PSC 4-11 - FSP
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DOSSIER: Scham<br />
PSYCHOSCOPE 4/20<strong>11</strong><br />
als bloss inszenierte, die zum Zweck eines erwünschten<br />
Darstellungseffektes eingesetzt wird.<br />
Wenn ich diesen Hang zu einer meist überhöhten<br />
Selbstinszenierung kritisch hinterfrage, dann übersehe<br />
ich nicht, dass viele, wenn nicht die meisten Menschen<br />
sich dabei nur einem immer stärker werdenden sozialen<br />
Druck unterwerfen. Konnte Wilhelm Busch noch spöttisch<br />
sagen «Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter<br />
kommt man ohne ihr», so gilt heute Bescheidenheit in<br />
der Selbstdarstellung nur noch als Dummheit, die man<br />
sich schlicht nicht mehr leisten kann. Das gilt vor allem<br />
bei Bewerbungen im beruflichen Bereich. Wer hier<br />
nicht zum gewieften bis schamlosen Verkäufer seiner<br />
selbst zu werden vermag, behindert seine eigene Karriere.<br />
Gewiss ist die dafür geforderte Schamlosigkeit<br />
weniger moralischer Art. Man könnte von narzisstischer<br />
Schamlosigkeit sprechen. Der gute Selbstverkäufer<br />
schmückt sich mit Kompetenzen und Qualifikationen,<br />
nicht weil er sie hat, sondern um einem<br />
Anforderungsprofil zu genügen und dadurch in der<br />
Konkurrenz mit anderen im Vorteil zu sein, doch hindert<br />
er niemanden daran, gleicherweise unverschämt<br />
vorzugehen. Darum mag man zwar angesichts von solchen<br />
Selfmarketings den Kopf schütteln, ja gar einen<br />
gewissen Ekel verspüren und sich darüber wundern,<br />
dass jede Scham verloren gegangen zu sein scheint,<br />
aber das führt kaum zur Empörung und zur Einforderung<br />
von Scham, eben weil es sich dabei nicht um ein<br />
moralisch schamloses Agieren im engeren Sinne handelt,<br />
wie dies nach dem heute vorherrschenden moralischen<br />
Empfinden für Banker gilt, die sich durch ungerechtfertigte<br />
Bonizahlungen masslos bereichern, oder<br />
für Priester, die Kinder sexuell ausbeuten.<br />
Die Soziogenese pathologischer Scham<br />
Je bedeutsamer, ja unumgänglicher die (schamlose)<br />
Selbstdarstellung für den sozialen Erfolg wird, umso<br />
mehr erhält Scham den Status eines pathologischen Phänomens.<br />
Als pathologisch gelten Gefühle immer dann,<br />
wenn sie ohne plausiblen Grund auftreten, wie beispielsweise<br />
Ängste, die man hat, ohne realiter bedroht zu sein,<br />
oder Schuldgefühle, die einen peinigen, obwohl man<br />
nicht unmoralisch gehandelt hat. Analogerweise sind<br />
Schamgefühle dann pathologisch, wenn man selber nicht<br />
weiss, wofür man sich eigentlich schämt. Es ist klar, dass<br />
irreale Gefühle den Alltag stören und eben darum auch<br />
als «Störungen» diagnostiziert werden. Bei der Scham<br />
kommt nun aber hinzu, dass ihr Auftreten heute per se –<br />
also unabhängig davon, ob man gute Gründe hätte, sich<br />
zu schämen – als unangemessen gilt, da sie eine gekonnte<br />
Selbstdarstellung zum Scheitern bringt. Scham ist<br />
nicht mehr nur jenes Gefühl, das einen wirklichen oder<br />
vermeintlichen Makel fühlbar macht, sondern ist selbst<br />
zu einem Makel geworden, den es unbedingt zu verheimlichen<br />
gilt. Das Schamgefühl ist also heute – anders als<br />
berechtigte Angst- oder Schuldgefühle – in jedem Fall<br />
ein Störfaktor, da es seine ehemals auch positive Bedeutung<br />
als Tugend und als Wert verloren hat. Es liegt<br />
deshalb nahe zu vermuten, dass mit dem gesellschaftlichen<br />
Druck zur schamlosen Selbstinszenierung auch<br />
das pathologische Symptom unangemessener Scham<br />
zunimmt – vergleichbar der Zunahme des Burnout als<br />
Folge des wachsenden Drucks zu exzessiver Leistungsfähigkeit.<br />
Burnout und pathologische Scham wären<br />
so gesehen Stressreaktionen, in denen sich Überforderung<br />
und heimlicher Widerstand gegen eine Zumutung<br />
verbinden, gegen die man anders nicht zu revoltieren<br />
wagt.<br />
Das Leiden an pathologischer Scham wird in der Regel<br />
diagnostisch der sozialen Phobie oder der Depression<br />
zugeordnet. Als Kernsymptom der sozialen Phobie gilt<br />
nach ICD-10 «die Furcht vor prüfender Betrachtung<br />
durch andere Menschen». Diese Formulierung ist auffällig.<br />
Würde man nicht viel eher erwarten, dass Menschen,<br />
die an Schamangst leiden, sich vor einer herablassenden<br />
oder spöttischen oder gar verächtlichen<br />
Betrachtung durch andere fürchten? Doch stattdessen<br />
fürchten sie die «prüfende» Betrachtung («scrutiny»).<br />
Ohnmacht vor dem Blick der Anderen<br />
Darin kommt zum Ausdruck, dass sie sich weniger davor<br />
fürchten, wie sie dem Blick des Anderen erscheinen,<br />
sondern dass sie überhaupt im Blick der Anderen<br />
stehen, dass der Blick des Anderen sich überhaupt auf<br />
sie richtet. Das bestätigt dann aber meine Auffassung,<br />
wonach seelisch Leidende besonders hellhörig oder<br />
hellsichtig sind für existenzielle Wahrheiten.<br />
Wer kennt nicht jene Stelle am Anfang der Bibel: «Und<br />
die beiden, der Mensch und sein Weib, waren nackt<br />
und schämten sich nicht.» Damit ist ein Urzustand vor<br />
der Scham angesprochen, der dadurch zu Ende geht,<br />
dass Adam und Eva verbotenerweise vom «Baum der<br />
Erkenntnis» essen.<br />
Wenn wir nun fragen, welche Erkenntnis dem noch<br />
schamfreien Urzustand ein Ende setzt, dann ist es<br />
die Entdeckung, als Mensch immer im Blick des anderen<br />
Menschen zu stehen und insofern «nackt» zu<br />
sein. Gemeint ist damit keineswegs nur die Nacktheit<br />
des Körpers, sondern jene Nacktheit, die durch keine<br />
schamhafte Bedeckung und durch keine schamlose<br />
Selbstinszenierung verhüllbar ist, weil es der Andere<br />
ist, der einen durch seinen Blick nackt werden lässt.<br />
Eben diese Wahrheit können soziophobe Menschen<br />
nicht verleugnen, sie können sich diesbezüglich nichts<br />
vormachen und fühlen sich darum immer schon nackt,<br />
wenn sie den Blick Anderer auf sich gerichtet wissen,<br />
ganz unabhängig davon, ob sie sich konkret eine Blösse<br />
gegeben haben oder nicht.