PSC 4-11 - FSP
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denfreude und äussern gar Hohn und Spott. Handelt<br />
es sich aber um Mängel, welche die Person als Person<br />
betreffen (bewusste Irreführung Anderer, Gewalt gegen<br />
Abhängige, sexueller Missbrauch von Kindern, finanzielle<br />
Ausbeutung), dann empfinden die Schamzeugen<br />
Empörung und Wut.<br />
9<br />
Schamfreiheit und Schamlosigkeit<br />
Jeder möchte Situationen der Beschämung wenn irgend<br />
möglich vermeiden – aber wie?<br />
Hier lässt sich ein deutlicher Wandel in den letzten<br />
zwei Jahrzehnten feststellen. Früher konnte man auch<br />
den «Herrn Schüch», dem man seine Schamanfälligkeit<br />
und sein Schamvermeidungsverhalten anmerkte,<br />
noch charmant finden, während er heute nur noch<br />
«uncool» wirkt. Ebenso passé ist jene junge Frau, die<br />
ihre körperlichen Reize schamhaft verhüllt. Heute gilt<br />
die Bewunderung jenen Frauen und Männern, die über<br />
die Kunst der eigenen Selbstinszenierung schamfrei<br />
oder besser schamlos verfügen.<br />
Diese Entwicklung weg vom Ideal der Schamfreiheit<br />
hin zur Schamlosigkeit wird immer deutlicher. Zum<br />
modernen Ideal des autonomen Subjekts gehört zweifellos<br />
die Schamfreiheit. Man erwirbt sie durch die<br />
– immer nur mehr oder weniger erreichbare – Unabhängigkeit<br />
vom Blick und vom Urteil der Anderen. Je<br />
weniger man sich vom Blick des Anderen bestimmen<br />
lässt, umso weniger schamanfällig ist man. Doch diese<br />
Schamfreiheit hat nichts mit Schamlosigkeit zu tun:<br />
Autonom ist ja das Subjekt dann, wenn es sich selbst<br />
bestimmt, das heisst, gesellschaftlichen Standards<br />
und moralischen Normen, die es selber für vernünftig<br />
hält, auch aus eigenem Antrieb gehorcht. Schamfreiheit<br />
verdankt sich also der Selbstbestimmung. Darum<br />
können sich autonome Menschen mehr oder weniger<br />
schamfrei in der Öffentlichkeit bewegen, mag ihre<br />
Erscheinung auch nicht den heutigen (übertriebenen)<br />
Schönheits- oder Schlankheitsstandards genügen,<br />
mögen sie zu einem Anlass auch sei es overdressed<br />
oder underdressed erscheinen, mag auch bei einem<br />
Gespräch ihre eigene Unwissenheit an den Tag kommen,<br />
zu der sie – und das ist ganz wichtig – auch<br />
schamfrei stehen, statt sie verstecken zu wollen.<br />
An die Stelle dieses modernen Ideals der Selbstbestimmung<br />
tritt heute mehr und mehr das postmoderne<br />
Ideal der gekonnten Selbstinszenierung. Diese richtet<br />
sich an den Blick des Anderen, ja sucht ihn. Der Andere<br />
hat also die Macht wieder zurückgewonnen. Allerdings<br />
wird jetzt alles daran gesetzt, diesen Blick durch<br />
möglichst gekonnte Selbstdarstellung in Schach zu halten,<br />
ihn also zu manipulieren. Die Frage, wer ich bin,<br />
tritt hinter der Frage zurück, als wer ich dem Anderen<br />
erscheinen will. In einer gekonnten Selbstinszenierung<br />
hat die Scham keinen Platz – es sei denn wieder