PSC 4-11 - FSP
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6<br />
DOSSIER: Scham<br />
PSYCHOSCOPE 4/20<strong>11</strong><br />
Verhalten der Mutter, kommt es darauf an, auf welche<br />
Seite sich das Mädchen stellt. Identifiziert sie sich mit der<br />
Mutter, kann sie sich für deren Verhalten schämen; steht<br />
sie auf der Seite ihres Arztes, ist es ihr möglich, dessen<br />
Empörung zu teilen. Es zeigt sich erneut die Bedeutung<br />
des Zugehörigkeitsempfindens für die Entstehung von<br />
Schamgefühlen. – Eine weitere Möglichkeit wäre denkbar:<br />
Hat das Mädchen genug Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit<br />
und ist es in der Lage, seine Intimgrenzen<br />
zu schützen, kann es sich sowohl über die Mutter wie<br />
auch über den Arzt empören, falls dieser ihr nicht zur<br />
Seite steht.<br />
Umgang mit peinlichen Situationen<br />
Therapeutische Ansätze lassen sich durch das Beobachten<br />
von Menschen finden, die gut mit peinlichen Situationen<br />
umgehen können. Wenn man zu einer Peinlichkeit<br />
steht und zugibt, dass einem etwas peinlich ist, schafft<br />
man damit wieder eine Verbindung zu den anderen. Man<br />
sagt implizit: «Seht her, ich empfinde es genau so wie<br />
ihr.» Kann man mitlachen, wenn einem etwas Peinliches<br />
passiert, was andere belustigend finden, zeigt man Stärke<br />
und Souveränität. Ein Beispiel bietet der Sänger Udo Lindenberg,<br />
der, als er von seinem Kollegen Helge Schneider<br />
als Alkoholiker blossgestellt und parodiert wurde, mit<br />
einer Einladung an sein Abschlusskonzert reagierte, um<br />
dort mit ihm ein Duett zu singen. – Makel und Fehler<br />
einzugestehen wird als Stärke gewertet.<br />
Ein 15-jähriger Junge kommt wegen einer starken pubertären<br />
Akne. Er wagt sich nicht unter Gleichaltrige, da er sich<br />
schon häufig abfällige, spöttische Bemerkungen über sein<br />
Aussehen eingefangen hatte. Vor allem Mädchen gegenüber<br />
sei es ihm peinlich, wie er aussehe. Er habe den Eindruck,<br />
dass er auf Grund seiner Hautunreinheiten bei diesen<br />
keine Chance habe.<br />
Ein Junge in diesem Alter braucht zum einen Verständnis,<br />
gleichzeitig aber konkretes Handwerkszeug, um sich<br />
in sozialen Situationen zu behaupten. Was kann man<br />
ihm raten?<br />
Hier mögliche Antworten: Wenn dich jemand auf deine<br />
Haut anspricht oder gar verspottet, dann sage: «Stimmt,<br />
ich finde auch, es sieht echt scheisse aus. Und ich bin<br />
froh, wenn es irgendwann weg ist.» Oder: «Einen Spruch<br />
hast du noch frei, aber dann ist Schluss! Und wenn dir<br />
jetzt noch etwas richtig Gutes einfällt, dann bekommst<br />
du von mir ein Bonbon.» (Die Bonbon-Idee ist von B.<br />
Trenkle) Wenn Mädchen etwas sagen oder abfällig gucken,<br />
dann sage: «Mit meiner Haut kann ich im Moment<br />
nicht punkten, aber ich habe andere Stärken. Und diese<br />
Stärken bleiben. Die Pickel sind irgendwann weg.»<br />
Mit der Variante b, «…dann bekommst du ein Bonbon …»,<br />
sagt man auf indirekte Weise, dass derjenige, der sich<br />
über so etwas lustig macht, kindisch ist und es peinlich<br />
ist, die Pickel zu einem wichtigen Thema zu machen.<br />
Aufgaben und Ordeals<br />
Bei der Ausbildung von Aussendienstmitarbeitern sind<br />
Übungen zur Überwindung des Schamgefühls ein<br />
wichtiger Bestandteil. Man lernt im Rahmen von so<br />
genannten Ordeals, einer Art Feuerproben, «über die<br />
rote Linie zu gehen», und macht die Erfahrung, dass die<br />
befürchteten Konsequenzen, von anderen verlacht oder<br />
beschämt zu werden, ausbleiben. In der Arbeit mit<br />
Klienten können solche Übungen ebenfalls genutzt<br />
werden (Haley 2002).<br />
Ein Klient mit einer Erythrophobie (Angst vor dem Erröten),<br />
dem Sexualität peinlich ist, bekommt die Aufgabe, in<br />
einer Apotheke Kondome zu bestellen. Er soll dabei darauf<br />
achten, dass er auf jeden Fall an eine Apothekerin gerät<br />
und mir hinterher die Augenfarbe dieser Dame sagen.<br />
Grundsätzlich ist das Schamgefühl mit einer Orientierung<br />
auf die eigene Person verbunden. Derjenige, der sich<br />
schämt, hat oft das Gefühl, dass er von allen angeschaut<br />
wird, kann aber nicht wirklich beschreiben, wer wie genau<br />
geschaut hat. Es ist ausgesprochen schwierig, gleichzeitig<br />
die Augenfarbe eines Gegenübers zu sehen und dabei<br />
zu erröten.<br />
Um- und Neudeutungen<br />
Im Rahmen therapeutischer Interventionen erleben die<br />
Klienten und Klientinnen alte Erfahrungen noch einmal<br />
in Begleitung, wobei der Therapeut wie ein guter Elternteil<br />
fungiert (Meiss 2003/2008). Der Einsatz von Trance<br />
ermöglicht dabei über Affekt- und Emotionsbrücken<br />
(Phillips u. Frederick 2003) einen schnellen Zugang zu<br />
den schambesetzten Lebensereignissen und schafft Offenheit<br />
für die in der Therapie angebotenen Neu- und<br />
Umdeutungen (Meiss 1997).<br />
Eine 23-jährige Frau leidet seit ihrem 17. Lebensjahr unter<br />
Migräne. Sie besuchte in diesem Alter eine von Nonnen<br />
geleitete Mädchenschule. In der Oberstufe bekamen<br />
die Mädchen einen separaten Schulhof, der an den Schulhof<br />
der benachbarten Jungenschule grenzte. Während der<br />
Therapiesitzung sieht die Klientin in Trance eine Mauer<br />
aus Büchern, die Lücken enthält, durch die man schauen<br />
kann. Hinter der Mauer ist es grün und lebendig. Auf ihrer<br />
Seite ist es grau und öde. Man könnte die Mauer einreissen,<br />
doch sieht die Klientin spontan vier Personen, die für<br />
den Erhalt der Mauer plädieren.<br />
Der folgende Dialog zwischen Therapeut und Klientin<br />
beschreibt eine Umdeutung im obigen Sinn anhand des<br />
Beispiels «anständig»:<br />
Klientin (K): «Ich sehe meinen alten Lateinlehrer, meine<br />
Oma, meine ehemalige Hausärztin und meinen Onkel,<br />
so eine Versammlung von Moralaposteln, die alle sagen:<br />
Ein Mädchen muss anständig sein.» Therapeut (T):<br />
«Warum denn nicht anständig sein? Aber was meinen<br />
die ‹Moralapostel› denn mit anständig?» K: «Na, die meinen,<br />
man solle nur Bücher im Kopf haben und sich von