PSC 4-11 - FSP
PSC 4-11 - FSP
PSC 4-11 - FSP
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
8<br />
DOSSIER: Scham<br />
PSYCHOSCOPE 4/20<strong>11</strong><br />
Von der Wahrheit<br />
des Nacktseins<br />
Die Scham als existenzielles Grundgefühl<br />
Für Dr. phil. Alice Holzhey-Kunz ist Scham<br />
bei Weitem mehr als ein psychopathologisches<br />
Symptom: Sie ist, wie die Daseinsanalytikerin<br />
in Anlehnung an Jean-Paul<br />
Sartre herausarbeitet, ein existenzielles<br />
Grundgefühl, dessen jeweiliges Erleben<br />
überdies vom Zeitgeist geprägt wird.<br />
Nehmen wir vorweg, dass die Scham vermutlich das<br />
am schwersten erträgliche Gefühl ist. Das zeigt sich<br />
eindrücklich daran, dass man in der Scham nur noch<br />
einen einzigen Wunsch hat: der beschämenden Situation<br />
zu entkommen, unsichtbar zu werden. Wer sich<br />
schämt, möchte am liebsten «in den Boden versinken»<br />
oder «sich in Luft auflösen», doch muss er zugleich auf<br />
grausame Weise erfahren, dass dieser Wunsch unerfüllbar<br />
ist und es kein Entrinnen gibt.<br />
Beim Schmerz beispielsweise verhält es sich anders,<br />
weil der dem Schmerz immanente Wunsch, er möge<br />
aufhören, im Prinzip erfüllbar ist, aber auch, weil<br />
Schmerzen in der Regel bei anderen Teilnahme und<br />
Zuwendung auslösen. Anders ist es auch beim gleichermassen<br />
schwer erträglichen Gefühl eigener Ohnmacht,<br />
jedenfalls dann, wenn man Opfer ist und sich die Ohnmacht<br />
nicht als Folge eigenen Verschuldens zurechnen<br />
muss. Sogar Schuldgefühle scheinen erträglicher<br />
zu sein als Schamgefühle, weil man angesichts eigener<br />
Schuld wenigstens aktiv werden, die Schuld abtragen<br />
oder um Verzeihung bitten kann.<br />
Sartres zeitlose Analyse<br />
Im Vergleich mit anderen Gefühlen ist die Scham auch<br />
wesentlich komplexer. Das zeigt die Definition von<br />
Jean-Paul Sartre, dem wir bis heute die beste Analyse<br />
der Scham verdanken: «Ich schäme mich meiner, wie<br />
ich Anderen erscheine.»<br />
In dieser Formel sind die drei wesentlichen Momente<br />
der Scham eingefangen: a) ihr reflexiver Charakter: man<br />
schämt sich über sich selbst; b) ihr sozialer Charakter:<br />
man schämt sich vor Anderen; c) ihr Wertcharakter: man<br />
schämt sich dafür, mit seinem Erscheinen oder seinem<br />
Verhalten gegen intersubjektiv geltende Werte verstossen<br />
und darum in den Augen der Anderen selbst an Wert<br />
verloren zu haben. Ganz generell lässt sich die Frage, wofür<br />
man sich schämt, mit dem Hinweis auf das Sichtbarwerden<br />
eigener Mängel beantworten, die mich in den<br />
Augen der Anderen herabsetzen. Das Gefühl zu haben,<br />
man gebe sich vor Anderen eine Blösse, ist gleichbedeutend<br />
mit dem Gefühl, sich dafür zu schämen.<br />
Drei Arten von Mängeln<br />
Nun hat der Philosoph Ernst Tugendhat drei Arten<br />
von Mängeln oder Unzulänglichkeiten unterschieden<br />
und diesen einen weiten Bereich der Scham, eine innere<br />
Region der Scham und einen innersten Kern der<br />
Scham zugewiesen:<br />
• Mängel, für die man nichts kann, wie etwa körperliche<br />
Besonderheiten oder auch die eigene Herkunft,<br />
bilden den weiteren Bereich der Scham.<br />
• Mängel, die das eigene Tun betreffen und also eine<br />
eigene Unfähigkeit oder ein eigenes Versagen anzeigen,<br />
bilden den engeren Bereich der Scham, der sich<br />
auf die eigene Rolle in der Gesellschaft bezieht.<br />
So kann man sich dafür schämen, keine gute Köchin<br />
oder ein schlechter Klavierspieler zu sein. Hierzu<br />
gehört auch berufliches Versagen bis hin zu Arbeitslosigkeit<br />
und Angewiesenheit auf Sozialhilfe.<br />
• Mängel, die nicht einzelne Fähigkeiten einer Person,<br />
sondern diese als Person betreffen, bilden den<br />
innersten Kern der Scham. So ist es etwas anderes,<br />
ob ich (nur) eine schlechte Köchin oder ob ich<br />
eine schlechte Mutter bzw. ein schlechter Vater bin.<br />
Ich kann mich zwar für beides schämen, aber nur<br />
im letzteren Fall handelt es sich nach Tugendhat um<br />
eine «moralische Scham», in der ich mich für ein<br />
Versagen meiner selbst als ganzer Person schäme.<br />
Wie grundlegend diese Unterscheidungen sind, zeigt<br />
sich, wenn wir auf die Gefühle jener achten, welche<br />
Zeugen einer beschämenden Situation sind. Handelt<br />
es sich um Mängel im Aussehen (zu dick, zu klein, zu<br />
hässlich, zu schlecht angezogen) oder um Inkompetenzen<br />
(mangelhafte Ausbildung, berufliches Versagen),<br />
dann haben die Schamzeugen entweder gar keine Gefühle,<br />
sie verspüren Mitleid oder sie empfinden Scha-