 90). Vor diesem Hintergrund lehnt es eine<br />

Vorlage an den EuGH ab (Rn. 88, 91).<br />

Aus dieser Subsumtion wird deutlich, was das BVerfG unter einer Determinierung<br />

nationaler Vorschriften durch Unionsrecht und damit einer Durchführung<br />

im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh versteht: Unionsrecht muss das<br />

nationale Recht durch Gebot, Verbot oder inhaltliche Ausgestaltung – in den<br />

Worten des EuGH – bestimmen.<br />

Ob gerade die Bestimmung bzw. Determinierung durch inhaltliche Ausgestaltung<br />

„vollständig“ sein muss, kann den Ausführungen des BVerfG allerdings<br />

nicht entnommen werden. An seinem grundsätzlich engen Verständnis des<br />

Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh lässt das BVerfG jedoch keinen Zweifel. Ausdrücklich<br />

in Bezug auf das vorliegende EuGH-Urteil stellt das BVerfG fest, dass<br />

dieses nicht so verstanden werden dürfe, dass für eine Bindung der Mitgliedstaaten<br />

„jeder sachliche Bezug einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des<br />

Unionsrecht oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses ausreiche.“ (Rn. 91). Denn<br />

eine solche Lesart dieser Entscheidung würde dem kooperativen Miteinander<br />

zwischen den beiden Höchstgerichten zuwiderlaufen, weil sie zur Folge hätte,<br />

dass das Urteil „offensichtlich als Ultra-vires-Akt zu beurteilen wäre oder Schutz und<br />

Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise gefährdete, dass dies die<br />

Identität der durch das Grundgesetz errichteten Verfassungsordnung in Frage stellte.“ (Rn.<br />

91)<br />

An Deutlichkeit sind diese Formulierungen wohl kaum zu überbieten. Das<br />

Bemühen beider verfassungsrechtlichen Integrationsvorbehalte (ultra-vires-<br />

Kontrolle und Identitätskontrolle) bezeugt zudem unmissverständlich, welch<br />

hohe Bedeutung das BVerfG der Frage nach der mitgliedstaatlichen Bindung<br />

an die EU-Grundrechte einräumt. Ob diese Ausführungen im Nachhinein<br />

wieder nur als drohendes Spitzen verfassungsrechtlicher Lippen bewertet oder<br />

vielleicht erstmals auch mal ein Pfeifen im Kooperationsverhältnis vernommen<br />

werden könnte, wird maßgeblich davon abhängen, wie die Fachgerichte und<br />

sodann der EuGH diese Mahnung aufnehmen werden.<br />

Aus den Ausführungen des BVerfG wird schließlich noch etwas deutlich: dem<br />

engen Verständnis des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh liegt zugleich eine klare<br />

Trennung der Grundrechtssphären zugrunde, welche für die wohl als Entgegenkommen<br />

gedachte Möglichkeit der parallelen Anwendung nationaler und<br />

unionaler Grundrechte unter der Ägide des Gerichtshofs keinen Raum lässt.<br />

Nur soweit Unionsrecht nationales Handeln determiniert, ist dieses nach<br />

BVerfG an EU-Grundrechten zu messen, außerhalb dieses Bereichs dagegen<br />

ausschließlich an den nationalen Grundrechten.<br />

Fazit<br />

Mit der Entscheidung in der Rechtssache <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> weitet der EuGH<br />

die EU-Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten potentiell erheblich aus, das<br />

BVerfG tritt dieser Entwicklung nur kurze Zeit später in seinem Urteil zur<br />

Antiterrordatei entschieden entgegen. Die Bindungsproblematik wird vor dem<br />

Hintergrund dieser beiden Urteile endgültig zur kompetentiellen Gretchenfra-<br />

4


DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong> DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong><br />

ge zwischen den beiden Höchstgerichten. Man mag dem BVerfG vorwerfen,<br />

dass es sie nicht in einer Vorlage direkt an den Gerichtshof gerichtet hat. Ob<br />

dem Verhältnis beider Gerichte hierdurch allerdings gedient worden wäre,<br />

erscheint fraglich, da die Vorlagefrage wohl eine eher rhetorische gewesen<br />

wäre. Blickt man hingegen auf den materiellen Kern der Auseinandersetzung,<br />

so kommt man nicht umhin, die durch den EuGH forcierte Entwicklung der<br />

mitgliedstaatlichen EU-Grundrechtsbindung kritisch zu sehen. Denn sie führt<br />

dazu, dass die EU-Grundrechte zunehmend in Bereiche hineinwirken, die in<br />

den Kompetenzen der Mitgliedstaaten verblieben sind. Dort zielen sich nicht<br />

mehr auf eine Bändigung der durch die Mitgliedsstaaten vermittelten EU-<br />

Hoheitsgewalt, sondern bilden – neben den Grundfreiheiten und der Freizügigkeit<br />

– den rechtlichen Rahmen für die Ausübung mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten,<br />

die nur noch rudimentär durch das Unionsrecht berührt werden<br />

müssen, um in den Fokus dieser Kompetenzausübungsschranken zu geraten.<br />

Für diesen Funktionswandel der EU-Grundrechte liefert der Gerichtshof<br />

weder eine ausreichender Begründung, noch weisen die Verträge hierfür die<br />

notwendige rechtliche Legitimation auf. Allein die Sicherung der Einheitlichkeit<br />

des Unionsrechts kann hierfür nicht genügen, wenn es gerade keine konkreten<br />

unionalen Vorgaben materieller Art gibt, deren Einheitlichkeit gesichert<br />

werden kann. Die Grenzziehung zwischen der unionalen und der nationalen<br />

Grundrechtsphäre mag im Einzelfall nicht einfach sein. Das Kriterium der<br />

Determiniertheit durch Unionsrechts bietet jedoch sowohl aus unionsrechtlicher<br />

als auch aus verfassungsrechtlicher Sicht eine konfliktvermeidende Richtschnur.<br />

Zitiervorschlag: Kubicki, DeLuxe 4/<strong>2013</strong>, <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong><br />

www.rewi.europa-uni.de/deluxe<br />

2. Vertiefende Lesehinweise<br />

• Latzel, Eine misslungene Karlsruher Trotzreaktion, F.A.Z. vom<br />

3.5.<strong>2013</strong>, S. 7<br />

• Lenz, EuGH-Urteil „<strong>Fransson</strong>“ – Kein Anlass zum „Richterkrieg“,<br />

EWS <strong>2013</strong>, S. 1<br />

• Rabe, Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten, NJW <strong>2013</strong>, 1407 ff.<br />

• Rathke, Autoritative Erziehung im europäischen Verfassungsgerichtsverbund,<br />

vom 26.<strong>04</strong>.<strong>2013</strong>, juwiss.de<br />

• Tyhm, Von Karlsruhe nach Bückeburg – auf dem Weg zur europäischen<br />

Grundrechtegemeinschaft, vom 28.02.<strong>2013</strong>, www. verfassungsblog.de<br />

• Winter, Deutliche Worte des EuGH im Grundrechtsbereich, NZA<br />

<strong>2013</strong>, 473 ff.<br />

3. Sachverhalt<br />

Herr <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> wurde vor einem schwedischen Gericht wegen Steuerhinterziehung<br />

in einem schweren <strong>Fall</strong> angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, in<br />

seinen Steuererklärungen falsche Angaben gemacht zu haben, wodurch dem<br />

Staat u.a. beinahe Einnahmen der Mehrwertsteuer in bedeutender Höhe entgangen<br />

wären.<br />

Bereits vor dem Strafverfahren wurden Herrn <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> wegen derselben<br />

Tat der Abgabe unzutreffender Steuererklärungen für die betreffenden<br />

Zeiträume in einem steuerverwaltungsrechtlichen Verfahren Steuerzuschläge<br />

als verwaltungsrechtliche Sanktionen auferlegt, die zudem zu verzinsen waren.<br />

Eine Anfechtung vor dem Verwaltungsgericht wurde seitens Herrn <strong>Åkerberg</strong><br />

<strong>Fransson</strong> nicht vorgenommen.<br />

Dem vorlegenden Strafgericht stellte sich in der Sache die Frage, ob die Anklage<br />

gegen Herrn <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> unzulässig ist, weil er in dem steuerlichen<br />

Verfahren bereits wegen derselben Tat mit einer verwaltungsrechtlichen Sank-<br />

5


DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong> DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong><br />

tion bestraft wurde und ein Strafverfahren somit gegen das Verbot der Doppelbestrafung<br />

gemäß Art. 4 des Protokolls Nr. 7 und Art. 50 der Charta verstoßen<br />

würde. Nachdem der Gerichtshof die Anwendbarkeit der EU-<br />

Grundrechte auf den vorliegenden <strong>Fall</strong> bejahte, stellte er sodann hierzu fest,<br />

dass das Verbot der Doppelbestrafung einer parallelen Verhängung von steuerlicher<br />

und Strafrechtssanktion nicht entgegenstehe, sofern die sofern die<br />

steuerliche Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter aufweise.<br />

4. Aus den Entscheidungsgründen<br />

16 Die schwedische, die tschechische und die dänische Regierung, Irland,<br />

die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission halten die<br />

Vorlagefragen für unzulässig. <strong>Der</strong> Gerichtshof sei nur für deren Beantwortung<br />

zuständig, wenn die gegen Herrn <strong>Åkerberg</strong> <strong>Fransson</strong> festgesetzten steuerlichen<br />

Sanktionen sowie das gegen ihn eingeleitete Strafverfahren, die Gegenstand<br />

des Ausgangsverfahrens seien, auf der Durchführung von Unionsrecht beruhten.<br />

Dies sei aber weder bei der nationalen Rechtsvorschrift, aufgrund deren<br />

die steuerlichen Sanktionen festgesetzt worden seien, noch bei der nationalen<br />

Rechtsvorschrift, die als Grundlage der Anklage diene, der <strong>Fall</strong>. Gemäß Art. 51<br />

Abs. 1 der Charta fielen die Sanktionen und das Strafverfahren also nicht unter<br />

den in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatz ne bis in idem.<br />

17 Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Anwendungsbereich der Charta,<br />

was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in Art. 51 Abs. 1 der Charta<br />

definiert ist. Danach gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der<br />

Durchführung des Rechts der Union.<br />

18 Diese Bestimmung der Charta bestätigt also die Rechtsprechung des<br />

Gerichtshofs zu der Frage, inwieweit das Handeln der Mitgliedstaaten den<br />

Anforderungen genügen muss, die sich aus den in der Unionsrechtsordnung<br />

garantierten Grundrechten ergeben.<br />

19 Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich im Wesentlichen,<br />

dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in<br />

allen unionsrechtlich geregelten <strong>Fall</strong>gestaltungen, aber nicht außerhalb derselben<br />

Anwendung finden. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass<br />

er eine nationale Rechtsvorschrift nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen<br />

kann, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Sobald<br />

dagegen eine solche Vorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt,<br />

hat der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene Gerichtshof<br />

dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt,<br />

um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu<br />

können, deren Wahrung er sichert (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 18.<br />

Juni 1991, ERT, C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 42, vom 29. Mai 1997,<br />

Kremzow, C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Randnr. 15, vom 18. Dezember 1997,<br />

Annibaldi, C-309/96, Slg. 1997, I-7493, Randnr. 13, vom 22. Oktober 2002,<br />

Roquette Frères, C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Randnr. 25, vom 18. Dezember<br />

2008, Sopropé, C-349/07, Slg. 2008, I-10369, Randnr. 34, vom 15. November<br />

2011, <strong>Der</strong>eci u. a., C-256/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht,<br />

Randnr. 72, sowie vom 7. Juni 2012, Vinkov, C-27/11, noch nicht in<br />

der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 58).<br />

20 Diese Definition des Anwendungsbereichs der Grundrechte der Union<br />

wird durch die Erläuterungen zu Art. 51 der Charta bestätigt, die gemäß Art. 6<br />

Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu<br />

berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010,<br />

DEB, C-279/09, Slg. 2010, I-13849, Randnr. 32). Gemäß diesen Erläuterungen<br />

„[gilt d]ie Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten<br />

Grundrechte für die Mitgliedstaaten … nur dann, wenn sie im Anwendungsbereich<br />

des Unionsrechts handeln“.<br />

21 Da folglich die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten<br />

sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts<br />

fällt, sind keine <strong>Fall</strong>gestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht<br />

6


DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong> DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong><br />

erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit<br />

des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta<br />

garantierten Grundrechte.<br />

22 Wird dagegen eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst,<br />

ist der Gerichtshof nicht zuständig, um über sie zu entscheiden, und die möglicherweise<br />

angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine<br />

neue Zuständigkeit begründen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 12. Juli<br />

2012, Currà u. a., C-466/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht,<br />

Randnr. 26).<br />

23 Diese Erwägungen entsprechen denen, die Art. 6 Abs. 1 EUV zugrunde<br />

liegen, wonach durch die Bestimmungen der Charta die in den Verträgen festgelegten<br />

Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert werden. Ebenso<br />

dehnt die Charta nach ihrem Art. 51 Abs. 2 den Geltungsbereich des Unionsrechts<br />

nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet<br />

weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert<br />

sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben (vgl. Urteil<br />

<strong>Der</strong>eci u. a., Randnr. 71).<br />

24 Vorliegend ist zunächst festzustellen, dass die gegen Herrn <strong>Åkerberg</strong><br />

<strong>Fransson</strong> festgesetzten steuerlichen Sanktionen und das gegen ihn eingeleitete<br />

Strafverfahren teilweise im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Mitteilungspflichten<br />

auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer stehen.<br />

25 In Bezug auf die Mehrwertsteuer geht zum einen aus den Art. 2, 250<br />

Abs. 1 und 273 der Richtlinie 2006/12/EG des Rates vom 28. November<br />

2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1), die den<br />

Wortlaut der Art. 2 und 22 Abs. 4 und 8 der Richtlinie 77/388 in der Fassung<br />

des Art. 28h dieser Richtlinie übernommen haben, und zum anderen aus Art. 4<br />

Abs. 3 EUV hervor, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und<br />

Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten<br />

in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten<br />

und den Betrug zu bekämpfen (vgl. Urteil vom 17. Juli 2008, Kommission/Italien,<br />

C-132/06, Slg. 2008, I-5457, Randnrn. 37 und 46).<br />

26 Außerdem sind die Mitgliedstaaten nach Art. 325 AEUV verpflichtet,<br />

zur Bekämpfung von rechtswidrigen Handlungen, die sich gegen die finanziellen<br />

Interessen der Union richten, abschreckende und wirksame Maßnahmen<br />

zu ergreifen, insbesondere müssen sie zur Bekämpfung von Betrug, der sich<br />

gegen die finanziellen Interessen der Union richtet, dieselben Maßnahmen<br />

ergreifen wie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen ihre eigenen finanziellen<br />

Interessen richtet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 2010,<br />

SGS Belgium u. a., C-367/09, Slg. 2010, I-10761, Randnrn. 40 bis 42). Da die<br />

Eigenmittel der Union gemäß dem Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses<br />

2007/436/EG, Euratom des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der<br />

Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 163, S. 17) u. a. die<br />

Einnahmen umfassen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes<br />

auf die nach den Unionsvorschriften bestimmte einheitliche Mehrwertsteuer-<br />

Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben, besteht ein unmittelbarer Zusammenhang<br />

zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung<br />

des einschlägigen Unionsrechts und der Zurverfügungstellung entsprechender<br />

Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union, da jedes Versäumnis<br />

bei der Erhebung Ersterer potenziell zu einer Verringerung Letzterer führt<br />

(vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2011, Kommission/Deutschland,<br />

C-539/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht,<br />

Randnr. 72).<br />

27 Folglich sind steuerliche Sanktionen und ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung<br />

wegen unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer, wie im <strong>Fall</strong><br />

des Angeklagten des Ausgangsverfahrens, als Durchführung von Art. 2,<br />

Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112 (früher Art. 2 und 22 der<br />

Richtlinie 77/388) sowie von Art. 325 AEUV und somit als Durchführung des<br />

Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen.<br />

7


DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong> DeLuxe – Europarecht aktuell – <strong>04</strong>/<strong>2013</strong><br />

28 Die Tatsache, dass die nationalen Rechtsvorschriften, die den steuerlichen<br />

Sanktionen und dem Strafverfahren zugrunde liegen, nicht zur Umsetzung<br />

der Richtlinie 2006/112 erlassen wurden, vermag dieses Ergebnis nicht in<br />

Frage zu stellen, da durch ihre Anwendung ein Verstoß gegen die Bestimmungen<br />

dieser Richtlinie geahndet und damit die den Mitgliedstaaten durch den<br />

Vertrag auferlegte Verpflichtung zur wirksamen Ahndung von die finanziellen<br />

Interessen der Union gefährdenden Verhaltensweisen erfüllt werden soll.<br />

29 Hat das Gericht eines Mitgliedstaats zu prüfen, ob mit den Grundrechten<br />

eine nationale Vorschrift oder Maßnahme vereinbar ist, die in einer Situation,<br />

in der das Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht<br />

bestimmt wird, das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der<br />

Charta durchführt, steht es somit den nationalen Behörden und Gerichten<br />

weiterhin frei, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden,<br />

sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie<br />

vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit<br />

des Unionsrechts beeinträchtigt werden (vgl. für diesen letzten Aspekt<br />

Urteil vom 26. Februar <strong>2013</strong>, Melloni, C-399/11, noch nicht in der amtlichen<br />

Sammlung veröffentlicht, Randnr. 60).<br />

30 Dabei haben die nationalen Gerichte, wenn sie Bestimmungen der Charta<br />

auslegen sollen, die Möglichkeit und gegebenenfalls die Pflicht, den Gerichtshof<br />

um eine Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV zu ersuchen.<br />

31 Aus diesen Erwägungen folgt, dass der Gerichtshof befugt ist, die Vorlagefragen<br />

zu beantworten und dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise<br />

zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit der nationalen Regelung<br />

mit dem in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatz ne bis in idem beurteilen<br />

zu können.<br />

8

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!