PSC 4-11 - FSP
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Bei der Scham geht es um Zugehörigkeit und die Angst,<br />
diese zu verlieren. Das Schamgefühl bezieht sich immer<br />
auf eine soziale Gruppe, was deutlich wird im Comingout<br />
des Homosexuellen. Wird Homosexualität vor dem<br />
Coming-out als Peinlichkeit erlebt, ist sie danach keineswegs<br />
mehr peinlich. Man zeigt auf Paraden sein Schwuloder<br />
Lesbischsein und schaut auf diejenigen herab, die es<br />
als etwas Abnormales betrachten. Die Bezugsgruppe, der<br />
man sich zugehörig fühlt, entscheidet, was als peinlich<br />
empfunden wird. Ändert sich die Bezugsgruppe, ändert<br />
sich das, wofür man sich schämt.<br />
Fremdschämen<br />
Die Bedeutung sozialer Bezüge für das Entstehen der<br />
Scham zeigt das Phänomen des Fremdschämens. Geschehen<br />
anderen, mit denen wir uns nicht identifizieren<br />
und zu denen keine Zugehörigkeit besteht, peinliche<br />
Dinge, finden wir deren Verhalten schlichtweg empörend<br />
oder belustigend oder wir neigen, wenn wir die Person<br />
nicht mögen, zur Schadenfreude. Anders ist es bei Personen,<br />
zu denen wir Zugehörigkeit empfinden oder mit denen<br />
wir uns identifizieren. Kinder oder Eltern können<br />
uns peinlich sein. Wir können uns für einen Kollegen<br />
schämen, der unseren Berufsstand verunglimpft und sich<br />
einen peinlichen Fauxpas leistet. Wir können uns für unsere<br />
Nation schämen. Man kann unter Schamgefühlen<br />
leiden, die sich auf ein peinliches Verhalten von Angehörigen<br />
beziehen.<br />
Ein Patient, der eine hohe Managementposition in einem<br />
Grossunternehmen ausfüllt, hat einen problematischen<br />
Familienhintergrund. Sein Vater ist ihm unbekannt, seine<br />
Mutter eine schwere Alkoholikerin.<br />
Als Kind ist er auf Grund der Trunksucht seiner Mutter<br />
häufig gehänselt worden. Später ist es ihm zutiefst peinlich,<br />
wenn er auf seine Herkunft angesprochen wird. Ich frage<br />
ihn, wie er die Karriere einer Person aus gutem Elternhaus<br />
beurteile, die eine hohe Leitungsposition in einem Unternehmen<br />
einnehme. Er antwortet, dass dies eine Leistung<br />
sei, die man positiv bewerten könne. Ich frage ihn daraufhin,<br />
wie er die Karriere einer Person beurteile, die aus tiefster<br />
Unterschicht ohne Unterstützung in die gleiche Position<br />
käme. Er antwortet, dies sei eine ganz ausserordentliche<br />
Leistung und verdiene Bewunderung. Ich frage daraufhin:<br />
«Welche der beiden Leistungen ist höher zu bewerten?» Er<br />
antwortet: «Die zweite!» In der Folge ist er in der Lage, zu<br />
seiner Herkunft zu stehen und sich mit anderen Augen zu<br />
sehen. Er zeigt sich stolz über das, was er ohne Unterstützung<br />
trotz der widrigen Umstände geschafft hat.<br />
Es ist also bei einem Patienten mit Schamproblemen immer<br />
die Frage, welchen Kriterien er befürchtet, nicht zu<br />
entsprechen, welche Zugehörigkeit er anstrebt bzw. welche<br />
er meint zu verlieren, wenn man erkennt, wer und<br />
wie er ist.<br />
Demzufolge ist die Lösung von Schamproblemen auch<br />
keine Frage langer Therapien. Vielmehr tritt eine Veränderung<br />
häufig abrupt und plötzlich ein, dann, wenn ein<br />
veränderter Blickwinkel eingenommen wird.<br />
Scham und Intimgrenzen<br />
Patienten und Patientinnen, die unter Schamproblemen<br />
leiden, sind oft unzureichend in der Lage, ihre Intimgrenzen<br />
zu schützen. Ein Arzt, der sich in der Rolle des<br />
Arztes in einer sachlich-neutralen Weise dem Patienten<br />
nähert, ist in der Lage, Intimgrenzen zu überschreiten,<br />
ohne dass es peinlich wird. Würde er aber dabei persönlich,<br />
in dem er etwas unsachlich Wertendes über den<br />
Körper seines Gegenübers sagt, z.B. «Sie haben ja einen<br />
knackigen Hintern», oder »Ihr Busen sieht ja wirklich komisch<br />
aus», ist die Intimgrenze überschritten. Die Betroffenen<br />
reagieren dann entweder mit Aggression und sind<br />
empört, oder – falls Hemmungen vorhanden sind, z.B.<br />
weil dem Arzt weiterhin Autorität zugesprochen wird –<br />
mit Schamgefühlen.<br />
Eine Patientin erinnerte in Trance den folgenden Vorfall:<br />
Ihre Mutter schleppt sie im Alter von 16 Jahren zum Arzt.<br />
Die Patientin hat für ihr Alter einen recht grossen Busen.<br />
Die Mutter reisst ihr plötzlich im Beisein des Arztes den Pullover<br />
hoch und bemerkt, die Brüste seien für das Alter übermässig<br />
entwickelt. Die Tochter erstarrt und ist unfähig sich<br />
zu wehren. Der Arzt wirft einen kurzen Blick auf die Brust<br />
und erwidert, nach seiner Meinung sei alles in Ordnung.<br />
Die Patientin reagiert auf diesen Vorfall mit tiefer Scham.<br />
Diese Reaktion ist keinesfalls zwangsläufig. Die Tochter<br />
wird nicht mit Schamgefühlen reagieren, wenn es ihr<br />
möglich ist, auf den Übergriff der Mutter und des Arztes<br />
aggressiv zu reagieren. Empört sich der Arzt über das