ZESO 02/14
ZESO ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE 02/14 SCHULDEN UND SOZIALHILFE DIE SCHULDENPROBLEMATIK BLEIBT OFT UNGELÖST CO-PRÄSIDIUM THERESE FRÖSCH UND FELIX WOLFFERS IM GESPRÄCH PFORTE FÜR ALLES NEUENBURG VEREINHEITLICHT DEN ZUGANG ZU DEN SOZIALLEISTUNGEN
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<strong>ZESO</strong><br />
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />
<strong>02</strong>/<strong>14</strong><br />
SCHULDEN UND SOZIALHILFE DIE SCHULDENPROBLEMATIK BLEIBT<br />
OFT UNGELÖST CO-PRÄSIDIUM THERESE FRÖSCH UND FELIX WOLFFERS IM GESPRÄCH<br />
PFORTE FÜR ALLES NEUENBURG VEREINHEITLICHT DEN ZUGANG ZU DEN SOZIALLEISTUNGEN
SCHWERPUNKT12–23<br />
SCHULDEN UND SOZIALHILFE<br />
Menschen, die von der Sozialhilfe abhängig sind,<br />
sind nicht selten verschuldet. Hohe Schulden<br />
beeinträchtigen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit<br />
und sind ein Hindernis bei der Ablösung<br />
aus der Sozialhilfe. Trotzdem gehört die Schuldenberatung<br />
nicht zum Kerngeschäft der Sozialhilfe.<br />
Wie gehen Sozialdienste mit den Schuldenproblemen<br />
ihrer Klientinnen und Klienten um, und welche<br />
Ressourcen stehen ihnen in dieser Hinsicht zur<br />
Verfügung?<br />
<strong>ZESO</strong> ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALHILFE<br />
HERAUSGEBERIN Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch REDAKTIONSADRESSE Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern <strong>14</strong>, zeso@skos.ch,<br />
Tel. 031 326 19 19 REDAKTION Michael Fritschi, Regine Gerber<br />
REDAKTIONELLE BEGLEITUNG Dorothee Guggisberg AUTORINNEN<br />
UND AUTOREN IN DIESER AUSGABE Suzanne Auer, Dominique<br />
Cattin Houser, Bruno Crestani, Olivier Cruchon, Laurent Duding,<br />
Ruedi Hofstetter, Martina Huber, Georges Köpfli, Paula Lanfranconi,<br />
Christoph Mattes, Clemenz Roland, André Sallin, Turi Schallenberg,<br />
Florence Schelling, Ingeborg Steinmann-Berns, Ruth Ziörjen<br />
TITELBILD Rudolf Steiner LAYOUT Marco Bernet, mbdesign Zürich<br />
KORREKTORAT Karin Meier DRUCK UND ABOVERWALTUNG Rub<br />
Media AG, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch, Tel. 031 740<br />
97 86 PREISE Jahresabonnement Inland CHF 82.– (für SKOS-<br />
Mitglieder CHF 69.–), Abonnement Ausland CHF 120.–, Einzelnummer<br />
CHF 25.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN <strong>14</strong>22-0636 / 111. Jahrgang<br />
Bild: Pixsil/Béatrice Devènes<br />
Erscheinungsdatum: 11. Juni 20<strong>14</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im September 20<strong>14</strong>.<br />
2 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>14</strong> INHALT
INHALT<br />
5 Die Neustrukturierung des Asylbereichs<br />
ist ein Erfolg des Bundes<br />
und der Kantone. Kommentar von<br />
Ruedi Hofstetter<br />
6 Neues Co-Präsidium für die SKOS:<br />
Interview mit Therese Frösch und<br />
Felix Wolffers<br />
8 13 Fragen an Florence Schelling<br />
10 Praxis: Das Kind lebt die halbe Zeit<br />
beim Vater. Wie wird die Sozialhilfe<br />
berechnet?<br />
11 Geld und Geist in der Sozialhilfe.<br />
Gedanken von Georges Köpfli zur<br />
Ethik der SKOS-Richtlinien<br />
DIE FRISCH GEWÄHLTEN<br />
DER GOALIE IST SIE<br />
Therese Frösch und Felix Wolffers bilden das<br />
neue Co-Präsidium der SKOS. «Wir wollen<br />
erreichen, dass offen und sachlich über die<br />
Sozialhilfe diskutiert wird», umschreiben<br />
sie im Gespräch die Stossrichtung ihrer<br />
zukünftigen Arbeit.<br />
6<br />
Florence Schelling, Torhüterin der Schweizer<br />
Frauen-Eishockeynationalmannschaft<br />
und Bronzemedaillengewinnerin an den<br />
Olympischen Winterspielen, wünscht sich<br />
mehr Anerkennung und Wertschätzung der<br />
sportlichen Leistungen von Frauen.<br />
12 SCHWERPUNKT: SCHULDEN UND<br />
SOZIALHILFE<br />
<strong>14</strong> Schulden und ihre Relevanz<br />
für die Sozialhilfe<br />
16 Schuldenberatung erfolgt im<br />
Interesse der Allgemeinheit<br />
18 Kleinere Sozialdienste begegnen<br />
der Verschuldungsproblematik<br />
pragmatisch<br />
20 Die geltenden Bestimmungen<br />
schaden der Volkswirtschaft<br />
22 Schuldenberatung mit Blick auf<br />
biografische Einflüsse<br />
DER ARZT UND POLITIKER<br />
8<br />
Ignazio Cassis, Vizepräsident der<br />
nationalrätlichen Kommission für soziale<br />
Sicherheit und Gesundheit, blickt im <strong>ZESO</strong>-<br />
Interview aus bürgerlichem Blickwinkel auf<br />
aktuelle sozialpolitische Fragen.<br />
24 «Wenn die Balance nicht mehr<br />
stimmt, müssen wir handeln.»<br />
<strong>ZESO</strong>-Interview mit Ignazio Cassis<br />
28 Neuenburg hat den Zugang zu den<br />
Sozialleistungen neu organisiert<br />
30 «Eine Pfanne ist eine grosse Kiste,<br />
zum Essen kochen.» Reportage aus<br />
einem Sprachkurs für Bauarbeiter<br />
32 Plattform: Agile.ch vertritt die<br />
Interessen von 42 Behindertenorganisationen<br />
34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Porträt: George Angehrn, Koch und<br />
Leiter einer Suchthilfeeinrichtung<br />
DER FÜNF-STERNE-KOCH<br />
30<br />
Fünfundzwanzig Jahre lang kochte George<br />
Angehrn im Grandhotel Dolder in Zürich für<br />
die oberen Zehntausend. Heute leitet er das<br />
Ur-Dörfli, eine Suchthilfeeinrichtung der<br />
Stiftung Sozialwerke Pfarrer Ernst Sieber.<br />
36<br />
INHALT 2/<strong>14</strong> <strong>ZESO</strong><br />
3
«Unser Ziel ist, einen breiten<br />
Konsens unter den Kantonen und<br />
Gemeinden zu erreichen»<br />
Therese Frösch und Felix<br />
Wolffers bilden das neue<br />
Co-Präsidium der SKOS. Im<br />
Gespräch erklären sie, was<br />
sie motiviert, gemeinsam<br />
dieses anspruchsvolle Amt<br />
zu übernehmen, und wo sie<br />
in den kommenden Jahren<br />
Schwerpunkte setzen wollen.<br />
Therese Frösch, Felix Wolffers, herzliche<br />
Gratulation zu Ihrer Wahl. Was<br />
hat Sie persönlich motiviert, für das<br />
Amt zu kandidieren, und wie ist es zur<br />
Zweierkandidatur gekommen?<br />
Therese Frösch: Ich habe mich schon<br />
immer für Menschen eingesetzt, die nicht<br />
auf der Sonnenseite des Lebens stehen.<br />
Als ich angefragt wurde, ob ich Präsidentin<br />
der SKOS werden möchte, konnte ich<br />
mir das gut vorstellen. Ich musste mir<br />
aber auch sehr gut überlegen, ob ich die<br />
Ressourcen und die Kraft habe, dieses<br />
anspruchsvolle Amt auszufüllen. Ich habe<br />
mit verschiedenen Personen aus meinem<br />
Umfeld gesprochen, und so entstand<br />
die Idee des Co-Präsidiums. Und als ich<br />
merkte, dass Felix Geschäftsleitungsmitglied<br />
der SKOS war, hab ich ihm eine<br />
SMS geschrieben…<br />
Felix Wolffers: Ich wurde für das Präsidium<br />
ebenfalls angefragt. Mir war aber<br />
rasch klar, dass diese Aufgabe neben der<br />
Leitung des Sozialamts der Stadt Bern für<br />
mich allein zu gross wäre. Dank dem Co-<br />
Präsidium kann ich mich nun mit einem<br />
vertretbaren zeitlichen Aufwand für die<br />
Anliegen der Sozialhilfe engagieren. Vor<br />
allem die Weiterentwicklung der Richtlinien<br />
und neue Wege in der beruflichen<br />
Integration interessieren mich sehr und<br />
motivieren mich für ein Engagement als<br />
Co-Präsident der SKOS.<br />
Ein Zweierpräsidium bedingt eine<br />
gute Zusammenarbeit. Auf welche<br />
gemeinsamen Werte und Erfahrungen<br />
stellen Sie ab?<br />
Therese Frösch: Als wir beide vor zwanzig<br />
Jahren unsere Zusammenarbeit auf der<br />
Finanzdirektion der Stadt Bern begannen,<br />
kannten wir die Wertvorstellungen des<br />
anderen erst vage. Durch die gemeinsame<br />
Arbeit – wir haben die Finanzen der Stadt<br />
Bern saniert, ohne einen Sozialabbau vorzunehmen<br />
– haben wir gemerkt, dass wir<br />
die gleichen Werte und Ziele haben: eine<br />
effiziente Bewirtschaftung der Aufgaben,<br />
die uns gestellt werden, ohne dass darunter<br />
die sozial Schwächsten leiden müssen.<br />
Felix Wolffers: Soziale Gerechtigkeit ist<br />
ein zentraler Wert in der Gesellschaft. «Die<br />
Stärke des Volkes misst sich am Wohl der<br />
Schwachen», heisst es dazu treffend in der<br />
Bundesverfassung. Soziale Gerechtigkeit<br />
zu erhalten und zu fördern, ist eine permanente<br />
Herausforderung. Diese Erfahrung<br />
haben wir gemeinsam gemacht. Wir<br />
haben in schwierigen Situationen immer<br />
wieder Ansätze gefunden, um schrittweise,<br />
pragmatisch und mit viel Kreativität gute<br />
Resultate zu erzielen. In dieser Art und<br />
Weise werden wir auch in der SKOS arbeiten.<br />
Wir haben keine Berührungsängste<br />
und werden immer den Dialog auch mit<br />
Leuten suchen, die anders denken als wir.<br />
Wie wird die Rollenteilung aussehen?<br />
Felix Wolffers: Strategisch wichtige Arbeiten<br />
werden wir gemeinsam wahrnehmen.<br />
Dort, wo eine Arbeitsteilung möglich<br />
ist, werden wir definieren, wer was übernimmt.<br />
Entscheidend ist, dass wir beide<br />
rasch über alles Wichtige informiert sind<br />
und dass die gegenseitige Stellvertretung<br />
spielt.<br />
Therese Frösch: Felix leitet ein grosses<br />
Sozialamt, ich arbeite im Rahmen meiner<br />
Mandate rund 50 Prozent. Ich habe also<br />
mehr Zeit zur Verfügung und bin deshalb<br />
flexibler, wenn es beispielsweise rasch eine<br />
Stellungnahme der SKOS braucht. Die Kontakte<br />
mit wichtigen Partnern wie der SODK<br />
werden wir gemeinsam pflegen. In der Führung<br />
der Geschäftsleitungssitzungen werden<br />
wir uns im Jahresrhythmus abwechseln.<br />
Welche der auf Sie zukommenden<br />
Aufgaben betrachten Sie als dringend?<br />
Wo werden Sie Schwerpunkte setzen?<br />
Felix Wolffers: Die SKOS ist ein gut<br />
funktionierender Verband. Walter Schmid<br />
und die Geschäftsstelle haben die SKOS<br />
in den letzten Jahren inhaltlich und strukturell<br />
erfolgreich weiterentwickelt. Das<br />
erleichtert natürlich unsere Aufgabe, es<br />
warten aber dennoch grosse Herausforderungen:<br />
Die Überprüfung der Richtlinien<br />
ist für die SKOS zentral. Die SKOS hat<br />
zwei Studien in Auftrag gegeben, die Entscheidungsgrundlagen<br />
für eine allfällige<br />
Richtlinienrevision liefern werden. Falls<br />
eine Revision zweckmässig ist, muss sie<br />
in einem partizipativen Prozess erarbeitet<br />
werden. Unser Ziel muss es sein, dann einen<br />
breiten Konsens unter den Kantonen<br />
und Gemeinden zu erreichen. Im Weiteren<br />
müssen wir das Verhältnis zur SODK<br />
klären. Wir möchten mehr Verbindlichkeit<br />
zwischen unseren Organisationen schaffen.<br />
Und die Frage, ob die SKOS als privatrechtlicher<br />
Verein heute noch die richtige<br />
Struktur hat, muss ebenfalls in nächster Zeit<br />
diskutiert werden. Generell wollen wir den<br />
Kontakt zu unseren Mitgliedern verbessern.<br />
Dazu prüfen wir auch die Durchführung<br />
einer Umfrage zu den Erwartungen und Bedürfnissen<br />
der Mitglieder.<br />
Therese Frösch: Im gesellschaftspolitischen<br />
Diskurs wollen wir auch für Sozialhilfe<br />
beziehende Menschen einsetzen. Wir müssen<br />
gegenüber den Medien, der Bevölkerung<br />
und den direkt involvierten Gemeindebehörden<br />
und Sozialarbeitenden glaubwürdig<br />
kommunizieren und mehrheitsfähige vernünftige<br />
Lösungen anbieten. Wir wollen aufzeigen,<br />
dass die SKOS nicht das Problem ist,<br />
sondern ein Teil der Lösung für gesellschaftliche<br />
Probleme wie Langzeitarbeitslosigkeit<br />
oder unzureichende Einkommen.<br />
6 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>14</strong> SKOS CO-PRÄSIDIUM
«Die SKOS muss<br />
sich intensiver mit<br />
der beruflichen<br />
Integration auseinandersetzen.»<br />
Der neue Co-Präsident der SKOS Felix<br />
Wolffers leitet das Sozialamt der Stadt<br />
Bern.<br />
Felix Wolffers: Die Frage der beruflichen<br />
Integration ist ein Thema, mit dem sich die<br />
SKOS intensiver auseinandersetzen muss.<br />
Für über 55-jährige Personen in der Sozialhilfe<br />
ist die berufliche Wiedereingliederung<br />
oft nicht mehr realistisch. Hier muss die Politik<br />
neue Antworten finden, und die SKOS<br />
muss dazu Vorarbeiten leisten und Vorschläge<br />
entwickeln. Ein weiteres Thema sind für<br />
mich die Zusammenhänge zwischen Armut,<br />
Arbeitslosigkeit und Gesundheit. Als<br />
führender Fachverband muss die SKOS<br />
diese Themen beleuchten und dafür sorgen,<br />
dass beispielsweise die Gesundheitsprävention<br />
für die sozial Schwächsten grösseres<br />
Gewicht erhält.<br />
«Wir wollen aufzeigen,<br />
dass die SKOS ein Teil<br />
der Lösung ist.»<br />
Die neue Co-Präsidentin der SKOS Therese Frösch<br />
war Nationalrätin und Finanz- und Sozialdirektorin<br />
der Stadt Bern.<br />
<br />
Bilder: Béatrice Devènes<br />
Was möchten Sie als Co-Präsidentin<br />
und Co-Präsident der SKOS erreichen?<br />
Therese Frösch: Wir möchten den Verband<br />
professionell führen, den Dialog mit<br />
Fachkräften und die Grundlagenarbeit<br />
ausbauen und allgemein für ein gutes Klima<br />
sorgen. Auch Leute, die der Sozialhilfe<br />
skeptisch gegenüber stehen, sollen unsere<br />
Empfehlungen als hilfreich und nützlich<br />
erachten können.<br />
Felix Wolffers: Wichtig ist, dass es uns<br />
gelingt, den nationalen Dialog über die<br />
Weiterentwicklung der Richtlinien in Gang<br />
zu bringen und zu einem guten Ende zu<br />
führen. Wir sind erfolgreich, wenn vermehrt<br />
offen und sachlich über die Sozialhilfe<br />
diskutiert wird und die SKOS dabei<br />
als wichtiger Akteur wahrgenommen wird.<br />
Dabei dürfen wir auch die Schwachstellen<br />
der Sozialhilfe nicht ausblenden. Wir müssen<br />
verhindern, dass zwischen den Kantonen<br />
ein Sozialhilfewettbewerb entsteht, so<br />
wie es ihn heute bei den Steuern gibt. •<br />
Interview: Michael Fritschi<br />
SKOS CO-PRÄSIDIUM 2/<strong>14</strong> <strong>ZESO</strong><br />
7
Schuldenberatung erfolgt im Interesse<br />
der Allgemeinheit<br />
In Lausanne betreibt der städtische Sozialdienst eine Schuldenberatungsstelle, die auch<br />
Sozialhilfebeziehenden offen steht. Ihnen drohen bei der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit<br />
aufgrund der Betreibungen, die gegen sie laufen, oft jahrelange Lohnpfändungen. Umso wichtiger ist<br />
es, die Betroffenen über Alternativen wie den Privatkonkurs zu informieren.<br />
Die Unité d'assainissement financier (Unafin), die Fachstelle für<br />
Schuldensanierung des Lausanner Sozialdienstes, besteht seit<br />
2001. Dass die Stadtverwaltung eine eigene, dem Sozialdienst angegliederte<br />
Schuldenberatungsstelle betreibt, liegt im Interesse<br />
der Allgemeinheit an einem Instrument gegen die wachsende<br />
Überschuldung von Privathaushalten. Denn eine hohe Verschuldungsquote<br />
in der Bevölkerung hat negative Auswirkungen auf<br />
das Gesundheitswesen und auf die kommunale Wohlfahrt. Die mit<br />
560 Stellenprozenten ausgestattete Fachstelle hat den Auftrag, als<br />
städtisches Kompetenzzentrum für Schuldenmanagement mit Präventionsmassnahmen<br />
der Überschuldung der Bürgerinnen und<br />
Bürger entgegenzuwirken und Privathaushalte bei der Schuldensanierung<br />
zu begleiten. Konkret bietet die Unafin ihren Klientinnen<br />
und Klienten folgende Dienstleistungen an:<br />
- Überprüfung ihrer finanziellen Situation, mit dem Ziel, realistische<br />
Massnahmen für eine Schuldensanierung einzuleiten<br />
- Budgetkontrolle und -optimierung, mit dem Ziel, neue Schulden<br />
zu vermeiden<br />
- Begleitung im Sanierungsprozess<br />
- Einreichen eines Gesuchs zur Eröffnung des Privatkonkurses<br />
und Bevorschussung der damit verbundenen Gebühren, um<br />
verschuldeten Personen, bei denen eine Schuldensanierung<br />
unmöglich ist, einen Neuanfang zu ermöglichen.<br />
eine Unterstützung durch das Schuldenmanagement erfüllt sind.<br />
Voraussetzungen sind eine hohe Motivation zum Schuldenabbau,<br />
ein Einkommen über dem Existenzminimum sowie stabile Wohn-,<br />
Arbeits- und Familienverhältnisse und gute Gesundheit.<br />
Privatkonkurs ist oft die einzige Lösung<br />
Gründe für eine Überschuldung gibt es viele. Meistens haben sich<br />
die Betroffenen nicht aktiv, sondern passiv verschuldet. Der Verschuldung<br />
liegen Ereignisse wie Arbeitslosigkeit, eine dauerhafte ge-<br />
Ein Viertel der Klienten wird intern überwiesen<br />
Die meisten Klientinnen und Klienten gelangen über die Anlaufstelle<br />
«Info Sociale» des Lausanner Sozialdienstes (Service social<br />
Lausanne, SSL) an die Unafin. «Info Sociale» ist als Eingangspforte<br />
zum SSL konzipiert und triagiert die Anfragen aus dem Internet<br />
und der Personen, die sich auf Anraten des Konkursamts oder des<br />
Bezirksgerichts melden. Andere werden von der Schuldenberatungs-Hotline<br />
«Info Budget» an die Unafin überwiesen. Die Hotline<br />
wird vom kantonalen Sozialamt finanziert und gemeinsam<br />
von Caritas, vom Sozialdienst der evangelisch-reformierten Kirche,<br />
der Fachstelle Unafin und vom Westschweizer Konsumentenschutz<br />
FRC betrieben.<br />
Rund ein Viertel der Klienten wird intern an die Unafin überwiesen.<br />
Dies geschieht dann, wenn die Sozialarbeitenden des<br />
Lausanner Sozialdienstes feststellen, dass die Voraussetzungen für<br />
Eingangsbereich zum Service Social<br />
der Stadt Lausanne.<br />
Bild: Hugues Siegenthaler<br />
16 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>14</strong> SCHWERPUNKT
SCHULDEN UND SOZIALHILFE<br />
sundheitliche Beeinträchtigung oder eine Scheidung zugrunde. Es<br />
lässt sich kein typisches Verhalten ableiten, das eine Überschuldung<br />
begünstigt. Das Problem kann eigentlich jeden treffen.<br />
Viele Betroffene wenden sich erst an die Unafin, nachdem sie<br />
schon mehrere Jahre in schwierigen finanziellen Verhältnissen<br />
gelebt haben. Damit verschärfen sie das Problem und schwächen<br />
sich in vielerlei Hinsicht selbst, denn ein Schuldenberg kann<br />
neben dem Familienleben auch die Arbeit und die Gesundheit<br />
beeinträchtigen. Leider verlässt einige Klienten der Mut und sie<br />
brechen die Zusammenarbeit ab, noch bevor sich eine Lösung abzeichnet.<br />
Die Bedingungen für erfolgreiche Schuldensanierungen<br />
werden aber auch immer seltener erfüllt, meistens weil in den betroffenen<br />
Haushalten die finanziellen Möglichkeiten für eine Sanierung<br />
nicht erfüllt sind oder der Schuldenberg schneller wächst<br />
als das Einkommen. Ein anderer Grund, weshalb Schuldensanierungen<br />
oft scheitern, sind Gläubiger, die in der Tendenz immer<br />
Die Kosten, die für<br />
die Lösung anfallen,<br />
sind eine Investition<br />
in die Gesellschaft.<br />
unnachgiebiger werden. Mangels Alternativen ist der Privatkonkurs<br />
heute sehr oft die einzige Lösung.<br />
Gemäss den Dossiers, die im Jahr 2013 geschlossen wurden,<br />
gelang es <strong>14</strong> Prozent der Klienten der Unafin, ihre Schulden teilweise<br />
oder ganz abzubauen. 17 Prozent konnten ihre Verschuldung<br />
stoppen, 22 Prozent erhielten eine Schuldenberatung und<br />
20 Prozent erhielten von der Unafin Antworten auf spezifische<br />
Fragen. In 27 Prozent der Fälle konnte die Fachstelle keine Lösung<br />
finden. Meistens, weil die Zusammenarbeit mit der Fachstelle abgebrochen<br />
wurde.<br />
In den ersten Betriebsjahren betreute die Unafin hauptsächlich<br />
Personen, die nicht auf Sozialhilfe angewiesen waren. Im Lauf der<br />
Zeit öffnete die Fachstelle ihre Dienstleistungen für Sozialhilfebeziehende.<br />
Ihnen drohen bei einer Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit<br />
aufgrund der Betreibungen, die gegen sie laufen,<br />
jahrelange Lohnpfändungen, eine Aussicht, die nicht eben motivationsfördernd<br />
für die Stellensuche ist. Umso wichtiger ist es, die<br />
Betroffenen zu informieren, dass es für den Fall, dass sie eine Stelle<br />
finden, Alternativen zur Lohnpfändung gibt. Der Privatkonkurs<br />
beispielsweise bietet ihnen neue Perspektiven und verschafft ihnen<br />
wieder Luft zum Atmen.<br />
Von der Prävention der Jugendverschuldung über die Budgetberatung<br />
bis hin zur Unterstützung und Motivierung von Sozialhilfeempfängerinnen<br />
und -empfängern, die wegen ihrer Überschuldung<br />
die Hoffnung auf ein finanziell unabhängiges Leben bereits aufgegeben<br />
haben – die Arbeit der Unafin nützt allen. Unter diesem<br />
Blickwinkel sind die Kosten, die für die Lausanner Lösung anfallen,<br />
eine Investition in die Gesellschaft. Natürlich gibt es Hürden,<br />
die nicht allein auf der Gemeindeebene überwunden werden<br />
können. Deshalb ist es notwendig, die Schuldenproblematik und<br />
ihre Konsequenzen auf nationaler Ebene anzugehen und schweizweit<br />
über taugliche Präventionsmassnahmen im Kampf gegen die<br />
Überschuldung nachzudenken, wie es zum Beispiel der Verein<br />
Schuldenberatung Schweiz tut. <br />
•<br />
Olivier Cruchon<br />
Leiter Schuldenberatungsstelle (Unafin)<br />
Sozialdienst Stadt Lausanne<br />
SCHWERPUNKT 2/<strong>14</strong> <strong>ZESO</strong><br />
Kleinere Sozialdienste begegnen der<br />
Verschuldungsproblematik pragmatisch<br />
Verschuldung ist ein Thema, das zur alltäglichen Arbeit der Sozialarbeitenden gehört. Für eine<br />
ausführliche Schuldenberatung bleibt wegen fehlender Ressourcen allerdings oft wenig Zeit. Die<br />
<strong>ZESO</strong> hat sich bei vier kleineren, eher ländlich geprägten Sozialdiensten erkundigt, mit welchen<br />
Schuldenproblemen die Leute zu ihnen in die Sozialhilfe kommen und welche Hilfestellungen Sie<br />
anbieten können.<br />
«FÜR ANSPRUCHSVOLLE SCHULDENREGU-<br />
LIERUNGEN FEHLEN DIE RESSOURCEN»<br />
Wir stellen bei den Erstgesprächen vielfach fest, dass die Klienten<br />
Kleinkredite aufgenommen oder Leasingverträge abgeschlossen<br />
haben. Die damit verbundenen hohen monatlichen Ratenzahlungen<br />
führen dazu, dass andere, lebenswichtige Rechnungen wie<br />
Krankenkassenprämien, die Miete und anderes mehr nicht bezahlt<br />
werden. Falls die Ausstände bei der Krankenkasse oder der<br />
Miete nicht seit länger als drei Monaten bestehen, übernehmen<br />
wir diese, um zu verhindern, dass die Krankenkasse einen Leistungsstopp<br />
verfügt oder die betroffene Person ihre Wohnung verliert.<br />
Unser gut ausgebildetes Team ist in der Lage, zu erkennen,<br />
wann eine Person oder eine Familie an eine spezialisierte Schuldenberatungsstelle<br />
weiter verwiesen werden muss. Denn obwohl<br />
wir fachlich dazu ausgebildet sind, verfügt unser Sozialdienst<br />
nicht über eigene personelle Ressourcen, um anspruchsvollere<br />
Schuldenregulierungen durchzuführen. In Einzelfällen kann<br />
unser Sozialdienst eine Schuldensanierung übernehmen. Allerdings<br />
auch nur, wenn die Schuldensumme 10 000 Franken<br />
nicht übersteigt.<br />
Wir arbeiten deshalb eng und sehr gut mit der Schuldenberatungsstelle<br />
des Roten Kreuzes Graubünden zusammen, mit der<br />
das kantonale Sozialamt eine Leistungsvereinbarung abgeschlossen<br />
hat. Der einzige Nachteil für unsere Klientinnen und Klienten<br />
besteht darin, dass das Rote Kreuz diese Dienstleistung nur<br />
zentral in Chur und nicht in den einzelnen Regionen anbietet.<br />
Dadurch sind die Klientinnen und Klienten gezwungen, den<br />
Weg von Davos nach Chur auf sich zu nehmen. Aufgrund unserer<br />
Erfahrungen ist dem Thema Verschuldung<br />
bei Jugendlichen und<br />
jungen Erwachsenen eine besondere<br />
Bedeutung zuzumessen.<br />
«WIR VERSUCHEN, EINE WEITERE<br />
VERSCHULDUNG ZU VERHINDERN»<br />
Die meisten Personen, die sich an die Sozialhilfe wenden, sind bereits<br />
verschuldet. Oft handelt es sich um Steuerschulden oder nicht<br />
bezahlte Krankenkassenprämien. Die Sozialhilfe kann bekanntlich<br />
keine Schulden übernehmen. Hingegen versuchen wir sicherzustellen,<br />
dass Rechnungen wie die Miete oder der Selbstbehalt<br />
auf den Arztkosten, die von der Sozialhilfe übernommen werden<br />
können, tatsächlich bezahlt werden, um so weitere Schulden zu<br />
vermeiden.<br />
Die sozialarbeiterische Ausbildung an einer Fachhochschule ermöglicht<br />
es sehr gut, auf solche Situationen einzugehen. Natürlich<br />
ist eine Mitarbeiterin mit einer Zusatzausbildung oder Erfahrung<br />
in der Schuldenberatung ein Plus für den Dienst. Wenn angezeigt,<br />
arbeiten wir auch mit dem Schuldenberatungsdienst der Caritas<br />
Jura zusammen. Da es selten möglich ist, für Sozialhilfebeziehende<br />
einen Schuldensanierungsplan zu erstellen, findet diese<br />
Zusammenarbeit eher unregelmässig statt. Wenn jemand hingegen<br />
vor der Ablösung von der Sozialhilfe steht und die finanzielle<br />
Situation in den Griff bekommen möchte, dann verweisen wir ihn<br />
an die Caritas.<br />
Wir kümmern uns also primär darum, dass der minimale Lebensbedarf<br />
der betroffenen Personen gedeckt ist, und versuchen<br />
gleichzeitig zu verhindern, dass sie sich noch weiter verschulden.<br />
Allerdings geniessen die Soziahlhilfebeziehenden bei der Verwendung<br />
des monatlichen Unterhaltsbeitrags eine gewisse Autonomie,<br />
und uns fehlen für die Begleichung von Rechnungen direkt<br />
durch den Sozialdienst die Ressourcen und Instrumente, beispielsweise<br />
dazu notwendige Vollmachten. Die Betreuung von verschuldeten<br />
Sozialhilfebeziehenden<br />
bedingt ferner, dass die Klientin<br />
oder der Klient gut kooperiert und<br />
bereit ist, die zweckdienlichen Informationen<br />
und Unterlagen weiterzugeben.<br />
Bilder: zvg<br />
18 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>14</strong> SCHWERPUNKT<br />
Clemenz Roland<br />
Leiter Sozialdienst Davos<br />
Dominique Cattin Houser<br />
Directrice du Service social régional des<br />
Franches-Montagnes, Le Noirmont
SCHULDEN UND SOZIALHILFE<br />
«WIR BEGEGNEN EINFACHEN ZAHLUNGS-<br />
RÜCKSTÄNDEN UND VERSCHULDUNGEN<br />
ÜBER DIE MILLIONENGRENZE HINAUS.»<br />
Die Schuldenthemen sind sehr divers. Wir begegnen sowohl einfachen<br />
Zahlungsrückständen wie Verschuldungen über die Millionengrenze<br />
hinaus. Hauptgründe für die Verschuldungen sind<br />
tiefe oder fehlende Einkommen oder ein Leben über den Verhältnissen.<br />
Je nachdem, wie hoch der Schuldenberg ist, wird die Schuldenthematik<br />
unterschiedlich angegangen. Nach der Prüfung der<br />
Ansprüche beim Intake wird als Erstes die aktuelle Situation geregelt.<br />
Anschliessend wird der Fall individuell hinsichtlich der Schuldensituation<br />
beurteilt.<br />
Bei verhältnismässig tiefen Schulden, keinen Betreibungen<br />
und guten Aussichten für ein eigenständiges Einkommen kann<br />
eine Schuldensanierung durch uns ins Auge gefasst und mit den<br />
Klienten besprochen werden. Die Intervision gibt den Sozialarbeitenden<br />
die Möglichkeit, sich intern auszutauschen und sich dabei<br />
Fachwissen anzueignen. Wenn sich zeigt, dass jemand aufgrund<br />
seiner Einkünfte keine finanzielle Unterstützung zugut hat, wird<br />
er oder sie an eine Schuldenberatungsstelle weiter verwiesen.<br />
Diese Stellen arbeiten allerdings oft mit anderen methodischen<br />
Ansätzen als die Sozialhilfe und ihre Leistungen sind für den Klienten<br />
nicht gratis. Dafür verfügen sie über mehr fachspezifisches<br />
Know-how und häufig über ein nützliches Netzwerk.<br />
Es kann auch vorkommen, dass ehemalige Klienten, die finanziell<br />
unterstützt wurden und sich dann von der Sozialhilfe ablösen<br />
konnten, bei genügendem Einkommen bei einer Schuldensanierung<br />
im Sinne einer freiwilligen Einkommensverwaltung weiter<br />
von uns unterstützt werden. Um Schuldensanierungen durchführen<br />
zu können, braucht es neben Fachwissen auch zeitliche<br />
Ressourcen. In der aktuellen politischen Sparrunde gibt es nur<br />
wenig Möglichkeiten, Ressourcen<br />
für diese sinnvollen Zusatzaufgaben<br />
einzusetzen.<br />
Turi Schallenberg<br />
Leiter Soziale Dienste Frauenfeld<br />
«SOZIALARBEITERISCHES DENKEN ALLEIN<br />
GENÜGT HIER NICHT.»<br />
Oft geht es um Zahlungsrückstände bei der Miete, der Krankenkasse<br />
oder den Steuern. Entweder weil das Einkommen nicht ausreicht<br />
oder weil anderem wie Ratenzahlungen für Leasing- oder Bankkredite<br />
eine höhere Priorität eingeräumt wird. Bei kleinen Beträgen<br />
versuchen wir, pragmatische Lösungen zu finden, mit Zahlungsvereinbarungen,<br />
einem Beitrag aus einem privaten Fonds oder<br />
durch die Übernahme von Mietrückständen. Manchmal verwalten<br />
wir auch die Einkünfte, um eine Verschuldung zu vermeiden. Das<br />
bedingt aber das Einverständnis und eine sehr gute Zusammenarbeit<br />
mit der betroffenen Person und kommt einer Beistandschaft<br />
ohne Auftrag gleich. Das ist sehr aufwändig für uns.<br />
Für Verhandlungen mit Betreibungsinstanzen oder für umfassende<br />
Schuldensanierungspläne fehlt uns das Know-how: Die<br />
Schuldenberatung, aber auch die gegenüber Kreditinstituten zu<br />
unternehmenden Schritte und das benötigte verfahrensrechtliche<br />
Wissen sind zu spezifisch. Dafür braucht es kompetentes Fachpersonal,<br />
sozialarbeiterisches Denken allein genügt hier nicht.<br />
Solche Fälle lenken wir in Richtung Errichtung einer Beistandschaft<br />
oder wir empfehlen den Betroffenen, sich an Caritas zu wenden,<br />
die im Kanton Freiburg für die Schuldenberatung zuständig<br />
ist. Hin und wieder haben wir uns auch schon an den Konsumentinnenverband<br />
gewandt, um Budgets erstellen zu lassen. Ein Sozialdienst<br />
von der Grösse des unseren ist nicht in der Lage, eine adäquatere<br />
Hilfe für Schuldensanierungen anzubieten. Die Dossiers<br />
werden je länger, je komplexer, die Gesuchstellenden beschreiten<br />
den Rechtsweg usw. Wir müssen auf das fokussieren, was zum Lebensbedarf<br />
gehört. Es ist – nebenbei bemerkt – unglaublich, wie<br />
viel Energie, Zeit und Ressourcen für Schuldensanierungen eingesetzt<br />
werden müssen und wie gering gleichzeitig der politische<br />
Wille ist, die Ursachen der Verschuldungsproblematik<br />
anzupacken und<br />
einen Rahmen zu schaffen, damit es<br />
möglichst gar nicht so weit kommt.<br />
Ein Beispiel dazu ist die wiederholte<br />
Ablehnung von Vorstössen, die<br />
zum Ziel haben, Kreditvergaben an<br />
Jugendliche zu verbieten, durch die<br />
eidgenössischen Räte.<br />
André Sallin<br />
Chef du Service social de la Gruyère, Bulle<br />
SCHWERPUNKT 2/<strong>14</strong> <strong>ZESO</strong><br />
Neuenburg hat den Zugang zu den<br />
Sozialleistungen neu organisiert<br />
Von der Einführung von regionalen Anlaufstellen für Sozialleistungen erhofft sich der Kanton<br />
Neuenburg eine bessere Steuerung der Angebote. Von den Synergien, die durch die einheitliche<br />
Beurteilung und durch die neue Ein-Dossier-Systematk entstehen, können auch die Klientinnen und<br />
Klienten profitieren. Sie müssen die relevanten Dokumente nur noch einmal einreichen.<br />
Seit Anfang 20<strong>14</strong> werden die Anträge auf<br />
Sozialleistungen im Kanton Neuenburg<br />
über acht regionale Anlaufstellen für Soziales<br />
(Guichets Sociaux Régionaux) abgewickelt.<br />
Sie triagieren die Gesuche auf der<br />
Basis eines neuen, vereinheitlichten Verfahrens<br />
und entscheiden nach der Überprüfung<br />
der familiären und finanziellen<br />
Verhältnisse des Antragstellers oder der Antragstellerin,<br />
ob ein Gesuch bewilligt wird.<br />
Die Grundlage für die Überprüfung bilden<br />
die im Rahmen der Reorganisation vereinheitlichten<br />
Referenzwerte «wirtschaftliche<br />
Haushaltseinheit» (Unité économique de<br />
référence) und «massgebendes Einkom-<br />
men» (Revenu déterminant unifié). Die Kriterien,<br />
die die Referenzwerte definieren,<br />
wurden im Zug der umfassenden Reformarbeiten<br />
von den beteiligten Akteuren gemeinsam<br />
erarbeitet und in die kantonalen<br />
Reglemente aufgenommen.<br />
Merkmale des Verfahrens<br />
Die Einwohnerinnen und Einwohner können<br />
– mit einem nun ebenfalls einheitlichen<br />
Formular – beim Guichet Social Régional,<br />
dem ihre Gemeinde angegliedert ist,<br />
Anträge auf folgende fünf Sozialleistungen<br />
stellen: Alimentenbevorschussung, berufliche<br />
Eingliederungsmassnahme, Verbilligung<br />
der Krankenversicherungsprämie,<br />
Stipendium und Sozialhilfe.<br />
Das im Rahmen der Reform «Accord»<br />
eingeführte Verfahren sieht vor, dass die<br />
regionale Anlaufstelle das Dossier eröffnet.<br />
Dieses Dossier umfasst alle Personen, die<br />
zur Haushaltseinheit der Antragstellerin<br />
oder des Antragstellers gehören und zum<br />
massgebenden Einkommen beitragen.<br />
Damit der Antrag korrekt geprüft werden<br />
kann, müssen dem Dossier alle relevanten<br />
Dokumente, Belege und Bescheinigungen<br />
beiliegen (Lohnausweis, Scheidungsurteil<br />
usw.). Sobald der Antrag vollständig ist,<br />
wird er elektronisch erfasst und an den<br />
Im Empfangsbereich des GSR Val-de-Ruz werden die Gesuche auf Sozialhilfeleistungen der Einwohnerinnen und Einwohner der Gemeinden Val-de-Ruz,<br />
Brot-Dessous und Rochefort triagiert und geprüft. <br />
Bild: zvg<br />
28 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>14</strong> REGIONALE ANLAUFSTELLLEN
oder die möglichen Leistungserbringer<br />
übermittelt, die dem Antragsteller anschliessend<br />
ihren Entscheid eröffnen. Der<br />
Vorteil des neuen Ein-Dossier-Systems<br />
besteht darin, dass die Dossiers alle für<br />
die Beurteilung des Antrags notwendigen<br />
Informationen enthalten und dass die<br />
Leistungserbringer dank der elektronischen<br />
Dossierführung jederzeit Einsicht<br />
in die dem Antrag beigelegten Dokumente<br />
und Belege haben. Konkret bezweckt die<br />
Reform folgende Ziele:<br />
- Ein einziges Dossier pro Klient oder<br />
Klientin: Der Klient muss die für die<br />
Prüfung seines Antrags notwendigen<br />
Dokumente nur einmal einreichen,<br />
und pro Haushalt wird nur ein Dossier<br />
geführt, das sich an der definierten<br />
Haushaltseinheit orientiert. Mit diesem<br />
Vorgehen wird eine effizientere Abwicklung<br />
des Verfahrens angestrebt.<br />
- Einheitliche Beurteilungskriterien: Die<br />
von den Anlaufstellen gesammelten Daten<br />
umfassen sowohl Informationen zur<br />
familiären Situation (Haushaltseinheit)<br />
als auch zur finanziellen Situation (massgebendes<br />
Einkommen) des Antragstellers.<br />
Auf diese zwei Referenzwerte können<br />
sich alle Leistungserbringer bei der<br />
Beurteilung der Anträge abstützen. Dieses<br />
System bietet nicht nur mehr Transparenz,<br />
sondern es hat auch den Vorteil,<br />
dass alle Akteure über Änderungen im<br />
Dossier informiert werden.<br />
- Klarer Ablauf dank koordiniertem Verfahren:<br />
Hat die regionale Anlaufstelle<br />
einmal festgelegt, an welche Stelle<br />
oder Stellen der Antrag zu richten ist,<br />
folgt die Leistungsprüfung einem klar<br />
geregelten Ablauf. Das Dossier wird<br />
von einem Leistungserbringer an den<br />
nächsten übermittelt und die jeweiligen<br />
Dienste berücksichtigen bei der Beurteilung<br />
des Antrags die eventuell von anderen<br />
Stellen ausgerichteten Leistungen.<br />
- Umfassende Prüfung des Leistungsanspruchs:<br />
Für jeden eingereichten Antrag<br />
wird der Leistungsanspruch aller<br />
Haushaltsmitglieder, die die wirtschaftliche<br />
Haushaltseinheit des Antrags bilden,<br />
geprüft.<br />
Schalterfunktion wird weiterentwickelt<br />
Mittelfristig sollen die Guichets Sociaux<br />
Régionaux ihre Funktion weiterentwickeln<br />
und als umfassende Auskunftsschalter einem<br />
erweiterten Kreis von öffentlichen<br />
und privaten Anspruchsgruppen für Leistungen<br />
und Informationen über das Sozialwesen<br />
zur Verfügung stehen. Bis es so weit<br />
ist, dauert es zwar noch eine Weile, doch<br />
die Erfahrungen, die das Personal derzeit<br />
bei der täglichen Arbeit sammelt, sind bereits<br />
Schritte in diese Richtung.<br />
Die im Zug der Reform eingeführten<br />
Instrumente dürften längerfristig auch<br />
eine bessere Steuerung der Sozialpolitik<br />
ermöglichen. Dank einer neu entwickelten<br />
Informatikanwendung wird es künftig<br />
möglich sein, eine vertiefte Einsicht in die<br />
Interaktionen zwischen den verschiedenen<br />
Leistungserbringern zu erhalten, mögliche<br />
Lücken oder Fehlentwicklungen zu erkennen<br />
und Klientinnen und Klienten, deren<br />
bedarfsabhängige Sozialleistungen neu<br />
definiert werden müssen, besser zu begleiten.<br />
Schulung im Hinblick auf die neuen<br />
Aufgaben<br />
Mit der Schaffung der regionalen Anlaufstellen<br />
ist auch ein neuer Tätigkeitsbereich<br />
entstanden. Damit das neue Personal, das<br />
drei Monate vor Beginn der Reform eingestellt<br />
wurde, die neu definierten Aufgaben<br />
kennt und wahrnehmen kann, musste es<br />
zuerst geschult werden. Dazu durchliefen<br />
die Mitarbeitenden eine modulare Ausbildung,<br />
die sich an den Vorgaben und Eckwerten<br />
der Reform orientiert und die<br />
ihnen die neuen Instrumente, also die<br />
wirtschaftliche Haushaltseinheit, das<br />
massgebende Einkommen und das Beurteilungsverfahren<br />
sowie die neue Informatikanwendung,<br />
näherbrachte. Ferner umfasste<br />
die Ausbildung Informationen zu<br />
den am Projekt beteiligten Akteuren,<br />
einen Überblick über weitere Sozialleistungen<br />
wie jene der Arbeitslosenversicherung,<br />
eine Einführung in thematisch verwandte<br />
Rechtsgebiete (Familienrecht,<br />
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht)<br />
und ein Modul, in dem die Mitarbeitenden<br />
im Umgang mit den Klienten geschult<br />
wurden. Seit der Eröffnung der regionalen<br />
Anlaufstellen werden die Mitarbeitenden<br />
laufend aus- und weitergebildet. Ein zentraler<br />
Gegenstand der Schulungen ist das<br />
vereinheitlichte massgebende Einkommen<br />
und dessen Berechnung, ein Punkt,<br />
über den sich die Teams der Anlaufstellen<br />
und die Mitarbeitenden der Leistungserbringer<br />
regelmässig austauschen.<br />
Vielseitiges Aufgabengebiet<br />
Die geografische Aufteilung der Anlaufstellen<br />
entspricht jener der regionalen Sozialdienste.<br />
Die Anlaufstellen sind fachlich für<br />
drei Bereiche zuständig: Zum einen für die<br />
Entgegennahme der Anträge auf Sozialleistungen<br />
und für die Eröffnung der entsprechenden<br />
Dossiers. Zum andern sind ihnen<br />
die Sozialhilfe und die regionalen AHV/IV-<br />
Zweigstellen angegliedert, die seit 2009<br />
im Auftrag des Bundes über die Ausrichtung<br />
von Ergänzungsleistungen entscheiden.<br />
Die Nähe der neuen Anlaufstellen zur<br />
Sozialhilfe ist ein heikler Punkt der Reform:<br />
Einerseits sind die Abläufe bei einem<br />
Antrag auf Sozialleistungen nicht vergleichbar<br />
mit der Betreuung von Sozialhilfebeziehenden,<br />
andererseits wird auch in<br />
Neuenburg über das Ausmass der Ausgaben<br />
diskutiert, die die materielle Sozialhilfe<br />
angenommen hat. Umso wichtiger ist es,<br />
dass die regionalen Anlaufstellen keine<br />
«Sogwirkung» haben. Das Projektteam beobachtet<br />
die Situation aus nächster Nähe.<br />
Derzeit ist es allerdings noch zu früh, um<br />
Lehren ziehen zu können.<br />
Die Eröffnung der regionalen Anlaufstellen<br />
folgt auf einen langen Prozess der<br />
Konsensfindung. Dem Kanton und den<br />
Gemeinden ist es gelungen, in einem<br />
konstruktiven Dialog auf ein gemeinsames<br />
Ziel hinzuarbeiten. Nun gilt es,<br />
die Früchte dieser Arbeit zu ernten und<br />
gleichzeitig die eingeführten Prozesse<br />
laufend zu optimieren.<br />
•<br />
Laurent Duding<br />
Collaborateur scientifique<br />
Service de l‘action sociale, Neuchâtel<br />
REGIONALE ANLAUFSTELLLEN 2/<strong>14</strong> <strong>ZESO</strong><br />
29
Für die Anliegen von Menschen mit<br />
Behinderung sensibilisieren<br />
Agile.ch ist der Dachverband der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen in der Schweiz. Er vertritt die<br />
Interessen von 42 Mitgliedorganisationen und will dem Vorurteil entgegenwirken, dass Menschen mit<br />
Behinderung nicht beweglich seien.<br />
In der Schweiz leben mehr als 1,4 Millionen<br />
Menschen mit Behinderungen. Die<br />
Zahl der verschiedenen Arten von Beeinträchtigungen<br />
ist gross. Generell lassen<br />
sich vier Gruppen unterscheiden: körperliche,<br />
sensorielle, die das Sehen und Hören<br />
betreffen, geistige und psychische Behinderungen.<br />
Trotz der Unterschiede haben<br />
die Betroffenen gemeinsame Interessen<br />
und Probleme. Diese Interessen vertreten<br />
zahlreiche Verbände und Organisationen<br />
verschiedener Grösse. Dabei wird zwischen<br />
Fachhilfe und Selbsthilfe unterschieden.<br />
Das Merkmal von Selbsthilfeorganisationen<br />
ist, dass sie von Menschen geführt<br />
werden, die selbst von einer Behinderung<br />
betroffen sind. Eine solche Selbsthilfeorganisation<br />
ist Agile.ch.<br />
Als Dachverband vertritt Agile.ch die<br />
Interessen von 42 Behindertenorganisationen<br />
mit dem Zweck, als gemeinsame<br />
Stimme in der nationalen Behindertenpolitik<br />
wahrgenommen zu werden. Der<br />
Verband wurde 1951 als Askio (Arbeitsgemeinschaft<br />
Schweizerischer Krankenund<br />
Invaliden-Selbsthilfeorganisationen)<br />
gegründet und später in Agile umbenannt.<br />
Agile bedeutet in zahlreichen Sprachen<br />
beweglich, geistig rege und flink. Genau<br />
das will der Dachverband sein und unter<br />
anderem dem Vorurteil entgegenwirken,<br />
dass Menschen mit Behinderung nicht beweglich<br />
seien. Die Mitgliedorganisationen<br />
repräsentieren Menschen aller Behinderungsgruppen<br />
und ihre Angehörigen.<br />
Durch seine behinderungsübergreifende<br />
PLATTFORM<br />
Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />
diese Seite als Plattform an. In dieser Ausgabe<br />
dem Dachverband der Behinderten-Selbsthilfeorganisationen.<br />
Mitarbeitende des Zentralsekretariats von Agile.ch. <br />
Tätigkeit trägt der Dachverband auch zum<br />
gegenseitigen Verständnis und zur Solidarität<br />
zwischen den verschiedenen Behinderungsgruppen<br />
bei.<br />
Dachverband als politische Kraft<br />
Agile.ch setzt sich für die Inklusion, Gleichstellung<br />
und Existenzsicherung von Menschen<br />
mit Behinderung ein. Sie sollen<br />
rechtlich und tatsächlich gleichgestellt sein<br />
mit Nicht-Behinderten, ihr Leben selber<br />
bestimmen können und Teil unserer Gesellschaft<br />
sein. Der Verband vertritt diese<br />
Interessen gegenüber Politik, Verwaltung,<br />
Wirtschaft und Öffentlichkeit. Dass Agile.ch<br />
sich als politische Kraft versteht, kommt<br />
auch im selbstbewussten Motto «Wir bestimmen<br />
mit!» zum Ausdruck.<br />
Als Dachverband befasst sich Agile.ch<br />
mit den Themen Sozialversicherungen,<br />
Erwerbsarbeit, berufliche Integration, Bildung<br />
und Verkehr sowie allgemein mit der<br />
Sozial- und Finanzpolitik. Konkret heisst<br />
das, dass der Verband beispielsweise in<br />
der Eidgenössischen AHV-/IV-Kommission<br />
mitarbeitet, an Vernehmlassungen<br />
zu Gesetzesentwürfen und Anhörungen<br />
teilnimmt und auch im National- und<br />
Ständerat lobbyiert. Weiter engagiert sich<br />
Agile.ch für einen barrierefreien öffentlichen<br />
Verkehr (BöV), indem sie die Fachstelle<br />
BöV mitfinanziert. Zudem ist sie<br />
Initiantin und Trägerin des Gleichstellungsrats<br />
Égalité Handicap. Und schliesslich<br />
steht Agile.ch Ratsuchenden als Informationsdrehscheibe<br />
zur Verfügung.<br />
Entsprechend wichtig ist auch die<br />
Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Der<br />
Dachverband organisiert regelmässig Veranstaltungen<br />
zu aktuellen behindertenpolitischen<br />
Fragen, wie etwa den Gleichstellungstag,<br />
der jeweils im Herbst stattfindet,<br />
und gibt viermal im Jahr die Zeitschrift<br />
«agile – Behinderung und Politik» heraus,<br />
sowie einen Newsletter, der rund 6000<br />
Abonnenten und Abonnentinnen erreicht.<br />
Die Website des Verbands hat in den letzten<br />
beiden Jahren eine steigende Nutzung<br />
32 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>14</strong> PLATTFORM
DACHVERBAND DER BEHINDERTEN-<br />
SELBSTHILFEORGANISATIONEN<br />
Der Dachverband Agile.ch vertritt seit mehr als 60 Jahren die<br />
Interessen von Menschen mit Behinderung gegenüber Politik,<br />
Verwaltung, Wirtschaft und Öffentlichkeit.<br />
Die 42 Mitgliedorganisationen repräsentieren Menschen aller<br />
Behinderungsgruppen und ihre Angehörigen. Sie werden –<br />
wie Agile.ch selbst – im Wesentlichen von Betroffenen selbst<br />
geführt.<br />
erfahren. Eine Präsentationsmappe, die<br />
verschiedene Flyer über Agile.ch selbst<br />
und über diverse sachbezogene Themen<br />
enthält, wird für Lobbying und Öffentlichkeitsarbeit<br />
genutzt.<br />
Mitarbeitende sind Betroffene<br />
Agile.ch wird nach dem Grundsatz der Verbandsdemokratie<br />
geführt. Oberstes Organ<br />
ist die Delegiertenversammlung, die politische<br />
und strategische Führung liegt beim<br />
Vorstand. Sowohl der Präsident als auch<br />
die Vorstandsmitglieder sind von einer Behinderung<br />
oder einer chronischen Krankheit<br />
betroffen. Für die praktische Umsetzung<br />
der verbandspolitischen Beschlüsse<br />
ist das Zentralsekretariat zuständig. Es befindet<br />
sich in Bern und beschäftigt zurzeit<br />
neun Mitarbeitende in 5,5 Vollzeitstellen.<br />
Auch hier sind die Mitarbeitenden Betroffene.<br />
Finanziert wird der Verband über vier<br />
Quellen: Etwa zwei Drittel der jährlich<br />
rund 1,2 Millionen Franken Einnahmen<br />
Bilder:zvg<br />
stammen aus einem Leistungsvertrag mit<br />
dem Bundesamt für Sozialversicherungen.<br />
Hinzu kommen die Mitgliederbeiträge der<br />
Aktiv- und Solidarmitglieder und Einnahmen<br />
aus Dienstleistungen. Als gemeinnütziger<br />
Verein ist Agile.ch aber auch auf<br />
Spenden angewiesen. Die aktiven Spenderinnen<br />
und Spender unterstützen den<br />
Verband mit rund 200 000 Franken pro<br />
Jahr. Sie zeigen damit ihre Solidarität mit<br />
Menschen mit Behinderung.<br />
Viele Ideen, wenig Mittel<br />
Ein aktuelles Vorhaben von Agile.ch ist die<br />
Publikation einer Broschüre zum Thema<br />
Sprachgebrauch. Es ist immer noch nicht<br />
überall selbstverständlich, Menschen mit<br />
Behinderung sprachlich nicht zu diskriminieren.<br />
Die Broschüre soll in politischen<br />
Gremien und öffentlichen Verwaltungen,<br />
bei den Medien und in der Öffentlichkeit<br />
gestreut werden. Noch ist allerdings fraglich,<br />
ob und wie die Entwicklungs- und<br />
Produktionskosten von rund 20 000 Franken<br />
gedeckt werden können. Eine weitere<br />
geplante Broschüre soll sich an Ärztinnen<br />
und Ärzte sowie an Zahnärztinnen und<br />
Zahnärzte richten. Zahlreiche Praxen in<br />
der Schweiz sind nicht behindertengerecht<br />
gebaut und nicht barrierefrei ausgestattet.<br />
Oft könnte mit wenig Aufwand viel erreicht<br />
werden. Was genau möglich ist und wie<br />
das umzusetzen wäre, dazu soll die Broschüre<br />
Tipps und Hinweise geben. Ziel ist,<br />
sie allen Berufsangehörigen, die Mitglied<br />
beim jeweiligen Berufsverband sind, zukommen<br />
zu lassen. Weil auch hierfür die<br />
zur Verfügung stehenden Mittel beschränkt<br />
sind, hofft Agile.ch, für diese Projekte Sponsoringpartnerschaften<br />
eingehen zu können.<br />
Gerade im Bereich Sensibilisierung für die<br />
Anliegen und Probleme von Menschen mit<br />
Behinderung bestehen grosse Potenziale,<br />
die gemeinsam angepackt und entwickelt<br />
werden könnten.<br />
•<br />
Suzanne Auer<br />
Zentralsekretärin Agile.ch<br />
PLATTFORM 2/<strong>14</strong> <strong>ZESO</strong><br />
33
Das Kind lebt zur Hälfte beim Vater:<br />
Wie wird die Sozialhilfe berechnet?<br />
Eva D. wird mit Sozialhilfeleistungen unterstützt. Da eines ihrer beiden Kinder die halbe Zeit beim<br />
Vater lebt, wird der Grundbedarf für die Familie auf der Basis einer Mischrechnung angepasst.<br />
FRAGE<br />
Eva D. lebt mit ihren beiden minderjährigen<br />
Kindern in der Gemeinde Muster. Der<br />
neunjährige Reto und die vierjährige Margrit<br />
haben unterschiedliche Väter. Für Reto<br />
hat Eva D. das alleinige Sorgerecht. Die<br />
Kinderzulagen und Alimente für ihn gehen<br />
regelmässig ein und werden im Budget<br />
von Eva D. als Einnahmen angerechnet.<br />
Vor einiger Zeit hat Margrits Vater die gemeinsame<br />
Wohnung verlassen. Das Gericht<br />
entschied, dass die Eltern das gemeinsame<br />
Sorgerecht für ihre Tochter<br />
Margrit haben und der zivilrechtliche<br />
Wohnsitz beim Vater sei. Die Eltern teilen<br />
sich bei diesem Kind die Betreuung. Margrit<br />
verbringt jeweils während einer Woche<br />
drei Tage und während der anderen Woche<br />
vier Tage bei ihrer Mutter. Bei der Berechnung<br />
der Kinderalimente für Margrit<br />
wurde berücksichtigt, dass sie durchschnittlich<br />
3,5 Tage pro Woche bei ihrem<br />
Vater lebt. Wie aber berechnet sich das Unterstützungsbudget<br />
für Eva D. mit den beiden<br />
minderjährigen Kindern?<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Mitgliederbereich<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
GRUNDLAGEN<br />
Mit den neuen Bestimmungen des Zivilgesetzbuches<br />
(ZGB), die am 1. Juli 20<strong>14</strong> in<br />
Kraft treten, wird unabhängig vom Zivilstand<br />
der Eltern die gemeinsame elterliche<br />
Sorge zum Regelfall. Die elterliche Sorge<br />
umfasst neben der Erziehung und Ausbildung<br />
sowie der gesetzlichen Vertretung<br />
und Verwaltung des Vermögens auch die<br />
elterliche Obhut. Darunter fällt die tägliche<br />
Betreuung und Pflege sowie auch die<br />
Bestimmung des Aufenthaltsorts. Es steht<br />
den Eltern also zu, die Obhut so zu regeln,<br />
dass beide Elternteile einzelne oder mehrere<br />
Tage pro Woche die Betreuung der gemeinsamen<br />
Kinder übernehmen können.<br />
Um der Idee des Gesetzgebers gerecht zu<br />
werden und immer auch mit Blick auf das<br />
Wohl des Kindes, ist es deshalb zu vermeiden,<br />
das Kind sozialhilferechtlich lediglich<br />
einem Haushalt zuzuordnen.<br />
Das Bundesgesetz über die Zuständigkeit<br />
für die Unterstützung Bedürftiger<br />
(ZUG) regelt die Situation eines unterschiedlichen<br />
zivilrechtlichen Wohnsitzes<br />
der Eltern so, dass das minderjährige Kind<br />
den Unterstützungswohnsitz desjenigen<br />
Elternteils hat, bei dem es wohnt (Art. 7<br />
Abs. 2 ZUG). Diese Bestimmung kann<br />
so ausgelegt werden, dass das Kind den<br />
Unterstützungswohnsitz beider Elternteile<br />
beziehungsweise abwechselnd den<br />
Unterstützungswohnsitz des einen oder<br />
des anderen teilt. Daraus folgt, dass der<br />
Elternteil mit dem minderjährigen Kind<br />
rechnerisch als ein Unterstützungsfall zu<br />
behandeln ist.<br />
Die Unterstützungsberechnung erfolgt<br />
nach den tatsächlichen Verhältnissen.<br />
Folglich sollten sich die Wohnkosten nach<br />
einer Unterstützungseinheit richten, die<br />
ein beziehungsweise zwei Kinder umfasst.<br />
Ebenso wird der Grundbedarf entsprechend<br />
angepasst. Mit dieser Berechnung<br />
wird sichergestellt, dass sich der sozialhilfebeziehende<br />
Elternteil zur Hälfte an<br />
den Kosten zur Anschaffung von Kleidern<br />
und Schuhen, an Verkehrsauslagen oder<br />
Ähnlichem beteiligen kann. Die Kinderalimente<br />
werden dabei dem Unterstützungsbudget<br />
angerechnet.<br />
ANTWORT<br />
Der Haushalt von Eva D. umfasst während<br />
durchschnittlich 3,5 Tagen pro Woche drei<br />
Personen und während der anderen 3,5<br />
Tage zwei Personen. Der Grundbedarf kann<br />
nach folgender Mischrechnung bestimmt<br />
werden: GBL = (GBL1-*Anzahl Wochentage/7)<br />
+ (GBL2-*Anzahl Wochentage/7).<br />
GBL1 steht in diesem Beispiel für den<br />
Grundbedarf ohne Margrit und GBL2 für<br />
denjenigen mit Margrit. Konkret lautet die<br />
Rechnung wie folgt: (Fr. 1'509.-*3.5/7<br />
= Fr. 754.50.-) plus (Fr. 1'834.-*3.5/7<br />
= Fr. 917.-) ergibt einen Grundbedarf von<br />
monatlich 1'671.50 Franken. Zudem ist<br />
Eva D. ein Mietzins zu gewähren, der die<br />
Tatsache berücksichtigt, dass zeitweise zwei<br />
Kinder in der Wohnung leben. Sämtliche<br />
Auslagen, die unter das Kapitel C der SKOS-<br />
Richtlinien fallen, werden grundsätzlich<br />
hälftig im Budget von Eva D. berücksichtigt.<br />
Die vom Gericht gesprochenen Alimente<br />
für Margrit sind im Unterstützungsbudget<br />
vollumfänglich anzurechnen, da bei der<br />
Berechnung berücksichtigt wurde, dass<br />
Margrit zur Hälfte bei ihrem Vater lebt. •<br />
Ruth Ziörjen<br />
Kommission Richtlinien<br />
und Praxishilfen<br />
10 <strong>ZESO</strong> 2/<strong>14</strong> PRAXIS