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PSC 4-11 - FSP

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Foto: © Tom Bayer − Fotolia.com<br />

5<br />

Bei der Scham geht es um Zugehörigkeit und die Angst,<br />

diese zu verlieren. Das Schamgefühl bezieht sich immer<br />

auf eine soziale Gruppe, was deutlich wird im Comingout<br />

des Homosexuellen. Wird Homosexualität vor dem<br />

Coming-out als Peinlichkeit erlebt, ist sie danach keineswegs<br />

mehr peinlich. Man zeigt auf Paraden sein Schwuloder<br />

Lesbischsein und schaut auf diejenigen herab, die es<br />

als etwas Abnormales betrachten. Die Bezugsgruppe, der<br />

man sich zugehörig fühlt, entscheidet, was als peinlich<br />

empfunden wird. Ändert sich die Bezugsgruppe, ändert<br />

sich das, wofür man sich schämt.<br />

Fremdschämen<br />

Die Bedeutung sozialer Bezüge für das Entstehen der<br />

Scham zeigt das Phänomen des Fremdschämens. Geschehen<br />

anderen, mit denen wir uns nicht identifizieren<br />

und zu denen keine Zugehörigkeit besteht, peinliche<br />

Dinge, finden wir deren Verhalten schlichtweg empörend<br />

oder belustigend oder wir neigen, wenn wir die Person<br />

nicht mögen, zur Schadenfreude. Anders ist es bei Personen,<br />

zu denen wir Zugehörigkeit empfinden oder mit denen<br />

wir uns identifizieren. Kinder oder Eltern können<br />

uns peinlich sein. Wir können uns für einen Kollegen<br />

schämen, der unseren Berufsstand verunglimpft und sich<br />

einen peinlichen Fauxpas leistet. Wir können uns für unsere<br />

Nation schämen. Man kann unter Schamgefühlen<br />

leiden, die sich auf ein peinliches Verhalten von Angehörigen<br />

beziehen.<br />

Ein Patient, der eine hohe Managementposition in einem<br />

Grossunternehmen ausfüllt, hat einen problematischen<br />

Familienhintergrund. Sein Vater ist ihm unbekannt, seine<br />

Mutter eine schwere Alkoholikerin.<br />

Als Kind ist er auf Grund der Trunksucht seiner Mutter<br />

häufig gehänselt worden. Später ist es ihm zutiefst peinlich,<br />

wenn er auf seine Herkunft angesprochen wird. Ich frage<br />

ihn, wie er die Karriere einer Person aus gutem Elternhaus<br />

beurteile, die eine hohe Leitungsposition in einem Unternehmen<br />

einnehme. Er antwortet, dass dies eine Leistung<br />

sei, die man positiv bewerten könne. Ich frage ihn daraufhin,<br />

wie er die Karriere einer Person beurteile, die aus tiefster<br />

Unterschicht ohne Unterstützung in die gleiche Position<br />

käme. Er antwortet, dies sei eine ganz ausserordentliche<br />

Leistung und verdiene Bewunderung. Ich frage daraufhin:<br />

«Welche der beiden Leistungen ist höher zu bewerten?» Er<br />

antwortet: «Die zweite!» In der Folge ist er in der Lage, zu<br />

seiner Herkunft zu stehen und sich mit anderen Augen zu<br />

sehen. Er zeigt sich stolz über das, was er ohne Unterstützung<br />

trotz der widrigen Umstände geschafft hat.<br />

Es ist also bei einem Patienten mit Schamproblemen immer<br />

die Frage, welchen Kriterien er befürchtet, nicht zu<br />

entsprechen, welche Zugehörigkeit er anstrebt bzw. welche<br />

er meint zu verlieren, wenn man erkennt, wer und<br />

wie er ist.<br />

Demzufolge ist die Lösung von Schamproblemen auch<br />

keine Frage langer Therapien. Vielmehr tritt eine Veränderung<br />

häufig abrupt und plötzlich ein, dann, wenn ein<br />

veränderter Blickwinkel eingenommen wird.<br />

Scham und Intimgrenzen<br />

Patienten und Patientinnen, die unter Schamproblemen<br />

leiden, sind oft unzureichend in der Lage, ihre Intimgrenzen<br />

zu schützen. Ein Arzt, der sich in der Rolle des<br />

Arztes in einer sachlich-neutralen Weise dem Patienten<br />

nähert, ist in der Lage, Intimgrenzen zu überschreiten,<br />

ohne dass es peinlich wird. Würde er aber dabei persönlich,<br />

in dem er etwas unsachlich Wertendes über den<br />

Körper seines Gegenübers sagt, z.B. «Sie haben ja einen<br />

knackigen Hintern», oder »Ihr Busen sieht ja wirklich komisch<br />

aus», ist die Intimgrenze überschritten. Die Betroffenen<br />

reagieren dann entweder mit Aggression und sind<br />

empört, oder – falls Hemmungen vorhanden sind, z.B.<br />

weil dem Arzt weiterhin Autorität zugesprochen wird –<br />

mit Schamgefühlen.<br />

Eine Patientin erinnerte in Trance den folgenden Vorfall:<br />

Ihre Mutter schleppt sie im Alter von 16 Jahren zum Arzt.<br />

Die Patientin hat für ihr Alter einen recht grossen Busen.<br />

Die Mutter reisst ihr plötzlich im Beisein des Arztes den Pullover<br />

hoch und bemerkt, die Brüste seien für das Alter übermässig<br />

entwickelt. Die Tochter erstarrt und ist unfähig sich<br />

zu wehren. Der Arzt wirft einen kurzen Blick auf die Brust<br />

und erwidert, nach seiner Meinung sei alles in Ordnung.<br />

Die Patientin reagiert auf diesen Vorfall mit tiefer Scham.<br />

Diese Reaktion ist keinesfalls zwangsläufig. Die Tochter<br />

wird nicht mit Schamgefühlen reagieren, wenn es ihr<br />

möglich ist, auf den Übergriff der Mutter und des Arztes<br />

aggressiv zu reagieren. Empört sich der Arzt über das

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