PSC 4-11 - FSP
PSC 4-11 - FSP
PSC 4-11 - FSP
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Nun scheint Sartre mit seiner Definition der Scham<br />
(«Ich schäme mich meiner, wie ich den Anderen erscheine»)<br />
dieser Auffassung zu widersprechen, denn<br />
das «Wie» meines Erscheinens ist von vielen individuellen<br />
Faktoren abhängig, nicht zuletzt davon, wie attraktiv<br />
oder unattraktiv ich mich präsentiere. Doch genau<br />
das entlarvt Sartre als eine grandiose Illusion, denn wie<br />
ich dem Anderen erscheine, bestimme letztlich nicht<br />
ich, sondern das bestimmt der Andere mit seinem Blick,<br />
weil er frei ist, mich so zu sehen, wie es ihm beliebt. In<br />
der Scham erfahre ich diese meine Ohnmacht, über<br />
den Blick des Anderen nicht verfügen zu können. Auch<br />
wenn mir der Andere so nahe steht, dass ich zu wissen<br />
meine, wie er mich sieht und einschätzt, so bleibt auch<br />
er jederzeit frei, mich neu anzuschauen, sein Bild von<br />
mir zu revidieren. Doch die Scham enthüllt mir nicht<br />
nur, dass sich der Blick des Anderen frei auf mich richtet,<br />
sondern auch, dass der Andere mich aus einer Perspektive<br />
zu sehen vermag, die ich selber niemals einnehmen<br />
kann. Er oder sie weiss also immer mehr über mich<br />
als ich selbst. Darum besitzt er mein Geheimnis, «das<br />
Geheimnis dessen, was ich bin» (Sartre).<br />
Ein existenzielles Grundgefühl<br />
Die heutige Psychoanalyse ist stolz darauf, eine «intersubjektive<br />
Wende» vollzogen, das heisst (endlich) für<br />
sich entdeckt zu haben, dass wir nicht als isolierte Subjekte<br />
existieren, sondern immer schon mit anderen sind<br />
und nur gemeinsam mit anderen werden können, was<br />
und wer wir selber sind. Doch diese Wende geht zu wenig<br />
weit, denn sie unterschlägt jene Wahrheit, mit der<br />
uns die existenzielle Scham konfrontiert: dass wir nämlich<br />
vor aller Interaktion mit anderen «für» diese anderen<br />
existieren, nämlich für deren freien Blick, vor dem<br />
wir uns auf keine Weise in Sicherheit bringen können.<br />
Mit einer drastischen Formulierung Sartres erfahren<br />
wir in der existenziellen Scham, dass wir «in die Freiheit<br />
des Anderen geworfen und in ihr verlassen» sind.<br />
Und zwar sind wir deshalb darin verlassen, weil uns<br />
der Blick des Anderen erbarmungslos auf uns selber<br />
zurückwirft als Lebewesen, die ihr Leben unter dem<br />
Blick des Anderen zu führen haben, ohne über diesen<br />
Blick jemals verfügen zu können, so sehr wir uns auch<br />
darum bemühen.<br />
Sobald man sich diese Implikationen vergegenwärtigt,<br />
verliert die Erkenntnis, dass wir immer im Blick der<br />
Anderen stehen, den Anschein des Banalen. Und die<br />
Scham, die sich scheinbar grundlos einstellt und deswegen<br />
pathologisiert wird, erweist sich als ein existenzielles<br />
Grundgefühl, das uns mit einer ebenso unheimlichen<br />
wie unumstösslichen Wahrheit unseres<br />
Menschseins konfrontiert.<br />
Alice Holzhey-Kunz<br />
Bibliografie<br />
Holzhey-Kunz, A. (2001). Leiden am Dasein (2. Aufl.).<br />
Die Daseinsanalyse und die Aufgabe einer Hermeneutik<br />
psychopathologischer Phänomene. Wien: Passagen.<br />
Holzhey-Kunz, A. (2002). Das Subjekt in der Kur. Über<br />
die Bedingungen psychoanalytischer Psychotherapie.<br />
Wien: Passagen.<br />
Holzhey-Kunz, A. (2008). Daseinsanalyse. In A. Längle<br />
und A. Holzhey-Kunz, Existenzanalyse und Daseinsanalyse<br />
(S. 180–356). Wien: Facultas UTB.<br />
Sartre, J.-P. (1993). Das Sein und das Nichts. Versuch<br />
einer phänomenologischen Ontologie (hg. T. König).<br />
Hamburg: Rowohlt.<br />
Tugendhat, E. (1993). Die Rolle der Identität in der<br />
Konstitution der Moral, in W. Edelstein, G. Nummer-<br />
Winkler, G. Noam (Hg.), Moral und Person (S. 33–47).<br />
Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />
Die Autorin<br />
Dr. phil. Alice Holzhey-Kunz arbeitet seit 1975 als daseinsanalytische<br />
Psychotherapeutin in eigener Praxis<br />
in Zürich. Sie ist Präsidentin der Gesellschaft für hermeneutische<br />
Anthropologie und Daseinsanalyse GAD<br />
sowie Co-Leiterin des Daseinsanalytischen Seminars<br />
DaS Zürich. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Verbindung<br />
von Existenzphilosophie und Psychoanalyse sowie<br />
die theoretische Weiterentwicklung der Daseinsanalyse.<br />
Anschrift<br />
Dr. phil. Alice Holzhey-Kunz, Sonneggstrasse 82,<br />
8006 Zürich.<br />
alice.holzhey@bluewin.ch<br />
Résumé<br />
Pour l’analyste de l’existence Alice Holzhey-Kunz<br />
(Dr phil.), la notion de honte a une dimension qui va<br />
bien au-delà de la psychopathologie. S’appuyant sur<br />
l’analyse philosophique de l’existence de Jean-Paul<br />
Sartre, l’auteure décrit surtout la honte comme étant<br />
le pire sentiment que l’on puisse éprouver. Et cela notamment<br />
parce qu’en tant que «sentiment existentiel<br />
fondamental», elle est l’expression de cette vérité irréfutable<br />
qu’en tant que sujets sociaux, comme l’a relevé<br />
Sartre, nous sommes jetés dans la liberté de l’Autre et<br />
nous y sommes abandonnés.<br />
C’est dans ce contexte qu’Alice Holzhey-Kunz met en<br />
lumière les aspects sociogénétiques de l’expérience<br />
actuelle de la honte, où la pathologisation du sentiment<br />
de honte est accompagnée de l’augmentation<br />
de la pression sociale, qui nous renvoie une image de<br />
nous-mêmes toujours plus éhontée.<br />
<strong>11</strong>