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GB Dezember 2013 - Januar 2014.pdf - Rattiszell

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Ohne Brot zur Schule<br />

Vor 80 Jahren sprach man vom Bayerischen Wald als<br />

zurückgeblieben und arm<br />

(kk) Noch heute hört man die Redensart „Bayerisch Sibirien –<br />

Drei Vierteljahr Winter und ein Vierteljahr kalt“. Verglichen mit<br />

dem Hochgebirge ist es im Bayerischen Wald (vor allem im<br />

hinteren und unteren Bayerischen Wald) tatsächlich in gleichen<br />

Höhenlagen kälter als in den Alpen. Und der Winter dauert hier<br />

auch länger. In einigen Winkeln liegt bis zu sechs Monaten<br />

Schnee- viermal so lang als im Gäuboden. Das haben wir vor<br />

40 Jahren in Spiegelau selbst erlebt. Auf der Wiese hinter unserem<br />

Haus am Fuße des Rachel hielt sich der festgefrorene,<br />

oft über einen Meter tiefe Schnee bis Mitte Mai. Wer kennt nicht<br />

die Meldungen über die sibirischen Temperaturen, wenn in<br />

Haidmühle oder in Klingenbrunn – Bahnhof (an der Bahnstrecke<br />

Zwiesel-Frauenau-Grafenau) die Natur unter 40 Grad Kälte<br />

bebt. Aber die Waldler waren schon immer zäh. Jahrhundertelang<br />

hatte es den genügsamen Bewohnern gereicht, was der Wald<br />

an Früchten und Arbeit hergab oder was man dem kargen<br />

Boden abgerungen hatte.<br />

Neue Zeit - Notzeit<br />

Aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Wald überrollt.<br />

Die Mechanisierung in den Industriezweigen ruinierte die<br />

Handwerksbetriebe. So wird vom Bezirk Wegscheid um 1850<br />

von 5000 Handwebstühlen berichtet. 1920 waren davon nur<br />

noch 500 in Betrieb. Zwei Personen mussten am Webstuhl<br />

arbeiten. Der Lohn sank in dieser Zeit auf ein bis zwei Mark am<br />

Tag bei zwölfstündiger Arbeit. Für einen Weber blieben manchmal<br />

nur fünf Pfennige in der Stunde. Zum Sterben zu viel und<br />

zum Leben zu wenig. Für die Glasindustrie galt Ähnliches,<br />

ebenso für die Holz- und Steinindustrie. Als sich die Situation<br />

nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) noch mehr verschlimmerte,<br />

sprach man im Deutschen Reich von der „Großen<br />

Ostnot“. Zugleich kündigte man eine „Osthilfe“ an, die aber<br />

zum Großteil im Sande verlief.<br />

lebende Kinder, davon sind zwölf noch unmündig. Eine Familie<br />

hat 17 Kinder, von denen zwölf Zuhause sind und soweit sie<br />

arbeitsfähig wären, keine Arbeit finden. Die Not in diesen<br />

Familien ist ergreifend. Die Kinder kommen stets ohne Brot zur<br />

Schule, und an kalten, stürmischen Tagen bleiben sie, obgleich<br />

sie vom Orte sind, auch während der Mittagszeit im<br />

Schulzimmer, um sich nicht in ihren leichten Kleidern der strengen<br />

Kälte auszusetzen. Der Hunger wird ja daheim doch nicht<br />

gestillt. Die meisten Kinder haben keine Lederschuhe. Bei der<br />

großen Kälte und dem strengen Winter, der hier schon Ende<br />

Oktober beginnt und im Mai endet, stecken ihre halbnackten<br />

Füße in Holzschuhen, da die Mutter nicht einmal Wolle hat, um<br />

die Strümpfe anzustricken.“<br />

Gegenwart<br />

Die Zeiten haben sich Gott sei Dank geändert. Der<br />

Fremdenverkehr hat in einem ungeheuren Ausmaß im<br />

Bayerischen Wald Einzug gehalten und die Expansion der<br />

Wirtschaft die wirtschaftsschwächsten Gebiete erreicht. In vielen<br />

Orten haben sich neue Produktionszweige angesiedelt, die,<br />

gestützt auf eine tüchtige Arbeiterschaft, zur gewerblichen<br />

Entwicklung des Bayerischen Waldes beigetragen haben.<br />

Quellen: Passauer Neue Presse; „Der Landkreis Wegscheid“, Heimatbuch,<br />

1957; „Landwirtschaftliche Reise durch den bayerischen Wald“, Reprint<br />

von 1865; „Im Bayerischen Wald“, 1961; Straubinger Tagblatt.<br />

Wirtschaftskrise - Slawisierung des Bayerischen Waldes?<br />

Sehr spannend liest sich der Bericht vom April 1931 der<br />

„Industrie- und Handelskammer für Niederbayern in Passau“,<br />

in dem auf die große Not hingewiesen und an alle zuständigen<br />

staatlichen Stellen zur Hilfe appelliert wurde. Zwischen den<br />

Zeilen spürt man bereits die „neue Zeit“, die dem Dritten Reich<br />

vorausging. „Das Bayerische Ostgrenzgebiet ist wirtschaftlich<br />

auf das Äußerste gefährdet. Industrie und Gewerbe, das<br />

Rückgrat der nationalen und wirtschaftlichen Widerstandskraft,<br />

drohen zu erliegen. Seit Monaten sind Tausende von beschäftigungslosen<br />

Arbeitnehmern der Stein- Glas- und Holzindustrie<br />

mit Abertausenden von Angehörigen der öffentlichen Fürsorge<br />

anheimgestellt, der Not und dem Elend preisgegeben. Die<br />

Arbeitslosigkeit zwingt zur Abwanderung und beschleunigt die<br />

Slawisierung dieses Grenzgebietes, das über ein Jahrtausend<br />

lang ein wichtiges Bollwerk deutschen Volkstums war. Rasche<br />

Hilfe ist not, um die dräuenden Gefahren zu bannen.“ Zwei<br />

Jahre später, 1933, kam der „Retter“.<br />

Keine Wolle für Strümpfe<br />

In jener Zeit schrieb ein Lehrer aus dem Bezirk Wolfstein (jetzt<br />

Freyung-Grafenau) seine eigene Erfahrung über die Lage „seines“<br />

Dorfes nieder: „Die Erträgnisse auf dieser Höhenlage sind<br />

gleich Null. Außer Kartoffeln und Kraut gedeiht hier nichts. Von<br />

den dreizehn Familien hier beziehen fünf eine Rente von unter<br />

30 Mark monatlich; acht haben überhaupt keine Unterstützung.<br />

Dabei sind die Familien sehr kinderreich. Eine Familie hat 24<br />

Zwei Schulbuben aus Neuschönau vor 80 Jahren auf dem<br />

Schulweg – mit hölzernen Schulranzen<br />

<strong>Dezember</strong> <strong>2013</strong>/<strong>Januar</strong> 2014/Nr. 37 19

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