Staatsstrukturprinzipien - Alpmann Schmidt
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RÜ 4/2012<br />
Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 GG; § 4 NiSG<br />
Sonnenstudioverbot für Minderjährige<br />
BVerfG, Beschl. v. 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10<br />
Leitsätze<br />
1. § 4 NiSG, der es den Betreibern von<br />
Sonnenstudios verbietet, Minderjährigen<br />
die Nutzung zu gestatten, ist verfassungsgemäß.<br />
2. Zwar greift das an die Betreiber von<br />
Sonnenstudios gerichtete Verbot nicht<br />
unmittelbar in die Handlungsfreiheit der<br />
Minderjährigen ein, es wirkt sich aber im<br />
Ergebnis auch für Minderjährige wie ein<br />
Verbot aus und stellt daher ein „funktionales<br />
Äquivalent“ eines Eingriffs dar.<br />
3. Es stellt grundsätzlich ein legitimes<br />
Gemeinwohlanliegen dar, Menschen davor<br />
zu bewahren, sich selbst leichtfertig<br />
einen größeren persönlichen Schaden<br />
zuzufügen.<br />
(Leitsätze des Bearbeiters)<br />
Z.B. wird dem 14-jährigen die „Religionsmündigkeit“<br />
zuerkannt wegen § 5 des<br />
Gesetzes über die religiöse Kindererziehung,<br />
wonach einem Kind nach der Vollendung<br />
des vierzehnten Lebensjahres<br />
die Entscheidung darüber zusteht, zu<br />
welchem religiösen Bekenntnis es sich<br />
halten will (vgl. BVerwG RÜ 2012, 182,<br />
184).<br />
Fall<br />
Rechtsprechung<br />
Am 04.08.2009 trat die Vorschrift des § 4 des Gesetzes zum Schutz vor nichtionisierender<br />
Strahlung bei der Anwendung am Menschen (NiSG) in Kraft: „Die<br />
Benutzung von Anlagen nach § 3 zur Bestrahlung der Haut mit künstlicher<br />
ultravioletter Strahlung in Sonnenstudios, ähnlichen Einrichtungen oder sonst<br />
öffentlich zugänglichen Räumen darf Minderjährigen nicht gestattet werden."<br />
Zur Begründung führt der Gesetzgeber an, das Risiko, im Erwachsenenalter an<br />
Hautkrebs zu erkranken, steige, wenn Menschen bereits in Kindheit und Jugend<br />
verstärkt der ultravioletten Strahlung (UV-Strahlung) ausgesetzt gewesen seien.<br />
Die 16-jährige Schülerin S nutzt gelegentlich öffentliche Solarien und sieht<br />
sich durch die Verbotsregelung in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt.<br />
Das GG verpflichte niemanden dazu, gesund oder vernünftig zu leben.<br />
Zudem sei das Verbot ungeeignet, da sich Minderjährige, die ein Solarium<br />
nicht nutzen dürften, verstärkt der natürlichen UV-Strahlung der Sonne aussetzen<br />
würden. Zudem hätte die UV-Strahlung bekanntermaßen auch positive<br />
Effekte, z.B. hinsichtlich der Bildung von Vitamin D. Die Eltern M und V<br />
rügen die Verletzung ihres Elterngrundrechts, weil der nach ihrer Ansicht unverhältnismäßige<br />
Eingriff sie daran hindere, ihrer Tochter die Solariennutzung<br />
zu erlauben. Haben die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden<br />
Erfolg?<br />
Hinweis: Das NiSG ist formell verfassungsgemäß.<br />
Entscheidung<br />
Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.<br />
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde<br />
I. Das BVerfG ist gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 13 Nr. 8 a BVerfGG zuständig<br />
für die Entscheidung über Individualverfassungsbeschwerden.<br />
II. Beteiligtenfähig ist nach § 90 Abs. 1 BVerfGG jedermann, d.h., jeder, der fähig<br />
ist, Grundrechtsträger zu sein. Sowohl S als auch die Eltern M und V sind als<br />
natürliche Personen Träger von Grundrechten und daher beteiligtenfähig.<br />
III. Hinsichtlich der 16-jährigen S ist fraglich, ob diese prozessfähig ist. In Ermangelung<br />
von Vorschriften im BVerfGG ist ein Minderjähriger prozessfähig,<br />
wenn er auch grundrechtsmündig ist. Dabei wird allgemein nicht auf eine<br />
starre Altersgrenze abgestellt; vielmehr hängt die Grundrechtsmündigkeit von<br />
der Einsichtsfähigkeit hinsichtlich der Tragweite des konkreten Grundrechts<br />
ab (Theorie der flexiblen Altersgrenze). Dabei ergeben sich Indizien aus Altersgrenzen<br />
im GG selbst oder in einfachen Gesetzen.<br />
1. Hinsichtlich des möglicherweise betroffenen Grundrechts der allgemeinen<br />
Handlungsfreiheit der S (Art. 2 Abs. 1 GG) ist davon auszugehen, dass ein Minderjähriger<br />
eher nicht die volle Tragweite und Bedeutung der Handlungsfreiheit<br />
überblicken kann. Daher ist davon auszugehen, dass die 16-jährige S nicht<br />
selbst grundrechtsmündig und damit nicht prozessfähig ist.<br />
2. Für S handeln daher die Eltern M und V als gesetzliche Vertreter.