31.10.2012 Aufrufe

Staatsstrukturprinzipien - Alpmann Schmidt

Staatsstrukturprinzipien - Alpmann Schmidt

Staatsstrukturprinzipien - Alpmann Schmidt

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Rechtsprechungs<br />

Übersicht<br />

H 5354 E<br />

Mit AS-Poster<br />

<strong>Staatsstrukturprinzipien</strong><br />

IHRE EXAMENSFÄLLE VON MORGEN<br />

BGH Beschädigung von Sachen des Bestellers bei der Erstellung<br />

eines Werks<br />

BGH Haftung der Bahn für glatten Bahnsteig<br />

BGH Kein unmittelbarer Anspruch des Käufers auf Ersatz der Ausbaukosten<br />

einer mangelhaften Sache<br />

BGH Fehlerhafte Ankaufsuntersuchung beim Pferdekauf<br />

BGH Einziehung von Schadensersatzansprüchen durch Mietwagenunternehmer<br />

BAG Kündigung des Chefarztes einer katholischen Klinik wegen<br />

Wiederverheiratung<br />

BGH Wiederholte Korrektur des Rücktrittshorizonts zuungunsten des<br />

Täters nur bei engstem Zusammenhang zur Tathandlung<br />

BGH, OLG Celle Erwirkung eines Mahnbescheides mittels falscher Angaben<br />

BGH Absolute Unverwertbarkeit abgehörter Selbstgespräche<br />

OVG Berlin- Kein Anspruch eines Privaten auf Aufhebung der Immunität<br />

Brandenburg eines Abgeordneten<br />

BVerfG Sonnenstudioverbot für Minderjährige<br />

BayVGH Kein Anspruch auf Beibehaltung der Hausnummer<br />

BayVGH Rechtswidrigkeit des mehrstündigen Festhaltens in einem<br />

Polizeibus<br />

Seiten 205–272<br />

ISSN 0178-0689<br />

Herausgeber: Josef <strong>Alpmann</strong>, Annegerd <strong>Alpmann</strong>-Pieper, Dr. Rolf Krüger, Horst Wüstenbecker<br />

ALPMANN SCHMIDT Juristische Lehrgänge Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG<br />

4/12


Zivilrecht<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

BGH, Urt. v. 08.12.2011 – VII ZR 198/10<br />

§§ 280, 281 BGB<br />

Beschädigung von Sachen des Bestellers bei der Erstellung eines Werks 205<br />

BGH, Urt. v. 17.01.2012 – X ZR 59/11<br />

§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 278 BGB<br />

Haftung der Bahn für glatten Bahnsteig 208<br />

BGH, Urt. v. 21.12.2011 – VIII ZR 70/08<br />

§ 439 BGB<br />

Kein unmittelbarer Anspruch des Käufers auf Ersatz der Ausbaukosten einer mangelhaften Sache 211<br />

BGH, Urt. v. 26.01.2012 – VII ZR 164/11<br />

§§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 BGB<br />

Fehlerhafte Ankaufsuntersuchung beim Pferdekauf 217<br />

BGH, Urt. v. 31.01.2012 – VI ZR 143/11<br />

§ 134 BGB; §§ 2, 3, 5 RDG<br />

Einziehung von Schadensersatzansprüchen durch Mietwagenunternehmer 221<br />

BAG, Urt. v. 08.09.2011 – 2 AZR 543/10<br />

§ 1 KSchG, §§ 1, 7, 9 AGG<br />

Kündigung des Chefarztes einer katholischen Klinik wegen Wiederverheiratung 225<br />

Strafrecht<br />

BGH, Urt. v. 01.12.2011 – 3 StR 337/11<br />

§§ 22, 23, 24, 212 StGB<br />

Wiederholte Korrektur des Rücktrittshorizonts zuungunsten des Täters nur bei engstem<br />

Zusammenhang zur Tathandlung 231<br />

BGH, Beschl. v. 20.12.2011 – 4 StR 491/11<br />

OLG Celle, Beschl. v. 01.11.2011 – 31 Ss 29/11<br />

§ 263 StGB; §§ 138, 691 ZPO<br />

Erwirkung eines Mahnbescheides mittels falscher Angaben 234<br />

BGH, Urt. v. 22.12.2011 – 2 StR 509/10<br />

Art. 1, 2 GG; § 100 f StPO<br />

Absolute Unverwertbarkeit abgehörter Selbstgespräche 237<br />

Aktuelle Diskussion<br />

Notwehr im Showdown 240<br />

Das „mitgeführte“ gefährliche Werkzeug 242<br />

Öffentliches Recht<br />

OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 26.09.2011 – 3 a B 5.11<br />

Art. 3 Abs. 1; 38 Abs. 1 S. 2; 46 Abs. 2 GG; § 40 VwGO; § 17a Abs. 5 GVG; § 383 StPO<br />

Kein Anspruch eines Privaten auf Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten 243<br />

BVerfG, Beschl. v. 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10<br />

Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 GG; § 4 NiSG<br />

Sonnenstudioverbot für Minderjährige 248


Inhaltsverzeichnis<br />

BayVGH, Urt. v. 06.12.2011 – 8 ZB 11.1676<br />

Art. 2 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG, § 126 Abs. 3 BauGB<br />

Kein Anspruch auf Beibehaltung der Hausnummer 252<br />

BayVGH, Urt. v. 27.01.2012 – 10 B 08.2849<br />

Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 u. Abs. 2, Art. 19 Abs. 4 GG; § 17 a GVG; Polizeirecht<br />

Rechtswidrigkeit des mehrstündigen Festhaltens in einem Polizeibus 256<br />

Repetitorium<br />

<strong>Staatsstrukturprinzipien</strong> in der Klausur 261<br />

Check 269<br />

Impressum<br />

RÜ-RechtsprechungsÜbersicht<br />

Redaktion: <strong>Alpmann</strong> und <strong>Schmidt</strong>, Juristische Lehrgänge,<br />

Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Annette-Allee 35, 48149 Münster,<br />

Tel. (0251) 98109-0, Fax (0251) 98109-60<br />

Verantwortliche Redakteure: Josef <strong>Alpmann</strong>, Annegerd <strong>Alpmann</strong>-<br />

Pieper, Dr. Rolf Krüger, Horst Wüstenbecker<br />

Autoren: Zivilrecht: RA Josef <strong>Alpmann</strong>, RAin u. Notarin Annegerd<br />

<strong>Alpmann</strong>-Pieper, RAin Claudia Haack, RA Dr. Timm Nissen, RA Dr.<br />

Thomas Roßmann, RA Dr. Till Veltmann; Strafrecht: Vors. RiLG Olaf<br />

Klimke, RA/FAStR Dr. Rolf Krüger, StA Dr. Matthias Modrey, RiLG Dr.<br />

Hans-Wilhelm Oymann, StA Dr. Patrick Rieck, RA Dr. Wilhelm-Friedrich<br />

Schneider, RA Christian Sommer, StA Dr. Martin Soyka; Öffent liches<br />

Recht: RA Ralf Altevers, RA Robert Gründer, RA Frank Hansen, RA<br />

Thomas Müller, RA Horst Wüstenbecker<br />

Urheber- und Verlagsrechte: Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten<br />

Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere<br />

die der Übersetzung in fremde Sprachen, sind vorbehalten. Kein<br />

Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages<br />

in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilme oder andere<br />

Verfahren – reproduziert, gespeichert oder in eine von Maschinen,<br />

insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache<br />

übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag,<br />

Funk- und Fernsehsendung, im Magnettonverfahren oder auf ähnlichem<br />

Wege bleiben vorbehalten.<br />

Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch<br />

dür fen nur von einzelnen Beiträgen und Teilen daraus als Einzelkopien<br />

hergestellt werden.<br />

Die Verlagsrechte erstrecken sich auch auf die veröffentlichten Gerichtsentscheidungen<br />

und deren Leitsätze, die urheberrechtlichen<br />

Schutz genießen, soweit sie vom Einsender oder von der Schriftleitung<br />

redigiert bzw. erarbeitet sind.<br />

Verlag: <strong>Alpmann</strong> und <strong>Schmidt</strong>, Juristische Lehrgänge,<br />

Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Annette-Allee 35, 48149 Münster,<br />

Postfach 1169, 48001 Münster, Tel. (0251) 98109-0, Fax (0251) 98109-60<br />

Internet: www.alpmann-schmidt.de<br />

E-Mail: as.info@alpmann-schmidt.de<br />

ISSN 0178-0689<br />

Druck: Media Cologne GmbH, Luxemburger Straße 96, 50354 Hürth<br />

Erscheinungsweise: monatlich zum Monatsbeginn.<br />

Bezugspreis: vierteljährlich 17,10 € (3 Hefte – inkl. 7% MwSt). Versandkosten<br />

sind im Preis enthalten. Zahlungen sind vierteljährlich im<br />

Voraus fällig.<br />

Einzelheft: 6,90 € (inkl. 7% MwSt), Versandkosten zzgl.<br />

Bestellungen: nehmen jede Buchhandlung und der Verlag entgegen.<br />

Abbestellungen: müssen 6 Wochen zum Quartalsende vorliegen.


§§ 280, 281 BGB<br />

Rechtsprechung<br />

RÜ 4/2012<br />

Beschädigung von Sachen des Bestellers bei der Erstellung<br />

eines Werks<br />

BGH, Urt. v. 08.12.2011 – VII ZR 198/10<br />

Fall<br />

Die Klägerin verlangt Werklohn für Trocknungsarbeiten anlässlich eines von<br />

der Beklagten verursachten Wasserschadens. Die Parteien streiten darüber, ob<br />

die Beklagte mit einem Schadensersatzanspruch aufrechnen kann.<br />

Die Beklagte führte im Rahmen der Errichtung eines Alten- und Pflegeheimes<br />

Installationsarbeiten aus. Nachdem es zu einem Wasserschaden gekommen<br />

war, beauftragte sie im Juli 2008 die Klägerin mit den Trocknungsarbeiten. Zur<br />

Trocknung des Fußbodenaufbaus (schwimmender Estrich auf Betondecken)<br />

schnitt die Klägerin in den gefliesten Bädern die Silikonfugen sowie die dahinter<br />

befindliche Dichtungsschicht zwischen Fußboden und aufgehenden<br />

Wänden auf. Über die geöffneten Randfugen strömte in die Dämmschichten<br />

trockene Luft, die die Klägerin durch ein jeweils im Zentrum des Raumes in<br />

den gefliesten Fußboden gebohrtes Loch wieder absaugte. Die Trocknungsarbeiten<br />

waren erfolgreich. Der Klägerin steht ein Werklohn von 62.453,77 € zu.<br />

Zur Trocknung war das komplette Aufschneiden der Silikonfugen nicht erforderlich,<br />

es hätte ausgereicht, in den Bädern an jeder Ecke die Bodenfliesen zu<br />

durchbohren. Die Beklagte rechnet mit den Kosten für die Wiederherstellung<br />

fachgerechter Fugen zwischen Fußboden und aufgehenden Wänden i.H.v.<br />

31.440,77 € als Schadensersatzanspruch auf.<br />

Besteht der von der Beklagten geltend gemachte Schadensersatzanspruch?<br />

Entscheidung<br />

I. Der Beklagten kann gegen die Klägerin ein Schadensersatzanspruch aus<br />

§§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 u. 3, 281 BGB zustehen.<br />

1. Dann müssten die Parteien einen Werkvertrag abgeschlossen haben. Gemäß<br />

§ 631 Abs. 2 BGB ist der Werkvertrag auf einen herbeizuführenden Erfolg<br />

gerichtet. Die Klägerin ist damit beauftragt worden, den Fußbodenaufbau in<br />

dem Alten- und Pflegeheim zu trocknen. Die Parteien haben damit einen Werkvertrag<br />

geschlossen.<br />

2. Das von der Klägerin hergestellte Werk müsste mangelhaft sein.<br />

Da die Trocknungsarbeiten erfolgreich waren, hat die Klägerin ihre Verpflichtung<br />

zur Herstellung des Werks aus § 631 Abs. 1, 1. Halbs. BGB erfüllt.<br />

Gemäß § 633 Abs. 1 BGB war die Klägerin weiterhin verpflichtet, das Werk frei<br />

von Sach- und Rechtsmängeln zu erstellen. Eine Beschaffenheitsvereinbarung<br />

i.S.d. § 633 Abs. 2 S. 1 BGB haben die Parteien nicht getroffen. Auch die vertraglich<br />

vorausgesetzte Beschaffenheit ist eingehalten (§ 633 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 BGB),<br />

weil der Fußbodenaufbau trocken ist. Die Art und Weise der Herstellung gehört<br />

nicht zur Beschaffenheit des Werks. Das Werk – die Trocknung – eignet<br />

sich auch für die gewöhnliche Verwendung i.S.d. § 633 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BGB.<br />

Das von der Klägerin hergestellte Werk ist nicht mangelhaft. Der Werkvertrag<br />

ist auf die Herstellung eines Erfolgs gerichtet und dieser Erfolg ist hier uneingeschränkt<br />

und damit mangelfrei eingetreten.<br />

Leitsatz<br />

Wählt ein Unternehmer, der nach einem<br />

Wasserschaden in einem Gebäude damit<br />

beauftragt ist, den Fußbodenaufbau<br />

zu trocknen, und zu diesem Zweck den<br />

Fliesenbelag öffnen muss, eine Trocknungsmethode,<br />

die zu größeren Schäden<br />

am Gebäude als erforderlich führt,<br />

ist der Schadensersatzanspruch des Bestellers<br />

nicht davon abhängig, dass er<br />

dem Unternehmer eine Frist zur Nacherfüllung<br />

gesetzt hat.<br />

205


206<br />

RÜ 4/2012<br />

Rechtsprechung<br />

Ein Anspruch aus §§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 u. 3, 281 BGB besteht nicht.<br />

II. Ein Anspruch der Beklagten gegen die Klägerin auf Schadensersatz kann<br />

sich aus § 280 Abs. 1 BGB ergeben.<br />

1. Mit dem Werkvertrag besteht zwischen den Parteien ein Schuldverhältnis.<br />

2. Die Klägerin müsste eine Pflicht verletzt haben. Nach § 241 Abs. 2 BGB besteht<br />

die Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf die Rechtsgüter des Vertragspartners.<br />

Diese Pflicht hat die Klägerin verletzt, indem sie eine Trocknungsmethode<br />

gewählt hat, die zu größeren Schäden am Gebäude führt, als für die<br />

Trocknung erforderlich war.<br />

„[9] Handelt es sich, wie das Berufungsgericht und die Revisionserwiderung meinen,<br />

um die Verletzung einer Schutzpflicht im Sinne von § 241 Abs. 2 BGB, folgt der<br />

Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB. Er setzt eine Fristsetzung nicht voraus<br />

und steht der Beklagten ohne weiteres zu.<br />

[10] 3. Geht man davon aus, dass es sich um die Verletzung einer Leistungspflicht<br />

handelt und das von der Klägerin geschuldete Werk mangelhaft war, scheitert der<br />

Schadensersatzanspruch der Beklagten nicht daran, dass eine Frist zur Mängelbeseitigung<br />

nicht gesetzt worden ist. Denn eine solche Fristsetzung war entbehrlich,<br />

weil der geltend gemachte Schaden durch eine Nacherfüllung nicht mehr beseitigt<br />

werden konnte.<br />

[11] a) Die Klägerin war von der Beklagten beauftragt worden, den Fußboden in<br />

den von dem Wasserschaden betroffenen Bädern zu trocknen. Die Durchführung<br />

der Trocknung, das Zu- und Abführen von Luft im Fußbodenbereich, setzte dabei<br />

zwingend voraus, dass der Fliesenbelag geöffnet wurde. Diese von der Klägerin<br />

vorzunehmenden Eingriffe in die Bausubstanz waren nach den Feststellungen des<br />

Berufungsgerichts unvermeidlich. Besondere Vereinbarungen über die Art dieser<br />

Eingriffe hatten die Parteien nicht getroffen. Die Klägerin schuldete daher nach<br />

allgemeinen Auslegungsgrundsätzen eine Maßnahme, die einerseits für eine effiziente<br />

Trocknung geeignet war und die andererseits möglichst geringe Eingriffe in<br />

die Bausubstanz erforderte. Diese schonendste Maßnahme hätte hier darin bestanden,<br />

in den Bädern in jeder Ecke die Bodenfliesen zu durchbohren. Die von der<br />

Klägerin gewählte und ausgeführte Methode führte demgegenüber zu größeren<br />

Schäden, insbesondere zu der Durchtrennung der Feuchtigkeitsschutzfolie.<br />

[12] b) Der Schaden, den die Beklagte durch diese Vorgehensweise der Klägerin erlitten<br />

hat, kann durch eine Nacherfüllung nicht mehr beseitigt werden. Die Pflichtverletzung<br />

der Klägerin besteht in der Wahl einer die Bausubstanz mehr als notwendig<br />

schädigenden Trocknungsmaßnahme. Sie kann nicht dadurch ungeschehen<br />

gemacht und der entstandene Schaden beseitigt werden, dass die ordnungsgemäße<br />

Erfüllungsleistung – das Öffnen des Bodens in den vier Ecken der Bäder –<br />

nachgeholt wird. Der Zweck der Fristsetzung, dem Unternehmer eine letzte Gelegenheit<br />

einzuräumen, das noch mit Mängeln behaftete Werk in den vertragsgemäßen<br />

Zustand zu versetzen, ehe an deren Stelle die ihn finanziell regelmäßig<br />

mehr belastenden anderen Mängelansprüche treten, war hier nicht mehr zu erreichen.<br />

Der Bundesgerichtshof hat zum alten Schuldrecht bereits entschieden, dass<br />

bei einer derartigen Sachlage die Setzung einer Frist zur Nachbesserung nicht in<br />

Betracht kommt (Urteil vom 7. November 1985 – VII ZR 270/83, BGHZ 96, 221, 226;<br />

vgl. auch Urteil vom 16. Oktober 1984 – X ZR 86/83, BGHZ 92, 308, 310). Daran hat<br />

sich durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts nichts geändert.“<br />

3. Die Klägerin hat sich nicht gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 BGB entlastet.<br />

4. Sie ist verpflichtet, den durch die Pflichtverletzung entstandenen Schaden<br />

zu ersetzen.


Rechtsprechung<br />

Der BGH argumentiert anders als die hier vertretene Lösung. Das hat seinen<br />

Grund in dem Verfahrensablauf. Das Berufungsgericht hat – wie in der obigen<br />

Lösung – die Verletzung einer Rücksichtnahmepflicht und einen Anspruch aus<br />

§ 280 Abs. 1 BGB bejaht. Die Revision hat dagegen vorgetragen, dass das von<br />

der Klägerin geschuldete Werk mangelhaft gewesen sei. Ein Anspruch der Beklagten<br />

gegen die Klägerin bestehe nicht, da der Klägerin keine Frist zur Nacherfüllung<br />

gesetzt worden war. Für die Zurückweisung der Revision waren<br />

mehrere Begründungswege möglich. Der Senat konnte die Ansicht des Berufungsgerichts<br />

bestätigen. Er konnte sich aber auch die Ansicht der Revision<br />

teilweise zu eigen machte und unterstellen, dass das von der Klägerin geschuldete<br />

Werk mangelhaft war. Auch in diesem Fall wäre eine Fristsetzung zur<br />

Nacherfüllung entbehrlich, weil der geltend gemachte Schaden durch eine<br />

Nacherfüllung nicht mehr beseitigt werden konnte. Der Senat hat die letztere<br />

Begründung gewählt. In einem Revisionsurteil ist eine solche Argumentation<br />

zulässig – in einer Klausur nicht. In einem Klausurgutachten darf man nicht<br />

offenlassen, ob ein Gewährleistungsanspruch aus §§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 u. 3.<br />

281 BGB besteht, wenn das Werk (relativ offensichtlich) nicht mangelhaft ist<br />

und kein Schadensersatz statt der Leistung verlangt wird.<br />

Im vorliegenden Fall werden Sachen des Bestellers bei der Herstellung des<br />

Werkes beschädigt. Eine vergleichbare Konstellation, nämlich die Beschädigung<br />

von Sachen des Bestellers bei der Nachbesserung, ist schon häufiger<br />

entschieden worden – leider nur vor der Schuldrechtsreform. Dabei hat der<br />

BGH ausgeführt, dass der Schadensersatzanspruch des Bestellers in diesem<br />

Fall nicht an die Stelle der ursprünglichen Erfüllungsleistung tritt. Er bestehe<br />

vielmehr von vornherein neben dem Nachbesserungsanspruch und werde<br />

weder durch die Erfüllung noch durch die Nichterfüllung des Nachbesserungsanspruchs<br />

berührt (BGH, Urt. v. 07.11.1985 – VII ZR 270/83, BGHZ 96, 221,<br />

277; BGH, Urt. v. 16.10.1984 – X ZR 86/83, BGHZ 92, 308, 310). Beide Entscheidungen<br />

zitiert auch der VII. Senat in dem vorliegenden Urteil (Rdnr. 12 a.E.). Es<br />

hätte daher nahegelegen, das Urteil des Berufungsgerichts in seiner Begründung<br />

zu bestätigen und einen Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs.1 BGB<br />

mit der Verletzung einer Pflicht zur Rücksichtnahme zu begründen.<br />

Josef <strong>Alpmann</strong><br />

RÜ 4/2012<br />

207


208<br />

RÜ 4/2012<br />

§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 278 BGB<br />

Haftung der Bahn für glatten Bahnsteig<br />

BGH, Urt. v. 17.01.2012 – X ZR 59/11<br />

Leitsätze<br />

a) Auch nach der rechtlichen Trennung<br />

von Fahrbetrieb und Infrastruktur durch<br />

das Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens<br />

vom 27. Dezember 1993<br />

(BGBl. I S. 2378, 1994 I S. 2439) ist ein Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />

aufgrund<br />

eines Beförderungsvertrags verpflichtet,<br />

diejenigen Bahnanlagen wie Bahnhöfe<br />

und Bahnsteige, die der Fahrgast vor und<br />

nach der Beförderung benutzen muss,<br />

verkehrssicher bereitzustellen. Wird diese<br />

vertragliche Nebenpflicht schuldhaft verletzt,<br />

haftet das Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />

gemäß § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2<br />

BGB.<br />

b) Werden die Bahnanlagen, die der Fahrgast<br />

für den Zu- und Abgang benutzen<br />

muss, durch ein Eisenbahninfrastrukturunternehmen<br />

bereitgestellt, bedient sich<br />

das Eisenbahnverkehrsunternehmen des<br />

Infrastrukturunternehmens als Erfüllungsgehilfen<br />

und hat dessen Verschulden in<br />

gleichem Umfang zu vertreten wie ein<br />

eigenes Verschulden (§ 278 BGB).<br />

§ 9 Abs. 3 lit. b) EVO<br />

(Eisenbahnverkehrsordnung)<br />

Der Reisende ist verpflichtet, Fahrausweise<br />

und sonstige Karten nach Beendigung<br />

der Fahrt bis zum Verlassen des<br />

Bahnsteigs einschließlich der Zu- und<br />

Abgänge aufzubewahren.<br />

§ 10 EVO<br />

Der Tarif kann bestimmen, dass Bahnsteige<br />

nur mit gültigem Fahrausweis betreten<br />

werden dürfen.<br />

§ 1 Abs. 1 HaftpflG<br />

Wird bei Betrieb einer Schienenbahn<br />

oder einer Schwebebahn ein Mensch<br />

getötet, der Körper oder die Gesundheit<br />

eines Menschen verletzt oder eine Sache<br />

beschädigt, so ist der Betriebsunternehmer<br />

den Geschädigten zum Ersatz des<br />

daraus entstehenden Schadens verpflichtet.<br />

Fall<br />

Rechtsprechung<br />

Die Klägerin begehrt von der Deutschen Bahn AG Schadensersatz wegen eines<br />

Sturzes aufgrund von Glatteis auf einem Bahnsteig. Die Klägerin erwarb<br />

bei der Deutschen Bahn AG einen Fahrausweis für eine Fahrt mit dem ICE von<br />

Solingen nach Dresden. Am 05.03.2006 stürzte die Klägerin auf dem Weg zum<br />

Zug auf dem Bahnsteig 1 des Bahnhofs Solingen-Ohligs (heute Solingen Hauptbahnhof)<br />

und verletzte sich dabei. Eigentümerin des Bahnhofs ist nicht die Beklagte,<br />

sondern die DB Station & Service AG, die der Deutschen Bahn AG die<br />

Benutzung des Bahnhofs vertraglich gestattet hatte. Steht der Klägerin ein Anspruch<br />

gegen die Deutsche Bahn AG zu?<br />

Entscheidung<br />

I. Die Klägerin könnte gegen die Deutsche Bahn AG einen Anspruch auf<br />

Schadensersatz gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB haben.<br />

1. Schuldverhältnis<br />

Zwischen der Klägerin und der Deutschen Bahn AG müsste im Zeitpunkt des<br />

schädigenden Ereignisses ein Schuldverhältnis bestanden haben. Die Klägerin<br />

hatte bei der Deutschen Bahn AG einen Fahrschein für eine Fahrt mit dem ICE<br />

gekauft und somit mit der Bahn einen Beförderungsvertrag geschlossen. Mithin<br />

bestand zwischen den Parteien ein vertragliches Schuldverhältnis.<br />

2. Pflichtverletzung<br />

Die Deutsche Bahn AG müsste ferner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis<br />

verletzt haben. Fraglich ist insoweit, ob ein Beförderungsunternehmen verpflichtet<br />

ist, für die Sicherheit der Fahrgäste auch auf den nicht selbst bewirtschafteten<br />

Bahnsteigen zu sorgen:<br />

„[10] 2. Ein Eisenbahnverkehrsunternehmen ist aufgrund eines Personenbeförderungsvertrags<br />

verpflichtet, die Beförderung so durchzuführen, dass der Fahrgast<br />

keinen Schaden erleidet. Dies betrifft zunächst den eigentlichen Beförderungsvorgang<br />

zwischen Ein- und Aussteigen. Ein Eisenbahnverkehrsunternehmen ist<br />

aufgrund eines Beförderungsvertrags darüber hinaus aber auch verpflichtet,<br />

dem Fahrgast einen sicheren Zu- und Abgang zu ermöglichen. Wird diese<br />

vertragliche Nebenpflicht schuldhaft verletzt, haftet das Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />

gemäß § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB.<br />

[11] a) Vor der Eisenbahnstrukturreform war in der Rechtsprechung anerkannt,<br />

dass das Eisenbahnunternehmen aufgrund des Beförderungsvertrags verpflichtet<br />

ist, für einen sicheren Zugang und Abgang des Fahrgastes zu sorgen, insbesondere<br />

von ihm bereitgestellte Anlagen wie Bahnsteige, die der Fahrgast vor und nach der<br />

Beförderung benutzen muss, verkehrssicher zu halten … Hieran hat sich durch die<br />

rechtliche Trennung von Fahrbetrieb und Infrastruktur durch das Gesetz zur Neuordnung<br />

des Eisenbahnwesens (ENeuOG) vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2378,<br />

1994 I S. 2439) nichts geändert.<br />

[12] b) Mit der rechtlichen Trennung von Fahrbetrieb und Infrastruktur wurden<br />

diese Teilbereiche dauerhaft verselbständigt und den einzelnen Bahnbetriebsunternehmern<br />

ein jeweils eigenständiger Gefahrenkreis zugeordnet, für den jeder im


Rechtsprechung<br />

Verhältnis der Bahnbetriebsunternehmer untereinander eigenständig die Verantwortung<br />

trägt (…). Trotz dieser Trennung verfügen Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />

und Eisenbahninfrastrukturunternehmen aber gemeinsam über den Eisenbahnbetrieb;<br />

ein reibungsloser Bahnverkehr ist nur durch ihr Zusammenwirken zu<br />

erreichen. Inhalt und Umfang der aus einem Eisenbahnbeförderungsvertrag folgenden<br />

Pflichten sind deshalb selbständig zu bestimmen. Die vertraglichen Nebenpflichten<br />

der Parteien eines Eisenbahnbeförderungsvertrags beschränken<br />

sich nicht auf die Zeit zwischen Ein- und Aussteigen, sondern umfassen<br />

die gesamte Abwicklung der Beförderung, d.h. auch die notwendige Benutzung<br />

der Eisenbahninfrastruktur, die der eigentlichen Beförderungsleistung<br />

vorangeht oder ihr nachfolgt. ….<br />

[13] c) Zu den vertraglichen Nebenpflichten des Eisenbahnverkehrsunternehmens,<br />

die bei der Abwicklung des Beförderungsvertrags bestehen, gehört die<br />

Pflicht, für einen sicheren Zu- und Abgang des Fahrgastes zu sorgen. Der Umfang<br />

vertraglicher Schutzpflichten bestimmt sich nach dem Inhalt des Schuldverhältnisses<br />

(§ 241 Abs. 2 BGB). Eine Schutzpflicht entsteht vor allem dann, wenn die<br />

Vertragsparteien dem anderen Teil im Rahmen des Vertrags eine gesteigerte<br />

Einwirkung auf ihre Belange gestatten und daher in einem höheren Maß<br />

als sonst auf die Wahrung und den Schutz ihrer Rechtsgüter durch den anderen<br />

Teil vertrauen oder zu vertrauen gezwungen sind (…). Dies ist im Rahmen<br />

eines Eisenbahnbeförderungsvertrags nicht nur während der Durchführung<br />

der eigentlichen Beförderung der Fall, sondern während der gesamten Abwicklung.<br />

Der Fahrgast muss zur Durchführung der vertragsgemäßen Beförderung die<br />

besonderen Bahnanlagen wie Bahnhöfe und Bahnsteige benutzen. Diese Nutzung<br />

erfolgt nicht nur bei Gelegenheit der Durchführung des Eisenbahnbeförderungsvertrags,<br />

sondern wird von diesem umfasst. Auch Bahnanlagen, die den Zuund<br />

Abgang ermöglichen, dienen der Abwicklung des Reiseverkehrs, § 4 Abs. 1<br />

Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) vom 8. Mai 1967 (BGBl. II S. 1563).<br />

Durch die Nutzung der besonderen Bahnanlagen ist der Fahrgast den damit einhergehenden<br />

Gefahren in besonderem Maß ausgesetzt. Hiermit geht die Pflicht<br />

des Eisenbahnverkehrsunternehmens einher, den Fahrgast vor diesen Gefahren<br />

zu schützen und Bahnanlagen, die der Fahrgast vor und nach der Beförderung benutzen<br />

muss, verkehrssicher bereitzustellen.<br />

[14] … Das Eisenbahnverkehrsunternehmen bedient sich des Eisenbahninfrastrukturunternehmens,<br />

das die Infrastruktur der Personenbahnhöfe und<br />

damit die notwendigerweise vom Fahrgast zu benutzenden Bahnanlagen<br />

bereitstellt, als Erfüllungsgehilfen bei der Abwicklung eines Beförderungsvertrags<br />

(…). Die unternehmerische Selbständigkeit des Infrastrukturunternehmens<br />

steht seiner Eigenschaft als Erfüllungsgehilfe nicht entgegen (BGH, Urteil<br />

vom 30. März 1988 I ZR 40/86, NJW 1988, 1907, 1908). Das Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />

kann deswegen den Fahrgast bei einer Schädigung infolge nicht verkehrssicher<br />

gehaltener, für die Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen notwendiger<br />

Bahnanlagen nicht auf deliktische Ansprüche gegen Dritte verweisen,<br />

sondern hat ein etwaiges Verschulden des Eisenbahninfrastrukturunternehmens<br />

und im Fall der Übertragung der Verkehrssicherungspflichten auf weitere Dritte<br />

deren Verschulden in gleichem Umfang zu vertreten wie eigenes (§ 278 BGB).“<br />

3. Vertretenmüssen<br />

Der Deutschen Bahn AG selbst ist kein Verschuldensvorwurf zu machen. Allerdings<br />

hat sie gemäß § 278 BGB für das Verschulden der Deutsche Bahn Station &<br />

Service AG einzustehen. Diese hat sich vorliegend nicht exkulpiert.<br />

Ergebnis: Die Klägerin hat gegen die Deutsche Bahn AG einen Anspruch auf<br />

Schadensersatz gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB.<br />

RÜ 4/2012<br />

Auch wenn § 278 BGB nach seinem<br />

Wortlaut nur die Zurechnung von Verschulden<br />

regelt, werden „erst Recht“<br />

Pflichtverletzungen eines Erfüllungsgehilfen<br />

zugerechnet. § 278 BGB ist damit<br />

regelmäßig bereits unter dem Prüfungspunkt<br />

„Pflichtverletzung“ anzusprechen.<br />

209


210<br />

RÜ 4/2012<br />

Der BGH prüft nur den Anspruch aus<br />

§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB, da es in<br />

einem Urteil ausreicht, wenn der Anspruch<br />

aus einer Anspruchsgrundlage<br />

besteht. In einem Gutachten sind die<br />

konkurrierenden Anspruchsgrundlagen<br />

ebenfalls anzusprechen.<br />

Der BGH geht auf die deliktischen Verkehrssicherungspflichten<br />

der Bahn nicht<br />

ein und auch die Vorinstanz (OLG Düsseldorf,<br />

Urt. v. 20.04.2011 – 18 U 158/10,<br />

lässt diese Frage sogar ausdrücklich offen.<br />

Bei entsprechender Argumentation ist<br />

sicherlich auch eine deliktische Verkehrssicherungspflicht<br />

der Bahn vertretbar.<br />

Rechtsprechung<br />

II. Die Klägerin könnte gegen die Deutsche Bahn AG ferner einen Anspruch<br />

auf Schadensersatz gemäß § 1 Abs. 1 HaftPflG haben.<br />

Dies würde allerdings voraussetzen, dass die Klägerin „bei Betrieb“ einer<br />

Schienenbahn verletzt wurde. Der Sturz der Klägerin steht jedoch mit einem<br />

Verkehrsvorgang nicht unmittelbar in Zusammenhang, sodass eine Haftung<br />

nach § 1 HaftPflG ausscheidet.<br />

III. Die Klägerin könnte gegen die Deutsche Bahn AG einen Anspruch auf<br />

Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 1 BGB haben.<br />

1. Die Klägerin hat sich bei dem Sturz verletzt, sodass eine Rechtsgutsverletzung<br />

i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB vorliegt.<br />

2. Die Verletzung der Klägerin ist nicht durch aktives Tun der Deutschen Bahn<br />

AG kausal verursacht worden. Allerdings könnte die Deutsche Bahn AG die<br />

Verletzung durch ein pflichtwidriges Unterlassen verursacht haben. Dies<br />

würde jedoch voraussetzen, dass die Deutsche Bahn AG verpflichtet gewesen<br />

wäre, das Glatteis auf den Bahnsteig zu beseitigen. Dies wäre der Fall, wenn<br />

der Bahn eine entsprechende Verkehrssicherungspflicht oblegen hätte.<br />

Verkehrssicherungspflichtig ist im Allgemeinen derjenige, der eine Gefahrenquelle<br />

eröffnet, sie also beherrscht. Dies ist bei Grundstücken in erster Linie<br />

der jeweilige Grundstückseigentümer, hier also nicht die Deutsche Bahn AG,<br />

sondern die Deutsche Bahn Station & Service AG. Mithin bestand keine (deliktische)<br />

Verkehrssicherungspflicht der Deutschen Bahn AG.<br />

Ergebnis: Die Klägerin hat gegen die Deutsche Bahn AG keinen Anspruch auf<br />

Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 1 BGB.<br />

IV. Schließlich könnte die Klägerin einen Anspruch gegen die Deutsche<br />

Bahn AG gemäß § 831 BGB haben.<br />

Dann müsste die Deutsche Bahn Station & Service AG Verrichtungsgehilfin der<br />

Deutsche Bahn AG sein. Verrichtungsgehilfe ist, wer mit Wissen und Wollen<br />

des Geschäftsherrn in dessen Interesse tätig und von dessen Weisungen abhängig<br />

ist. Selbstständige Unternehmen fallen aus dem Anwendungsbereich<br />

heraus, da sie für ihr Verhalten selbst verantwortlich und deshalb auch nicht<br />

weisungsgebunden sind.<br />

Ergebnis: Die Klägerin hat gegen die Deutsche Bahn AG keinen Anspruch auf<br />

Schadensersatz gemäß § 831 BGB.<br />

V. Gesamtergebnis: Die Klägerin hat gegen die Deutsche Bahn AG einen Anspruch<br />

auf Schadensersatz gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB.<br />

Die vertragliche Haftung für Pflichtverletzungen des Erfüllungsgehilfen ist ein<br />

„Klassiker“ in Examensklausuren. Die Entscheidung des BGH wendet bekannte<br />

Strukturen an: Eine vertragliche Haftung aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB ist<br />

wegen § 278 BGB zu bejahen, während im Deliktsrecht eine derart weite<br />

Zurechnung nicht möglich ist. Die „Weichen“ für die Entscheidung werden<br />

bei der Frage gestellt, ob die Deutsche Bahn AG auch die sichere Benutzung<br />

der Bahnsteige als Nebenpflicht zum Beförderungsvertrag schuldet. Dies ist<br />

– auch nach rechtlicher Trennung von Beförderungsunternehmen und Infrastruktur<br />

– vom BGH zu Recht bejaht worden. Ein schönes Motiv für eine Examensklausur,<br />

das Sie – einschließlich der sicherlich nicht allgemein bekannten<br />

Anspruchsgrundlage aus § 1 Abs. 1 HaftPflG – kennen sollten.<br />

Dr. Till Veltmann


§ 439 BGB<br />

Rechtsprechung<br />

RÜ 4/2012<br />

Kein unmittelbarer Anspruch des Käufers auf Ersatz der<br />

Ausbaukosten einer mangelhaften Sache<br />

BGH, Urt. v. 21.12.2011 – VIII ZR 70/08<br />

Fall<br />

Der Kläger kaufte bei der Beklagten, die einen Baustoffhandel betreibt, 45,36 m²<br />

polierte Bodenfliesen des italienischen Herstellers X zum Preis von 1.382,27 €<br />

einschließlich Umsatzsteuer. Er holte die Fliesen bei der Beklagten ab und ließ<br />

sie dann in seinem Privathaus verlegen. Nach Erledigung der Arbeiten zeigten<br />

sich auf dem Fliesenbelag Schattierungen, die mit bloßem Auge zu erkennen<br />

sind und die aussehen, als hätten die Fliesen Schmutzflecken. Ein Gutachter<br />

stellte fest, dass Abhilfe nur durch einen kompletten Austausch der Bodenfliesen<br />

geschaffen werden könne, da es sich um feine Mikroschleifspuren in der<br />

Oberfläche handele, die auf einen Herstellungsfehler zurückzuführen seien.<br />

Eine Beseitigung dieses Mangels ist technisch unmöglich. Die Beklagte hat bei<br />

der Lieferung die Mikroschleifspuren nicht erkannt und hatte auch keinen<br />

Grund, die Fliesen daraufhin zu überprüfen.<br />

1. Kann der Kläger von der Beklagten die Lieferung neuer Fliesen und den<br />

Ausbau der alten Fliesen verlangen?<br />

2. Hat der Kläger einen Anspruch auf Zahlung der Ausbaukosten?<br />

3. Hat der Kläger einen Anspruch auf Lieferung neuer Fliesen und Ausbau der<br />

alten Fliesen, wenn die Beklagte einwendet, dass die Ausbaukosten i.H.v.<br />

2.122,37 € sie unverhältnismäßig belasten würden?<br />

Entscheidung<br />

1. Frage: Kann der Kläger von der Beklagten die Lieferung neuer Fliesen und<br />

den Ausbau der alten Fliesen verlangen?<br />

Dem Kläger kann gegen die Beklagte ein Anspruch aus §§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1<br />

BGB auf Lieferung neuer Fliesen und den Ausbau der alten Fliesen zustehen.<br />

1. Die Parteien haben einen wirksamen Kaufvertrag über die Fliesen geschlossen.<br />

2. Die Fliesen müssten bei Gefahrübergang mangelhaft gewesen sein. Hier<br />

kann ein Mangel gemäß § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 2. Alt. BGB vorliegen. Eine Beschaffenheitsvereinbarung<br />

ist nicht ersichtlich. Mit den Mikroschleifspuren<br />

wiesen die gelieferten Fliesen eine Beschaffenheit auf, die bei Sachen gleicher<br />

Art nicht üblich ist und die der Käufer nach der Art der Sache auch nicht erwarten<br />

musste. Die von der Beklagten gelieferten Fliesen waren mangelhaft gemäß<br />

§ 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 2. Alt. BGB.<br />

3. Gemäß § 437 Nr. 1 BGB kann der Kläger von der Beklagten Nacherfüllung<br />

nach § 439 BGB verlangen.<br />

Nach § 439 Abs. 1 BGB hat der Käufer ein Wahlrecht zwischen der Beseitigung<br />

des Mangels und der Lieferung einer mangelfreien Sache. Der Kläger hat die<br />

Nachlieferung gewählt.<br />

Der Nachlieferungsanspruch richtet sich zunächst auf die Lieferung neuer,<br />

mangelfreier Fliesen.<br />

Leitsätze<br />

a) § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB ist richtlinienkonform<br />

dahin auszulegen, dass die dort<br />

genannte Nacherfüllungsvariante „Lieferung<br />

einer mangelfreien Sache“ auch den<br />

Ausbau und den Abtransport der mangelhaften<br />

Kaufsache erfasst (im Anschluss<br />

an EuGH, Urteil vom 16. Juni 2011 –<br />

Rechtssachen C-65/09 und C-87/09, NJW<br />

2011, 2269 – Gebr. Weber GmbH/Jürgen<br />

Wittmer und Ingrid Putz/Medianess<br />

Electronics GmbH).<br />

b) Das in § 439 Abs. 3 Satz 3 BGB dem<br />

Verkäufer eingeräumte Recht, die einzig<br />

mögliche Form der Abhilfe wegen (absolut)<br />

unverhältnismäßiger Kosten zu<br />

verweigern, ist mit Art. 3 der Richtlinie<br />

nicht vereinbar (EuGH, aaO). Die hierdurch<br />

auftretende Regelungslücke ist bis<br />

zu einer gesetzlichen Neuregelung durch<br />

eine teleologische Reduktion des § 439<br />

Abs. 3 BGB für Fälle des Verbrauchsgüterkaufs<br />

(§ 474 Abs. 1 Satz 1 BGB) zu<br />

schließen. Die Vorschrift ist beim Verbrauchsgüterkauf<br />

einschränkend dahingehend<br />

anzuwenden, dass ein Verweigerungsrecht<br />

des Verkäufers nicht besteht,<br />

wenn nur eine Art der Nacherfüllung<br />

möglich ist oder der Verkäufer die<br />

andere Art der Nacherfüllung zu Recht<br />

verweigert.<br />

c) In diesen Fällen beschränkt sich das<br />

Recht des Verkäufers, die Nacherfüllung<br />

in Gestalt der Ersatzlieferung wegen unverhältnismäßiger<br />

Kosten zu verweigern,<br />

auf das Recht, den Käufer bezüglich des<br />

Ausbaus der mangelhaften Kaufsache<br />

und des Einbaus der als Ersatz gelieferten<br />

Kaufsache auf die Kostenerstattung<br />

in Höhe eines angemessenen Betrags zu<br />

verweisen. Bei der Bemessung dieses Betrags<br />

sind der Wert der Sache in mangelfreiem<br />

Zustand und die Bedeutung des<br />

Mangels zu berücksichtigen. Zugleich ist<br />

zu gewährleisten, dass durch die Beschränkung<br />

auf eine Kostenbeteiligung<br />

des Verkäufers das Recht des Käufers auf<br />

Erstattung der Aus- und Einbaukosten<br />

nicht ausgehöhlt wird.<br />

211


212<br />

RÜ 4/2012<br />

Rechtsprechung<br />

a) Nach der früheren Rechtsprechung ergab sich aus § 439 Abs. 1 BGB keine<br />

Verpflichtung zum Ausbau der mangelhaften Sache. Der Ausbau gehöre nicht<br />

zur Nachlieferung, weil er die zuerst gelieferte Sache betreffe und nicht die<br />

nachgelieferte.<br />

b) Der EuGH hat entschieden, dass Art. 3 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 1999/44/<br />

EG so auszulegen ist, dass der Verkäufer verpflichtet ist, den Ausbau einer<br />

mangelhaften Sache selbst vorzunehmen oder die Kosten für den Ausbau zu<br />

tragen. § 439 BGB ist unter Berücksichtigung dieser Vorgabe richtlinienkonform<br />

auszulegen.<br />

aa) Eine richtlinienkonforme Auslegung ist in der Weise möglich, dass der<br />

Nachlieferungsanspruch begrifflich auf die Lieferung einer mangelfreien Sache<br />

beschränkt bleibt und durch einen Anspruch auf Ersatz der Ausbaukosten<br />

aus § 439 Abs. 2 BGB ergänzt wird (Greiner/Benedix ZGS 2011, 489, 493). Danach<br />

wäre die Beklagte nicht zum Ausbau der Fliesen, sondern nur zur Erstattung<br />

der Ausbaukosten verpflichtet.<br />

bb) Dem deutschen Gewährleistungsrecht entspricht es jedoch eher, wenn<br />

man den Nachlieferungsanspruch aus § 439 Abs. 1 BGB erweiternd auslegt<br />

und den Verkäufer zum Ausbau verpflichtet. § 439 Abs. 1 BGB soll<br />

dem Verkäufer die Möglichkeit geben, die Nacherfüllung selbst vorzunehmen.<br />

Dieses gesetzgeberische Ziel wird nicht erreicht, wenn bzgl. des<br />

Ausbaus nur ein Kostenerstattungsanspruch besteht. Der Verkäufer wird häufig<br />

selbst den Ausbau günstiger bewerkstelligen können als der Käufer. Ein<br />

Selbstvornahmerecht des Käufers wird im deutschen Recht jedenfalls von der<br />

Rechtsprechung nicht anerkannt.<br />

„[25] 4. Vor diesem Hintergrund ist zunächst § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB richtlinienkonform<br />

dahin auszulegen, dass die dort genannte Nacherfüllungsvariante ,Lieferung<br />

einer mangelfreien Sache‘ auch den Ausbau und den Abtransport<br />

der mangelhaften Kaufsache – hier der von der Beklagten gelieferten mangelhaften<br />

Bodenfliesen – umfasst (…).<br />

[26] a) Diese Auslegung ist noch vom Wortlaut des § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB gedeckt<br />

(…). Nach allgemeinem Sprachgebrauch wird ,liefern‘ zwar verstanden als ,bringen‘<br />

oder ,übergeben‘ einer (bestellten) Sache (…). Auch im nationalen Kaufrecht<br />

ist unter ,Lieferung‘ grundsätzlich nur die Handlung zu verstehen, die der Verkäufer<br />

vorzunehmen hat, um seine Übergabe- und Übereignungspflicht aus § 433<br />

Abs. 1 BGB zu erfüllen (…). Dies schließt es jedoch nicht aus, den in § 439 Abs. 1<br />

Alt. 2 BGB verwendeten Begriff der Lieferung einer mangelfreien Sache weiter zu<br />

fassen. Denn dieser Begriff ist ausfüllungsfähig und eröffnet einen gewissen Wertungsspielraum<br />

(…). Der Gesetzgeber hat die Bestimmung des § 439 Abs. 1 Alt. 2<br />

BGB zur Umsetzung des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie geschaffen (vgl. BT-<br />

Drucks. 14/6040, S. 230). Dabei hat er nicht nur in der Gesetzesbegründung mehrfach<br />

den Begriff der Lieferung einer mangelfreien Sache mit der in der deutschen<br />

Fassung der Richtlinie verwendeten Wortwahl ,Ersatzlieferung‘ gleichgesetzt (BT-<br />

Drucks. 14/6040, S. 232), die – wie vom Gerichtshof ausgeführt (EuGH, aaO Rn. 54) –<br />

auch die Deutung zulässt, dass das vertragswidrige Verbrauchsgut durch die als<br />

Ersatz gelieferte Sache auszutauschen ist. Vielmehr hat der Gesetzgeber durch den<br />

in § 439 Abs. 4 BGB enthaltenen Verweis auf § 346 Abs. 1 Alt. 1 BGB, wonach der<br />

Verkäufer seinerseits die Rückgewähr der mangelhaften Sache verlangen kann,<br />

zum Ausdruck gebracht, dass dem Begriff der ,Lieferung einer mangelfreien Sache‘<br />

in § 439 Abs. 1 BGB ein gewisses (Aus-)Tauschelement innewohnt (…).“<br />

2. Frage: Hat der Kläger einen Anspruch auf Zahlung der Ausbaukosten?<br />

I. Ein Anspruch des Klägers auf Zahlung der Ausbaukosten kann sich aus § 439<br />

Abs. 2 BGB ergeben.


Rechtsprechung<br />

Der EuGH hat entschieden, dass Art. 3 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 1999/44/EG<br />

so auszulegen ist, dass der Verkäufer verpflichtet ist, den Ausbau einer mangelhaften<br />

Sache selbst vorzunehmen oder die Kosten für den Ausbau zu tragen.<br />

Damit hat der EuGH kein Wahlrecht des Käufers begründet. Es besteht<br />

nur ein Wahlrecht bei der Umsetzung der Richtlinie durch Gesetzgebung und<br />

richtlinienkonforme Rechtsanwendung durch die Gerichte.<br />

„[27] b) Die gebotene richtlinienkonforme Auslegung des § 439 Abs. 1 BGB führt<br />

– anders als die Revisionserwiderung meint – nicht dazu, dass dem Käufer im<br />

Rahmen des Nacherfüllungsverlangens ein Wahlrecht dahin zusteht, ob er dem<br />

Verkäufer den Aus- und Einbau gestattet oder diese Arbeiten selbst durchführt<br />

und den Verkäufer nur auf Kostenerstattung in Anspruch nimmt. …“<br />

Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung der Ausbaukosten<br />

aus § 439 Abs. 2 BGB.<br />

II. Ein Anspruch auf Erstattung der Ausbaukosten kann sich aus §§ 437 Nr. 3,<br />

280 Abs. 1 u. 3, 281 BGB ergeben.<br />

Der Kläger hat der Beklagten keine Frist zur Nacherfüllung gesetzt. Da die<br />

Fristsetzung auch nicht entbehrlich ist, besteht kein Anspruch aus §§ 437<br />

Nr. 3, 280 Abs. 1 u. 3, 281 BGB.<br />

3. Frage: Hat der Kläger einen Anspruch auf Lieferung neuer Fliesen und Ausbau<br />

der alten Fliesen, wenn die Beklagte einwendet, dass die Ausbaukosten<br />

i.H.v. 2.122,37 € sie unverhältnismäßig belasten würden?<br />

Der Kläger hatte gegen die Beklagte zunächst einen Anspruch aus § 439 Abs. 1<br />

BGB auf den Ausbau der mangelhaften Fliesen.<br />

Fraglich ist, welche Rechte dem Kläger zustehen, wenn die Beklagte die Nachlieferung<br />

gemäß § 439 Abs. 3 S. 1 BGB verweigert.<br />

1. § 439 Abs. 3 S. 1 BGB könnte für die Nachlieferung unanwendbar sein, weil<br />

eine Nachbesserung unmöglich ist und damit die Gefahr besteht, dass der<br />

Käufer gar keinen Nacherfüllungsanspruch hat.<br />

„[29] § 439 Abs. 3 Satz 1 BGB erlaubt dem Verkäufer, die vom Käufer gewählte Art<br />

der Nacherfüllung zu verweigern, wenn sie nur mit unverhältnismäßigen Kosten<br />

möglich ist. Die genannte Regelung enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass sie<br />

sich auf die Fälle beschränkt, in denen beide Formen der Nacherfüllung möglich<br />

sind und lediglich eine Abhilfevariante im Verhältnis zu der anderen unverhältnismäßig<br />

hohe Kosten verursacht (relative Unverhältnismäßigkeit). Vielmehr ergibt<br />

sich aus den Bestimmungen des § 439 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2 BGB und des § 440<br />

Satz 1 BGB eindeutig, dass nach der Konzeption des Gesetzes beide Formen der<br />

Nacherfüllung wegen Unverhältnismäßigkeit verweigert werden können und damit<br />

der Begriff der Unverhältnismäßigkeit absolut zu verstehen ist. § 439 Abs. 3<br />

Satz 3 BGB beschränkt den Anspruch des Käufers für den Fall, dass der Verkäufer<br />

die eine Form der Nacherfüllung wegen unverhältnismäßiger Kosten verweigert,<br />

zunächst auf die andere Art der Nacherfüllung, sieht aber weiter vor, dass das<br />

,Recht des Verkäufers, auch diese unter den Voraussetzungen des Satzes 1 zu verweigern‘,<br />

unberührt bleibt. Auf diese Regelung nimmt § 440 Satz 1 BGB Bezug, der<br />

den Käufer unter anderem dann vom Erfordernis einer Fristsetzung vor der Geltendmachung<br />

von Rücktritt oder Schadensersatz befreit, ,wenn der Verkäufer beide<br />

Arten der Nacherfüllung gemäß § 439 Abs. 3 [BGB] verweigert‘.“<br />

Bei wortgenauer Anwendung des § 439 Abs. 3 S. 1 BGB hat der Kläger keinen<br />

durchsetzbaren Nacherfüllungsanspruch.<br />

2. Nach Art. 3 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 1999/44/EG ist der Verkäufer verpflichtet,<br />

den Ausbau einer mangelhaften Sache selbst vorzunehmen oder die<br />

RÜ 4/2012<br />

213


214<br />

RÜ 4/2012<br />

Rechtsprechung<br />

Kosten für den Ausbau zu tragen. Für den Fall, dass nur eine Form der Nacherfüllung<br />

möglich ist und diese unverhältnismäßige Kosten verursacht, hat der<br />

EuGH entschieden, dass auch eine reduzierte, verhältnismäßige Kostenbeteiligung<br />

des Verkäufers den Vorgaben der Richtlinie entspricht.<br />

Diese europarechtlichen Erfordernisse können nicht durch richtlinienkonforme<br />

Auslegung erfüllt werden, da der Wortlaut für so weitgehende Modifikationen<br />

keine Anhaltspunkte bietet. § 439 Abs. 3 BGB ist richtlinienkonform<br />

teleologisch zu reduzieren.<br />

a) Die teleologische Reduktion setzt eine verdeckte Regelungslücke voraus.<br />

Diese ergibt sich daraus, dass § 439 Abs. 3 BGB bei uneingeschränkter Anwendung<br />

nicht richtlinienkonform ist, der Gesetzgeber aber eine der Richtlinie<br />

entsprechende Regelung treffen wollte.<br />

„[31] a) Eine Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion setzt eine<br />

verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit<br />

des Gesetzes voraus (Senatsurteil vom 26. November 2008 – VIII ZR 200/05, aaO<br />

Rn. 22 mwN). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.<br />

[32] aa) Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich, dass der Gesetzgeber die Einrede<br />

der Unverhältnismäßigkeit zwar so ausgestalten wollte, dass sie mit der Richtlinie<br />

vereinbar ist, er hierbei jedoch Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie so verstanden hat, dass<br />

dieser auch die absolute Unverhältnismäßigkeit erfasse (vgl. auch Staudinger,<br />

aaO). …<br />

[33] bb) Das der Fassung des § 439 Abs. 3 Satz 3 BGB zugrunde liegende Verständnis,<br />

dass Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie auch die absolute Unverhältnismäßigkeit erfasse,<br />

ist jedoch fehlerhaft, wie der Gerichtshof nunmehr mit Bindungswirkung<br />

festgestellt hat. Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie erlaubt es nur, den Anspruch des Verbrauchers<br />

auf Erstattung der Kosten für den Ausbau des mangelhaften Verbrauchsguts<br />

und den Einbau des als Ersatz gelieferten Verbrauchsguts auf einen<br />

angemessenen Betrag zu beschränken, nicht jedoch, den Anspruch des Verbrauchers<br />

auf Ersatzlieferung als einzig mögliche Art der Abhilfe wegen Unverhältnismäßigkeit<br />

der Ein- und Ausbaukosten völlig auszuschließen. Die gesetzliche Regelung<br />

in § 439 Abs. 3 Satz 3 BGB steht folglich in Widerspruch zu dem mit dem Gesetz<br />

zur Modernisierung des Schuldrechts verfolgten Grundanliegen, die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie<br />

bis zum Ablauf des 31. Dezember 2001 ordnungsgemäß<br />

umzusetzen (vgl. hierzu auch BT-Drucks. 14/6040, S. 1).<br />

[34] cc) Damit erweist sich das Gesetz als planwidrig unvollständig (…). Es liegt<br />

eine verdeckte Regelungslücke vor, weil der Wortlaut des § 439 Abs. 3 BGB, der ein<br />

Verweigerungsrecht bei absoluter Unverhältnismäßigkeit einschließt, keine Einschränkung<br />

für den Anwendungsbereich der Richtlinie enthält und deshalb mit<br />

dieser nicht im Einklang steht. Diese Unvollständigkeit des Gesetzes ist deswegen<br />

planwidrig, weil hinsichtlich der Einrede der Unverhältnismäßigkeit ein Widerspruch<br />

zur konkret geäußerten, von der Annahme der Richtlinienkonformität getragenen<br />

Umsetzungsabsicht des Gesetzgebers besteht (…).“<br />

b) Die Regelungslücke ist durch teleologische Reduktion zu schließen.<br />

aa) Dazu sind im Anschluss an das Urteil des EuGH verschiedene Lösungen<br />

vertreten worden.<br />

„[38] aa) Nach dem Vorschlag von Faust (JuS 2011, 744, 747 f.), dem sich die Revision<br />

inhaltlich anschließt, soll der Verkäufer den Aus- und Einbau nach § 439<br />

Abs. 3 BGB verweigern dürfen, sofern sich nicht der Verbraucher zur Beteiligung an<br />

den Kosten bereit erklärt. Dieser Ansatz erscheint jedoch insofern problematisch,<br />

als er dem Verkäufer die Möglichkeit einer völligen Verweigerung des im Rahmen<br />

der Ersatzlieferung nach § 439 Abs. 1 Fall 2 BGB geschuldeten Aus- und Einbaus bis


Rechtsprechung<br />

zur Abgabe einer Erklärung des Verbrauchers eröffnet. Dies ist unvereinbar mit der<br />

Vorgabe des Gerichtshofs, die Berücksichtigung der Interessen des Verkäufers dürfe<br />

nicht dazu führen, dass die dem Verbraucher zustehenden Rechte in der Praxis<br />

ausgehöhlt werden (vgl. EuGH, aaO Rn. 76).<br />

[39] bb) Förster (aaO [ZIP 2011, 1493] S. 1500) schlägt vor, § 439 Abs. 3 BGB mit der<br />

Maßgabe anzuwenden, dass der Verkäufer die Ersatzlieferung als einzig mögliche<br />

Art der Nacherfüllung nicht verweigern, sondern nur unter Berücksichtigung von<br />

§ 439 Abs. 3 Satz 2 BGB der Höhe nach angemessen herabsetzen darf. … Es ist jedoch<br />

praktisch nicht durchführbar, die tatsächliche Vornahme des Ausbaus<br />

der mangelhaften Kaufsache und des Einbaus der als Ersatz gelieferten Sache<br />

auf einen angemessen Umfang zu begrenzen (vgl. auch Ayad/Schnell, BB<br />

2011, 1938, 1939).<br />

[40] cc) Ein anderer Lösungsansatz besteht darin, die Anwendung des § 439 Abs. 3<br />

Satz 3 Halbsatz 2 BGB für die Fälle des Verbrauchsgüterkaufs ganz auszuschließen<br />

(Purnhagen, aaO [EuZW 2011, 646] S. 629 f.; Staudinger, aaO [DAR 2011, 502]<br />

S. 506; Lorenz, NJW 2011, 2241, 2244). Hierbei fehlt es jedoch an einer überzeugenden<br />

rechtlichen Konstruktion, die es dem Verkäufer gleichwohl ermöglicht, den Ersatz<br />

der Ein- und Ausbaukosten auf einen angemessenen Betrag zu begrenzen.<br />

Eine solche ist jedoch erforderlich, um dem vom deutschen Gesetzgeber mit der<br />

Schaffung des § 439 Abs. 3 BGB verfolgten Ziel einer Berücksichtigung der Interessen<br />

des Verkäufers (vgl. BT-Drucks. 16/6040, S. 232) in dem europarechtlich (noch)<br />

zulässigen Umfang Rechnung zu tragen.<br />

[41] (1) Teilweise wird versucht, eine Begrenzung der Kostentragungspflicht des<br />

Verkäufers dadurch zu erreichen, dass dieser im Hinblick auf den Ausbau der mangelhaften<br />

und den Einbau der als Ersatz gelieferten Kaufsache von vornherein<br />

nicht zu deren Vornahme, sondern nur zur Erstattung der dafür erforderlichen<br />

Kosten verpflichtet sein soll und diese angemessen reduziert werden können<br />

(vgl. Pfeiffer, LMK 2011, 321439 sowie den Alternativvorschlag von Faust,<br />

aaO). Dieser Ansatz übersieht jedoch, dass die Nacherfüllung gemäß § 439 Abs. 1<br />

BGB nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers auch dazu dienen soll, dem<br />

Verkäufer die ,Möglichkeit zur zweiten Andienung‘ einzuräumen (BT-Drucks.<br />

16/6040, S. 220; vgl. hierzu Senatsurteil vom 23. Februar 2005 – VIII ZR 100/04,<br />

BGHZ 162, 219, 227 f.). Mit dem hierdurch zum Ausdruck kommenden Ziel, bereits<br />

im Rahmen des § 439 Abs. 1 BGB auch den Interessen des Verkäufers Rechnung zu<br />

tragen, wäre es nur schwer zu vereinbaren, wenn der Verkäufer im Rahmen der Ersatzlieferung<br />

den Ausbau der mangelhaften und den Einbau der als Ersatz gelieferten<br />

Sache nicht selbst vornehmen dürfte, sondern von vornherein dem Käufer<br />

die hierfür erforderlichen Kosten schuldete. Denn der Verkäufer wird in vielen Fällen<br />

den Aus- und Einbau günstiger bewerkstelligen können als der Käufer (vgl. Lorenz,<br />

NJW 2011, 2241, 2243). …“<br />

bb) Der BGH entschied, dass auch bei unverhältnismäßig hohen Ausbaukosten<br />

der Verkäufer zunächst zum tatsächlichen Ausbau verpflichtet und berechtigt<br />

ist. Erst die Verweigerung der Nacherfüllung wegen Unverhältnismäßigkeit<br />

führt zum Entstehen eines Kostenerstattungsanspruchs in Höhe eines<br />

angemessenen Betrags.<br />

„[35] b) Die bis zu einer gesetzlichen Neuregelung bestehende verdeckte Regelungslücke<br />

ist durch eine teleologische Reduktion des § 439 Abs. 3 BGB für die Fälle<br />

des Verbrauchsgüterkaufs (§ 474 Abs. 1 Satz 1 BGB) zu schließen. Die Vorschrift ist<br />

in solchen Fällen einschränkend dahingehend anzuwenden, dass ein Verweigerungsrecht<br />

nicht besteht, wenn nur eine Art der Nacherfüllung möglich ist oder der<br />

Verkäufer die andere Art der Nacherfüllung zu Recht verweigert. In den zuletzt<br />

genannten Fällen beschränkt sich das Recht des Verkäufers, die Nacherfüllung<br />

in Gestalt der Ersatzlieferung wegen unverhältnismäßiger Kosten zu<br />

RÜ 4/2012<br />

215


216<br />

RÜ 4/2012<br />

Da keine weiteren Kriterien genannt<br />

sind, wird man in Klausuren auch nur unter<br />

Berücksichtigung der Schwere des<br />

Mangels und des Werts der mangelfreien<br />

Sache eine pauschale Schätzung vornehmen<br />

können.<br />

Rechtsprechung<br />

verweigern, auf das Recht, den Käufer bezüglich des Ausbaus der mangelhaften<br />

Kaufsache und des Einbaus der als Ersatz gelieferten Kaufsache auf<br />

die Kostenerstattung in Höhe eines angemessenen Betrags zu verweisen.<br />

Bei der Bemessung dieses Betrags sind der Wert der Sache in mangelfreiem Zustand<br />

und die Bedeutung des Mangels zu berücksichtigen. Zugleich ist zu gewährleisten,<br />

dass durch die Beschränkung auf eine Kostenbeteiligung des Verkäufers<br />

das Recht des Käufers auf Erstattung der Aus- und Einbaukosten nicht ausgehöhlt<br />

wird (EuGH, aaO Rn. 76). …<br />

[49] 8. Der – auf eine angemessene Höhe begrenzte – Anspruch des Klägers auf Erstattung<br />

der für den Ausbau der mangelhaften Fliesen entstehenden Kosten setzt<br />

entgegen der Ansicht der Revision auch nicht voraus, dass der Kläger den Austausch<br />

bereits vorgenommen hat und die Kosten schon entstanden sind. Der Kläger<br />

kann vielmehr den Anspruch bereits vor Durchführung des Ausbaus in Form<br />

eines abrechenbaren Vorschusses geltend machen (so auch Kaiser, aaO S. 984 f.).<br />

Dies ergibt sich aus dem in der Richtlinie enthaltenen Unentgeltlichkeitsgebot.<br />

[54] … Der Anspruch ist auf insgesamt 600 € zu begrenzen. Dieser Betrag erscheint<br />

dem Senat unter Berücksichtigung der Bedeutung der Vertragswidrigkeit (optischer<br />

Mangel der Fliesen ohne Funktionsbeeinträchtigung) und des Werts der<br />

mangelfreien Sache (circa 1.200 €) angemessen. Der Senat sieht davon ab, Grenzoder<br />

Richtwerte für die Bestimmung der angemessenen Höhe einer Beteiligung<br />

des Verkäufers an den Aus- und Einbaukosten in Fällen der Ersatzlieferung zu entwickeln;<br />

die durch die Entscheidung des Gerichtshofs aufgedeckte Gesetzeslücke<br />

durch eine generelle Regelung zu schließen, ist dem Gesetzgeber vorbehalten.“<br />

Da die Beklagte die Nachlieferung gemäß § 439 Abs. 3 BGB verweigert hat, hat<br />

die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von 600 €.<br />

Das Verfahren hatte die ursprünglich vom Kläger geltend gemachten Kosten<br />

für den Einbau der nachgelieferten Fliesen nicht mehr zum Gegenstand. Die<br />

Einbaukosten sind aber nach der Entscheidung des EuGH gleich zu behandeln.<br />

Der Käufer hat in richtlinienkonformer Auslegung des § 439 Abs. 1 BGB<br />

einen Anspruch auf Einbau der nachgelieferten Sache. Einen Anspruch auf Ersatz<br />

der Einbaukosten hat er unter den Voraussetzungen des § 281 BGB oder<br />

dann, wenn die Nachbesserung unmöglich ist und der Verkäufer den Einbau<br />

gemäß § 439 Abs. 3 S. 1 BGB wegen unverhältnismäßiger Kosten verweigert.<br />

Im letzteren Fall reduziert sich der Kostenerstattungsanspruch auf einen angemessenen<br />

Betrag.<br />

Der BGH hat die Vorgaben des EuGH so umgesetzt, dass das deutsche Recht<br />

möglichst wenig modifiziert ist. Entscheidend ist, dass der Käufer keinen unmittelbaren<br />

Anspruch auf Erstattung der Aus- und Einbaukosten hat. Es bleibt<br />

das vor allem durch § 281 BGB gewährleistete „Recht zur zweiten Andienung“<br />

erhalten. Der Verkäufer Aus- und Einbau in jedem Fall – auch bei unverhältnismäßigen<br />

Kosten – selbst vornehmen. Die Interessen des Käufers sind dadurch<br />

gewahrt, dass er dem Verkäufer eine Frist zum Aus- und Einbau setzen kann.<br />

Josef <strong>Alpmann</strong>


§§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 BGB<br />

Rechtsprechung<br />

RÜ 4/2012<br />

Fehlerhafte Ankaufsuntersuchung beim Pferdekauf<br />

BGH, Urt. v. 26.01.2012 – VII ZR 164/11<br />

Fall<br />

Der Kläger (im Folgenden: K) begehrt von dem Beklagten (im Folgenden: B),<br />

einem Tierarzt, wegen einer mangelhaft durchgeführten Ankaufsuntersuchung<br />

eines Pferdes Schadensersatz.<br />

K kaufte am 25.02.2008 von dem Verkäufer (V) den Hengst C. B hatte zuvor am<br />

22.02.2008 im Auftrag des K eine Ankaufsuntersuchung durchgeführt, wobei<br />

ausdrücklich auch das Röntgen des Kniegelenks links und rechts vereinbart<br />

war. Das Röntgenergebnis hatte er als „ohne besonderen Befund“ angegeben.<br />

Tatsächlich befanden sich mehrere Chips im Kniegelenk des Hengstes, die<br />

auf den Röntgenaufnahmen ersichtlich waren. Hiervon erfuhr der K anlässlich<br />

einer Körungsvorauswahl am 01.09.2008.<br />

Mit Schreiben vom 16.01.2009 erklärte K gegenüber V den Rücktritt vom Kaufvertrag<br />

und verlangte von ihm Kostenerstattung. Dieser verwies ihn an den B,<br />

dessen Haftpflichtversicherer mit Schreiben vom 03.04.2009 erklärte, es würden<br />

keine Einwände gegen den Anspruchsgrund geltend gemacht und Ansprüche<br />

bzgl. Kaufpreis und Zinsen anerkannt. Dementsprechend erfolgte die<br />

Herausgabe des Pferdes an den B Zug um Zug gegen Kaufpreiserstattung<br />

durch dessen Haftpflichtversicherer.<br />

K macht mit der Behauptung, bei ordnungsgemäß mitgeteiltem Befund der<br />

Ankaufsuntersuchung hätte er das Pferd von dem V nicht gekauft, weil er es<br />

als Zuchtpferd habe weiterveräußern wollen, was nun nicht mehr möglich gewesen<br />

sei, weitere Aufwendungen geltend, die ihm ab dem Zeitpunkt des Erwerbs<br />

des Pferdes bis zu dessen Rückgabe entstanden seien. Konkret begehrt<br />

er die Erstattung von 10.500 € für die Ausbildung des Pferdes zum Zuchthengst<br />

in der Zeit von März 2008 bis zum 15.01.2009 (10,5 Monate á 1.000 €).<br />

B ist der Auffassung, insoweit hafte vorrangig der V. Zudem sei der Betrag<br />

jedenfalls anteilig zu kürzen, da K spätestens seit dem 01.09.2008 nicht mehr<br />

davon ausgehen durfte, der Hengst sei zu Zuchtzwecken geeignet.<br />

Besteht der von K gegen B geltend gemachte Anspruch?<br />

Entscheidung<br />

§ 433 BGB (25.02.2008)<br />

(Verkäufer) (Eigentümer)<br />

V<br />

ab März 2008: Ausbildung des Pferdes<br />

01.09.2008: Kenntniserlangung durch K<br />

16.01.2009: Rücktritt des K vom Kaufvertrag<br />

I. Der von K gegen B geltend gemachte Anspruch könnte sich aus den §§ 634<br />

Nr. 4, 280 Abs. 1 BGB ergeben.<br />

1. Der zwischen K und B geschlossene Vertrag über die Ankaufsuntersuchung<br />

ist rechtlich als Werkvertrag einzuordnen, da B einen konkreten Erfolg schuldete.<br />

K<br />

B<br />

§ 631 BGB:<br />

Ankaufs-<br />

untersuchung<br />

(22.02.2008)<br />

(Tierarzt)<br />

Leitsatz<br />

Ein Tierarzt, der seine Pflichten aus einem<br />

Vertrag über die Ankaufsuntersuchung<br />

eines Pferdes verletzt und deshalb<br />

einen unzutreffenden Befund erstellt<br />

hat, haftet unabhängig von einer etwaigen<br />

Haftung des Verkäufers seinem Vertragspartner<br />

auf Ersatz des Schadens,<br />

der diesem dadurch entstanden ist, dass<br />

er das Pferd aufgrund des fehlerhaften<br />

Befundes erworben hat (Bestätigung<br />

von BGH, Urt. v. 22. Dezember 2011 – VII<br />

ZR 7/11, zur Veröffentlichung in BGHZ<br />

bestimmt, und VII ZR 136/11, zur Veröffentlichung<br />

vorgesehen).<br />

217


218<br />

RÜ 4/2012<br />

Hinweis zum Aufbau: Selbstverständlich<br />

wäre es auch denkbar, zunächst das<br />

Verhältnis der Ansprüche des K gegen V<br />

und B zueinander zu klären, bevor die<br />

Anspruchskürzung wegen Verletzung<br />

der Schadensminderungspflicht durch K<br />

thematisiert wird.<br />

Rechtsprechung<br />

„[12] Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Tierarzt bei der<br />

Ankaufsuntersuchung eines Pferdes nicht nur verpflichtet ist, die Untersuchung<br />

ordnungsgemäß durchzuführen, sondern er seinem Auftraggeber auch deren Ergebnis,<br />

insbesondere Auffälligkeiten des Tieres, mitzuteilen hat. Der mit der Ankaufsuntersuchung<br />

beauftragte Tierarzt schuldet einen fehlerfreien Befund.<br />

Erfüllt er insoweit seine Pflichten nicht, haftet er, weil der Vertrag als Werkvertrag<br />

einzuordnen ist (vgl. BGH, Urteil vom 5. Mai 1983 – VII ZR 174/81, BGHZ 87, 239),<br />

gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB auf Ersatz des Schadens, der bei dem Vertragspartner<br />

dadurch entstanden ist, dass er das Pferd aufgrund des fehlerhaften Befundes<br />

erworben hat (vgl. Senatsurteile vom 22. Dezember 2011 – VII ZR 7/11, zur<br />

Veröffentlichung in BGHZ bestimmt, und VII ZR 136/11, zur Veröffentlichung vorgesehen).“<br />

2. B hat die Ankaufsuntersuchung mangelhaft durchgeführt, weil er trotz geschuldeten<br />

Röntgens des Kniegelenks links und rechts die zahlreichen Chips<br />

im Kniegelenk des Hengstes, die auf den Röntgenaufnahmen ersichtlich waren,<br />

übersah und das Röntgenergebnis fehlerhaft als „ohne besonderen Befund“<br />

angab. Dies stellte zugleich die maßgebliche Pflichtverletzung des B dar.<br />

3. Einer Frist zur Nacherfüllung bedurfte es nicht, da es sich um einen Schadensersatzanspruch<br />

neben der Leistung in Form eines sog. Mangelfolgeschadens<br />

handelt.<br />

4. B handelte jedenfalls fahrlässig und kann sich deshalb nicht exkulpieren,<br />

vgl. § 280 Abs. 1 S. 2 BGB.<br />

5. B schuldet K demgemäß nach den §§ 249 ff. BGB grundsätzlich den Ersatz<br />

desjenigen Schadens, der durch die Pflichtverletzung entstanden ist. K hätte<br />

im Falle einer ordnungsgemäßen Ankaufsuntersuchung, d.h., bei Entdecken<br />

der diversen Chips im Kniegelenk des Hengstes, den Kaufvertrag mit V über das<br />

Pferd nicht abgeschlossen. Er kann deshalb im Grundsatz von B verlangen, so gestellt<br />

zu werden, wie er stünde, wenn er diesen Vertrag nicht geschlossen hätte.<br />

Zum Teil ist diese hypothetische Vermögenslage bereits dadurch hergestellt<br />

worden, dass K den Kaufpreis nebst Zinsen Zug um Zug gegen Herausgabe<br />

des Pferdes durch den Haftpflichtversicherer des B erstattet bekam. Hätte K<br />

den Hengst nicht käuflich erworben, hätte er diesen aber auch nicht ausgebildet,<br />

sodass die hierfür insgesamt aufgewandten 10.500 € ebenfalls eine ersatzfähige<br />

Schadensposition darstellen könnten.<br />

a) Insoweit ist jedoch zunächst unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht<br />

des K gemäß § 254 Abs. 2 S. 1 BGB eine Anspruchskürzung<br />

i.H.v. 4.500 € vorzunehmen. Da K von den Chips im Kniegelenk des Hengstes<br />

anlässlich einer Körungsvorauswahl am 01.09.2008 erfuhr, durfte er ab diesem<br />

Zeitpunkt nicht mehr damit rechnen, das Pferd sei – wie durch K beabsichtigt<br />

– zur Zucht geeignet. Der kostspieligen Ausbildung des Pferdes bedurfte es ab<br />

diesem Zeitpunkt nicht mehr, sodass lediglich die in der Zeit von März bis einschließlich<br />

August 2008 angefallenen Ausbildungskosten i.H.v. 6.000 €, nicht<br />

aber die danach in der Zeit vom 01.09.2008 bis zum 15.01.2009 angefallenen<br />

4.500 € erstattungsfähig sein können.<br />

„[17] … Die nach August 2008 insoweit nur im Hinblick auf einen beabsichtigten<br />

Einsatz als Zuchtpferd getätigten Aufwendungen sind daher gemäß § 254 Abs. 2<br />

Satz 1 BGB nicht mehr ersatzpflichtig. …“<br />

b) Hinsichtlich des verbleibenden Restbetrages von 6.000 € stellt sich die<br />

Frage, ob K diesen Betrag nicht vorrangig von V verlangen muss. Man könnte<br />

sich – dem Vortrag des B entsprechend – auf den Standpunkt stellen, die Haftung<br />

des Tierarztes sei gegenüber der Kaufgewährleistungshaftung des V<br />

mangels Gleichstufigkeit nachrangig. Zur Begründung dieser Sichtweise ließe<br />

sich anführen, dass das Vorhandensein der Chips im Kniegelenk einen Sach-


Rechtsprechung<br />

mangel und damit in erster Linie eine Hauptleistungspflichtverletzung des V<br />

darstellt. Dies könnte dafür sprechen, dass V näher am Schadensgeschehen ist<br />

als der Tierarzt B, der lediglich zur Erstellung eines fehlerfreien Gutachtens verpflichtet<br />

gewesen ist.<br />

aa) Eine derartige Sichtweise wäre aber<br />

„[14] … schon deshalb rechtsfehlerhaft, weil der [B] dem [K] auch dann auf Schadensersatz<br />

haften würde, wenn eine Gesamtschuld nicht vorläge. In diesem Fall<br />

würde sich allenfalls die Frage stellen, ob der [B] gemäß § 255 BGB die Abtretung<br />

der Ansprüche gegen den [V] verlangen könnte. …“<br />

bb) Im Übrigen ist ein Gesamtschuldverhältnis zwischen V und B zu bejahen.<br />

Dies hat der BGH in zwei vergleichbaren Fällen jüngst mit zwei Urteilen<br />

vom 22.12.2011 (Az.: VII ZR 7/11, RÜ 2012, 140 – zur Veröffentlichung in BGHZ<br />

bestimmt – und VII ZR 136/11) entschieden.<br />

(1) Sowohl V als auch B schulden dem K den Ersatz desjenigen Schadens, der<br />

durch den Ankauf des mangelbehafteten Pferdes entstanden ist. Der Anspruch<br />

richtet sich mithin gegen mehrere Schuldner.<br />

(2) V und B schuldeten K auch „eine Leistung“. Erforderlich ist insoweit eine<br />

Identität des Leistungsinteresses. Eine völlige Identität von Leistungsinhalt<br />

und -umfang ist jedoch nicht erforderlich. Es genügt eine an der Grenze zur inhaltlichen<br />

Gleichheit liegende besonders enge Verwandtschaft der Ansprüche<br />

(Palandt/Grüneberg, BGB, 71. Aufl. 2012, § 421 Rdnr. 6).<br />

Auch dies hier zu bejahen. Hätte B den Mangel im Rahmen der Ankaufsuntersuchung<br />

erkannt, hätte K das Pferd nicht erworben und infolgedessen auch<br />

nicht unter Aufwendung der hierdurch entstehenden Kosten ausgebildet.<br />

V ist hingegen der Vorwurf zu machen, dass das Pferd überhaupt mangelhaft<br />

ist. Im Rahmen des Schadensersatzes statt der Leistung hat er den K folglich so<br />

zustellen, wie er im Falle ordnungsgemäßer, d.h. mangelfreier Erfüllung des<br />

Kaufvertrages gestanden hätte. Dann aber hätte K die Ausbildungskosten<br />

zwar ebenfalls aufgewandt, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied,<br />

dass sich diese Aufwendungen dann rentiert hätten. Das Leistungsinteresse<br />

des K ist deshalb in beiden Fällen identisch.<br />

(3) V und B schulden dem K jeweils den Ersatz des insgesamt entstandenen<br />

Schadens. Jeder ist die ganze Leistung zu bewirken verpflichtet.<br />

(4) K darf diese Leistung selbstverständlich nur einmal fordern.<br />

(5) Fraglich kann demnach allein die für die Annahme eines Gesamtschuldverhältnisses<br />

erforderliche Gleichstufigkeit der Haftungen des Verkäufers und<br />

des die Ankaufsuntersuchung durchführenden Tierarztes sein.<br />

Diese Gleichstufigkeit ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung teilweise<br />

mit dem Hinweis darauf verneint worden, vom Verkäufer verlange der Käufer<br />

das positive Interesse, vom Tierarzt hingegen nur das negative Interesse (vgl.<br />

z.B. OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.12.1997 – 11 U 16/97, NJW-RR 1998, 601). Der Käufer<br />

müsse deshalb zunächst den Verkäufer in Anspruch nehmen, soweit das<br />

positive Interesse auch das gegen den Tierarzt geltend gemachte negative Interesse<br />

darstelle. Der Verkäufer sei „näher am Schadensgeschehen dran“, dem<br />

Tierarzt komme nur eine Beratungsfunktion zu.<br />

Dem kann nach der Gegenauffassung (vgl. z.B. OLG Stuttgart, Urt. v. 10.05.<br />

2011 – 1 U 6/11), der sich der BGH – bzgl. der mit den vorliegenden Ausbildungskosten<br />

insoweit vergleichbaren Unterbringungs- und Behandlungskosten<br />

– angeschlossen hat, aus folgenden Gründen nicht gefolgt werden (vgl.<br />

BGH, Urt. v. 22.12.2011 – VII ZR 7/11, Tz. 18 f.):<br />

RÜ 4/2012<br />

Voraussetzung einer Gesamtschuld<br />

gemäß § 421 BGB:<br />

� Mehrere Schuldner<br />

(„schulden mehrere“)<br />

� Gleiches Leistungsinteresse des<br />

Gläubigers („eine Leistung“)<br />

� Vollständige Leistungsverpflichtung<br />

der Schuldner im Außenverhältnis<br />

(„jeder die ganze Leistung zu bewirken<br />

verpflichtet“)<br />

� Einmaliges Forderungsrecht des Gläubigers<br />

(„der Gläubiger die Leistung<br />

nur einmal zu fordern berechtigt“)<br />

� Gleichstufigkeit (ungeschriebenes<br />

Tatbestandsmerkmal zur Abgrenzung<br />

zu § 255 BGB und den Fällen der cessio<br />

legis)<br />

219


220<br />

RÜ 4/2012<br />

Leitsatz 2 zu BGH, Urt. v. 22.12.2011 –<br />

VII ZR 7/11:<br />

„Beruht der fehlerhafte Befund darauf,<br />

dass der Tierarzt einen Mangel des Pferdes<br />

nicht erkannt oder seinem Vertragspartner<br />

nicht mitgeteilt hat, haftet er mit dem<br />

zu Schadensersatz oder Rückgewähr verpflichteten<br />

Verkäufer des Pferdes als Gesamtschuldner.“<br />

Rechtsprechung<br />

„[18] Die Gleichstufigkeit der Verpflichtungen ergibt sich daraus, dass sowohl<br />

der Verkäufer als auch der Tierarzt die Unterbringungs- und Behandlungskosten<br />

mit einer Geldzahlung ersetzen müssen, ohne dass einer der<br />

Schuldner nur subsidiär oder vorläufig für die andere Verpflichtung einstehen<br />

muss (vgl. BGH, Urteil vom 28. November 2006 – VI ZR 136/05, NJW 2007,<br />

1208). Auf die Einordnung als Verwendungsersatz gemäß § 347 Abs. 2 BGB oder<br />

als Schadensersatz kommt es ebenso wenig an wie auf die Frage, ob ein Anspruch<br />

auf Ersatz des negativen Interesses oder des positiven Interesses geltend gemacht<br />

wird. Auch ist unerheblich, dass der Verkäufer möglicherweise trotz fehlenden Verschuldens<br />

haftet, während die Haftung des Tierarztes Verschulden voraussetzt<br />

(OLG Stuttgart, Urteil vom 10. Mai 2011 – 1 U 6/11). Entscheidend ist allein, dass<br />

sowohl der Verkäufer als auch der Tierarzt verpflichtet sind, die Unterbringungsund<br />

Behandlungskosten zu ersetzen. Insoweit wird ein inhaltsgleiches Gläubigerinteresse<br />

befriedigt. Sowohl der Verkäufer als auch der Tierarzt haben für die Beseitigung<br />

des gleichartigen Vermögensnachteils einzustehen, den der Käufer dadurch<br />

erlitten hat, dass jeder von ihnen seine vertraglichen Pflichten nicht erfüllt<br />

hat (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Februar 1965 – GSZ 1/64, BGHZ 43, 227, 230; Urteil<br />

vom 19. Dezember 1968 – VII ZR 23/66, BGHZ 51, 275, 277). Es kommt auch nicht<br />

darauf an, dass Verkäufer und Tierarzt, bezogen auf das Kaufgeschäft, nicht im<br />

selben Lager stehen und kein gemeinsames Interesse verfolgen. Ohne Belang ist<br />

auch, dass Verkäufer und Tierarzt unterschiedliche Hauptleistungspflichten<br />

zu erfüllen haben (OLG Stuttgart, Urteil vom 10. Mai 2011 – 1 U 6/11, S. 7).<br />

[19] Daran ändern auch nichts die Erwägungen, mit denen eine größere Sachnähe<br />

des Verkäufers begründet wird. Diese Erwägungen lassen im Übrigen unberücksichtigt,<br />

dass der Tierarzt mit einem fehlerhaften Befund zur Ankaufsuntersuchung<br />

die eigentliche Ursache für den Ankauf gesetzt haben kann und bagatellisieren<br />

zu Unrecht die Aufklärungsfunktion der Ankaufsuntersuchung.“<br />

Nach alledem steht es dem Gläubiger (K) frei, welchen Gesamtschuldner (V<br />

oder B) er in Anspruch nimmt.<br />

„[15] … Ihm kann deshalb grundsätzlich nicht als Verschulden bei der Obliegenheit<br />

zur Schadensminderung angelastet werden, den Schuldner seiner Wahl in Anspruch<br />

genommen zu haben. Inwieweit es im Einzelfall ausnahmsweise gleichwohl<br />

nach den Maßstäben von Treu und Glauben geboten sein kann, zunächst<br />

den Verkäufer auf Rückabwicklung des Vertrages in Anspruch zu nehmen (vgl.<br />

hierzu BGH, Urteil vom 22. Dezember 2011 – VII ZR 136/11), kann offenbleiben.<br />

Denn jedenfalls wäre hierfür Voraussetzung, dass die Rückabwicklung der einfachere<br />

und jedenfalls nicht aufwändigere Weg der Schadloshaltung wäre. Diese<br />

Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Der [V] ist nicht bereit, dem [K] die geltend<br />

gemachten Aufwendungen und Schäden zu ersetzen. Zu einer gerichtlichen<br />

Geltendmachung seiner Ansprüche ist der [K] vor einer Inanspruchnahme des [B]<br />

gemäß § 242 BGB jedenfalls nicht verpflichtet.“<br />

II. Ergebnis: Der von K gegen B geltend gemachte Schadensersatzanspruch<br />

besteht i.H.v. 6.000 €. Im Übrigen ist die Klage – mit entsprechender Kostenverteilung<br />

gem. § 92 Abs. 1 ZPO – abzuweisen.<br />

Der BGH hat in drei unmittelbar aufeinander folgenden Entscheidungen einen<br />

Streit in der obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt und diesen dahingehend<br />

entschieden, dass zwischen dem Verkäufer eines mangelhaften Pferdes<br />

und dem Tierarzt, der im Rahmen einer Ankaufsuntersuchung diesen Mangel<br />

nicht entdeckt, ein Gesamtschuldverhältnis besteht. Es bedarf insoweit keiner<br />

hellseherischen Fähigkeit um vorherzusagen, dass aus diesen drei grundlegenden,<br />

zum Teil für die amtliche Entscheidungssammlung BGHZ vorgesehenen<br />

Entscheidungen Examensklausuren hervorgehen werden.<br />

Dr. Timm Nissen


§ 134 BGB; §§ 2, 3, 5 RDG<br />

Rechtsprechung<br />

RÜ 4/2012<br />

Einziehung von Schadensersatzansprüchen durch<br />

Mietwagenunternehmer<br />

BGH, Urt. v. 31.01.2012 – VI ZR 143/11<br />

Fall<br />

Die K, eine Autovermietung, verlangt von der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung<br />

B aus abgetretenem Recht der Geschädigten G Ersatz restlicher Mietwagenkosten<br />

nach einem Verkehrsunfall.<br />

V, die Versicherungsnehmerin der B, fuhr am 04.11.2009 aus Unachtsamkeit<br />

auf das verkehrsbedingt anhaltende Fahrzeug der G auf. Die volle Einstandspflicht<br />

der B für den aufgrund des Verkehrsunfalls entstandenen Schaden<br />

steht außer Streit.<br />

Die G mietete für die Zeit des schädigungsbedingten Ausfalls ihres Kraftfahrzeugs<br />

(05.11.2009 bis 14.11.2009) bei der K ein Ersatzfahrzeug an. In diesem<br />

Zusammenhang unterzeichneten die Mietvertragsparteien am 05./09.11.2009<br />

eine von der K vorformulierte Erklärung „Abtretung und Zahlungsanweisung“<br />

mit folgendem Wortlaut:<br />

„Hiermit trete ich die Schadensersatzforderung auf Erstattung der Mietwagenkosten<br />

gegen den Fahrer, Halter und deren/dessen Haftpflichtversicherung aus<br />

dem oben genannten Schadensereignis erfüllungshalber an die … (K) ab.<br />

Ich weise die Versicherung und gegebenenfalls den regulierenden Rechtsanwalt<br />

an, den sich aus der Fahrzeuganmietung ergebenden Schadensbetrag unmittelbar<br />

an die oben genannte Autovermietung zu zahlen und bitte darum, die Zahlungsbereitschaft<br />

kurzfristig dorthin zu bestätigen.<br />

Durch diese Abtretung und Zahlungsanweisung werde ich nicht von meiner Verpflichtung<br />

zur Zahlung der Mietwagenkosten befreit, wenn die Versicherung<br />

nicht in angemessener Zeit/Höhe leistet. Zahlungen werden mit den Ansprüchen<br />

der Geschädigten verrechnet.“<br />

Die K übersandte das Original ihrer Rechnung über einen Betrag von 1.246,41 €<br />

an die Zedentin und eine Kopie an die B, die auf den Rechnungsbetrag 575 €<br />

erstattete.<br />

In der Folgezeit reduzierte K ihre Forderung bzgl. der Mietwagenkosten auf<br />

einen „Normaltarif/Selbstzahlertarif“ unter Heranziehung des Schwacke-Mietpreisspiegels<br />

unter Hinzurechnung eines Zuschlages für unfallbedingte Zusatzleistungen<br />

i.H.v. 262 € auf einen Mindestbetrag von 1.147,40 €. Unter Anrechnung<br />

der von B erbrachten Teilzahlung i.H.v. 575 € ergibt sich daher nach<br />

Ansicht der K noch eine Restforderung i.H.v. 572,40 €.<br />

B macht demgegenüber geltend, K sei nicht berechtigt, diese Forderung geltend<br />

zu machen, da die Abtretung gegen die Vorschriften des RDG verstoße<br />

und daher gemäß § 134 BGB nichtig sei.<br />

Steht K gegen B ein Anspruch auf Zahlung i.H.v. 572,40 € zu?<br />

Entscheidung<br />

K kann ein Schadensersatzanspruch aus abgetretenem Recht gegen B i.H.v.<br />

572,40 € aus § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG<br />

Leitsätze<br />

a) Die Einziehung einer an ein Mietwagenunternehmen<br />

abgetretenen Schadensersatzforderung<br />

des Geschädigten auf<br />

Erstattung von Mietwagenkosten ist gemäß<br />

§ 5 Abs. 1 Satz 1 RDG grundsätzlich<br />

erlaubt, wenn allein die Höhe der Mietwagenkosten<br />

streitig ist.<br />

b) Etwas anderes gilt, wenn die Haftung<br />

dem Grunde nach oder die Haftungsquote<br />

streitig ist oder Schäden geltend<br />

gemacht werden, die in keinem Zusammenhang<br />

mit der Haupttätigkeit stehen.<br />

Das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG)<br />

hat zum 01.07.2008 das Rechtsberatungsgesetz<br />

(RBerG) abgelöst.<br />

221


222<br />

§ 3 RDG<br />

RÜ 4/2012<br />

Die selbstständige Erbringung außergerichtlicher<br />

Rechtsdienstleistungen ist nur<br />

in dem Umfang zulässig, in dem sie<br />

durch dieses Gesetz oder durch oder<br />

aufgrund anderer Gesetze erlaubt wird.<br />

§ 2 RDG<br />

(1) Rechtsdienstleistung ist jede Tätigkeit<br />

in konkreten fremden Angelegenheiten,<br />

sobald sie eine rechtliche Prüfung<br />

des Einzelfalls erfordert. …<br />

§ 5 RDG<br />

(1) 1 Erlaubt sind Rechtsdienstleistungen<br />

im Zusammenhang mit einer anderen<br />

Tätigkeit, wenn sie als Nebenleistung<br />

zum Berufs- oder Tätigkeitsbild gehören.<br />

2 Ob eine Nebenleistung vorliegt, ist nach<br />

ihrem Inhalt, Umfang und sachlichen Zusammenhang<br />

mit der Haupttätigkeit unter<br />

Berücksichtigung der Rechtskenntnisse<br />

zu beurteilen, die für die Haupttätigkeit<br />

erforderlich sind.<br />

Rechtsprechung<br />

sowie § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 1 ff. StVO i.Vm. § 398 BGB zustehen.<br />

Dazu ist eine wirksame Abtretung des Anspruchs aus § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1<br />

VVG i.V.m. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG sowie § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m.<br />

§§ 1 ff. StVO von der G an die K erforderlich.<br />

I. Dies setzt zunächst eine wirksame Einigung von G und K i.S.v. § 398 S. 1 BGB<br />

voraus.<br />

1. G und K haben sich in dem Vertrag vom 05./09.11.2009 darüber geeinigt,<br />

dass G ihre Schadensersatzforderung auf Erstattung der Mietwagenkosten gegen<br />

den Fahrer, Halter und dessen Haftpflichtversicherung aus dem Schadensereignis<br />

vom 04.11.2009 erfüllungshalber an die K abtritt.<br />

2. Diese Einigung i.S.v. § 398 S. 1 BGB könnte wegen Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz<br />

gemäß § 134 BGB i.V.m. § 3 RDG nichtig sein.<br />

a) Dazu muss es sich bei § 3 RDG um ein Verbotsgesetz handeln.<br />

Verbotsgesetze sind Gesetze i.S.v. Art. 2 EGBGB – also nicht nur Gesetze im formellen<br />

Sinn, sondern auch Rechtsverordnungen und Gewohnheitsrecht –, die<br />

eine nach unserer Rechtsordnung grundsätzlich mögliche rechtsgeschäftliche<br />

Regelung wegen ihres Inhalts oder wegen der Umstände ihres Zustandekommens<br />

untersagen (Palandt/Ellenberger, 71. Aufl. 2012, § 134 Rdnr. 2, 5).<br />

§ 3 RDG verbietet die selbstständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen,<br />

falls diese nicht durch oder aufgrund gesetzlicher Regelung<br />

erlaubt wird. Somit untersagt diese Regelung in gewissem Umfang Verträge<br />

über Rechtsberatung und stellt daher ein Verbotsgesetz i.S.v. § 134 BGB dar<br />

(Jauernig/Jauernig, 14. Aufl. 2011, § 134 Rdnr. 11).<br />

b) Ferner muss ein Verstoß gegen das Verbotsgesetz gegeben sein.<br />

Die Abtretung der Schadensersatzansprüche auf Erstattung der Mietwagenkosten<br />

verstößt gegen § 3 RDG, wenn es sich bei der Geltendmachung der abgetretenen<br />

Ansprüche durch K um die selbstständige Erbringung einer außergerichtlichen<br />

Rechtsdienstleistung handelt, für die K keine Erlaubnis durch<br />

oder aufgrund eines Gesetzes besitzt.<br />

Ob es sich bei der Geltendmachung der abgetretenen Forderung durch K<br />

überhaupt um eine Rechtsdienstleistung i.S.v. § 2 Abs. 1 RDG handelt, kann<br />

dahinstehen, wenn K für eine derartige Rechtsdienstleistung eine Erlaubnis<br />

gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 RDG zusteht. Danach sind Rechtsdienstleistungen im Zusammenhang<br />

mit einer anderen Tätigkeit erlaubt, wenn sie als Nebenleistung<br />

zum Berufs- oder Tätigkeitsbild des Handelnden gehören. Ob eine Nebenleistung<br />

vorliegt, ist gemäß § 5 Abs. 1 S. 2 RDG nach ihrem Inhalt, Umfang und<br />

sachlichen Zusammenhang mit der Haupttätigkeit unter Berücksichtigung<br />

der Rechtskenntnisse zu beurteilen, die für die Haupttätigkeit erforderlich<br />

sind.<br />

„[8] a) Die Frage, ob die Einziehung erfüllungshalber abgetretener Schadensersatzforderungen<br />

von Kunden zum Berufs- oder Tätigkeitsbild des Autovermieters<br />

gehört, wird in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedlich beurteilt.<br />

Nach der auch vom Berufungsgericht vertretenen Auffassung besteht das Berufsoder<br />

Tätigkeitsbild eines Mietwagenunternehmens in der Vermietung von Kraftfahrzeugen<br />

und beinhaltet schon mangels ausreichender Rechtskenntnisse des<br />

durchschnittlichen Autovermieters nicht die Befassung mit komplexen Rechtsfragen<br />

des Schadensersatzrechts (…). Eine andere Auffassung verweist darauf, dass<br />

die Einziehung abgetretener Kundenforderungen zu den üblichen Nebenleistungen<br />

von Mietwagenunternehmen gehöre und es durchaus in einem sachlichen<br />

Zusammenhang zu der Vermietungstätigkeit stehe, wenn der Autovermieter die


Rechtsprechung<br />

Berechtigung der abgerechneten Mietwagenkosten der gegnerischen Versicherung<br />

gegenüber nachweise; eine vertiefte rechtliche Prüfung sei hierbei nicht anzustellen<br />

(…). Einschränkend sieht eine dritte Meinung die Forderungseinziehung<br />

durch Mietwagenunternehmen nur dann als erlaubte Nebenleistung<br />

an, wenn allein die Höhe der Mietwagenkosten im Streit steht, wegen der darüber<br />

hinausgehenden Komplexität der Rechtslage hingegen nicht, wenn die Haftung<br />

dem Grunde nach bzw. die Haftungsquote streitig ist oder Schäden geltend<br />

gemacht werden, die in keinem Zusammenhang mit der Haupttätigkeit stehen,<br />

wie z.B. Schmerzensgeldansprüche (…).<br />

[9] b) Die letztgenannte Auffassung ist richtig … . Dies entspricht dem im Gesetzgebungsverfahren<br />

zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers und den<br />

Interessen der Beteiligten. …<br />

[11] bb) … § 5 RDG … [soll] … als zentrale Erlaubnisnorm für alle wirtschaftlich<br />

tätigen Unternehmen den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend den<br />

Weg für eine neue, weitere Auslegung der zulässigen Nebentätigkeit durch die<br />

Rechtsprechung eröffnen … . Zwar sind auch nach jetzt geltendem Recht Rechtsdienstleistungen<br />

nur erlaubt, wenn es sich um eine Nebenleistung handelt und<br />

diese zum Berufs- und Tätigkeitsbild des Unternehmens gehört (§ 5 Abs. 1 Satz 1<br />

RDG). Im Vordergrund muss also die allgemeine, nicht rechtliche Dienstleistung<br />

stehen; die Rechtsdienstleistung darf nicht ein solches Gewicht haben, dass für sie<br />

die volle Kompetenz eines Rechtsanwalts oder die besondere Sachkunde einer registrierten<br />

Person (vgl. §§ 10 ff. RDG) erforderlich ist. … Entscheidend ist, ob ein<br />

sachlicher Zusammenhang zwischen Haupt- und Nebenleistung besteht (…).<br />

[12] cc) Nach diesen Grundsätzen soll nach dem Entwurf zum Rechtsdienstleistungsgesetz<br />

die Einziehung von Kundenforderungen, die einem Unternehmer,<br />

Arzt oder einer Werkstatt erfüllungshalber abgetreten wurden, grundsätzlich erlaubt<br />

sein, auch wenn sie eine rechtliche Prüfung erfordert, weil die Rechtsdienstleistung<br />

– die Einziehung der eigenen Vergütungsansprüche gegenüber<br />

einem Dritten – besonders eng mit der eigentlichen, den Vergütungsanspruch<br />

auslösenden Haupttätigkeit verbunden ist. Als ein Anwendungsfall<br />

der als Nebenleistung zulässigen Inkassotätigkeit wird der Bereich der Unfallschadenregulierung,<br />

etwa bei der Geltendmachung von Mietwagenkosten, genannt,<br />

wobei häufig Streit über die Höhe der Mietwagenrechnung entstehe, insbesondere<br />

bei Zugrundelegung eines so genannten Unfallersatztarifs. Gerade die in einem<br />

Streitfall erforderliche Rechtfertigung der eigenen Leistung durch den Unternehmer<br />

belege die in § 5 Abs. 1 RDG geforderte Zugehörigkeit zu dessen eigentlicher<br />

Hauptleistung. …<br />

[13] Allerdings hat der Regierungsentwurf hinsichtlich der Einziehung von Kundenforderungen<br />

durch Autovermieter danach differenziert, ob die betroffene Forderung<br />

dem Grunde oder lediglich der Höhe nach im Streit steht. Die Regulierung<br />

dem Grunde nach streitiger Schadensfälle soll keine nach § 5 Abs. 1 RDG zulässige<br />

Nebenleistung der Vermietung eines Kraftfahrzeugs sein, weil die<br />

Klärung der Verschuldensfrage für den Unfallgeschädigten von essentieller<br />

Bedeutung sei. Zudem gehöre die rechtliche Beurteilung von Verkehrsunfällen<br />

nicht zum Berufsbild des Mietwagenunternehmers, so dass es auch an dem erforderlichen<br />

Zusammenhang mit der eigentlichen Hauptleistung fehle. Soweit ein<br />

Mietwagenunternehmen dem Unfallgeschädigten dagegen bei unstreitigem Haftungsgrund<br />

Hinweise zur Erstattungsfähigkeit der durch seine Beauftragung entstandenen<br />

Kosten erteile, soll die rechtliche Beratung des Unfallgeschädigten<br />

nach § 5 Abs. 1 RDG zulässig sein (…).“<br />

Folglich gehört nach Auffassung des BGH der Forderungseinzug jedenfalls<br />

dann als Nebenleistung zum Berufsbild eines Mietwagenunternehmers und<br />

ist daher gemäß § 5 Abs. 1 RDG erlaubt, wenn die Forderung dem Grunde<br />

nach unbestritten ist und es lediglich Streit über deren Höhe gibt.<br />

RÜ 4/2012<br />

Nach der früheren Rechtslage war eine<br />

rechtsberatende Tätigkeit gemäß Art. 1<br />

§ 5 Nr. 1 RBerG zulässig, wenn kaufmännische<br />

oder sonstige gewerbliche Unternehmer<br />

für ihre Kunden rechtliche Angelegenheiten<br />

erledigten, die mit einem<br />

Geschäft ihres Gewerbebetriebs in unmittelbarem<br />

Zusammenhang standen.<br />

Zu dieser Norm hat der BGH entschieden,<br />

dass ihre Voraussetzungen bei einem<br />

gewerblichen Kraftfahrzeugvermieter<br />

nicht vorliegen, weil es seine Berufstätigkeit<br />

nicht erfordert, sich geschäftsmäßig<br />

mit der Regulierung von Schadensfällen<br />

seiner Kunden zu befassen,<br />

und deshalb kein unmittelbarer Zusammenhang<br />

mit dem Hauptberuf gegeben<br />

ist (…). Bereits 1994 (BGH VersR 1994,<br />

950, 952) hat der BGH allerdings darauf<br />

hingewiesen, dass ein solches Vorgehen<br />

branchenüblich geworden sei und von<br />

den Kfz-Vermietern sogar erwartet werde,<br />

dass sie unmittelbar mit dem Haftpflichtversicherer<br />

des Schädigers abrechneten<br />

und ihm gegenüber die Ansprüche<br />

des Geschädigten verfolgten und durchsetzten.<br />

… Die Bindung des Richters an<br />

das Gesetz lasse es aber nicht zu, diesem<br />

Bedürfnis durch eine die gesetzgeberische<br />

Regelung „überholende“ richterliche<br />

Gesetzesauslegung Rechnung zu<br />

tragen. Es müsse vielmehr dem Gesetzgeber<br />

überlassen bleiben, die Notwendigkeit<br />

einer Gesetzesänderung zu überprüfen<br />

und gegebenenfalls das Gesetz<br />

zu ändern. Der Gesetzgeber hat diese<br />

Erwägungen in § 5 RDG aufgegriffen<br />

(BGH, Urt. v. 31.01.2012 – VI ZR 143/11,<br />

Rdnr. 10, 11).<br />

223


224<br />

RÜ 4/2012<br />

Nach Ansicht des BGH entspricht diese<br />

Sichtweise auch den Interessen der Beteiligten.<br />

Die Unfallgeschädigten gingen<br />

für den Vermieter erkennbar davon aus,<br />

dass die Mietwagenkosten von dem<br />

gegnerischen Haftpflichtversicherer, der<br />

ihnen gegenüber dem Grunde nach zu<br />

deren Übernahme verpflichtet ist, erstattet<br />

werden und sie mit der Schadensregulierung<br />

in keinem größeren Umfang<br />

behelligt werden, als unbedingt notwendig<br />

(…). Demzufolge seien Direktabrechnungen<br />

von Autovermietern mit<br />

dem gegnerischen Haftpflichtversicherer<br />

weit verbreitet (…). Damit liege es<br />

auch im Interesse des Vermieters, seine<br />

Tarife so zu gestalten, dass sie einerseits<br />

dem eigenen Gewinnmaximierungsinteresse<br />

entsprechen, andererseits in der<br />

Abrechnung mit dem Haftpflichtversicherer<br />

durchgesetzt werden können.<br />

Schon im Hinblick darauf müsse sich der<br />

Autovermieter – auch rechtliche – Kenntnisse<br />

hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit<br />

von Rechnungen aneignen, wenn es<br />

sich um die Anmietung eines Ersatzfahrzeugs<br />

nach einem Unfall handele. Es sei<br />

– auch im Streitfall – nicht ersichtlich, dass<br />

sich dann bei der nach einer Abtretung<br />

erfolgten Geltendmachung einer dem<br />

Grunde nach unstreitigen Forderung regelmäßig<br />

komplexe juristische Fragen<br />

stellten, die darüber hinausgehende<br />

Rechtskenntnisse erforderten (BGH, Urt. v.<br />

31.01.2012 – VI ZR 143/11, Rdnr. 15, 16).<br />

Rechtsprechung<br />

Da die Haftung der Kfz-Haftpflichtversicherung B für den von ihrer Versicherungsnehmerin<br />

V verursachten Unfallschaden dem Grunde nach von Anfang<br />

an unstreitig war und sie die von K geltend gemachte Forderung allein wegen<br />

der Höhe angreift, stellt die Geltendmachung der Mietwagenrechnung durch<br />

K nach den vom BGH entwickelten Grundsätzen eine Nebenleistung dar, die<br />

zum Berufsbild der Autovermieterin K gehört. Somit ist der Forderungseinzug<br />

durch K – wenn man diesbzgl. eine Rechtsdienstleistung i.S.v. § 2 Abs. 1 RDG<br />

annehmen würde – eine gemäß § 5 Abs. 1 RDG erlaubte Tätigkeit, sodass kein<br />

Verstoß gegen § 3 RDG vorliegt.<br />

Infolgedessen ist die Einigung von G und K über den Übergang der Schadensersatzforderung<br />

nicht gemäß § 134 BGB i.V.m. § 3 RDG nichtig, sodass die für<br />

eine Abtretung erforderliche wirksame Einigung i.S.v. § 398 S. 1 BGB gegeben<br />

ist.<br />

II. Ferner muss die G zur Abtretung berechtigt gewesen sein. Das ist der Fall,<br />

wenn sie verfügungsberechtigte Forderungsinhaberin ist.<br />

G könnte gegen B ein Anspruch auf Zahlung i.H.v. 572,40 € aus § 115 Abs. 1 S. 1<br />

Nr. 1 VVG i.V.m. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG sowie § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m.<br />

§§ 1 ff. StVO zustehen.<br />

Die Kfz-Haftpflichtversicherung B haftet gemäß § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG im<br />

gleichen Maße wie die Kfz-Halterin V.<br />

1. V haftet wegen des von ihr verursachten Auffahrunfalls gegenüber G aus §§ 7<br />

Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG sowie aus § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 1 ff. StVO.<br />

2. Die Haftpflichtversicherung B muss der G daher den aus der Beschädigung<br />

des Pkw entstandenen Schaden gemäß §§ 10 ff. StVG i.V.m. §§ 249 ff. BGB ersetzen.<br />

a) Infolge des Unfalls konnte die G für einige Tage ihr eigenes Fahrzeug nicht<br />

nutzen und musste deshalb für diesen Zeitraum ein Ersatzfahrzeug anmieten,<br />

was ohne den Unfall nicht erforderlich gewesen wäre, sodass der Schaden<br />

nach der für die Schadensermittlung maßgeblichen Differenzhypothese in<br />

den Mietwagenkosten besteht.<br />

b) Durch die Anmietung eines vergleichbaren Pkw wird wirtschaftlich ein Zustand<br />

hergestellt, der dem Zustand ohne das Schadensereignis vergleichbar<br />

ist, sodass Mietwagenkosten an sich gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ersatzfähig<br />

sind. Dabei muss sich der Geschädigte wegen des Wirtschaftlichkeitspostulats<br />

bei der Anmietung eines Ersatzfahrzeugs grundsätzlich für den Normaltarif<br />

entscheiden. Der von den Autovermietern oftmals angebotene und deutlich<br />

höhere Unfallersatztarif ist nur zu ersetzen, wenn spezifische im Normaltarif<br />

nicht berücksichtigte Leistungen bei der Vermietung einen Zuschlag rechtfertigen<br />

(BGH NJW 2007, 1122, 3782).<br />

Da das Berufungsgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob im Streitfall<br />

unfallbedingte Zusatzleistungen i.H.v. 262 € erforderlich waren, hat der<br />

BGH das Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung<br />

an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />

Es kann folglich nicht abschließend beurteilt werden, ob K gegen B ein Anspruch<br />

aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG sowie aus § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m.<br />

§§ 1 ff. StVO i.V.m. § 398 BGB i.H.v. 572,40 € zusteht.<br />

Claudia Haack


§ 1 KSchG, §§ 1, 7, 9 AGG<br />

Rechtsprechung<br />

RÜ 4/2012<br />

Kündigung des Chefarztes einer katholischen Klinik wegen<br />

Wiederverheiratung<br />

BAG, Urt. v. 08.09.2011 – 2 AZR 543/10<br />

Fall (Sachverhalt vereinfacht)<br />

K ist seit dem Jahre 2000 im katholischen S-Krankenhaus in D als Chefarzt der<br />

Abteilung Innere Medizin („Abteilungsarzt“) beschäftigt. Trägerin des Krankenhauses<br />

ist die B.<br />

Nach dem Arbeitsvertrag der Parteien leisten die Mitarbeiter ihren Dienst im<br />

Geist christlicher Nächstenliebe; als wichtiger Grund zur außerordentlichen<br />

Kündigung ist u.a. „Leben in kirchlich ungültiger Ehe oder eheähnlicher Gemeinschaft“<br />

vorgesehen.<br />

Nach Art. 3 Abs. 2 der auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Grundordnung<br />

des kirchlichen Dienstes vom 22.09.1993 (GrO) können kirchliche Dienstgeber<br />

pastorale, katechetische sowie in der Regel erzieherische und leitende Aufgaben<br />

nur einer Person übertragen, die der katholischen Kirche angehört. Art. 4<br />

Abs. 1 GrO fordert von den katholischen Mitarbeitern, dass sie die Grundsätze<br />

der katholischen Glaubens- und Sittenlehre anerkennen und beachten. Bei leitenden<br />

katholischen Mitarbeitern, zu denen u.a. Abteilungsärzte gehören, ist<br />

das persönliche Lebenszeugnis i.S.d. Grundsätze der katholischen Glaubensund<br />

Sittenlehre erforderlich.<br />

Nach Art. 5 Abs. 1 GrO muss der Dienstgeber, wenn ein Mitarbeiter die Beschäftigungsanforderungen<br />

nicht mehr erfüllt, durch Beratung zu erreichen<br />

versuchen, dass dieser den Mangel auf Dauer beseitigt. Als letzte Maßnahme<br />

kommt eine Kündigung in Betracht. Gemäß Art. 5 Abs. 2 GrO ist der Abschluss<br />

einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen<br />

Ehe* ein schwerwiegender Loyalitätsverstoß, der eine Kündigung<br />

rechtfertigen kann. In diesem Fall ist nach Art. 5 Abs. 3 S. 1 GrO die Weiterbeschäftigung<br />

u.a. dann ausgeschlossen, wenn der Loyalitätsverstoß von leitend<br />

tätigen Mitarbeitern begangen wird. Lediglich aus schwerwiegenden Gründen<br />

des Einzelfalls kann ausnahmsweise von der Kündigung abgesehen werden<br />

(Art. 5 Abs. 3 S. 2 GrO). Im Fall des Abschlusses einer nach dem Glaubensverständnis<br />

und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe scheidet eine<br />

Weiterbeschäftigung jedenfalls dann aus, wenn sie unter öffentliches Ärgernis<br />

erregenden oder die Glaubwürdigkeit der Kirche beeinträchtigenden Umständen<br />

geschlossen wird (Art. 5 Abs. 5 GrO).<br />

Nachdem sich seine erste Ehefrau im Jahre 2005 von ihm getrennt hatte, lebte<br />

K mit seiner jetzigen Frau von 2006 bis 2008 unverheiratet zusammen, was der<br />

B seit Herbst 2006 bekannt war. Nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau<br />

Anfang 2008 heiratete K im August 2008 seine jetzige Frau standesamtlich.<br />

Davon erfuhr B spätestens im November 2008. In den folgenden Wochen fanden<br />

sowohl zwischen den Parteien als auch aufseiten der B Erörterungen und<br />

Beratungen statt. Nach Anhörung der bei ihr bestehenden Mitarbeitervertretung<br />

(MAV), die von einer Stellungnahme absah, kündigte die B das Arbeitsverhältnis<br />

im März 2009 fristgerecht schriftlich zum 30.09.2009.<br />

K vertritt die Auffassung, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Die erneute<br />

Heirat stelle keinen Kündigungsgrund dar, da er als Chefarzt weder leitender<br />

Angestellter noch Träger der kirchlichen Verkündigung i.S.d. Art. 5 Abs. 3<br />

Leitsatz<br />

Auch bei Kündigungen wegen Enttäuschung<br />

der berechtigten Loyalitätserwartungen<br />

eines kirchlichen Arbeitgebers<br />

kann die stets erforderliche Interessenabwägung<br />

im Einzelfall zu dem Ergebnis<br />

führen, dass dem Arbeitgeber die<br />

Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers<br />

zumutbar und die Kündigung deshalb unwirksam<br />

ist. Abzuwägen sind das Selbstverständnis<br />

der Kirchen einerseits und<br />

das Recht des Arbeitnehmers auf Achtung<br />

seines Privat- und Familienlebens<br />

andererseits.<br />

* Eine ungültige Ehe schließt nach katholischem<br />

Rechtsverständnis (vgl. Canon<br />

[Can.] 1085 § 1 Codex Iuris Canonici<br />

[CIC]), wer durch das Band einer früheren<br />

Ehe gebunden ist. Eine neue Eheschließung<br />

ist auch dann nicht erlaubt, wenn<br />

eine frühere Ehe aus irgendeinem Grund<br />

nichtig oder aufgelöst worden ist, die<br />

Nichtigkeit bzw. die Auflösung der früheren<br />

Ehe aber noch nicht rechtmäßig<br />

und sicher feststeht, Can. 1085 § 2 CIC.<br />

225


226<br />

RÜ 4/2012<br />

§ 30<br />

Anhörung und Mitberatung<br />

bei ordentlicher Kündigung<br />

(1) Der Mitarbeitervertretung ist vor jeder<br />

ordentlichen Kündigung durch den<br />

Dienstgeber schriftlich die Absicht der<br />

Kündigung mitzuteilen. Bestand das Arbeitsverhältnis<br />

im Zeitpunkt der beabsichtigten<br />

Kündigung bereits mindestens<br />

sechs Monate, so hat er auch die<br />

Gründe der Kündigung darzulegen.<br />

…<br />

(5) Eine ohne Einhaltung des Verfahrens<br />

nach den Absätzen 1 und 2 ausgesprochene<br />

Kündigung ist unwirksam.<br />

Rechtsprechung<br />

GrO sei. Zudem verstoße die Kündigung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz,<br />

da B andere geschiedene und wiederverheiratete Chefärzte durchaus<br />

eingestellt oder weiterbeschäftigt habe oder sogar derzeit beschäftige. Ferner<br />

habe er sich nicht kirchenfeindlich verhalten. Die Trennung sei nicht öffentlich<br />

geworden und sie habe auch bei der Belegschaft kein Ärgernis erregt.<br />

B ist demgegenüber der Ansicht, die Kündigung sei sozial gerechtfertigt. K sei<br />

eine ungültige Ehe i.S.d. katholischen Kirchenrechts eingegangen und habe<br />

dadurch in erheblicher Weise gegen seine Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis<br />

verstoßen. Er sei als leitender Mitarbeiter i.S.d. Art. 5 Abs. 3 GrO anzusehen.<br />

Ein Großteil der von K benannten geschiedenen und wiederverheirateten<br />

Chefärzte sei nicht katholisch. Andere arbeiteten in Krankenhäusern,<br />

die nicht in ihrer Trägerschaft stünden. Herr Dr. B sei Ende 2003 ausgeschieden.<br />

Zudem habe dieser seine Wiederverheiratung erst einen Monat vor seinem<br />

altersbedingten Ausscheiden angezeigt; mit Rücksicht auf das kurz<br />

bevorstehende Ausscheiden sei in diesem Fall von einer Kündigung abgesehen<br />

worden. Allenfalls bei dem schon in den 80er Jahren verstorbenen Chefarzt<br />

Dr. S könne ein vergleichbarer Sachverhalt angenommen werden. Damals<br />

habe die Grundordnung des kirchlichen Dienstes aber noch nicht gegolten.<br />

Hat die Kündigung das Arbeitsverhältnis zum 30.09.2009 beendet?<br />

Entscheidung<br />

B könnte das Arbeitsverhältnis durch eine ordentliche Kündigung zum 30.09.<br />

2009 beendet haben.<br />

I. K ist seit dem Jahr 2000 bei der B beschäftigt, sodass zwischen K und B<br />

ursprünglich ein wirksamer Arbeitsvertrag vorgelegen hat.<br />

II. Eine schriftliche Kündigungserklärung i.S.v. § 623 BGB hat die B im März<br />

2009 abgegeben.<br />

III. Die gemäß § 30 MAVO (Mitarbeitervertretungsordnung) erforderliche vorherige<br />

Beteiligung der Mitarbeitervertretung ist erfolgt.<br />

IV. B hat sich für eine Kündigung des K entschieden, da dieser mit seiner erneuten<br />

Heirat eine nach der Rechtsordnung der katholischen Kirche ungültige<br />

Ehe abgeschlossen und dadurch ihrer Ansicht nach einen schwerwiegenden<br />

Loyalitätsverstoß begangen hat. Infolgedessen könnte die Kündigungserklärung<br />

der B gemäß § 134 BGB i.V.m. § 7 Abs. 1 AGG wegen einer Benachteiligung<br />

aus Gründen der Religion nichtig sein.<br />

Nach § 2 Abs. 4 AGG gelten für Kündigungen jedoch ausschließlich die Bestimmungen<br />

zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz, sodass<br />

das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG auf Kündigungen nach dem<br />

Wortlaut der Norm keine Anwendung findet. Da die Antidiskriminierungsrichtlinien,<br />

deren Umsetzung das AGG dient, jedoch ausdrücklich auch „Entlassungsbedingungen“<br />

erfassen, ist umstritten, ob die Regelung des § 2 Abs. 4<br />

AGG europarechtskonform ist.<br />

1. Nach einer Ansicht (ArbG Osnabrück BB 2007, 1504; Sagan NZA 2006,<br />

1257) ist die Regelung europarechtswidrig und daher unanwendbar, da die<br />

europäischen Richtlinien auch einen wirksamen Schutz vor diskriminierenden<br />

Kündigungen verlangen, den der deutsche Gesetzgeber wegen der Bereichsausnahme<br />

in § 2 Abs. 4 AGG nicht ausreichend gewährt.<br />

2. Nach h.M. (BAG, Urt. v. 06.11.2008 – 2 AZR 523/07, RÜ 2009, 297 = NZA<br />

2009, 361; Adomeit/Mohr § 2 AGG Rdnr. 199.; Bauer/Krieger NZA 2007, 674,<br />

675) kann § 2 Abs. 4 AGG dahingehend europarechtskonform ausgelegt wer-


Rechtsprechung<br />

den, dass die Benachteiligungsverbote des AGG bei der Auslegung der unbestimmten<br />

Rechtsbegriffe des allgemeinen und des besonderen Kündigungsschutzes<br />

(soziale Rechtfertigung i.S.d. § 1 KSchG; wichtiger Grund i.S.d. § 626<br />

BGB) zu berücksichtigen sind.<br />

3. Stellungnahme: Der deutsche Gesetzgeber muss die Vorgaben der europäischen<br />

Richtlinien umsetzen, er ist jedoch nicht verpflichtet, dies durch ein<br />

einziges Gesetz – wie das AGG – zu tun. Eine ausreichende Umsetzung liegt<br />

daher auch dann vor, wenn bereits vorhandene Regelungen das durch die<br />

Richtlinie angestrebte Ziel verwirklichen. Da die Benachteiligungsverbote des<br />

AGG bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des allgemeinen<br />

und besonderen Kündigungsschutzes berücksichtigt werden können, ist bereits<br />

dadurch ein ausreichender Schutz vor diskriminierenden Kündigungen<br />

gegeben und § 2 Abs. 4 AGG ist somit europarechtskonform.<br />

Folglich ist die Kündigungserklärung der B nicht gemäß § 134 BGB i.V.m. § 7<br />

Abs. 1 AGG nichtig.<br />

V. Die Kündigung könnte jedoch gemäß § 1 Abs. 1 KSchG wegen Sozialwidrigkeit<br />

unwirksam sein (allgemeiner Kündigungsschutz).<br />

1. Dazu muss das Kündigungsschutzgesetz anwendbar sein.<br />

Das Arbeitsverhältnis des K, der seit dem Jahr 2000 bei der B beschäftigt ist,<br />

bestand zum Zeitpunkt der Kündigung länger als sechs Monate, § 1 Abs. 1<br />

KSchG, und es ist davon auszugehen, dass im Betrieb der B mehr als 5 Arbeitnehmer<br />

beschäftigt werden, § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG, sodass das Kündigungsschutzgesetz<br />

in persönlicher und betrieblicher Hinsicht anwendbar ist.<br />

2. Gemäß § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG ist die Kündigung sozialwidrig, es sei denn, sie<br />

ist aus Gründen, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers<br />

liegen, oder aus dringenden betrieblichen Gründen gerechtfertigt.<br />

a) K könnte mit seiner erneuten Heirat einen schwerwiegenden Loyalitätsverstoß<br />

wegen Missachtung maßgeblicher kirchlicher Vorschriften begangen haben,<br />

sodass seine Kündigung verhaltensbedingt gerechtfertigt sein könnte.<br />

Eine Kündigung ist verhaltensbedingt i.S.v. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG, wenn der Arbeitnehmer<br />

eine Vertragspflicht – i.d.R. schuldhaft – erheblich verletzt hat<br />

(Schaub/Linck, Arbeitsrechts-Handbuch, 14. Aufl. 2011, § 133 Rdnr. 1).<br />

Ferner könnte durch die zweite Eheschließung die persönliche Eignung des K<br />

für die von ihm auszuübende Tätigkeit als Chefarzt einer katholischen Klinik<br />

fortgefallen sein, sodass die Kündigung auch aus Gründen in der Person des<br />

Arbeitnehmers bedingt sein könnte. Eine Kündigung ist personenbedingt,<br />

wenn der Arbeitnehmer aufgrund mangelnder persönlicher Eignung oder seiner<br />

persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften nicht mehr in der Lage ist,<br />

künftig seine arbeitsvertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen (Schaub/Linck<br />

a.a.O., § 131 Rdnr. 1).<br />

Nach Maßgabe der Regelungen der kirchlichen Grundordnung, die auf Einhaltung<br />

der katholischen Glaubenslehre gerichtet ist, könnte die Kündigung personen-<br />

bzw. verhaltensbedingt sein. Fraglich ist jedoch, ob für die Beurteilung<br />

der Kündigung diese Regelungen überhaupt maßgeblich sind.<br />

„[20] aa) Das Verlangen der Beklagten nach Einhaltung der Vorschriften der katholischen<br />

Glaubens- und Sittenlehre steht im Einklang mit den verfassungsrechtlichen<br />

Vorgaben.<br />

[21] (1) Dem Kläger steht freilich das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit<br />

gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und auf Schutz der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) zu. Diese<br />

Grundrechte umfassen regelmäßig auch die Freiheit, eine zweite Ehe einzugehen.<br />

…<br />

RÜ 4/2012<br />

Der Schwellenwert von i.d.R. mehr als<br />

zehn Arbeitnehmern gilt gemäß § 23<br />

Abs. 1 S. 3 KSchG nur für Neueinstellungen<br />

ab 01.01.2004.<br />

Ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund<br />

liegt vor, wenn der Arbeitnehmer<br />

nicht arbeiten will, ein personenbedingter<br />

dagegen, wenn der Arbeitnehmer<br />

nicht arbeiten kann.<br />

Das BAG hat offengelassen, ob es sich<br />

um eine personenbedingte und zugleich<br />

um eine verhaltensbedingte Kündigung<br />

handelt (BAG, Urt. v. 08.09.2011 –<br />

2 AZR 543/10, Rdnr. 15).<br />

227


228<br />

RÜ 4/2012<br />

Das AGG ist seit 18.08.2006 in Kraft und<br />

schützt insbesondere Beschäftigte, vgl.<br />

§ 6 Abs. 1 AGG, gegen Benachteiligungen<br />

im Arbeitsverhältnis, vgl. § 7 Abs. 1<br />

AGG i.V.m. § 1 AGG.<br />

Rechtsprechung<br />

[22] (2) Die Grundrechte des Arbeitnehmers nach Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG bestehen<br />

jedoch nicht uneingeschränkt. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts<br />

vom 4. Juni 1985 (…), dem das Bundesarbeitsgericht in ständiger<br />

Rechtsprechung gefolgt ist (…), kommt das durch Art. 140 GG iVm. Art. 137<br />

Abs. 3 WRV verfassungsrechtlich verbürgte Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht<br />

neben den verfassten Kirchen auch den ihnen zugeordneten,<br />

insbesondere karitativen Einrichtungen zu (…). …<br />

[23] (3) … Das ermöglicht es den Kirchen, in den Schranken des für alle geltenden<br />

Gesetzes den kirchlichen Dienst nach ihrem Selbstverständnis zu regeln und dazu<br />

die spezifischen Obliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer verbindlich zu machen.<br />

Werden Loyalitätsanforderungen in einem Arbeitsvertrag festgelegt, nimmt der<br />

kirchliche Arbeitgeber nicht nur die allgemeine Vertragsfreiheit für sich in Anspruch;<br />

er macht zugleich von seinem verfassungskräftigen Selbstbestimmungsrecht<br />

Gebrauch (…).<br />

[24] (4) Welche kirchlichen Grundverpflichtungen als Gegenstand des Arbeitsverhältnisses<br />

bedeutsam sein können, richtet sich nach den von der verfassten Kirche<br />

anerkannten Maßstäben. … Es bleibt danach grundsätzlich den verfassten Kirchen<br />

überlassen, verbindlich zu bestimmen, was die ,Glaubwürdigkeit der Kirche<br />

und der Einrichtung, in der sie beschäftigt sind‘ (vgl. Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 5 GrO)<br />

erfordert, welches die zu beachtenden ,Grundsätze der katholischen Glaubensund<br />

Sittenlehre‘ sind (vgl. Art. 4 Abs. 1 GrO) und welche ,Loyalitätsverstöße‘ (vgl.<br />

Art. 5 Abs. 2 GrO) aus ,kirchenspezifischen Gründen‘ als ,schwerwiegend‘ anzusehen<br />

sind. Auch die Entscheidung darüber, ob und wie innerhalb der im kirchlichen<br />

Dienst tätigen Mitarbeiter eine Abstufung der Loyalitätsanforderungen eingreifen<br />

soll (vgl. Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4 GrO), ist grundsätzlich eine dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht<br />

unterliegende Angelegenheit (…).“<br />

Daher sind für die Beurteilung der Kündigung die Regelungen der kirchlichen<br />

Grundordnung, die auf das Arbeitsverhältnis zwischen K und B anwendbar ist,<br />

maßgeblich. Danach ist K als Abteilungsarzt für „Innere Medizin“ leitender Mitarbeiter<br />

i.S.d. Art 5 Abs. 3 GrO und er hat mit seiner Wiederheirat eine nach katholischem<br />

Kirchenrecht ungültige Ehe begründet und somit einen schwerwiegenden<br />

Loyalitätsverstoß gemäß Art. 5 Abs. 2 GrO begangen, der an sich<br />

geeignet ist, eine ordentliche Kündigung zu begründen.<br />

b) Die Kündigung könnte jedoch eine Benachteiligung aus Gründen der Religion<br />

darstellen und daher wegen Verstoßes gegen §§ 1, 7 AGG sozial ungerechtfertigt<br />

gemäß § 1 Abs. 1 KSchG sein.<br />

Gemäß § 7 Abs. 1 AGG dürfen Beschäftigte nicht wegen eines in § 1 AGG genannten<br />

Grundes benachteiligt werden. K ist Arbeitnehmer der B und daher<br />

Beschäftigter i.S.v. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AGG. Ihm wurde gekündigt, weil er als<br />

Katholik durch seine zweite Heirat eine nach katholischem Kirchenrecht ungültige<br />

Ehe eingegangen ist.<br />

„[33] (1) Die Kündigung stellt zwar eine unmittelbare Benachteiligung des Klägers<br />

wegen der Religion iSd. § 3 Abs. 1 AGG dar. Dem Kläger wäre nicht wegen<br />

Wiederverheiratung gekündigt worden, wenn er nicht katholisch wäre.<br />

[34] (2) Die Benachteiligung ist jedoch nach § 9 Abs. 2 AGG gerechtfertigt.<br />

[35] (a) Nach § 9 Abs. 2 AGG berührt das Verbot unterschiedlicher Behandlung wegen<br />

der Religion nicht das Recht der Religionsgemeinschaften und der ihnen zugeordneten<br />

Einrichtungen iSd. § 9 Abs. 1 AGG, von ihren Beschäftigten ein loyales<br />

und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses verlangen<br />

zu können. …<br />

[36] (b) Im Streitfall hat der Kläger sich illoyal im Sinne des Ethos der Beklagten verhalten.<br />

Die Beklagte sieht, … , für leitende Mitarbeiter die Wiederverheiratung Ge-


Rechtsprechung<br />

schiedener als einen schweren Verstoß gegen zentrale Anforderungen ihrer Glaubens-<br />

und Sittenlehre an. Danach kommt der Ehe nicht eine formelle Funktion im<br />

Sinne eines frei zu schließenden und auch wieder zu lösenden privatrechtlichen<br />

Vertrages zu, sondern sie ist als Sakrament unauflöslich und integraler Bestandteil<br />

der göttlichen Schöpfungs- und Erlösungsordnung (…). Diese Vorgabe muss von<br />

der staatlichen Gewalt geachtet werden. Die erneute Heirat eines nach kirchlichem<br />

Verständnis Verheirateten ist ein schwerer und ernster Verstoß gegen<br />

die Loyalitätsanforderungen (…).<br />

[37] (c) Die umstrittene Frage, ob und in welchem Umfang Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie<br />

2000/78/EG es gebietet, dass die nach § 9 AGG vom Arbeitgeber gestellte berufliche<br />

Anforderung zugleich die Voraussetzungen einer nach der Art der Tätigkeit<br />

gerechtfertigten Anforderung erfüllt (…), kann dahinstehen. … Im Streitfall<br />

ist das Verbot der Wiederverheiratung auch nach der Art der vom Kläger ausgeübten<br />

Tätigkeit gerechtfertigt. Die Einhaltung der katholischen Glaubens- und Sittenlehre<br />

ist zwar nicht Voraussetzung für die Ausübung des Heilberufs im rein<br />

praktischen Sinne. Der Kläger ist jedoch als Chefarzt Vorgesetzter zahlreicher Mitarbeiter<br />

und verkörpert ihnen gegenüber und auch gegenüber den Patienten und<br />

ihren Angehörigen sowie in der Öffentlichkeit in besonderem Maße das Ethos der<br />

Beklagten. Sein Verhalten wird von seinen Mitarbeitern und von den Patienten<br />

und ihren Angehörigen der Beklagten zugerechnet. … Diese in mehrfacher Hinsicht<br />

besondere Funktion rechtfertigt es, dass die Beklagte von denjenigen Mitarbeitern,<br />

die sie mit der Wahrnehmung der Leitungsaufgaben betraut, eine Identifikation<br />

mit den Kernpunkten der katholischen Glaubens- und Sittenlehre fordert.“<br />

Die Kündigung stellt somit zwar eine Benachteiligung des K wegen der Religion<br />

dar, diese Benachteiligung ist jedoch gemäß § 9 Abs. 2 AGG gerechtfertigt,<br />

sodass die Kündigung nicht wegen Verstoßes gegen §§ 1, 7 AGG sozial ungerechtfertigt<br />

gemäß § 1 Abs. 1 KSchG ist.<br />

c) Bei der Beurteilung der sozialen Rechtfertigung muss jedoch grundsätzlich<br />

eine umfassende Interessenabwägung stattfinden. Dies gilt jedenfalls für<br />

die personen- und verhaltensbedingte Kündigung. Die Gründe in der Person<br />

oder im Verhalten des Arbeitnehmers müssen so gewichtig sein, dass sie bei<br />

verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien<br />

und des Betriebs die Kündigung als billigenswert und angemessen erscheinen<br />

lassen (Junker, Grundkurs Arbeitsrecht, 10. Aufl. 2011, Rdnr. 364).<br />

Die Kündigung der B ist somit trotz des Loyalitätsverstoßes des K und des damit<br />

vorliegenden Kündigungsgrundes in der Person bzw. im Verhalten des Arbeitnehmers<br />

nur dann sozial gerechtfertigt, wenn die Interessenabwägung<br />

zulasten des K ausfällt – also der B die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar<br />

ist.<br />

„[39] aa) Zu Gunsten der Beklagten wiegt die unverkennbare Schwere des Loyalitätsverstoßes.<br />

Die Beklagte hat als katholische Einrichtung das vom Grundgesetz<br />

gestützte Recht, auch als solche zu wirken und in Erscheinung zu treten. …<br />

[40] bb) Entscheidend geschwächt wird das Interesse der Beklagten an der Auflösung<br />

des Arbeitsverhältnisses allerdings durch drei Umstände, aus denen hervorgeht,<br />

dass sie selbst die Auffassung vertritt, einer ausnahmslosen Durchsetzung<br />

ihrer sittlichen Ansprüche zur Wahrung ihrer Glaubwürdigkeit nicht<br />

immer zu bedürfen.<br />

[41] (1) Dies zeigt sich daran, dass die Beklagte nach Art. 3 Abs. 2 GrO mit leitenden<br />

Tätigkeiten auch nichtkatholische Personen betrauen kann. Der katholische<br />

Glaube ist nur regelmäßige Voraussetzung für die Übertragung von Leitungsaufgaben.<br />

Die Beklagte ist also durch die Grundordnung nicht gezwungen, ihr<br />

RÜ 4/2012<br />

Das Kündigungsrecht wird vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />

beherrscht, d.h.<br />

der Arbeitgeber hat in jedem Fall zu versuchen,<br />

die Kündigung durch andere<br />

geeignete Maßnahmen zu vermeiden.<br />

229


230<br />

RÜ 4/2012<br />

Interessenabwägung bei einer verhaltensbedingten<br />

Kündigung:<br />

� Aufseiten des Arbeitgebers sind zu berücksichtigen:<br />

Erheblichkeit der Pflichtverletzung,<br />

Verschulden des Arbeitnehmers,<br />

Betriebsstörungen, Beharrlichkeit<br />

der Pflichtverletzung;<br />

� aufseiten des Arbeitnehmers: früheres<br />

Verhalten des Arbeitnehmers, Mitverschulden<br />

des Arbeitgebers, Lebensalter<br />

und Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers.<br />

Rechtsprechung<br />

,Wohl und Wehe‘ gewissermaßen bedingungslos mit dem Lebenszeugnis ihrer leitenden<br />

Mitarbeiter für die katholische Sittenlehre zu verknüpfen.<br />

[42] (2) Durch diese Rechtslage ist es auch zu erklären, dass die Beklagte mehrfach<br />

Chefärzte beschäftigt hat bzw. beschäftigt, die als Geschiedene erneut geheiratet<br />

haben. Es handelt sich insoweit überwiegend um nichtkatholische Arbeitnehmer<br />

… Richtig ist, dass darin … kein Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz<br />

gefunden werden kann. Das ändert aber nichts daran, dass<br />

die Beklagte das Ethos ihrer Organisation durch eine differenzierte Handhabung<br />

bei der Anwendung und Durchsetzung ihres legitimen Loyalitätsbedürfnisses<br />

selbst nicht zwingend gefährdet sieht.<br />

[43] (3) Die Beklagte hat nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts den<br />

nach dem Vertrag der Parteien der Wiederverheiratung gleichwertigen Verstoß<br />

des ehelosen Zusammenlebens des Klägers seit dem Herbst 2006 gekannt<br />

und hingenommen. Auch das zeigt, dass sie selbst ihre moralische Glaubwürdigkeit<br />

nicht ausnahmslos bei jedem Loyalitätsverstoß als erschüttert betrachtet,<br />

sondern sich, möglicherweise angesichts der ausgeprägten Verdienste des Klägers<br />

um die Patienten und ihres eigenen mit diesen Verdiensten verbundenen Rufs,<br />

durchaus zu unterscheiden gestattet. …<br />

[46] Zu Gunsten des Klägers fällt sein grundrechtlich und durch Art. 8, Art. 12 EMRK<br />

geschützter Wunsch in die Waagschale, in einer nach bürgerlichem Recht geordneten<br />

Ehe mit seiner jetzigen Frau zu leben. Auch deren Recht, die Form des Zusammenlebens<br />

mit dem von ihr gewählten Partner im gesetzlich vorgesehenen<br />

Rahmen zu bestimmen, verdient Achtung. Freilich hat der Kläger als Katholik<br />

durch den Vertragsschluss mit der Beklagten in die Einschränkung seines Rechts<br />

auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingewilligt. Wenn er an der Erfüllung<br />

seiner religiösen Pflicht aus Gründen, die den innersten Bezirk des Privatlebens betreffen,<br />

gescheitert ist, so geschah dies jedoch nicht aus einer ablehnenden oder<br />

auch nur gleichgültigen Haltung heraus. Der Kläger stellt die mit seiner Religionszugehörigkeit<br />

verbundenen ethischen Pflichten nicht in Abrede und hat<br />

sich zu keinem Zeitpunkt gegen die kirchliche Sittenlehre ausgesprochen oder ihre<br />

Geltung oder Zweckmäßigkeit in Zweifel gezogen. Im Gegenteil versucht er, den<br />

ihm nach kanonischem Recht verbliebenen Weg zur kirchenrechtlichen Legalisierung<br />

seiner Ehe zu beschreiten. Seine Leistung und sein Einsatz für die ihm anvertrauten<br />

Patienten, für seine Mitarbeiter und für sie selbst werden von der Beklagten<br />

anerkannt. Störungen des Leistungsaustauschs bestehen nicht. Irgendwelche<br />

auch nur leichten Irritationen bei Mitarbeitern oder Patienten wegen des<br />

Kündigungssachverhalts sind nicht erkennbar.“<br />

Nach alledem erscheint es für die B nicht unzumutbar, den K weiterzubeschäftigen:<br />

Zwar hat K mit seiner erneuten Heirat einen schweren Loyalitätsverstoß<br />

begangen, aber die B hat durch ihr Verhalten in der Vergangenheit selbst gezeigt,<br />

dass sie auf die Befolgung der von ihr aufgestellten Regeln nicht immer<br />

konsequent Wert legt. Ferner ist bislang durch die erneute Heirat des K weder<br />

das Vertrauensverhältnis zu den Mitarbeitern oder den Patienten beeinträchtigt<br />

worden noch wurde das Ansehen der B dadurch erkennbar in Mitleidenschaft<br />

gezogen. Da es für weitere Loyalitätsverstöße seitens K keinerlei Anhaltspunkte<br />

gibt, wird K und B eine künftige Zusammenarbeit möglich sein.<br />

Infolgedessen ist der B die Weiterbeschäftigung des K zumutbar. Die Kündigung<br />

ist daher sozial ungerechtfertigt und somit gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam.<br />

Folglich hat die Kündigung der B vom März 2009 das Arbeitsverhältnis zwischen<br />

K und B nicht zum 30.09.2009 beendet.<br />

Claudia Haack


§§ 22, 23, 24, 212 StGB<br />

Rechtsprechung<br />

RÜ 4/2012<br />

Wiederholte Korrektur des Rücktrittshorizonts zuungunsten<br />

des Täters nur bei engstem Zusammenhang zur Tathandlung<br />

BGH, Urt. v. 01.12.2011 – 3 StR 337/11<br />

Fall (Sachverhalt vereinfacht)<br />

A traf sich mit K und G in seiner Wohnung, um eine seit längerem streitige Angelegenheit<br />

zu klären. Das Gespräch verlief zunächst ruhig. Kurz nachdem G<br />

den Raum für einen Toilettenbesuch verlassen hatte, begannen A und K heftig<br />

zu streiten. A fasste daher den Entschluss, K zu erstechen. Die jederzeit mögliche<br />

Rückkehr des G und sein zu erwartender Widerstand schreckten ihn hiervon<br />

nicht ab, da er ihm körperlich überlegen war. A zog ein mitgebrachtes<br />

Messer aus seiner Jackentasche und stieß es zwei Mal in den Brustkorb des K,<br />

der zusammenbrach und zunächst auf dem Boden liegen blieb.<br />

A ging davon aus, alles Erforderliche zur Tötung des K getan zu haben und<br />

ging auf den nun zurückkehrenden G los. In diesem Moment stand K unerwartet<br />

auf und stürzte sich von hinten auf A, der dachte, nochmals zustechen zu<br />

müssen, um K zu töten. Dies gelang ihm zunächst nicht, da K und G ihn gemeinsam<br />

überwältigen und auf dem Boden fixieren konnten. Da A davon ausging,<br />

sich schnell aus der Umklammerung lösen und sowohl K als auch G dann<br />

erstechen zu können, wehrte er sich heftig.<br />

K lief deshalb in das Nachbarzimmer und alarmierte telefonisch Hilfe. Anschließend<br />

brach er bewusstlos zusammen. Hierbei stöhnte er so laut, dass sowohl<br />

A als auch G dies hörten. G ließ A daraufhin los und rannte aus der Wohnung,<br />

um Hilfe zu holen. Auch A bemerkte nun die inzwischen eingetretene<br />

Handlungsunfähigkeit des K. Er ging deshalb „erst recht“ davon aus, dass K<br />

ohne weitere Tathandlungen sterben werde und flüchtete. K wurde durch die<br />

von ihm herbeigerufenen Sanitäter gerettet.<br />

Strafbarkeit des A wegen versuchten Totschlags?<br />

Entscheidung<br />

A könnte sich durch die Messerstiche gegen K wegen versuchten Totschlags<br />

gemäß §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben.<br />

I. Die Tat ist nicht vollendet, weil K überlebt hat. Die Strafbarkeit des Versuchs<br />

folgt aus § 23 Abs. 1 StGB.<br />

II. A hielt es zum Zeitpunkt der Messerstiche für möglich, dass der Tod des K<br />

eintrat und nahm dies billigend in Kauf. Der erforderliche Tatentschluss liegt<br />

somit vor. Ferner hat er subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht es los“ der Tat<br />

überschritten, das Leben des K mit den Messerstichen nach seinem Vorstellungsbild<br />

in eine konkrete nahe Gefahr gebracht und folglich nach § 22 StGB<br />

unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt. Er handelte auch<br />

rechtswidrig und schuldhaft.<br />

III. Fraglich ist jedoch, ob A gemäß § 24 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. StGB strafbefreiend<br />

zurückgetreten ist, indem er aus der Wohnung flüchtete und auf weitere<br />

Messerstiche verzichtete.<br />

1. Hierzu müsste zu diesem Zeitpunkt ein Aufgeben der weiteren Tatausführung<br />

noch möglich gewesen sein. Nach h.L. und Rechtsprechung setzen sämt-<br />

Leitsätze<br />

1. Eine Korrektur des Rücktrittshorizonts<br />

ist in engen Grenzen möglich. Der Versuch<br />

eines Tötungsdeliktes ist daher<br />

nicht beendet, wenn der Täter zunächst<br />

irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich<br />

hält, aber nach alsbaldiger Erkenntnis<br />

seines Irrtums von weiteren Ausführungshandlungen<br />

Abstand nimmt. Rechnet<br />

der Täter dagegen zunächst nicht<br />

mit einem tödlichen Ausgang, liegt eine<br />

umgekehrte Korrektur des Rücktrittshorizonts<br />

vor, wenn er unmittelbar darauf<br />

erkennt, dass er sich insoweit geirrt hat.<br />

2. Wechselt das vorgenannte Vorstellungsbild<br />

des Täters nach Abschluss der<br />

letzten Tathandlung in engstem räumlichem<br />

und zeitlichem Zusammenhang<br />

mehrfach, so kommt auch eine mehrfache<br />

Korrektur des Rücktrittshorizontes<br />

sowohl zugunsten als auch zuungunsten<br />

des Täters in Betracht.<br />

(Leitsätze des Bearbeiters)<br />

Bei der Rücktrittsprüfung sollten im Obersatz<br />

zunächst die einschlägige gesetzliche<br />

Rücktrittsvariante – regelmäßig<br />

der tätergünstigste § 24 Abs. 1 S. 1, 1. Alt.<br />

StGB für den Rücktritt vom unbeendeten<br />

Versuch – sowie das hierfür in Betracht<br />

kommende Täterverhalten genannt werden.<br />

Bei mehraktigen Geschehensabläufen<br />

mit wechselnden täterseitigen Erkenntnishorizonten<br />

wie dem vorliegenden<br />

empfiehlt es sich ferner, bei der<br />

Prüfung zeitlich an das Vorstellungsbild<br />

des Täters vor dem abschließenden<br />

Verzicht auf weitere Tathandlungen<br />

– hier also an die Flucht des A aus<br />

der Wohnung – anzuknüpfen. So können<br />

mögliche vorherige Korrekturen des<br />

täterseitigen Rücktrittshorizonts sauber<br />

in die Fallprüfung integriert werden.<br />

231


232<br />

RÜ 4/2012<br />

Der BGH ist in der vorliegenden Entscheidung<br />

bei der Rücktrittsprüfung – seiner<br />

ständigen Rechtsprechung entsprechend<br />

– von der Gesamtbetrachtungslehre<br />

ausgegangen, ohne die hiervon divergierenden<br />

Ansätze zum Rücktritt bei<br />

mehraktigen Geschehensabläufen zu erörtern<br />

(vgl. hierzu im Einzelnen AS-Skript<br />

Strafrecht AT 2 [2011], Rdnr. 186 f.). Er<br />

konnte dabei die Frage des Fehlschlags<br />

offenlassen, da ein strafbefreiender Rücktritt<br />

aus den unten erörterten Gründen<br />

scheiterte. In einer Klausur ist ein derartige<br />

vorgreifliche Prüfung nicht zulässig<br />

und eine saubere Fehlschlagprüfung damit<br />

unerlässlich. Da nach dem Vorstellungsbild<br />

des A nach Abschluss der letzten<br />

Ausführungshandlung durchgehend<br />

kein Fehlschlag vorlag, musste die Frage,<br />

ob sein zwischenzeitlich geändertes Vorstellungsbild<br />

überhaupt eine relevante<br />

Korrektur seines ursprünglichen Rücktrittshorizonts<br />

in Richtung eines Fehlschlags<br />

bewirken konnte, an dieser Stelle<br />

noch nicht erörtert werden.<br />

Der BGH hat eine erforderliche grundlegende<br />

Tatplanänderung und damit<br />

einen Fehlschlag in einer jüngeren Entscheidung<br />

ausdrücklich bejaht, wenn der<br />

Täter nach Abschluss seiner letzten Ausführungshandlung<br />

erkennt, dass die ursprünglich<br />

zur Tatbestandverwirklichung<br />

eingeplante Unterstützungshandlung einer<br />

anderen Person nicht erbracht wird<br />

und er stattdessen den Widerstand dieser<br />

Person überwinden muss (vgl. BGH<br />

RÜ 2010, 505 f.). In der vorliegenden<br />

Konstellation hat A im Unterschied hierzu<br />

von vornherein mit dem Widerstand<br />

des G gerechnet.<br />

Rechtsprechung<br />

liche Rücktrittsalternativen des § 24 StGB begriffsnotwendig voraus, dass der<br />

Versuch nicht fehlgeschlagen ist (vgl. BGHSt 35, 90, 94, Sch/Sch/Eser, StGB,<br />

28. Aufl. 2010, § 24 Rdnr. 7 ff.).<br />

Ein Fehlschlag liegt auf Grundlage der herrschenden Gesamtbetrachtungslehre<br />

vor, wenn der Täter nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung<br />

erkennt oder annimmt, dass er den von seinem Vorsatz umfassten<br />

Tatbestand entweder überhaupt nicht, nur mit einer zeitlichen Verzögerung<br />

(Zäsur) oder nur mit einer grundlegenden Änderung des ursprünglichen<br />

Tatplans vollenden kann (vgl. BGH NStZ 2007, 91; NStZ 2008, 393).<br />

A ging sowohl unmittelbar nach den Messerstichen als auch nach dem Zusammenbruch<br />

des K aufgrund des lauten Stöhnens davon aus, dass K ohne<br />

weitere Tathandlungen sterben werde. Als Anknüpfungspunkt für einen Fehlschlag<br />

kommt folglich allein sein geändertes Vorstellungsbild während seiner<br />

zwischenzeitlichen Fixierung durch K und G in Betracht. Denn während<br />

dieses Zeitraums hielt A es zwar für möglich, K und G schnell überwältigen und<br />

beide unmittelbar anschließend – also ohne zeitliche Zäsur – erstechen zu<br />

können. Hierin könnte jedoch eine einen Fehlschlag begründende grundlegende<br />

Änderung des ursprünglich allein auf die Tötung des K gerichteten<br />

Tatplans liegen.<br />

Hiergegen spricht, dass K bereits vor den Messerstichen die Rückkehr des G<br />

und dessen Widerstand für möglich hielt. Auch während seiner Fixierung<br />

musste er folglich zur Tatbestandsvollendung nach seinem Vorstellungsbild<br />

keinen völlig neuen abweichenden Tatplan entwickeln und umsetzen. Sein<br />

Versuch war folglich auch in dieser Zeitspanne nicht fehlgeschlagen.<br />

2. Fraglich ist jedoch, ob zum Zeitpunkt der Flucht des A aus der Wohnung<br />

überhaupt ein unbeendeter Versuch i.S.v. § 24 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. StGB vorlag<br />

und er daher durch den schlichten Verzicht auf weitere Messerstiche strafbefreiend<br />

zurücktreten konnte.<br />

„[7] Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch bestimmt<br />

sich nach dem Vorstellungsbild des Täters nach Abschluss der letzten von ihm vorgenommenen<br />

Ausführungshandlung, dem sogenannten Rücktrittshorizont (…).<br />

Bei einem Tötungsdelikt liegt demgemäß ein unbeendeter Versuch vor, bei dem<br />

allein der Abbruch der begonnenen Tathandlung zum strafbefreienden Rücktritt<br />

vom Versuch führt, wenn der Täter zu diesem Zeitpunkt noch nicht alles getan hat,<br />

was nach seiner Vorstellung zur Herbeiführung des Todes erforderlich oder zumindest<br />

ausreichend ist (…). Ein beendeter Tötungsversuch, bei dem er für einen strafbefreienden<br />

Rücktritt vom Versuch den Tod des Opfers durch eigene Rettungsbemühungen<br />

verhindern oder sich darum zumindest freiwillig und ernsthaft bemühen<br />

muss, ist hingegen anzunehmen, wenn der Täter den Eintritt des Todes bereits<br />

für möglich hält (…) oder sich keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns<br />

macht (…).“<br />

a) Wie dargestellt, dachte A unmittelbar nach den Messerstichen zunächst,<br />

dass K auch ohne weitere Messerstiche sterben werde, er also alles Erforderliche<br />

zu seiner Tötung getan habe. Nach seinem Vorstellungsbild lag somit im<br />

unmittelbaren Anschluss an seine letzte Ausführungshandlung zunächst ein<br />

beendeter Versuch vor.<br />

b) Fraglich ist jedoch, ob dieser ursprüngliche Rücktrittshorizont zugunsten<br />

des A in einen unbeendeten Versuch zu korrigieren ist, da er hiervon abweichend<br />

während seiner Fixierung durch G und K davon ausging, zur Tötung des<br />

K weitere Messerstiche verüben zu müssen.<br />

Zweifel an einer derartigen Korrektur des Rücktrittshorizonts bestehen insbesondere<br />

vor dem Hintergrund, dass A nach dem Zusammenbruch des K auf-


Rechtsprechung<br />

grund seines lauten Stöhnens – in Übereinstimmung mit seinem Vorstellungsbild<br />

unmittelbar nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung – wieder<br />

davon ausging, alles Erforderliche zur Tötung des K getan zu haben.<br />

„[7] (…) Eine Korrektur des Rücktrittshorizonts ist in engen Grenzen möglich. Der<br />

Versuch eines Tötungsdeliktes ist daher nicht beendet, wenn der Täter zunächst<br />

irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich hält, aber nach alsbaldiger Erkenntnis<br />

seines Irrtums von weiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt (…).<br />

Rechnet der Täter dagegen zunächst nicht mit einem tödlichen Ausgang, so liegt<br />

eine umgekehrte Korrektur des Rücktrittshorizonts vor, wenn er unmittelbar darauf<br />

erkennt, dass er sich insoweit geirrt hat. In diesem Fall ist ein beendeter<br />

Versuch gegeben, wenn sich die Vorstellung des Täters bei fortbestehender<br />

Handlungsmöglichkeit sogleich nach der letzten Tathandlung in engstem<br />

räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dieser ändert (…).<br />

[8] Nach diesen Maßstäben war der Mordversuch an K beendet, als der Angeklagte<br />

in der Vorstellung die Wohnung verließ, sein Opfer könne aufgrund der Stiche versterben.<br />

(…)<br />

[11] Sollte der Angeklagte aufgrund des Verhaltens des K, insbesondere dessen<br />

Beteiligung an der Rangelei, zwischendurch zu der Vorstellung gekommen<br />

sein, es bestehe für diesen doch keine Lebensgefahr, so lag in dem<br />

rechtsfehlerfrei festgestellten erneuten Wechsel im Vorstellungsbild des<br />

Angeklagten eine nochmalige Korrektur des Rücktrittshorizonts, die zum<br />

Vorliegen eines beendeten Versuchs führt.<br />

Der erforderliche enge zeitliche und räumliche Zusammenhang zwischen den<br />

zwei Messerstichen und dem Wechsel des Vorstellungsbildes (…) lag noch vor.<br />

Nach den Feststellungen vergingen vom Zeitpunkt der Stiche bis zum Zusammenbruch<br />

des Tatopfers im Wohnzimmer nur wenige Sekunden, maximal eine Minute.<br />

Es handelte sich um ein ohne wesentliche Zwischenakte ablaufendes dynamisches<br />

Geschehen. Ein fehlender enger zeitlicher Zusammenhang mit einer Tötungshandlung<br />

ist von der Rechtsprechung demgegenüber erst bei einer deutlich<br />

länger andauernden Zäsur von 15 (…) bzw. zehn Minuten (…) angenommen<br />

worden.“<br />

Selbst für den Fall einer zwischenzeitlichen Korrektur des Rücktrittshorizonts<br />

zugunsten des A wurde dieser somit abermals zuungunsten des A in einen beendeten<br />

Versuch korrigiert. A ist folglich nicht gemäß § 24 Abs. 1 S. 1, 1. Alt.<br />

StGB strafbefreiend zurückgetreten, indem er aus der Wohnung flüchtete<br />

und auf weitere Messerstiche verzichtete.<br />

IV. A hat ferner weder die Tatvollendung i.S.v. § 24 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. StGB<br />

verhindert noch hat er sich freiwillig und ernsthaft um deren Verhinderung<br />

i.S.v. § 24 Abs. 1 S. 2 StGB bemüht. Ein strafbefreiender Rücktritt von seinem<br />

beendeten Versuch liegt folglich ebenfalls nicht vor.<br />

Ergebnis: A hat sich durch die Messerstiche gegen K wegen versuchten Totschlags<br />

gemäß §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.<br />

Dr. Hans-Wilhelm Oymann<br />

RÜ 4/2012<br />

Eine Korrektur des Rücktrittshorizonts<br />

kommt denklogisch erst in Betracht,<br />

nachdem ein derartiger Rücktrittshorizont<br />

erstmalig entstanden ist. Letzteres<br />

ist insbesondere bei einem – hier<br />

nicht vorliegenden – Irrtum über die<br />

Tatvollendung problematisch. Denn solange<br />

der Täter irrtümlich annimmt, den<br />

tatbestandlichen Erfolg bereits herbeigeführt<br />

zu haben, stellt sich für ihn wegen<br />

dieses Irrtums die Frage eines etwaigen<br />

Rücktritts vom Versuch von vornherein<br />

nicht. Ein korrekturfähiger Rücktrittshorizont<br />

kann in diesen Fällen vielmehr<br />

erstmals mit dem Erkennen des<br />

Irrtums über die Tatvollendung entstehen.<br />

Die Entdeckung des Irrtums über<br />

die Tatvollendung ist dann der maßgebliche<br />

Zeitpunkt für die Abgrenzung zwischen<br />

beendetem und unbeendetem<br />

Versuch (vgl. hierzu BGH RÜ 2011, 573 f.).<br />

233


234<br />

RÜ 4/2012<br />

§ 263 StGB; §§ 138, 691 ZPO<br />

Rechtsprechung<br />

Erwirkung eines Mahnbescheides mittels falscher Angaben<br />

BGH, Beschl. v. 20.12.2011 – 4 StR 491/11<br />

OLG Celle, Beschl. v. 01.11.2011 – 31 Ss 29/11<br />

Leitsatz<br />

Die Erklärung unrichtiger Tatsachen in<br />

einem Mahnantrag mit dem Willen, den<br />

Rechtspfleger zum Erlass eines Mahnbescheides<br />

gegen den Antragsgegner zu<br />

veranlassen, obwohl dem Antragsteller<br />

die Nichtexistenz der geltend gemachten<br />

Forderung bewusst ist, erfüllt den<br />

Tatbestand des versuchten Betrugs.<br />

(Leitsatz des OLG Celle)<br />

In einigen Bundesländern (etwa in Nordrhein-Westfalen,<br />

vgl. § 1 MBearbMahn-<br />

NRW i.V.m. § 689 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 ZPO)<br />

werden Mahnanträge zentral bei einem<br />

Amtsgericht im automatisierten Verfahren<br />

bearbeitet. Eine Bearbeitung durch<br />

den Rechtspfleger erfolgt in diesem Fall<br />

nur noch ausnahmsweise bei einer deutlichen<br />

Überschreitung des Durchschnittswertes.<br />

Erfolgt lediglich eine maschinelle<br />

Bearbeitung, scheidet eine Strafbarkeit<br />

wegen Betruges von vornherein aus,<br />

weil es an der erforderlichen Täuschung<br />

einer natürlichen Person fehlt. In Betracht<br />

kommt dann jedoch (vgl. Fischer<br />

a.a.O., § 263 a Rdnr. 11) ein Computerbetrug<br />

gemäß § 263 a Abs. 1 StGB in der<br />

Modalität der Verwendung unrichtiger<br />

Daten. Soweit auch hier die Strafbarkeit<br />

umstritten ist (zum Streitstand vgl. Fischer<br />

a.a.O., § 263 a Rdnr. 7a), gelten die<br />

nachfolgend vom BGH angeführten Argumente<br />

entsprechend.<br />

Fall<br />

A beantragte bei dem zuständigen Amtsgericht den Erlass eines Mahnbescheides<br />

gegen F über eine Forderung i.H.v. 11.000 €. Als Anspruchsgrund bezeichnete<br />

A dabei einen „Dienstleistungsvertrag gemäß Rechnung vom 02.11.<br />

2010“. Sowohl die geltend gemachte Forderung als auch der zu ihrer Begründung<br />

herangezogene Vertrag waren – was A bekannt war – nicht existent.<br />

A beabsichtigte mit seiner Vorgehensweise, den zuständigen Rechtspfleger<br />

zum Erlass eines entsprechenden Mahnbescheides zu veranlassen, um auf<br />

dieser Grundlage anschließend einen Vollstreckungsbescheid zu erwirken,<br />

aus dem er seine Forderung vollstrecken wollte. Dabei ging er davon aus, dass<br />

der Rechtspfleger die Angaben auf ihre Richtigkeit überprüfen würde. Der<br />

Mahnbescheid wurde antragsgemäß erlassen und F entsprechend den Angaben<br />

des A im Mahnantrag zugestellt. Nach erfolgter Zustellung erhob F rechtzeitig<br />

Widerspruch.<br />

Strafbarkeit des A?<br />

Entscheidung<br />

I. Ein vollendeter Betrug gemäß § 263 Abs. 1 StGB scheidet aus, da es weder<br />

zu einer Vermögensverfügung noch zu einem Vermögensschaden in der<br />

Form einer konkreten Vermögensgefährdung gekommen ist. Dies ist erst<br />

dann der Fall ist, wenn die Wahrscheinlichkeit des endgültigen Verlusts eines<br />

Vermögensbestandteils zum Zeitpunkt der täuschungsbedingten Verfügung<br />

so groß ist, dass dies bereits eine wirtschaftliche Minderung des Gesamtvermögens<br />

zur Folge hat (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.12.2011 – 2 BvR 2500/09, 2 BvR<br />

1857/10; BGHSt 48, 331, 346; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 263 Rdnr. 159).<br />

Eine solche Gefahr droht mit dem Erlass eines Mahnbescheides nicht, denn die<br />

Gefahr eines Vermögensschadens durch Vollstreckung wird erst mit Erlass<br />

und Zustellung des Vollstreckungsbescheides hinreichend konkret (vgl.<br />

BGHSt 24, 261; Sch/Sch-Cramer/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 263 Rdnr. 74).<br />

II. A könnte jedoch wegen versuchten Betruges strafbar sein §§ 263 Abs. 1,<br />

2, 22 StGB.<br />

1. Dann müsste A Tatentschluss bzgl. aller Umstände, die zur Verwirklichung<br />

der objektiven Tatbestandsmerkmale des § 263 Abs. 1 StGB führen, gehabt sowie<br />

in der Absicht der stoffgleichen und rechtswidrigen Bereicherung gehandelt<br />

haben.<br />

a) A müsste sich zunächst eine Täuschung über Tatsachen vorgestellt haben.<br />

Fraglich ist, ob es sich bei den Angaben des A nicht lediglich um eine im<br />

Rahmen des § 263 Abs. 1 StGB irrelevante Rechtsbehauptung handelt. Nach<br />

einer Ansicht in der Literatur (vgl. Kretschmar, GA 2004, 458, 469) können den<br />

in einem Mahnantrag enthaltenen kargen Angaben keine Behauptungen zu<br />

tatsächlichen Umständen entnommen werden. Nach Auffassung des OLG Celle<br />

enthält der im Mahnantrag anzugebende Forderungsgrund hingegen einen<br />

hinreichenden Tatsachenkern. Wird nämlich das Bestehen einer Forderung


Rechtsprechung<br />

behauptet, genügt es, wenn sich aus dem Erklärungswert der Äußerung ein<br />

objektivierbarer Tatsachenkern ergibt, über dessen Vorhandensein oder Fehlen<br />

beim Getäuschten unrichtige Vorstellungen erweckt werden (vgl. Fischer<br />

a.a.O., Rdnr. 8). Hier lässt sich der Behauptung „Dienstleistungsvertrag gemäß<br />

Rechnung vom 02.11.2010“ demnach der objektivierbare Tatsachenkern entnehmen,<br />

dass ein Dienstleistungsvertrag geschlossen und seine Erfüllung am<br />

02.11.2010 in Rechnung gestellt wurde.<br />

b) A müsste sich ferner vorgestellt haben, beim zuständigen Rechtspfleger einen<br />

Irrtum, also eine Fehlvorstellung über Tatsachen, hervorzurufen.<br />

aa) Fraglich ist schon, ob bei einem Rechtspfleger durch falsche Angaben in<br />

einem Mahnantrag eine Fehlvorstellung über Tatsachen hervorgerufen werden<br />

kann, da er gemäß § 691 Abs. 1 ZPO nur dazu verpflichtet ist, vor Erlass des<br />

Mahnbescheides die allgemeinen Sachurteils- und besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />

des Mahnverfahrens zu prüfen. Eine Überprüfung der Richtigkeit<br />

der behaupteten Tatsachen wird nicht verlangt.<br />

(1) Teile der Literatur (vgl. Tiedemann, LK-StGB, 11. Aufl. 2005, § 263 Rdnr. 90;<br />

Sch/Sch/Cramer/Perron a.a.O., § 263 Rdnr. 52, 73; MK-Hefendehl, § 263 Rdnr. 215)<br />

lehnen einen Irrtum des Rechtspflegers daher ab. Allein die fehlende Überzeugung<br />

von der Unwahrheit könne einen Irrtum nicht begründen.<br />

(2) Nach Auffassung des BGH sollte der Rechtspfleger einem Irrtum unterliegen,<br />

denn<br />

„[6] …das Mahnverfahren soll eine vereinfachte Durchsetzung gegebener Ansprüche<br />

ermöglichen, nicht aber der Durchsetzung unbegründeter Forderungen<br />

dienen […]. Als unabhängiges Rechtspflegeorgan (§ 1 RPflG) ist der Rechtspfleger<br />

der materiellen Gerechtigkeit verpflichtet (Art. 20 Abs. 3 GG). Er darf daher nicht sehenden<br />

Auges einen unrichtigen Titel schaffen. Hat er – aus welchen Quellen auch<br />

immer – Kenntnis davon, dass der zur Rechtfertigung eines Mahnantrages angebrachte<br />

Tatsachenvortrag entgegen der sich auch insoweit aus § 138 Abs. 1 ZPO<br />

ergebenden Verpflichtung zum wahrheitsgemäßen Vorbringen unwahr ist und<br />

der geltend gemachte Anspruch deshalb nicht besteht, muss er den Antrag zurückweisen.<br />

Erlässt er den beantragten Bescheid, geschieht dies daher regelmäßig<br />

in der allgemeinen – nicht notwendig fallbezogenen aktualisierten – Vorstellung,<br />

dass die nach dem Verfahrensrecht ungeprüft zu übernehmenden tatsächlichen<br />

Behauptungen des Antragstellers pflichtgemäß aufgestellt wurden und wahr sind<br />

[…]. Ist dies nicht der Fall, hat sich der Rechtspfleger in einem Irrtum befunden, der<br />

seine Entscheidung für den Erlass der nachfolgenden Bescheide und damit die für<br />

das Vermögen des Antragsgegners nachteiligen Verfügungen bestimmt hat.“<br />

bb) OLG Celle vertritt im Kern denselben Ansatz. Vorliegend besteht unabhängig<br />

vom vorgenannten Streit die Besonderheit, dass sich A einen Irrtum des<br />

Rechtspflegers vorgestellt hat, weil er von einer Prüfung seines Antrags durch<br />

einen Rechtspfleger ausging. Hierbei hat sich A bei einer – unterstellt – fehlenden<br />

Prüfung auch kein strafloses Wahndelikt vorgestellt. Ein solches liegt<br />

vor, wenn der Täter die tatsächliche Lage zutreffend erfasst, aber fälschlich annimmt,<br />

sein Verhalten verstoße gegen ein strafrechtliches Verbot (vgl. LK-Hillenkamp,<br />

12. Aufl. 2007, § 22 Rdnr. 225 f.; Roxin, Strafrecht AT II, § 29 Rdnr. 409).<br />

Dazu OLG Celle:<br />

„Indem sich der Angeklagte aber vorgestellt hat, der Rechtspfleger werde die Tatsachengrundlage<br />

des Anspruchs prüfen, hat er Inhalt und Umfang des Betrugstatbestandes<br />

nicht verkannt. Er hat nicht etwa angenommen, dass ein Irrtum gemäß<br />

§ 263 Abs. 1 StGB auch dann gegeben sei, wenn den Rechtspfleger keine Prüfungspflicht<br />

hinsichtlich der anspruchsbegründenden Tatsachen treffe. Vielmehr hat er<br />

verstanden, dass ein Irrtum des Rechtspflegers nur in Frage kommt, soweit diesem<br />

RÜ 4/2012<br />

Gemäß § 22 StGB versucht eine Tat wer<br />

nach seiner Vorstellung von der Tat zur<br />

Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar<br />

ansetzt. Das tatsächliche Vorliegen<br />

objektiver Tatumstände (hier ein Irrtum<br />

des Rechtspflegers über Tatsachen)<br />

ist nicht erforderlich (vgl. Fischer a.a.O.,<br />

§ 22 Rdnr. 10 m.w.N.).<br />

235


236<br />

RÜ 4/2012<br />

Rechtsprechung<br />

zivilprozessual eine Pflicht zur Kontrolle der gemachten Angaben trifft, und sich<br />

eine entsprechende Situation vorgestellt. Damit hat der Täter irrtümlich Umstände<br />

angenommen, die bei ihrem tatsächlichen Vorliegen den § 263 Abs. 1 StGB ausfüllten,<br />

und diese folgerichtig unter den Betrugstatbestand subsumiert.“<br />

Damit ist vorliegend der Tatentschluss für einen Irrtum gegeben, unabhängig<br />

davon, ob der Rechtspfleger sich wirklich in einem Irrtum befunden hat.<br />

c) A stellte sich auch eine auf seine Erklärung beruhende Vermögensverfügung<br />

und einen hierdurch eintretenden Vermögensschaden vor. Denn A beabsichtigte<br />

auch den späteren Erlass eines Vollstreckungsbescheides sowie<br />

eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses.<br />

d) Fraglich ist, ob A in seine Vorstellung auch eine Kausalität zwischen seiner<br />

Erklärung im Mahnantrag und dem Eintritt des Vermögensschadens<br />

durch Erlass eines Vollstreckungsbescheides aufgenommen hat.<br />

aa) Z.T. wird die Kausalität verneint (Sch/Sch/Cramer/Perron a.a.O., Rdnr. 52,<br />

73; Tiedemann a.a.O., Rdnr. 90), weil das Parteiverhalten des Antragsgegners<br />

in Form der Nichterhebung eines Widerspruchs nach §§ 699 Abs. 1 S. 1, 694<br />

ZPO bzw. die Einhaltung der formellen Anforderungen der Vorschriften zum<br />

Mahnverfahren die Grundlage für den Erlass eines Vollstreckungsbescheides<br />

bilden.<br />

bb) Das OLG Celle sieht das anders:<br />

„Die Ursächlichkeit der Täuschungshandlung für den Erlass des späteren Vollstreckungsbescheides<br />

wird hierdurch nicht in Frage gestellt […]. Ohne die Täuschungshandlung<br />

des Rechtspflegers im Mahnverfahren hätte der Angeklagte<br />

sein eigentliches Ziel, einen Titel gegen die Antragsgegner zu erhalten, nie erreichen<br />

können. Sobald der Mahnbescheid erlassen ist, ist aus Sicht des Täters die<br />

hauptsächliche Hürde überwunden. …“<br />

2. A hat mit der Beantragung des Mahnbescheides nach seiner Tatvorstellung<br />

auch zur Tatbestandverwirklichung unmittelbar angesetzt, weil die Erwirkung<br />

des Mahnbescheides nicht bloße Vorbereitung für einen in der Erwirkung<br />

des Vollstreckungsbescheides liegenden Betruges ist (vgl. OLG Düsseldorf<br />

NStZ 1991, 586).<br />

3. A handelte auch rechtswidrig und schuldhaft und ist damit wegen Betrugsversuchs<br />

strafbar.<br />

III. Wegen einer Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB ist A nicht<br />

strafbar, weil es an der erforderlichen Identitätstäuschung fehlt.<br />

IV. A könnte aber wegen mittelbarer Falschbeurkundung nach § 271 Abs. 1<br />

StGB strafbar sein. Zwar handelte es sich bei dem Mahnbescheid um eine<br />

öffentliche Urkunde (vgl. zum Begriff § 415 Abs. 1 ZPO; Fischer a.a.O., § 271<br />

Rdnr. 6). A hat jedoch nicht bewirkt, dass eine Tatsache als geschehen beurkundet<br />

wurde. Die tatsächlichen Angaben des A nehmen an der erhöhten Beweiswirkung<br />

nicht teil, denn dem Mahnbescheid ist lediglich die Behauptung<br />

einer Tatsache durch den Antragsteller, nicht aber ihr tatsächliches Vorliegen<br />

zu entnehmen (vgl. Sch/Sch/Cramer/Heine, § 271 Rdnr. 23; LK-Zieschang,<br />

12. Aufl. 2009, § 271 Rdnr. 45).<br />

Ergebnis: A ist strafbar wegen Betrugsversuchs.<br />

Dr. Matthias Modrey


Art. 1, 2 GG; § 100 f StPO<br />

Rechtsprechung<br />

RÜ 4/2012<br />

Absolute Unverwertbarkeit abgehörter Selbstgespräche<br />

BGH, Urt. v. 22.12.2011 – 2 StR 509/10<br />

Fall<br />

S, I und W sind verdächtig, die L getötet zu haben. S war der Ehemann der L,<br />

die von den Philippinen stammte und ein gemeinsames Kind zur Welt gebracht<br />

hatte. L hatte sich im Folgenden wenig um das Kind gekümmert; I und<br />

W, in deren Haus die Eheleute S und L wohnten, behandelten das Kind wie ihr<br />

eigenes. Die Ehe von S und L scheiterte. S, I und W befürchteten, die L würde<br />

das Umgangsrecht des Vaters durch Wegziehen vereiteln. S, I und W beschlossen,<br />

die L zu töten. S erschlug im Einvernehmen mit I und W seine Ehefrau in<br />

deren Wohnung, damit das Kind bei S, I und W aufwachsen konnte.<br />

Im Zuge der Ermittlungen wurden auf entsprechende Beschlüsse des Ermittlungsrichters<br />

verschiedene verdeckte Überwachungsmaßnahmen durchgeführt.<br />

Unter anderem fand gemäß § 100 f StPO i.V.m. §§ 100 b Abs. 1, 100 d<br />

Abs. 2 StPO eine Überwachung im Auto des S statt. Dabei wurden dessen<br />

Selbstgespräche, als er sich alleine im Auto befand, an mehreren Tagen aufgezeichnet.<br />

Dabei fielen unter anderem die Worte „oho i kill her … oh yes, oh yes<br />

… and this ist my problem …“, ferner „nö I, wir haben sie tot gemacht…“.<br />

S, I und W wurden wegen Mordes angeklagt. Im Rahmen der Beweisaufnahme<br />

wurden die Inhalte der akustischen Überwachung verlesen.<br />

Können diese bei der Urteilsfindung verwertet werden?<br />

Entscheidung<br />

A. Die Selbstgespräche können dann nicht verwendet werden, wenn sie einem<br />

Beweisverwertungsverbot unterliegen. Hier kommt ein selbstständiges,<br />

aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG folgendes Beweisverwertungsverbot<br />

in Betracht, weil durch eine Verwertung in den Kernbereich persönlicher<br />

Lebensgestaltung eingegriffen werden könnte.<br />

I. Der absolut geschützte Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung wird aus<br />

Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet (z.B. BVerfGE 80, 367). Sein<br />

Schutzbereich wird durch heimliche Aufzeichnung des nichtöffentlich geführten<br />

Selbstgesprächs der Zielperson staatlicher Ermittlungsmaßnahmen und<br />

deren Verwertung in der Hauptverhandlung berührt (BGHSt 50, 206, 212). Der<br />

Grund für den absoluten Schutz eines Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung<br />

besteht in der Eröffnung einer Möglichkeit für Menschen, sich in einem<br />

letzten Rückzugsraum mit dem eigenen Ich befassen zu können, ohne Angst<br />

davor haben zu müssen, das staatliche Stellen dies überwachen (BGHSt 31,<br />

296, 299 f.). Ob das nichtöffentlich gesprochene Wort zum absolut geschützten<br />

Kernbereich oder zu dem nur relativ geschützten Bereich des Persönlichkeitsrechts<br />

gehört, ist durch Gesamtbewertung aller Umstände im Einzelfall<br />

festzustellen.<br />

II. Hier könnte sich die Unverwertbarkeit aus einer Rechtsanalogie zur Rechtsprechung<br />

hinsichtlich der Verwertbarkeit von Tagebuchaufzeichnungen<br />

ergeben. Schriftliche Aufzeichnungen, die der Intimsphäre angehören, können<br />

unverwertbar sein (BVerfGE 34, 238, 245), sind jedoch nicht schlechthin<br />

von der Verwertung ausgenommen (BVerfGE 80, 367). Verwertet werden kön-<br />

Leitsatz<br />

Ein in einem Kraftfahrzeug mittels akustischer<br />

Überwachung aufgezeichnetes<br />

Selbstgespräch eines sich unbeobachtet<br />

fühlenden Beschuldigten ist im Strafverfahren<br />

– auch gegen Mitbeschuldigte –<br />

unverwertbar, da es dem durch Art. 2<br />

Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1<br />

absolut geschützten Kernbereich der Persönlichkeit<br />

zuzurechnen ist (…).<br />

Man unterscheidet gesetzlich geregelte,<br />

selbstständige und unselbstständige<br />

Beweisverwertungsverbote (= BVV). Bei<br />

selbstständigen BVV (abgeleitet aus dem<br />

GG) wird die Unverwertbarkeit unabhängig<br />

von sonstigen strafprozessualen<br />

Fehlern angenommen. Alle anderen BVV<br />

setzen einen Rechtsverstoß der Ermittlungsbehörden<br />

voraus. Hier gibt es die<br />

geschriebenen (z.B. § 136 a StPO) und<br />

ungeschriebenen (z.B. Belehrungsfehler).<br />

Die Unterscheidung ist deshalb so<br />

wichtig, weil an die Feststellung der Unverwertbarkeit<br />

unterschiedliche Anforderungen<br />

gestellt werden.<br />

237


238<br />

RÜ 4/2012<br />

Das BVerfG unterscheidet drei verschiedene<br />

Sphären, aus denen Beweismittel<br />

stammen können: Beweise aus der sog.<br />

Geschäftssphäre sind voll verwertbar,<br />

da sie dem Bereich des sozialen Interagierens<br />

entstammen. Beweise aus der<br />

Individualsphäre sind prinzipiell verwertbar,<br />

wenn eine Abwägung zwischen<br />

dem Persönlichkeitsschutz und der Strafrechtspflege<br />

dies gebietet. Im Bereich<br />

der Intimsphäre sind staatliche Eingriffe<br />

unzulässig. Dies wird im Strafprozessrecht<br />

als Kernbereich privater Lebensgestaltung<br />

bezeichnet.<br />

Es kommt also darauf an, in einem ersten<br />

Schritt die betroffene Sphäre zu bestimmen,<br />

bevor sich die Frage der Abwägung<br />

stellt.<br />

Rechtsprechung<br />

nen Aufzeichnungen, die nur äußerliche Ereignisse festhalten, ferner, falls sie<br />

Angaben über begangene oder bevorstehende schwere Straftaten enthalten.<br />

In sonstigen Fällen ist zwischen dem Persönlichkeitsschutz einerseits und den<br />

Belangen einer funktionsfähigen Strafrechtspflege andererseits abzuwägen<br />

(BGHSt 34, 397, 401). Das BVerfG hat die Abwägung – sofern es nicht um Dinge<br />

aus dem absolut geschützten Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung<br />

geht – für zulässig erachtet und auch intime Aufzeichnungen für verwertbar<br />

erklärt, wenn diese in einem unmittelbaren Bezug zur konkreten Straftat stehen<br />

(BVerfGE 80, 570).<br />

1. Maßgebend ist somit zunächst, ob die Selbstgespräche im Auto unter den<br />

Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung fallen. Hiergegen könnte sprechen,<br />

dass es sich bei einem Kfz nicht um eine abgeschlossene Enklave wie<br />

eine Wohnung handelt, in der der Betroffene nicht damit rechnen muss, dass<br />

seine Äußerungen von Dritten zur Kenntnis genommen werden.<br />

„[14] … Ob das nichtöffentlich gesprochene Wort zum absolut geschützten Kernbereich<br />

oder zu dem nur relativ geschützten Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts<br />

gehört, ist durch Gesamtbewertung aller Umstände im Einzelfall festzustellen.<br />

Aus einer Kumulation von Umständen folgt hier, dass die Selbstgespräche<br />

des Angeklagten S. dem Kernbereich zuzurechnen sind. Dazu zählen die Eindimensionalität<br />

der ,Selbstkommunikation‘, die Nichtöffentlichkeit der Äußerungssituation,<br />

die mögliche Unbewusstheit der Äußerungen im Selbstgespräch,<br />

die Identität der Äußerung mit den inneren Gedanken beim Selbstgespräch<br />

und die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes.<br />

[15] Der Grund für den absoluten Schutz eines Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung<br />

besteht in der Eröffnung einer Möglichkeit für Menschen, sich in einem<br />

letzten Rückzugsraum mit dem eigenen Ich befassen zu können, ohne<br />

Angst davor haben zu müssen, dass staatliche Stellen dies überwachen (…).<br />

Die Gedanken sind grundsätzlich frei, weil Denken für Menschen eine Existenzbedingung<br />

darstellt (…). Den Gedanken fehlt aus sich heraus die Gemeinschaftsbezogenheit,<br />

die jenseits des Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung liegt.<br />

Gleiches gilt für die Gedankenäußerung im nicht öffentlich geführten Selbstgespräch<br />

(…). Die Gedankeninhalte des inneren Sprechens treten vor allem in Situationen,<br />

in denen der Sprechende sich unbeobachtet fühlt, durch Aussprechen<br />

hervor. Das möglicherweise unbewusste ,laute Denken‘ beim nichtöffentlich<br />

geführten Selbstgespräch nimmt sodann an der Gedankenfreiheit teil. Bedeutung<br />

für die Zuordnung zum Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung hat<br />

dabei auch die Nichtöffentlichkeit der Äußerungssituation. Zwar fanden die hier<br />

in Rede stehenden Selbstgespräche nicht in einer Wohnung im Sinne von Art. 13<br />

Abs. 1 GG statt, woraus sich eine ,Vermutung‘ hätte ergeben können, ,dass der<br />

Kernbereich tangiert sein kann‘ (…) Hieraus ist aber nicht zu schließen, dass<br />

der Schutz des Kernbereichs der Persönlichkeit in Bezug auf Äußerungen<br />

sich ausschließlich auf den räumlichen Bereich von Wohnungen beschränke.<br />

Vielmehr kann auch das ‚Alleinsein mit sich selbst‘ in einem Pkw diesen<br />

Schutz begründen (…) Die Nichtöffentlichkeit der Gesprächssituation war daher<br />

bei einer Gesamtbewertung der Umstände des Einzelfalls derjenigen in einer Wohnung<br />

gleichzusetzen.“<br />

2. Möglicherweise könnten die Äußerungen gleichwohl verwertbar sein, weil<br />

sie in einem inneren Zusammenhang mit einer begangenen schweren Straftat<br />

stehen.<br />

„[16] Auf den Inhalt der Gedankenäußerung und dessen mehr oder weniger großen<br />

Sozialbezug kommt es demgegenüber bei Selbstgesprächen nicht entscheidend<br />

an. Insofern gilt etwas anderes als bei der Fixierung von Gedanken in<br />

einem Tagebuch oder bei der Erfassung des Gesprächs eines Beschuldigten mit<br />

Dritten.


Rechtsprechung<br />

[17] Die Tagebuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (…), bei der wegen<br />

Stimmengleichheit eine Grundrechtsverletzung nicht festgestellt werden<br />

konnte, kann nicht ohne Weiteres auf die Frage der Zuordnung des heimlich abgehörten<br />

Selbstgesprächs zum Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung oder<br />

zur allgemeinen Persönlichkeitssphäre übertragen werden. War dort der Raum, in<br />

dem die Anfertigung von Notizen stattfand, für die Frage der Verwertbarkeit der<br />

schriftlich fixierten Gedanken im Strafverfahren ohne Belang, weil die Notizen freiwillig<br />

der Sicherstellung preisgegeben wurde, so erlangt im vorliegenden Fall<br />

das Kriterium der Nichtöffentlichkeit des Ortes der Gedankenäußerung erhebliche<br />

Bedeutung. Spielte in der Tagebuchentscheidung die Flüchtigkeit des<br />

gesprochenen Wortes keine Rolle, weil der Betroffene seine Gedanken dort im<br />

Tagebuch fixiert und beidem Schreibvorgang unter Umständen auch noch repetiert<br />

hatte, so erlangt die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes als Abgrenzungskriterium<br />

im vorliegenden Fall besonderes Gewicht. In der Tagebuchentscheidung<br />

waren überdies auch präventive Überlegungen für die Annahme<br />

der Verwertbarkeit von Bedeutung (…), weil die dort fraglichen Tagebuchaufzeichnungen<br />

vor der Tatbegehung gemacht worden waren und bei rechtzeitiger<br />

Erfassung durch die Polizeibehörden theoretisch auch zur Verhinderung der Tat<br />

als Maßnahme der Gefahrenabwehr hätten genutzt werden können. Dagegen<br />

spielt die Möglichkeit der Prävention zugunsten anderer Grundrechtsträger<br />

als Frage der Grundrechtskollision hier keine Rolle (…).<br />

[19] Der somit gebotene Kernbereichsschutz entfällt nur, wenn der Grundrechtsträger<br />

den Bereich der privaten Lebensgestaltung von sich aus öffnet,<br />

bestimmte Angelegenheiten der Öffentlichkeit zugänglich macht und damit<br />

die Sphäre anderer oder die Belange der Gemeinschaft berührt. Dies geschieht<br />

nicht ohne weiteres schon dadurch, dass er sich außerhalb des besonders<br />

geschützten Bereichs seiner Wohnung im Sinne von Art. 13 Abs. 1<br />

GG aufhält, sofern er einen anderen Rückzugsraum wählt, in dem er sich unbeobachtet<br />

fühlen kann. Das war hier hinsichtlich des Pkw der Fall. Nach<br />

außen gerichtete Äußerungen in einem Pkw, in dem die betreffende Person allein<br />

ist, können nicht Äußerungen in der Öffentlichkeit gleichgestellt werden. Es bleibt<br />

deshalb bei der Zuordnung der Selbstgespräche des Angeklagten S. zum absolut<br />

geschützten Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung mit der Folge der Unverwertbarkeit.“<br />

B. Dieses Beweisverbot entfaltet wegen seiner Absolutheit auch Wirkung<br />

auf die nicht unmittelbar von der Überwachung betroffenen Mitangeklagten<br />

(BGH a.a.O., Rdnr. 20). Aus diesem Grund ist weder der Rechtskreisgedanke<br />

maßgeblich noch ist ein Widerspruch in der Hauptverhandlung – anders als<br />

bei unselbstständigen Beweisverwertungsverboten – nötig.<br />

Ergebnis: Die Selbstgespräche dürfen bei der Urteilsfindung für keinen der<br />

Angeklagten verwertet werden.<br />

Dr. Martin Soyka<br />

RÜ 4/2012<br />

Hätte S die Äußerungen in einem Tagebuch<br />

niedergelegt, wären Sie wohl verwertbar<br />

gewesen. Die Argumente des<br />

BGH überzeugen nicht.<br />

Dass in dem Tagebuchfall das Beweisstück<br />

freiwillig herausgegeben und nicht<br />

beschlagnahme wurde, kann für die Verwertbarkeit<br />

keine Rolle spielen. Beweismittel<br />

sind gemäß § 94 StPO in Verwahrung<br />

zu nehmen, entweder durch Sicherstellung<br />

oder durch Beschlagnahme. Daraus,<br />

dass ein Tagebuch freiwillig übergeben<br />

wurde, kann nicht gleichzeitig ein<br />

Einverständnis mit der Verwertung desselben<br />

als Beweismittel abgeleitet werden.<br />

Dass bei einem Tagebuch über die Einträge<br />

nachgedacht wird, bei Selbstgesprächen<br />

über das Geäußerte nicht, kann<br />

auch keinen Unterschied machen, weil<br />

beides nicht für die Kenntnisnahme Dritter<br />

bestimmt ist.<br />

Als geradezu zynisch mutet das Argument<br />

an, die – allenfalls abstrakte – Möglichkeit<br />

der Prävention zugunsten anderer<br />

Grundrechtsträger spiele keine Rolle,<br />

faktisch weil das Opfer ja bereits tot ist.<br />

Dass im Falle der Überführung und Aburteilung<br />

eines Mörders die Vollstreckung<br />

der Freiheitsstrafe auch eine spezialpräventive<br />

Wirkung hat, weil während der<br />

Strafhaft dieser von der Begehung weiterer<br />

Kapitalverbrechen abgehalten oder<br />

eine solche zumindest erschwert werden,<br />

ist außer Acht gelassen worden.<br />

239


240<br />

RÜ 4/2012<br />

Notwehr im Showdown<br />

Kretschmer Jura 2012, 189<br />

Der Begriff des Showdowns ist dem Pokerspiel<br />

entlehnt: Niederlegen und Zeigen<br />

der Karten.<br />

Aktuelle Diskussion<br />

Der Titel des Beitrags von Kretschmer bezieht sich auf Lebenssachverhalte, in<br />

denen es zwischen zwei oder mehr Kontrahenten zu einer Zuspitzung kommt.<br />

Anlass zur Beschäftigung mit dem Thema sind zwei neuere Beschlüsse des<br />

Zweiten Strafsenats des BGH zur Frage des Gebotenseins einer Notwehr in Fällen<br />

der Notwehrprovokation.<br />

BGH 2 StR 118/10, RÜ 2010, 779 I. In dem seinem Beschl. v. 04.08.2010 zugrunde liegenden Fall hatte der Vater<br />

eines Sechzehnjährigen, der mit einem polizeilich bekannten Intensivtäter im<br />

Streit lag, diesen mit seinem Sohn vor einer Gaststätte aufgesucht, um ihn zum<br />

Einlenken zu bewegen. Jedoch eskalierte dort der Streit derart, dass der als gewaltbereit<br />

bekannte Kontrahent den Vater durch einen mit einem Knüppel auf<br />

den Kopf zielenden Schlag angriff, sodass sich der Vater gezwungen sah, sich<br />

mit einem mitgebrachten Butterflymesser durch einen lebensgefährlichen<br />

Stich in den Oberkörper des Angreifers zu verteidigen.<br />

BGH NStZ 2001, 143, RÜ 2001, 78; ausführlich<br />

auch AS Skript Strafrecht AT 1<br />

[2011], 94 ff.<br />

Die Lehre von der actio illicta in causa<br />

lehnt dagegen eine Einschränkung der<br />

Notwehr ab und sieht ein strafbares Verhalten<br />

zwar nicht in der Verteidigungshandlung,<br />

wohl aber in der vorsätzlichen<br />

oder fahrlässigen Provokation der<br />

Notwehrlage.<br />

1. Die Vorinstanz hatte den darin liegenden versuchten Totschlag gemäß<br />

§§ 212, 22, 23 StGB und die gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 StGB<br />

für durch Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt gehalten, in der Provokation<br />

der Notwehrlage jedoch eine fahrlässige Körperverletzung gemäß § 229<br />

StGB gesehen. Der BGH teilte die Ansicht des Schwurgerichts, dass der Messerstich<br />

durch Notwehr geboten gewesen sei, hob jedoch die Verurteilung wegen<br />

fahrlässiger Körperverletzung auf. Das Mitführen des Butterflymessers sei<br />

weder im Hinblick auf die vom Vater als möglich vorhergesehene körperliche<br />

Auseinandersetzung noch deshalb pflichtwidrig gewesen, weil er über die für<br />

das Führen des Messers erforderliche waffenrechtliche Erlaubnis nicht verfügte.<br />

Denn „es wäre ein Widerspruch, wenn die Rechtsordnung zum einen die<br />

Befugnis erteilte, das Notwehrrecht auszuüben, zum anderen aber gerade für<br />

diesen Fall die Bestrafung aufgrund eines Delikts androhte, dessen tatbestandliche<br />

Voraussetzungen mit der Ausübung dieser Befugnis erfüllt werden“.<br />

Dies gelte jedenfalls dann, wenn für den Fahrlässigkeitserfolg nicht an<br />

eine vorwerfbare Provokation der Notwehrlage angeknüpft werden könne.<br />

2. Diese Beurteilung steht in gewissem Widerspruch zu der Entscheidung des<br />

Dritten Strafsenats im sog. „Schrotflintenfall“. Dort hatte der Täter das Opfer in<br />

den Wald gelockt, um ihm als Racheakt mit einer abgesägten Schrotflinte ins<br />

Knie zu schießen. Als er das Opfer von hinten niederschlagen wollte, kam es jedoch<br />

zu einem Kampf, in dessen Verlauf das Opfer den unterlegenen Täter totzuschlagen<br />

drohte, sodass dieser das Opfer in äußerster Not mit der bis dahin<br />

versteckt gehaltenen Waffe erschoss. Der BGH hielt den Totschlag für durch<br />

Notwehr geboten, sah jedoch in der Notwehrprovokation eine fahrlässige Tötung<br />

gemäß § 222 StGB.<br />

3. Kretschmer teilt die in den Entscheidungen vertretene Ansicht, dass die jeweilige<br />

Verteidigung erforderlich und die Notwehr jeweils geboten gewesen<br />

sei. Die Begründung des Zweiten Senats für die Ablehnung einer fahrlässigen<br />

Körperverletzung hält er jedoch für vorgeschoben, um einer Divergenzvorlage<br />

gemäß § 132 Abs. 2 GVG zu entgehen.<br />

a) Die sog. sozialethischen Schranken der Notwehr werden üblicherweise an<br />

der Voraussetzung der Gebotenheit gemäß § 32 Abs. 1 StGB festgemacht. Als<br />

Fallgruppen anerkannt sind Fälle krassen Missverhältnisses, Angriffe durch<br />

Schuldlose, soziale Näheverhältnisse und Fälle der Notwehrprovokation. Eine<br />

solche hatte der BGH für diesen Fall abgelehnt. Das Aufsuchen der Gaststätte<br />

durch den Vater habe zwar „dem Gebot der Vorsicht und der Lebensklugheit<br />

widersprochen“, sei aber sonst nicht zu missbilligen gewesen.


Aktuelle Diskussion RÜ 4/2012<br />

Das hält Kretschmer für falsch. Zwar könne dem Vater nicht zum Vorwurf gemacht<br />

werden, dem Intensivtäter nicht aus dem Weg gegangen zu sein. In einer<br />

freiheitlichen Gesellschaft gehe es nicht an, einen Bürger in seiner Lebensführung<br />

zu beschneiden, weil ein anderer daran Anstoß nehmen und gewalttätig<br />

werden könne. Jedoch habe er gezielt die Konfrontation gesucht und<br />

sich an Absichtsprovokation grenzend und zumindest bedingt vorsätzlich<br />

selbst in Not begeben. Dem Vater sei es nicht mehr um die Wahrnehmung<br />

bürgerlicher Freiheitsrechte gegangen, sondern um einen klärenden Showdown.<br />

Es habe sich in Wahrheit um einen Fall unzulässiger präventiver Nothilfe<br />

gehandelt. Der BGH goutiere mit seiner Bewertung Selbstjustiz. Diese<br />

widerstrebe aber dem friedensstiftenden Gewaltmonopol des Staates, wo obrigkeitliche<br />

Hilfe, z.B. in Form einer polizeilichen Gefährderansprache erreichbar<br />

sei. Zudem diene die Notwehr nicht nur dem Rechtsgüterschutz, sondern<br />

auch dem Schutz der Rechtsordnung als solcher. Der Provokant tauge aber<br />

nicht als Repräsentant des Rechts. Daher sei es Provokateuren nicht geboten,<br />

„sogleich die volle Notwehrkeule auszupacken, wenn sie in Bedrängnis geraten“.<br />

Dennoch habe sich der Vater nicht von seinem Kontrahenten erschlagen<br />

oder ernsthaft verletzen lassen müssen, als dieser mit dem Knüppel zuschlug.<br />

Daher sei dem Senat im Ergebnis beizupflichten.<br />

b) Eine andere Frage sei, ob das Vorverhalten eine fahrlässige Körperverletzung<br />

darstelle. Nach der Begründung des BGH scheiterte dies an dem Fehlen<br />

einer Sorgfaltspflichtverletzung: Wo in der Provokation kein sozialethisches<br />

Fehlverhalten liegt, liegt auch kein fahrlässiges Vorverhalten vor. Diese Begründung<br />

trägt das Ergebnis nach Kretschmer nicht, da die Herausforderung<br />

zum Showdown als sorgfaltswidrig einzustufen sei. Gegen eine fahrlässige<br />

Körperverletzung könne auch nicht – wie ein Teil der Literatur argumentiert –<br />

angeführt werden, dass derselbe Erfolg, die Verletzung des Angreifers, nicht<br />

zugleich rechtswidrig und rechtmäßig sein könne. Denn rechtlich missbilligt<br />

werde nicht der Erfolg, sondern nur die Verursachungshandlung.<br />

Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung scheitere jedoch an einer<br />

eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Angreifers. Es falle in die ureigene<br />

Risikosphäre des Rechtsbrechers, dass sich sein ausersehenes Opfer<br />

nicht widerstandslos ergebe und sich erfolgreich wehre. Erlittene Verletzungen<br />

habe sich der Angreifer selbst beizumessen, ohne die Verantwortung auf<br />

jemand anderes abwälzen zu dürfen.<br />

II. In dem Beschl. v. 10.11.2010 hatte der Zweite Strafsenat den Fall zu entscheiden,<br />

dass der Täter seine Meinungsverschiedenheiten mit einer Gruppe von<br />

Kontrahenten durch eine „einverständliche Prügelei“ mit einem stellvertretenden<br />

Mitglied dieser Gruppe siegreich geklärt hatte, als die beiden anderen<br />

Mitglieder begannen, mit ihren Gürteln auf ihn einzuschlagen. Als eine Verteidigung<br />

mit dem eigenen Gürtel sich als nicht ausreichend erwies und der Täter<br />

ernsthaft verletzt zu werden fürchtete, beendete er den Streit durch einen<br />

gezielten Stich mit einem Messer in die Brust eines der Angreifer.<br />

Der BGH hob die Verurteilung durch das Schwurgericht wegen versuchten<br />

Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung auf und sprach den<br />

Angeklagten frei. Nachdem die vorherige Prügelei durch eine wechselseitige<br />

Einwilligung gerechtfertigt gewesen sei, liege weder eine rechtswidrige noch<br />

sonst sozialethisch zu missbilligende Notwehrprovokation vor.<br />

Auch insoweit teilt Kretschmer die Ansicht des Senats, dass der Messerstich<br />

durch Notwehr geboten gewesen sei, obwohl er die einverständliche Prügelei<br />

für sozialethisch verwerflich hält. Eine fahrlässige Körperverletzung scheitere<br />

jedoch an dem Vorliegen einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des<br />

später verletzten Angreifers.<br />

Eine Absichtsprovokation schließt die Berufung<br />

auf Notwehr grundsätzlich aus,<br />

während eine sonst schuldhaft herbeigeführte<br />

Notwehrlage zu einer abgestuften<br />

Einschränkung führt: Ausweichen<br />

– Schutzwehr – Trutzwehr. Ob das Vorverhalten<br />

rechtswidrig sein muss, ist streitig.<br />

Z.T. wird die Ansicht vertreten, nur<br />

ein rechtswidriges Vorverhalten könne<br />

zu einer Einschränkung der Notwehr<br />

führen. Nach a.A. und ständiger Rechtsprechung,<br />

so auch Kretschmer, genügt<br />

auch ein sozialethisch zu missbilligendes<br />

Vorverhalten, um Notwehrbeschränkungen<br />

zu begründen.<br />

Unabhängig davon bleibt der Verstoß<br />

gegen § 52 Abs. 3 Nr. 1 WaffG, wenn der<br />

Täter die Waffe unerlaubt führt.<br />

BGH 2 StR 483/10, RÜ 2011, 232<br />

Unter einer „einverständlichen Prügelei“<br />

versteht man eine verabredete körperliche<br />

Auseinandersetzung von zwei oder<br />

mehreren Personen. Die wechselseitigen<br />

Misshandlungen sind nach h.M. durch eine<br />

wechselseitige rechtfertigende Einwilligung<br />

gedeckt, soweit nicht die Grenze<br />

des § 228 StGB überschritten ist.<br />

Eine Strafbarkeit gemäß § 229 StGB wurde<br />

in dieser Entscheidung – folgerichtig –<br />

gar nicht erst erwogen.<br />

Wünschenswert wäre jedoch eine Klarstellung<br />

dieser Frage durch eine Divergenzvorlage.<br />

241


242<br />

RÜ 4/2012<br />

Aktuelle Diskussion<br />

Das „mitgeführte“ gefährliche Werkzeug<br />

Rönnau JuS 2012, 117<br />

Die Problematik entstand mit Inkrafttreten<br />

des 6. StRG am 01.04.1998, als das<br />

„gefährliche Werkzeug“ in den §§ 177<br />

Abs. 3, 244 Abs. 1 Nr. 1 a), 250 Abs. 1<br />

Nr. 1 a) und Abs. 2 Nr. 1 StGB als Oberbegriff<br />

zu dem der „Waffe“ aufgenommen<br />

wurde. Darüber hinaus wurde jüngst<br />

durch das 44. StrÄndG, in Kraft seit dem<br />

01.11.2011, dieser Begriff auch in den<br />

§§ 113 Abs. 2 Nr. 1, 121 Abs. 3 Nr. 2 und<br />

125 a S. 2 Nr. 2 StGB aufgenommen; s.<br />

hierzu bereits RÜ 2011, 794 und 2012, 32.<br />

Beachte: Der Waffenbegriff im Strafrecht<br />

ist also nicht mit dem des WaffG<br />

identisch!<br />

Das gefährliche Werkzeug wird heute<br />

in § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB, der seine Verwendung<br />

voraussetzt, wie in § 224 Abs. 1<br />

Nr. 2 StGB verstanden. Vereinzelt blieb<br />

der Vorschlag, die Anwendung bei §§ 244<br />

Abs. 1 Nr. 1 a), 250 Abs. 1 Nr. 1 a) StGB auf<br />

Gegenstände zu beschränken, deren Besitz<br />

einem gesetzlichen Verbot unterliegt,<br />

oder das abstrakte Verletzungspotenzial<br />

ausreichen zu lassen.<br />

Sog. „Lehre vom Verwendungsvorbehalt“<br />

Vgl. BGHSt 52, 257; das OLG Stuttgart,<br />

NJW 2009, 2756, hat demgegenüber darauf<br />

abgestellt, ob der gefährliche Einsatz<br />

des Werkzeugs „nach den konkreten<br />

Tatumständen droht“.<br />

Einigkeit besteht lediglich dahingehend,<br />

dass ein Werkzeug nur dann als gefährlich<br />

einzustufen ist, wenn es zur Herbeiführung<br />

erheblicher Verletzungen taugt<br />

und nach seiner konkreten Beschaffenheit<br />

als Mittel zur Gewaltanwendung oder<br />

-drohung eingesetzt werden könnte.<br />

Der vom BGH und Teilen der Literatur erhobenen<br />

Forderung nach einer gesetzlichen<br />

Neuregelung ist der Gesetzgeber<br />

nicht nachgekommen, sondern hat das<br />

Problem lediglich durch die Einführung<br />

eines minder schweren Falles in § 244<br />

Abs. 3 StGB „entschärft“.<br />

Das OLG Köln, Urt. v. 10.01.2012 – 1 RVs<br />

258/11, BeckRS 2012, 01232, folgt dem<br />

BGH und hält das Beisichführen eines<br />

Schweizer Taschenmessers unabhängig<br />

davon für tatbestandsmäßig, ob der Einsatz<br />

im konkreten Fall gedroht habe.<br />

Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals des „gefährlichen Werkzeugs“ gehört<br />

zu den umstrittensten Fragen des Besonderen Strafrechts.<br />

Unter Waffen werden im Strafrecht Gegenstände verstanden, die nach ihrer<br />

Art zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken bestimmt sind und zur Verursachung<br />

erheblicher Verletzungen generell geeignet sind. Das andere gefährliche<br />

Werkzeug sollte nach der Vorstellung des Gesetzgebers zu verstehen<br />

sein wie in § 223 a StGB a.F., heute § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Dort ist ein Werkzeug<br />

gefährlich, wenn es aufgrund seiner objektiven Beschaffenheit und<br />

der Art seiner Verwendung im konkreten Einzelfall geeignet ist, erhebliche<br />

Verletzungen herbeizuführen. Dagegen besteht Konsens darüber, dass<br />

dies nicht auf § 244 Abs. 1 Nr. 1 a) StGB zu übertragen ist, da dort das bloße Beisichführen<br />

genügt und hieraus ein Schluss auf die Gefährlichkeit des Gegenstandes<br />

nicht möglich ist.<br />

1. Die herrschende Literatur bevorzugt eine einschränkende Auslegung anhand<br />

objektiver Kriterien. Überwiegend wird dabei im Wege einer abstraktobjektiven<br />

Betrachtung auf den waffenähnlichen Charakter bzw. die Waffenersatzfunktion<br />

des Gegenstandes abgestellt. Andere stellen dagegen darauf<br />

ab, ob nach den konkreten Tatumständen der mitgeführte Gegenstand<br />

keine andere Funktion erfüllen kann, als zu Verletzungszwecken eingesetzt zu<br />

werden.<br />

2. Nach a.A. sollen subjektive Kriterien für eine Einschränkung maßgebend<br />

sein. Dabei wird überwiegend auf die konkrete Verwendungsabsicht im Einzelfall<br />

und darauf abgestellt, dass die beabsichtigte Verwendung zur Verursachung<br />

erheblicher Verletzungen geeignet sei. Andere dagegen wollen im Wege<br />

einer abstrakt-subjektiven Betrachtung darauf abstellen, ob der Gegenstand<br />

bei der vom Täter generell beabsichtigten Verwendung hierzu geeignet ist.<br />

3. Die Rechtsprechung zu dieser Frage divergiert. Während zunächst noch die<br />

abstrakte Tauglichkeit zur Verursachung erheblicher Verletzungen für ausreichend<br />

gehalten wurde, wurde später auf das Bewusstsein des Täters bei der<br />

Tat hinsichtlich einer solchen Gebrauchsmöglichkeit abgestellt. Der BGH hat<br />

demgegenüber unter Verwerfung des subjektiven Ansatzes allein objektive<br />

Kriterien für maßgeblich gehalten, sich jedoch zu einer für alle Fälle gleichermaßen<br />

gültigen Auslegung außerstande erklärt.<br />

4. Für eine Einschränkung anhand objektiver Kriterien werden vor allem der<br />

Gesetzeswortlaut und das systematische Verhältnis des § 244 Abs. 1 Nr. 1 a) zu<br />

Nr. 1 b) StGB geltend gemacht, weil es nur dort auf eine Verwendungsabsicht<br />

ankomme. Zudem widerspreche eine subjektive Begriffsbestimmung dem<br />

Waffenbegriff. Rönnau folgt dennoch dem subjektiven Ansatz. Die Gefährlichkeit<br />

eines Werkzeugs sei mit einer subjektivierenden Interpretation nicht nur<br />

vereinbar, sondern ohne Berücksichtigung des Handlungskontextes und den<br />

Willen des Täters kaum zu bestimmen. Eine rein objektive Betrachtung führe<br />

zu einem Verdachtstatbestand und einer schwer kalkulierbaren Einzelfallkasuistik,<br />

die mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar sei. Auch bleibe bei dieser Betrachtung<br />

für § 144 Abs. 1 Nr. 1 b) StGB ein eigenständiger Anwendungsbereich<br />

für die Fälle des ungefährlichen beabsichtigten Scheinwaffeneinsatzes.<br />

Beweisschwierigkeiten hinsichtlich der Verwendungsabsicht stellten dagegen<br />

keinen grundsätzlichen Einwand dar, da sie alle subjektiven Tatbestandsmerkmale<br />

betreffen. Zudem führe die Gegenansicht zu Widersprüchen bei der<br />

Auslegung von § 250 Abs. 1 Nr. 1 a) und Abs. 2 Nr. 2 StGB.<br />

Dr. Wilhelm-Friedrich Schneider


Rechtsprechung<br />

RÜ 4/2012<br />

Art. 3 Abs. 1; 38 Abs. 1 S. 2; 46 Abs. 2 GG; § 40 VwGO; § 17a Abs. 5 GVG; § 383 StPO<br />

Kein Anspruch eines Privaten auf Aufhebung der Immunität<br />

eines Abgeordneten<br />

OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 26.09.2011 – 3 a B 5.11<br />

Fall<br />

Frau S ist Abgeordnete des Deutschen Bundestages und war von 2001–2009<br />

Bundesministerin für Gesundheit. Im Zuge eines Ärzteprotestes äußerte sich S<br />

im Rahmen eines Interviews: „ … Mich ärgert vielleicht, wenn Patienten oder<br />

kranke Menschen in Geiselhaft genommen werden für Forderungen nach<br />

mehr Geld. …“<br />

A ist Arzt und fühlte sich durch diese Äußerung persönlich verleumdet. Seine<br />

Privatklage (§ 374 StPO wegen Verleumdung und übler Nachrede wiesen sowohl<br />

das Amtsgericht als auch das Landgericht als unzulässig mit der Begründung<br />

zurück, A habe nicht zuvor als Privatkläger die Aufhebung der Immunität<br />

der S beantragt. A stellte daraufhin beim Bundestag einen Antrag auf Aufhebung<br />

der Immunität der Abgeordneten S. Der Sekretär des Ausschusses für<br />

Immunitätsangelegenheiten wies A darauf in, dass auf den Antrag eines Privatklägers<br />

die Immunität eines Abgeordneten nicht aufgehoben werden<br />

könne.<br />

Anfang Februar 2009 „erneuerte“ A seine Privatklage gegen die Abgeordnete<br />

S beim Amtsgericht. Das Amtsgericht beantragte im März 2009 die Aufhebung<br />

der Immunität der Abgeordneten S für das Privatklageverfahren. Es vertrat<br />

darin die Auffassung, dass vor Aufhebung der Immunität eine materiellrechtliche<br />

Vorprüfung der mit der Privatklage erhobenen Vorwürfe durch das<br />

Gericht nicht stattzufinden habe. Mit Schreiben vom 04.05.2009 teilte der Vorsitzende<br />

des Immunitätsausschusses dem Amtsgericht mit, dass der Ausschuss<br />

über den Aufhebungsantrag erst dann beraten werde, wenn das Gericht<br />

eine Entscheidung nach § 383 StPO – zunächst ohne Berücksichtigung<br />

der Immunität – getroffen habe. Eine Befassung des Bundestages mit dem Antrag<br />

auf Aufhebung der Immunität der Abgeordneten ziehe erhebliche öffentliche<br />

Aufmerksamkeit auf sich. Die Befassung des Bundestags könne erst nach<br />

einer gerichtlichen Vorprüfung des Privatklagevorbringens erfolgen.<br />

A erhob daraufhin Klage vor dem Verwaltungsgericht und beantragte, den<br />

Deutschen Bundestag zu verurteilen, über den Antrag auf Aufhebung der Immunität<br />

der Bundestagsabgeordneten zu entscheiden und dabei auf eine Vorprüfung<br />

der Privatklage durch das Amtsgericht zu verzichten. Das Verwaltungsgericht<br />

hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, A fehle für die<br />

Klage schon das Rechtsschutzbedürfnis. Er habe aber jedenfalls keinen Anspruch<br />

auf Aufhebung der Immunität.<br />

Gegen diese Entscheidung hat A zulässigerweise Berufung zum Oberverwaltungsgericht<br />

erhoben. Ist die zulässige Berufung begründet?<br />

Entscheidung<br />

Die Berufung ist begründet, wenn das erstinstanzliche Urteil des Verwaltungsgerichts<br />

fehlerhaft ist. Dies ist bei einem – wie hier – klageabweisenden Urteil<br />

der Fall, wenn die Klage des A vor dem Verwaltungsgericht zulässig und begründet<br />

war.<br />

Leitsätze<br />

1. Ein Privatkläger hat gegen den Deutschen<br />

Bundestag kein subjektives Recht<br />

darauf, dass dieser über den Antrag eines<br />

Strafgerichts auf Aufhebung der Immunität<br />

(Artikel 46 Abs. 2 GG) eines Bundestagsabgeordneten<br />

entscheidet oder das<br />

Parlament die Entscheidung im Hinblick<br />

auf die Belange eines Privatklägers frei von<br />

Willkür trifft. Der Bundestag ist nicht verpflichtet,<br />

bei Beweisklagen ohne rechtliche<br />

Vorprüfung des Strafvorwurfes durch<br />

das zuständige Gericht eine Entscheidung<br />

über die Aufhebung der Immunität<br />

eines Abgeordneten zu treffen.<br />

2. Die Regelung des § 17 a Abs. 5 GVG zur<br />

Prüfung des Rechtsweges ist auf das Verhältnis<br />

zwischen dem Verwaltungsrechtsweg<br />

und dem Bundesverfassungsgericht<br />

unanwendbar.<br />

3. Berechtigt zur Stellung eines Antrags<br />

auf Aufhebung der Immunität ist nach<br />

der enumerativen Regelung in A. Ziff. 1<br />

Buchst. b der Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten<br />

im Privatklageverfahren<br />

nur das Gericht, bevor es nach § 383 StPO<br />

das Hauptsacheverfahren eröffnet. Der<br />

Privatkläger ist nicht antragsberechtigt.<br />

4. Die Entscheidung des Deutschen Bundestages<br />

über die Aufhebung der Immunität<br />

eines Abgeordneten nach Artikel 46<br />

Abs. 2 GG ist als Maßnahme im Rahmen<br />

der Parlamentsautonomie, die vom Plenum<br />

durch echten Parlamentsbeschluss<br />

gefasst wird, kein Verwaltungsakt.<br />

Die Berufung bedarf nach § 124 Abs. 1<br />

VwGO der Zulassung durch das Verwaltungsgericht<br />

oder durch das OVG.<br />

243


244<br />

RÜ 4/2012<br />

Beachte: Das OVG prüft nicht, ob eine<br />

öffentlich-rechtliche Streitigkeit gegeben<br />

ist. Insoweit ist es an die Entscheidung<br />

des VG gebunden, § 17 a Abs. 5<br />

GVG. Es prüft aber, ob die Streitigkeit<br />

verfassungsrechtlicher Natur ist.<br />

A. Zulässigkeit der Klage<br />

Rechtsprechung<br />

I. Dann müsste zunächst der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sein. Fraglich<br />

ist jedoch, ob das OVG die Eröffnung des Rechtsweges überhaupt prüft.<br />

1. Nach § 17a Abs. 5 GVG prüft das Rechtsmittelgericht nicht, ob der beschrittene<br />

Rechtsweg zulässig ist.<br />

„[23] § 17a Abs. 5 GVG ist aber auf das hier betroffene Verhältnis zwischen dem<br />

Verwaltungsrechtsweg und dem Bundesverfassungsgericht unanwendbar. Mit<br />

dem Begriff des Rechtswegs im Sinne von § 17 a Abs. 5 GVG wird nämlich nur die<br />

Abgrenzung der Zuständigkeiten der einzelnen (Fach-) Gerichtsbarkeiten zueinander<br />

angesprochen (z.B. § 13 GVG, § 40 VwGO, § 33 FGO, § 51 SGG), die als Gerichte<br />

eine umfassende Nachprüfungskompetenz haben, nicht hingegen das<br />

Verhältnis zu dem auf die Nachprüfung von Verfassungsrecht beschränkten Bundesverfassungsgericht.“<br />

Damit prüft das OVG (zumindest), ob eine Streitigkeit verfassungsrechtlicher<br />

Art gegeben ist.<br />

Vgl. AS-Skript VwGO [2011], Rdnr. 81 ff. 2. Eine Streitigkeit ist verfassungsrechtlich, wenn am Verfassungsleben Beteiligte<br />

um die Auslegung und Anwendung von Verfassungsrecht streiten<br />

(sog. doppelte Verfassungsunmittelbarkeit). A begehrt die Aufhebung der<br />

Immunität der Abgeordneten S. Streitentscheidend ist dafür die verfassungsrechtliche<br />

Vorschrift des Art. 46 Abs. 2 GG. A als Privatkläger ist aber nicht am<br />

Verfassungsleben beteiligtes Organ, sodass die doppelte Verfassungsunmittelbarkeit<br />

nicht gegeben ist. Daher ist – trotz der Beteiligung des Deutschen<br />

Bundestages – eine Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben.<br />

Zum Behördenbegriff vgl. BVerwG RÜ<br />

2012, 188, 190.<br />

Zu der streitigen Frage, ob für die allgemeine<br />

Leistungsklage eine Klagebefugnis<br />

erforderlich ist, vgl. AS-Skript VwGO<br />

[2011], Rdnr. 235 f. Das OVG hat in der<br />

vorliegenden Entscheidung die Klagebefugnis<br />

nicht angesprochen und ausschließlich<br />

das Rechtsschutzbedürfnis<br />

problematisiert.<br />

Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet.<br />

II. A begehrt die Verpflichtung des Bundestages, die Immunität der Abgeordneten<br />

S aufzuheben.<br />

1. Statthafte Klageart könnte die Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1,<br />

2. Fall VwGO sein. Dann müsste die Aufhebung der Immunität durch den Bundestag<br />

ein Verwaltungsakt i.S.d. § 35 VwVfG sein. Fraglich ist insofern, ob der<br />

Bundestag als „Behörde“ handelt. Behörde ist gemäß § 1 Abs. 4 VwVfG jede<br />

Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt. Verwaltung ist<br />

die Staatstätigkeit, die weder Gesetzgebung noch Rechtsprechung ist (sog.<br />

Substraktionsmethode).<br />

„[26] Soweit ein Parlament oder seine Organe nicht funktionell Verwaltungsaufgaben<br />

wahrnehmen, sind sie keine Behörde im Sinne dieser Regelung. Die Entscheidung<br />

über die Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten nach Art. 46<br />

Abs. 2 GG ist eine Maßnahme des Bundestages im Rahmen der Parlamentsautonomie,<br />

die vom Plenum durch einen verbindlichen echten Parlamentsbeschluss<br />

gefasst wird (…).“<br />

Der Bundestag wird hinsichtlich der Aufhebung der Immunität daher nicht als<br />

Behörde tätig. Demzufolge begehrt A nicht den Erlass eines Verwaltungsaktes,<br />

sodass eine Verpflichtungsklage ausscheidet.<br />

2. Statthafte Klageart ist vielmehr die allgemeine Leistungsklage, die in der<br />

VwGO nicht ausdrücklich geregelt, aber an verschiedenen Stellen vorausgesetzt<br />

wird (vgl. §§ 43 Abs. 2, 111 VwGO) und gewohnheitsrechtlich anerkannt<br />

ist. Sie ist statthaft, wenn der Kläger eine Leistung begehrt, die – wie hier –<br />

nicht im Erlass oder der Aufhebung eines Verwaltungsaktes besteht.<br />

III. Zum Ausschluss von Popularklagen wird von der h.M. auch für die Leistungsklage<br />

eine Klagebefugnis analog § 42 Abs. 2 VwGO verlangt. Es erscheint<br />

zumindest nicht von vornherein und offensichtlich ausgeschlossen,


Rechtsprechung<br />

dass A ein subjektives Recht aus Art. 46 Abs. 2 GG darauf hat, dass das Parlament<br />

auf Antrag des Strafgerichts eine Entscheidung auf Aufhebung der Immunität<br />

der Abgeordneten S trifft. A ist somit klagebefugt.<br />

IV. Für die Klage des A müsste auch ein Rechtsschutzbedürfnis bestehen. A<br />

hat zwar zunächst selbst die Aufhebung der Immunität beim Bundestag beantragt.<br />

Das Rechtsschutzbedürfnis könnte aber fehlen, wenn die Immunität<br />

nach Anlage 6 der GO BT durch Beschluss des Bundestages von vornherein<br />

aufgehoben wäre. Danach „genehmigt der Deutsche Bundestag bis zum Ablauf<br />

der Wahlperiode die Durchführung von Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder<br />

des Bundestages wegen Strafverfahren“, allerdings mit Ausnahme von<br />

Beleidigungen politischen Charakters (§§ 185, 186, 187, 188 StGB). A behauptet<br />

mit seiner Privatklage, die politische Äußerung der S sei eine üble Nachrede<br />

(§ 186 StGB), sodass die Immunität durch das Parlament im Einzelfall<br />

aufgehoben werden muss.<br />

„[27] Die begehrte Entscheidung ist auch nicht nutzlos, da sie im Erfolgsfall dem<br />

Kläger seinem Ziel der strafrechtlichen Verfolgung der Abgeordneten S. näher<br />

bringen würde. Wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung darf nach Art. 46<br />

Abs. 2 GG ein Abgeordneter nur mit Genehmigung des Deutschen Bundestages<br />

zur Verantwortung gezogen werden. Dieser Immunitätsschutz ist ein Verfahrenshindernis,<br />

das auch gegenüber Privatklagen besteht, weshalb das Gericht das<br />

Hauptsacheverfahren nach § 383 StPO erst nach Aufhebung der Immunität des<br />

Abgeordneten eröffnen darf.“<br />

Das Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben. Die allgemeine Leistungsklage ist zulässig.<br />

B. Begründetheit der Klage<br />

Die allgemeine Leistungsklage ist begründet, wenn der Kläger einen Anspruch<br />

auf die begehrte Leistung hat.<br />

I. Ein Anspruch des A auf Aufhebung der Immunität könnte sich aus Anlage 6<br />

zur Geschäftsordnung des Bundestages (GO BT) ergeben.<br />

1. Damit A einen Anspruch aus der Anlage 6 zur GO BT herleiten kann, müssten<br />

diese Regelungen zunächst überhaupt im Verhältnis zwischen dem Bundestag<br />

und dem Bürger gelten. Bei der GO BT, die sich der Bundestag gemäß<br />

Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG gibt, handelt es sich um ein Innenrecht mit Satzungscharakter.<br />

Daher bindet die GO BT grundsätzlich auch nur die Mitglieder des Bundestages.<br />

„[31] Gleichwohl ist es anerkannt, dass die Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten<br />

auch nach außen, insbesondere gegen Strafverfolgungsbehörden und private<br />

Dritte – wie den Privatkläger – verbindlich wirken.“<br />

2. Problematisch ist allerdings, dass nach Anlage 6, A. Ziff. 1 b) GO BT im Privatklageverfahren<br />

nur das Gericht, bevor es nach § 383 StPO das Privatklageverfahren<br />

eröffnet, antragsberechtigt im Verfahren zur Aufhebung der Immunität<br />

ist. Der Privatkläger selbst ist danach nicht antragsberechtigt.<br />

„[30] Die in der strafrechtlichen Literatur und vom Landgericht vertretene Gegenauffassung,<br />

wonach der Privatkläger den Antrag selbst beim Bundestag stellen<br />

könne, übersieht die Neuregelung in A. Ziffer 1 Buchstabe b der Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten.<br />

Der Bundestag ist rechtlich nicht gezwungen, dem Privatkläger<br />

ein Antragsrecht einzuräumen, weil die Regelungen über das Verfahren<br />

zur Aufhebung der Immunität der Parlamentsautonomie unterfallen. Wenn der<br />

Kläger als Privatkläger demnach nicht einmal antragsberechtigt ist, einen Antrag<br />

auf Aufhebung der Immunität zu stellen, steht ihm erst Recht kein Anspruch auf<br />

eine Sachentscheidung zu.“<br />

RÜ 4/2012<br />

Die Anlage 6 und der Beschluss des Bundestages<br />

sind abgedruckt im Sartorius I<br />

unter 35.<br />

So z.B. Meyer/Goßner, StPO, 54. Aufl. 2011,<br />

§ 152 a Rdnr. 9: Der Privatkläger wendet<br />

sich (zur Aufhebung der Immunität) unter<br />

Nachweis der Privatklageerhebung<br />

unmittelbar an das Parlament.<br />

245


246<br />

RÜ 4/2012<br />

Vgl. dazu AS-Skript Staatsorganisationsrecht<br />

[2012], Rdnr. 253.<br />

Rechtsprechung<br />

A hat demnach keinen Anspruch auf Aufhebung der Immunität aus Anlage 6,<br />

A. Ziff. 1 zur GO BT.<br />

II. Ein Anspruch des A könnte sich möglicherweise unmittelbar aus Art. 46<br />

Abs. 2 GG ergeben. Danach darf ein Abgeordneter wegen einer mit Strafe bedrohten<br />

Handlung nur mit Genehmigung des Bundestages zur Verantwortung<br />

gezogen werden. Fraglich ist, ob sich daraus ein subjektives Recht eines<br />

Bürgers auf Aufhebung der Immunität ergibt.<br />

1. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist Art. 46 Abs. 2 GG nicht als subjektives<br />

Recht eines Bürgers ausgestaltet (grammatikalische Auslegung).<br />

2. Fraglich ist, ob die Stellung des Art. 46 GG im III. Abschnitt des GG eine Auslegung<br />

zulässt, nach der dem A ein subjektives Recht aus Art. 46 Abs. 2 GG zusteht<br />

(systematische Auslegung). Der III. Abschnitt regelt den „Bundestag“.<br />

Darin geht es um die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Organ Bundestag<br />

und seine Untergliederungen. Insbesondere geht es um die Regelungen<br />

zur Parlamentsautonomie.<br />

„[34] Die dem Parlament zustehende Autonomie erstreckt sich nicht nur auf Angelegenheiten<br />

der Geschäftsordnung (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG). Autonomie bezeichnet<br />

die allgemeine Befugnis des Parlaments, seine eigenen Angelegenheiten selbst<br />

zu regeln. Über die Genehmigung der Durchführung von Strafverfahren gegen seine<br />

Mitglieder entscheidet das Parlament daher grundsätzlich in eigener Verantwortung.<br />

Es kann sie erteilen oder versagen. Dies spricht dagegen, dass das Parlament<br />

auf Belange eines außenstehenden Privatklägers in maßgeblicher Weise<br />

Rücksicht nehmen muss oder ihm eine subjektive Rechtstellung im Sinne eines Anspruchs<br />

auf eine Entscheidung über die Aufhebung der Immunität zustehen soll.“<br />

3. Etwas anderes könnte jedoch die Auslegung nach dem Sinn und Zweck<br />

des Art. 46 Abs. 2 GG (teleologische Auslegung) ergeben. Während früher<br />

die Immunität insbesondere den Abgeordneten vor „tendenziöser Verfolgung<br />

durch die Exekutive“ schützen sollte, wird heute überwiegend angenommen,<br />

die Immunität schütze die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments.<br />

Dies macht deutlich, dass das Parlament, und gerade nicht der Bürger<br />

bzw. ein Privatkläger durch Art. 46 Abs. 2 GG geschützt werden soll. Damit ergibt<br />

auch die teleologische Auslegung, dass ein Privatkläger kein subjektives<br />

Recht unmittelbar aus Art. 46 Abs. 2 GG herleiten kann.<br />

III. A könnte aber möglicherweise zumindest ein Recht darauf zustehen, dass<br />

der Bundestag willkürfrei über die Aufhebung der Immunität entscheidet.<br />

1. Anerkannt ist, dass ein Abgeordneter ein Recht darauf hat, dass sich das<br />

Parlament bei der Entscheidung über die Aufhebung der Immunität nicht von<br />

sachfremden, willkürlichen Motiven leiten lässt (Art. 46 Abs. 2 i.V.m. Art. 38<br />

Abs. 1 S. 2 GG). Dies ist damit zu begründen, dass der Abgeordnete in seinem<br />

freien Mandat (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) geschützt werden soll. Die Immunität soll<br />

verhindern, dass missliebige Abgeordnete in ihrer parlamentarischen Arbeit<br />

behindert werden.<br />

Ein Privatkläger hat dagegen keinen dem Abgeordneten vergleichbaren Status.<br />

Beim Bürger besteht nicht die Gefahr, dass durch Strafverfolgungsmaßnahmen<br />

die verfassungsrechtlich geschützte parlamentarische Arbeit behindert<br />

wird.<br />

2. Ein Anspruch des A auf willkürfreie Entscheidung könnte sich aus Art. 3<br />

Abs. 1 i.V.m. Art. 46 Abs. 2 GG ergeben.<br />

„[39] Es ist aber anerkannt, dass sich aus Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich keine verfassungsunmittelbaren<br />

originären Leistungsansprüche herleiten lassen. Auch<br />

nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts folgt aus Art. 3 Abs. 1


Rechtsprechung<br />

GG ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung nur, wenn die zugrunde<br />

liegenden Normen mindestens auch im Interesse des Klägers als Einzelnen erlassen<br />

wurden.“<br />

Art. 46 Abs. 2 GG schützt, wie bereits festgestellt, das Parlament und den Abgeordneten.<br />

Der Schutz erstreckt sich aber gerade nicht auf den Privatkläger,<br />

sodass auch ein Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 46 Abs. 2 GG nicht besteht.<br />

3. Ein Recht des A könnte sich aus dem aus Art. 20 Abs. 3 GG hergeleiteten<br />

staatlichen Strafanspruch ergeben. Der Rechtsstaat kann nur verwirklicht<br />

werden, wenn sichergestellt ist, dass Straftäter einer gerechten Bestrafung zugeführt<br />

werden. Die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs erfolgt aber<br />

im Interesse der Allgemeinheit, nicht im Interesse eines Einzelnen. Ein solches<br />

öffentliches Interesse ist im vorliegenden Fall offensichtlich nicht gegeben.<br />

„[40] Würde nämlich ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung der Abgeordneten<br />

bestehen, hätte die Staatsanwaltschaft nach § 376 StPO öffentliche Klage<br />

wegen der in § 374 Abs. 2 Nr. 2 StPO bezeichneten Beleidigungsdelikte erheben<br />

müssen.“<br />

Damit kann sich ein subjektives Recht des A auch nicht aus dem staatlichen<br />

Strafanspruch ergeben.<br />

4. Letztlich ergibt sich auch kein Anspruch des A auf Aufhebung der Immunität<br />

aus Art. 19 Abs. 4 GG. Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgt zwar ein Anspruch auf<br />

möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle. Dies setzt aber voraus, dass sich<br />

aus den einschlägigen Normen ein subjektives Recht des Betroffenen ergibt.<br />

Das ist, wie festgestellt, nicht der Fall.<br />

Demzufolge hat A keinen Anspruch auf Aufhebung der Immunität der Abgeordneten<br />

S. Die allgemeine Leistungsklage ist unbegründet.<br />

Ergebnis: Die zulässige Berufung ist daher ebenfalls unbegründet und bleibt<br />

erfolglos.<br />

Die Immunitätsvorschriften sind jüngst durch den Antrag der Staatsanwaltschaft<br />

Hannover auf Aufhebung der Immunität des ehemaligen Bundespräsidenten<br />

Wulff in den Fokus der Öffentlichkeit gelangt. Für den Bundespräsidenten<br />

gelten die Vorschriften über die Immunität der Bundestagsabgeordneten<br />

gemäß Art. 60 Abs. 4 GG entsprechend. Da Art. 60 Abs. 4 GG ausdrücklich<br />

nur auf die entsprechende Anwendung des Art. 46 Abs. 2–4 GG verweist,<br />

genießt der Bundespräsident keine Indemnität i.S.d. Art. 46 Abs. 1 GG.<br />

Problematisch war in diesem Zusammenhang, wer über die Aufhebung der<br />

Immunität des Bundespräsidenten entscheidet. Der Bundestag wählt den<br />

Bundespräsidenten nicht und übt auch sonst keine parlamentarische Kontrolle<br />

über ihn aus. Außerdem sind Art. 46 Abs. 2–4 GG nur „entsprechend“ anwendbar,<br />

was sich eigentlich nur auf eine Modifikation beim Genehmigungsorgan<br />

beziehen kann. Andererseits ist die Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten<br />

wählt (Art. 54 Abs. 1 GG), kein ständiges Bundesorgan und<br />

kommt daher nicht in Betracht. Auch der Bundespräsident selbst kann kaum<br />

über die Aufhebung seiner eigenen Immunität entscheiden, sodass nur der<br />

Bundestag als Genehmigungsorgan infrage kam (Herzog in Maunz/Dürig, GG,<br />

Art. 60 Rdnr. 59). Die Entscheidung hat sich aber dadurch erledigt, dass Christian<br />

Wulff am 17.02. 2012 mit sofortiger Wirkung vom Amt des Bundespräsidenten<br />

zurückgetreten ist mit der Folge, dass seine Immunität automatisch<br />

entfallen ist.<br />

Ralf Altevers<br />

RÜ 4/2012<br />

247


248<br />

RÜ 4/2012<br />

Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 GG; § 4 NiSG<br />

Sonnenstudioverbot für Minderjährige<br />

BVerfG, Beschl. v. 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10<br />

Leitsätze<br />

1. § 4 NiSG, der es den Betreibern von<br />

Sonnenstudios verbietet, Minderjährigen<br />

die Nutzung zu gestatten, ist verfassungsgemäß.<br />

2. Zwar greift das an die Betreiber von<br />

Sonnenstudios gerichtete Verbot nicht<br />

unmittelbar in die Handlungsfreiheit der<br />

Minderjährigen ein, es wirkt sich aber im<br />

Ergebnis auch für Minderjährige wie ein<br />

Verbot aus und stellt daher ein „funktionales<br />

Äquivalent“ eines Eingriffs dar.<br />

3. Es stellt grundsätzlich ein legitimes<br />

Gemeinwohlanliegen dar, Menschen davor<br />

zu bewahren, sich selbst leichtfertig<br />

einen größeren persönlichen Schaden<br />

zuzufügen.<br />

(Leitsätze des Bearbeiters)<br />

Z.B. wird dem 14-jährigen die „Religionsmündigkeit“<br />

zuerkannt wegen § 5 des<br />

Gesetzes über die religiöse Kindererziehung,<br />

wonach einem Kind nach der Vollendung<br />

des vierzehnten Lebensjahres<br />

die Entscheidung darüber zusteht, zu<br />

welchem religiösen Bekenntnis es sich<br />

halten will (vgl. BVerwG RÜ 2012, 182,<br />

184).<br />

Fall<br />

Rechtsprechung<br />

Am 04.08.2009 trat die Vorschrift des § 4 des Gesetzes zum Schutz vor nichtionisierender<br />

Strahlung bei der Anwendung am Menschen (NiSG) in Kraft: „Die<br />

Benutzung von Anlagen nach § 3 zur Bestrahlung der Haut mit künstlicher<br />

ultravioletter Strahlung in Sonnenstudios, ähnlichen Einrichtungen oder sonst<br />

öffentlich zugänglichen Räumen darf Minderjährigen nicht gestattet werden."<br />

Zur Begründung führt der Gesetzgeber an, das Risiko, im Erwachsenenalter an<br />

Hautkrebs zu erkranken, steige, wenn Menschen bereits in Kindheit und Jugend<br />

verstärkt der ultravioletten Strahlung (UV-Strahlung) ausgesetzt gewesen seien.<br />

Die 16-jährige Schülerin S nutzt gelegentlich öffentliche Solarien und sieht<br />

sich durch die Verbotsregelung in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt.<br />

Das GG verpflichte niemanden dazu, gesund oder vernünftig zu leben.<br />

Zudem sei das Verbot ungeeignet, da sich Minderjährige, die ein Solarium<br />

nicht nutzen dürften, verstärkt der natürlichen UV-Strahlung der Sonne aussetzen<br />

würden. Zudem hätte die UV-Strahlung bekanntermaßen auch positive<br />

Effekte, z.B. hinsichtlich der Bildung von Vitamin D. Die Eltern M und V<br />

rügen die Verletzung ihres Elterngrundrechts, weil der nach ihrer Ansicht unverhältnismäßige<br />

Eingriff sie daran hindere, ihrer Tochter die Solariennutzung<br />

zu erlauben. Haben die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden<br />

Erfolg?<br />

Hinweis: Das NiSG ist formell verfassungsgemäß.<br />

Entscheidung<br />

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.<br />

A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde<br />

I. Das BVerfG ist gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 13 Nr. 8 a BVerfGG zuständig<br />

für die Entscheidung über Individualverfassungsbeschwerden.<br />

II. Beteiligtenfähig ist nach § 90 Abs. 1 BVerfGG jedermann, d.h., jeder, der fähig<br />

ist, Grundrechtsträger zu sein. Sowohl S als auch die Eltern M und V sind als<br />

natürliche Personen Träger von Grundrechten und daher beteiligtenfähig.<br />

III. Hinsichtlich der 16-jährigen S ist fraglich, ob diese prozessfähig ist. In Ermangelung<br />

von Vorschriften im BVerfGG ist ein Minderjähriger prozessfähig,<br />

wenn er auch grundrechtsmündig ist. Dabei wird allgemein nicht auf eine<br />

starre Altersgrenze abgestellt; vielmehr hängt die Grundrechtsmündigkeit von<br />

der Einsichtsfähigkeit hinsichtlich der Tragweite des konkreten Grundrechts<br />

ab (Theorie der flexiblen Altersgrenze). Dabei ergeben sich Indizien aus Altersgrenzen<br />

im GG selbst oder in einfachen Gesetzen.<br />

1. Hinsichtlich des möglicherweise betroffenen Grundrechts der allgemeinen<br />

Handlungsfreiheit der S (Art. 2 Abs. 1 GG) ist davon auszugehen, dass ein Minderjähriger<br />

eher nicht die volle Tragweite und Bedeutung der Handlungsfreiheit<br />

überblicken kann. Daher ist davon auszugehen, dass die 16-jährige S nicht<br />

selbst grundrechtsmündig und damit nicht prozessfähig ist.<br />

2. Für S handeln daher die Eltern M und V als gesetzliche Vertreter.


Rechtsprechung<br />

IV. Zulässiger Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde ist gemäß<br />

§ 90 Abs. 1 BVerfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt. Die Beschwerdeführer<br />

wenden sich gegen § 4 NiSG im Rahmen einer sog. Rechtssatzverfassungsbeschwerde.<br />

V. Der Beschwerdeführer muss behaupten, durch den Akt der öffentlichen Gewalt<br />

möglicherweise in seinen Grundrechten verletzt zu sein (§ 90 Abs. 1<br />

BVerfGG, Beschwerdebefugnis).<br />

1. Dann müsste zunächst eine Verletzung der gerügten Grundrechte möglich<br />

sein.<br />

a) S rügt eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG.<br />

Art. 2 Abs. 1 GG schützt jegliches menschliches Verhalten. Darunter fällt auch<br />

die Möglichkeit, ein Sonnenstudio zu nutzen, sodass eine Verletzung des Art. 2<br />

Abs. 1 GG zumindest möglich erscheint.<br />

b) Die Eltern M und V fühlen sich in ihrem elterlichen Erziehungsrecht aus<br />

Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG verletzt, wonach Pflege und Erziehung des Kindes das natürliche<br />

Recht der Eltern ist. Durch das Verbot des § 4 NiSG kann verhindert<br />

werden, dass die Eltern ihrem Kind den Besuch eines Solariums erlauben können,<br />

sodass eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nicht offensichtlich ausgeschlossen<br />

ist.<br />

2. Der Beschwerdeführer muss durch den Akt der öffentlichen Gewalt auch<br />

selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Die Beschwerdeführer<br />

sind hinsichtlich der gerügten Grundrechte selbst und gegenwärtig betroffen.<br />

Fraglich ist, ob auch eine unmittelbare Betroffenheit gegeben ist.<br />

a) Die unmittelbare Beschwer fehlt, wenn nicht der angegriffene Akt der öffentlichen<br />

Gewalt selbst, sondern erst ein weiterer Vollzugsakt in das Grundrecht<br />

eingreift. § 4 NiSG untersagt den Betreibern entsprechender Anlagen,<br />

Minderjährigen die Benutzung zu gestatten. Es handelt sich um eine Verbotsnorm,<br />

die nicht weiter vollzogen werden muss (sog. self-executing-Norm).<br />

b) Fraglich ist aber, ob S und ihre Eltern unmittelbar betroffen sind. Sie sind –<br />

anders als die Betreiber von Sonnenstudios – nicht Adressaten der Norm.<br />

„[18] § 4 NiSG richtet sein Verbot zwar nicht unmittelbar gegen Minderjährige,<br />

sondern wendet sich in erster Linie an Betreiber von Sonnenstudios und ähnlichen<br />

Einrichtungen. Die Vorschrift wirkt sich im Ergebnis aber auch für die Beschwerdeführerin<br />

zu 1) wie ein Verbot der Nutzung von Solarien aus und ist damit funktionales<br />

Äquivalent eines Eingriffs in die allgemeine Handlungsfreiheit.“<br />

Damit ist S von dem Verbot des § 4 NiSG unmittelbar betroffen. Die Eltern, die<br />

der S einen Besuch des Sonnenstudios demzufolge auch nicht gestatten können,<br />

sind ebenfalls unmittelbar betroffen.<br />

Die Beschwerdeführer sind beschwerdebefugt.<br />

VI. In Ermangelung eines Rechtsweges gegen Parlamentsgesetze (Rechtswegerschöpfung,<br />

§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) wären die Verfassungsbeschwerden<br />

unzulässig, wenn es den Beschwerdeführern zumutbar und möglich wäre, § 4<br />

NiSG zunächst inzident durch ein Fachgericht überprüfen zu lassen (Grundsatz<br />

der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde).<br />

1. Fraglich ist, ob der Grundsatz der Subsidiarität gilt, wenn sich der Beschwerdeführer<br />

gegen ein nachkonstitutionelles Parlamentsgesetz zur Wehr<br />

setzt. In diesem Fall müsste ein Fachgericht, wenn es von der Verfassungswidrigkeit<br />

der Norm überzeugt ist, im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle<br />

(Art. 100 Abs. 1 GG) das BVerfG vorab entscheiden lassen. Aus diesem Grunde<br />

wird eine Inzidentprüfung der Fachgerichte bei Parlamentsgesetzen teilweise<br />

nicht für erforderlich gehalten. Dagegen spricht jedoch, dass ein Fachgericht<br />

RÜ 4/2012<br />

Insofern wäre auch ein Betreiber eines<br />

Solariums unproblematisch unmittelbar<br />

betroffen und beschwerdebefugt.<br />

Zum Grundsatz der Subsidiarität AS-<br />

Skript Grundrechte [2011], Rdnr. 476 ff.<br />

249


250<br />

RÜ 4/2012<br />

Gegenstand der Feststellungsklage wäre<br />

nicht die Wirksamkeit der Norm, sondern<br />

die (drohende) Anwendung der Norm<br />

im konkreten Fall (also das der Norm<br />

nachgelagerte Rechtsverhältnis).<br />

Rechtsprechung<br />

die angegriffene Norm nicht zwingend dem BVerfG zur Entscheidung vorlegen<br />

muss, sondern nur dann, wenn es von der Verfassungswidrigkeit der<br />

Norm überzeugt ist. Zudem trifft das BVerfG dann auf einen in tatsächlicher<br />

und rechtlicher Hinsicht umfassend vorbereiteten Fall, sodass der Grundsatz<br />

der Subsidiarität auch für nachkonstitutionelle Parlamentsgesetze gilt.<br />

2. Den Beschwerdeführern wäre es ggf. möglich, § 4 NiSG im Rahmen einer<br />

Feststellungsklage (§ 43 VwGO) vor dem VG inzident überprüfen zu lassen.<br />

Das feststellungsfähige Rechtsverhältnis könnte aus der Frage resultieren, ob<br />

sich aus der Anwendung der Norm des § 4 NiSG im konkreten Fall konkrete<br />

Rechte und Pflichten der Beteiligten ergeben, hier bzgl. der (Nicht-)Nutzung<br />

von Solarien. Dies hängt von der Wirksamkeit des § 4 NiSG ab.<br />

3. Eine inzidente Überprüfung im Rahmen einer Feststellungsklage müsste<br />

den Beschwerdeführern auch zumutbar sein. Wenn (insbesondere) S auf einen<br />

fachgerichtlichen Rechtsschutz verwiesen würde, hätte sie vor Erschöpfung<br />

des Rechtsweges bereits das 18. Lebensjahr vollendet und dürfte vorher<br />

als Minderjährige nicht mehr das Solarium nutzen. Es käme zu einer (möglichen)<br />

Rechtsvereitelung. Damit ist eine Inzidentkontrolle nicht zumutbar. Der<br />

Grundsatz der Subsidiarität steht der Zulässigkeit nicht entgegen.<br />

VII. Die Form- und Fristregeln (§§ 23 Abs. 1, 92, 93 Abs. 1 BVerfGG) sind eingehalten.<br />

Damit ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.<br />

B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde<br />

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit die Beschwerdeführer<br />

durch § 4 NiSG in ihren Grundrechten verletzt werden.<br />

I. Verfassungsbeschwerde der S<br />

S könnte durch das Verbot in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2<br />

Abs. 1 GG) verletzt sein.<br />

1. Art. 2 Abs. 1 GG schützt jegliches menschliches Verhalten, sodass durch das<br />

Verbot der Solariumsnutzung der Schutzbereich betroffen ist.<br />

„[17] Auch ein Verhalten, das Risiken für die eigene Gesundheit oder gar deren Beschädigung<br />

in Kauf nimmt, ist vom Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit<br />

geschützt.“<br />

2. Wie oben bereits festgestellt, stellt das Verbot der Nutzung eines Sonnenstudios<br />

ein funktionales Äquivalent eines Eingriffs dar.<br />

3. Der Eingriff könnte verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.<br />

a) Art. 2 Abs. 1 GG ist einschränkbar durch die verfassungsmäßige Ordnung.<br />

Darunter fallen alle verfassungsgemäßen Gesetze.<br />

b) Fraglich ist, ob § 4 NiSG eine verfassungsgemäße Konkretisierung der<br />

Einschränkungsmöglichkeit darstellt.<br />

aa) Das NiSG ist formell verfassungsgemäß.<br />

bb) § 4 NiSG müsste auch materiell verfassungsgemäß, insbesondere verhältnismäßig<br />

sein. Das ist der Fall, wenn das Gesetz zur Verfolgung eines legitimen<br />

Ziels geeignet, erforderlich und angemessen ist.<br />

(1) Der Gesetzgeber müsste ein legitimes Ziel verfolgen.<br />

„[21] Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es grundsätzlich<br />

ein legitimes Gemeinwohlanliegen, Menschen davor zu bewahren, sich selbst<br />

leichtfertig einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen. Insbesondere der<br />

Schutz der Jugend ist nach einer vom Grundgesetz selbst getroffenen Wertung ein<br />

Ziel von bedeutsamem Rang und ein wichtiges Gemeinschaftsanliegen.“


Rechtsprechung<br />

(2) Eine Maßnahme ist geeignet, wenn sie die Zielerreichung zumindest fördern<br />

kann. S trägt vor, dass sich Jugendliche verstärkt der natürlichen Sonnenstrahlung<br />

aussetzen würden, wenn die Nutzung von Solarien verboten würde.<br />

„[24] Dieser Einwand stellt die Geeignetheit des § 4 NiSG zur Erreichung des mit seiner<br />

Einführung verfolgten Zwecks schon deshalb nicht infrage, weil Sonnenstudios<br />

und ähnliche Einrichtungen jederzeit, insbesondere zu jeder Jahreszeit, und<br />

unabhängig von Witterung und Tageszeit die Möglichkeit bieten, sich der UV-<br />

Strahlung auszusetzen. Dass der Ausschluss dieser, die natürlichen Optionen ergänzenden<br />

zusätzlichen Bestrahlungsmöglichkeit zumindest unter mitteleuropäischen<br />

Witterungsbedingungen geeignet ist, eine deutliche Reduzierung der<br />

auf Kinder und Jugendliche einwirkenden UV-Strahlung zu erreichen, durfte der<br />

Gesetzgeber annehmen.“<br />

(3) Eine Maßnahme ist erforderlich, wenn von mehreren gleich geeigneten<br />

Mitteln das am wenigsten belastende gewählt wird. Andere, gleich wirksame<br />

Mittel, die ebenso effektiv verhindern könnten, dass Jugendliche frühzeitig einer<br />

hohen UV-Strahlung ausgesetzt werden, sind nicht erkennbar.<br />

(4) Das Verbot müsste auch angemessen sein. Das bedeutet, dass bei einer<br />

Gesamtabwägung der Schaden des Einzelnen nicht erkennbar außer Verhältnis<br />

zu dem Nutzen der Allgemeinheit stehen darf.<br />

„[33] [Es] wird dem Minderjährigen mit dem Verbot des § 4 NiSG im Bereich privater<br />

Lebensgestaltung und damit in einem Kernbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />

die Dispositionsbefugnis über die Gestaltung seines Aussehens und<br />

seiner Freizeitgestaltung teilweise genommen, ohne dass es sich dabei um ein<br />

gemeinwohlschädliches Verhalten handeln würde.“<br />

Andererseits ist der Jugendschutz als Rechtfertigungsgrund für Grundrechtseingriffe<br />

im GG ausdrücklich anerkannt (z.B. in Art. 5 Abs. 2 GG). Insbesondere<br />

die mangelnde Einsichtsfähigkeit oder auch -bereitschaft von Jugendlichen<br />

spricht dafür, erst Volljährigen hinsichtlich einer Selbstgefährdung die Entscheidung<br />

zu überlassen, ob sie sich künstlicher UV-Strahlung aussetzen wollen.<br />

Zwar kann die UV-Strahlung im Hinblick auf die Vitamin-D-Bildung auch<br />

positive Effekte aufweisen. Der Vitamin-D-Haushalt kann jedoch auch über<br />

Aufenthalte im Freien ausreichend reguliert werden. Damit stellt § 4 NiSG keine<br />

unangemessene Regelung dar und ist verhältnismäßig.<br />

S ist nicht in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt.<br />

II. Verfassungsbeschwerde der Eltern<br />

„[37] Es kann dahinstehen, ob das Verbot des § 4 NiSG in das grundrechtlich geschützte<br />

Erziehungsrecht der [Eltern] eingreift, weil es ihnen die Möglichkeit nimmt,<br />

nach ihren eigenen Erziehungsvorstellungen darüber zu entscheiden, ob ihr Kind<br />

ein Sonnenstudio oder eine ähnliche Einrichtung besuchen können soll. Der Eingriff<br />

wäre jedenfalls gerechtfertigt. [38] Der Eingriff in das Elterngrundrecht aus<br />

Art. 6 Abs. 2 GG wäre nur geringfügig, da es den Eltern unbenommen bleibt, ihrem<br />

Kind im privaten Lebensbereich den Zugang zu einer UV-Bestrahlung zu eröffnen,<br />

wenn sie dies für verantwortbar und richtig halten. Der Gesetzgeber war von Verfassungs<br />

wegen auch nicht gehalten, aus Verhältnismäßigkeitserwägungen ein<br />

bloßes Verbot mit elterlichem Einverständnisvorbehalt vorzusehen. Angesichts<br />

der allenfalls geringen Eingriffsintensität durfte er sich auf ein umfassendes, nicht<br />

nach Altersgruppen und daran anknüpfende Einverständnispflichten differenzierendes<br />

und damit für alle Beteiligten leicht praktikables Verbot entscheiden.“<br />

Damit sind auch die Eltern nicht in ihren Grundrechten verletzt.<br />

Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerden bleiben erfolglos.<br />

Ralf Altevers<br />

RÜ 4/2012<br />

Im Originalfall war auch ein Betreiber<br />

eines Sonnenstudios wegen einer Verletzung<br />

der Berufsfreiheit (Art. 12 GG)<br />

gegen § 4 NiSG vorgegangen. Der Eingriff<br />

in die Berufsausübungsfreiheit war<br />

jedoch gerechtfertigt, da „von den potenziellen<br />

Kunden den Betreibern nur die<br />

Minderjährigen und diese auch nur für<br />

die Dauer ihrer Minderjährigkeit entzogen“<br />

würden. Angesichts der hohen<br />

Bedeutung des Jugendschutzes und der<br />

Gefahren für Jugendliche durch UV-<br />

Strahlen ist das Verbot auch insoweit<br />

verhältnismäßig.<br />

Art. 6 Abs. 2 GG umfasst Pflege und Erziehung<br />

der Kinder durch die Eltern und damit<br />

nach herrschendem Verständnis allgemein<br />

die Sorge für das körperliche und<br />

seelische Wohl des Kindes. Legt man dagegen<br />

einen engen Erziehungsbegriff<br />

zugrunde, wäre das Verbot auch bzgl.<br />

der Eltern an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen.<br />

251


252<br />

RÜ 4/2012<br />

Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG, § 126 Abs. 3 BauGB<br />

Rechtsprechung<br />

Kein Anspruch auf Beibehaltung der Hausnummer<br />

BayVGH, Urt. v. 06.12.2011 – 8 ZB 11.1676<br />

Leitsätze<br />

1. Die Zuteilung einer Hausnummer wird<br />

nicht vom Eigentumsschutz nach Art. 14<br />

Abs. 1 GG und auch nicht vom allgemeinen<br />

Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1<br />

i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG erfasst.<br />

2. Da die Zuweisung einer Hausnummer<br />

kein subjektives Recht begründet, ist die<br />

Gemeinde bei Änderung oder Einziehung<br />

der Nummerierung auch nicht an die<br />

Vorschriften über den Widerruf begünstigender<br />

Verwaltungsakte gebunden.<br />

3. Nummernzuteilung und Umnummerierung<br />

stehen im freien Ermessen der<br />

Gemeinde, das allein durch das Willkürverbot<br />

begrenzt wird.<br />

(Leitsätze des Bearbeiters)<br />

Fall<br />

K hatte auf dem Grundstück K-Straße 28 in der Gemeinde G im Land L eine<br />

Wohnanlage mit Geschäftshaus errichtet, das an der Einmündung zur M-Straße<br />

liegt. Mit Schreiben vom 25.08.2009 beantragte er die Einnummerierung des<br />

Geschäftshauses mit K-Straße 28 und der Wohnanlage mit K-Straße 28 a, 28 b<br />

und 28 c. Daraufhin verfügte die Gemeinde G mit Bescheid vom 15.09.2009 die<br />

Einziehung der Hausnummer K-Straße 28 und die Einnummerierung des Geschäftshauses<br />

mit M-Straße 14 und die Einnummerierung der Wohnanlage<br />

mit M-Straße 14 a, 14 b und 14 c. Zur Begründung verwies die Behörde darauf,<br />

dass das Gebäude mit der früheren Hausnummer K-Straße 28 im Hinblick auf<br />

den jetzigen Neubau beseitigt worden sei. Der Neubau und die angrenzende<br />

Wohnanlage seien über die M-Straße erschlossen. Eine Erschließung über die<br />

K-Straße sei nicht möglich. Die Widmung der K-Straße ende in Höhe der Hausnummer<br />

25. Der Bereich zwischen der Hausnummer 25 und der M-Straße sei<br />

nicht gewidmet. Dort sei die Straße auch schmaler und diene als „Fahrradstraße“,<br />

die durch rot-weiße Pfosten abgesperrt sei. Schließlich befinde sich die K-<br />

Straße in diesem Bereich auch nicht im städtischen Eigentum.<br />

K hat gegen den Bescheid vom 15.09.2009 form- und fristgerecht Klage erhoben.<br />

Er macht geltend, für das Geschäftshaus sei die bisherige Nummerierung<br />

K-Straße 28 beizubehalten. Der Verkehr habe sich seit den 60er Jahren auf diese<br />

Hausnummerierung eingerichtet. Die Wohnanlage habe ebenfalls keinen<br />

Bezug zur M-Straße. Rettungsfahrzeuge und Feuerwehr könnten über die K-<br />

Straße zufahren.<br />

Wie wird das Verwaltungsgericht entscheiden?<br />

Hinweise: Eine besondere Rechtsgrundlage für die Zuteilung einer Hausnummer existiert<br />

im Land L nicht. Von den Ermächtigungen in §§ 61 Nr. 3, 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ist<br />

kein Gebrauch gemacht worden. Ein Widerspruchsverfahren findet nach dem AG-<br />

VwGO des Landes (von hier nicht einschlägigen Ausnahmen) nicht statt (§ 68 Abs. 1 S. 2,<br />

1. Halbs. VwGO).<br />

Entscheidung<br />

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts hängt davon ab, ob die Klage zulässig<br />

und begründet ist.<br />

A. Zulässigkeit der Klage<br />

I. Der Verwaltungsrechtsweg könnte gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet<br />

sein. Fraglich ist allein das Vorliegen einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit.<br />

Nach § 126 Abs. 3 BauGB hat der Eigentümer sein Grundstück mit der von der<br />

Gemeinde festgesetzten Nummer zu versehen. Die Begründung dieser Pflicht<br />

erfolgt daher hoheitlich aufgrund öffentlich-rechtlicher Befugnisse der Gemeinde,<br />

sodass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegt, die den Verwaltungsrechtsweg<br />

eröffnet.<br />

II. Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 1. Fall<br />

VwGO, wenn es sich bei dem Bescheid vom 15.09.2009 um einen Verwaltungsakt<br />

i.S.d. § 35 VwVfG handelt, dessen Aufhebung K begehrt. Die erstma-


Rechtsprechung<br />

lige Zuteilung bzw. die Änderung der Hausnummer ist die Maßnahme einer<br />

Behörde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts (s.o.). Der Regelungsgehalt<br />

liegt in der Zuordnung eines Grundstücks zu einer bestimmten Straße und darin,<br />

dass die gesetzliche Verpflichtung des Eigentümers nach § 126 Abs. 3<br />

BauGB konkretisiert wird. Die Maßnahme betrifft auch einen Einzelfall und hat<br />

Außenwirkung. Der Bescheid vom 15.09.2009 stellt daher einen Verwaltungsakt<br />

dar, der mit der Anfechtungsklage angegriffen werden kann.<br />

III. Die nach § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis setzt voraus, dass<br />

K geltend machen kann, in einem subjektiven Recht verletzt zu sein. Die Zuteilung<br />

der Hausnummer erfolgt zwar vorrangig im Interesse der Allgemeinheit.<br />

Sie hat für den Betroffenen jedoch die unmittelbare Folge, dass er künftig nur<br />

noch die neue Nummer verwenden darf und insbesondere die Hausnummer<br />

auszutauschen hat (§ 126 Abs. 3 BauGB). Als Adressat des angefochtenen Verwaltungsakts<br />

kann K daher geltend machen, zumindest in seiner allgemeinen<br />

Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt zu sein (sog. Adressatentheorie).<br />

IV. Ein Vorverfahren war nach § 68 Abs. 1 S. 2, 1. Halbs. VwGO i.V.m. Landesrecht<br />

nicht erforderlich.<br />

V. Die Klagefrist des § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO (ein Monat ab Bekanntgabe des<br />

Verwaltungsakts) ist gewahrt.<br />

VI. Klagegegner ist gemäß 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO die Gemeinde, deren Behörde<br />

(Bürgermeister, Magistrat etc.) den Verwaltungsakt erlassen hat.<br />

Die Klage ist damit als Anfechtungsklage zulässig.<br />

B. Begründetheit der Klage<br />

Die Anfechtungsklage ist begründet, soweit der angefochtene Verwaltungsakt<br />

rechtswidrig und K dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt ist<br />

(§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).<br />

I. Rechtsgrundlage für die Zuteilung einer Hausnummer könnte § 126 Abs. 3<br />

BauGB sein.<br />

„[13] Nach dieser Vorschrift hat der Eigentümer sein Grundstück mit der von der<br />

Gemeinde festgesetzten Nummer zu versehen. Damit regelt diese Norm lediglich<br />

die Verpflichtung eines Bauherrn, die Anbringung einer Hausnummer zu dulden<br />

(…). Sie begründet hingegen keinen Anspruch auf Festsetzung oder gar Beibehaltung<br />

einer bestimmten Hausnummer, sondern setzt die Festsetzung zur Begründung<br />

der Folgepflicht des Eigentümers schon voraus.“<br />

§ 126 Abs. 3 BauGB begründet daher nur die Verpflichtung zur Anbringung<br />

der Hausnummer, setzt aber eine nach anderen Vorschriften erfolgte behördliche<br />

Zuteilungsentscheidung voraus.<br />

II. Teilweise enthalten die Landesstraßengesetze spezielle Normen für die<br />

Zuteilung von Hausnummern. Ist das – wie hier – nicht der Fall, ist Ermächtigungsgrundlage<br />

die polizei- bzw. ordnungsrechtliche Generalklausel (vgl.<br />

Sauthoff, Öffentliche Straßen, 2. Aufl. 2010, Rdnr. 551).<br />

1. Der formell ordnungsgemäße Bescheid ist materiell rechtmäßig, wenn eine<br />

Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht. Die Nummerierung dient der<br />

Auffindbarkeit bestimmter Gebäude und hat Bedeutung für Meldewesen, Polizei,<br />

Post, Feuerwehr und Rettungsdienst. Bei unzureichender Nummerierung<br />

können Leib und Leben der Bewohner bedroht sein und damit eine Gefahr für<br />

die öffentliche Sicherheit bestehen. Die Voraussetzungen für die Nummerierung<br />

lagen damit vor.<br />

RÜ 4/2012<br />

Landesrechtliche Spezialregelungen finden<br />

sich z.B. in Art. 52 Abs. 2 BayStrWG,<br />

§ 20 Abs. 2 HWG, § 47 Abs. 1 StrG SH.<br />

253


254<br />

RÜ 4/2012<br />

Die Entscheidung des HessVGH betraf<br />

allerdings nur die Frage der Zuordnung<br />

eines Gebäudes zu einer bestimmten<br />

Straße, ohne dass die sich daraus ergebende<br />

Umnummerierung weiter problematisiert<br />

wurde.<br />

Ebenso OVG NRW, Urt. v. 21.07.1995 – 23<br />

A 3493/94 (juris) und BVerwG NVwZ 1984,<br />

36 für die Änderung der postalischen Zustellanschrift.<br />

Zum Abwehrrecht bei Straßenumbenennungen<br />

vgl. AS-Skript VwGO [2011],<br />

Rdnr. 452 ff.<br />

Rechtsprechung<br />

2. Der Rechtsfolge nach eröffnet die Generalklausel Ermessen, insbesondere<br />

welche Hausnummer vergeben wird. Rechtswidrig ist die Entscheidung dann,<br />

wenn sie ermessensfehlerhaft ist (§ 114 S. 1 VwGO). Hier könnte ein sog. Ermessensfehlgebrauch<br />

vorliegen, wenn die Behörde bei Ausübung des Ermessens<br />

nicht alle Gesichtspunkte berücksichtigt hat, wozu insbesondere die Interessen<br />

des K zählen könnten.<br />

a) Teilweise wird darauf abgestellt, dass zu den Schutzgütern der öffentlichen<br />

Sicherheit auch die Individualinteressen des Einzelnen zählen. Die Behörde<br />

müsse daher im Rahmen ihres Ermessens unter Beachtung des Grundsatzes<br />

der Verhältnismäßigkeit die für ihre Maßnahme sprechenden Gründe mit dem<br />

Interesse der Anwohner abwägen. Diese hätten daher einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie<br />

Entscheidung.<br />

HessVGH NVwZ 1983, 551, 552: „Da diese Personen sich zumeist auf den seitherigen<br />

Zustand eingestellt und ihn zum Anlaß von Dispositionen gemacht haben,<br />

führt eine Änderung der Grundstückszuordnung für sie in aller Regel zu Nachteilen<br />

tatsächlicher Art; sie sind damit wesentlich stärker von einer solchen Maßnahme<br />

betroffen als die Allgemeinheit. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen,<br />

daß die individuellen Interessen der Straßenanlieger an einer Beibehaltung der<br />

bisherigen Grundstückszuordnung rechtlich in der Weise geschützt sind, daß ihre<br />

Berücksichtigung mit Hilfe eines Rechts auf fehlerfreie behördliche Ermessensausübung<br />

grundsätzlich gerichtlich durchsetzbar sein kann.“<br />

b) Nach Auffassung des BayVGH handelt es sich bei der Bezeichnung der<br />

Grundstücke einer Gemeinde mit Hausnummern dagegen um eine rein ordnungsrechtliche<br />

Aufgabe, bei der Interessen des K keine Rolle spielen.<br />

„[11] Sie dient dem Interesse der Allgemeinheit an einer klar erkennbaren Gliederung<br />

des Gemeindegebiets und hat Bedeutung für Meldewesen, Polizei, Post, Feuerwehr<br />

und Rettungsdienst. Sie verleiht den Eigentümern der Grundstücke keine<br />

Befugnisse oder Rechtsstellungen, die sie ohne die Bezeichnung nicht hätten, und<br />

begründet auch keine begünstigenden Rechtspositionen. Die Benennung eines<br />

Anwesens mit einer Hausnummer gehört nicht zu dem nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten<br />

Eigentum. Es handelt sich nicht um eine Rechtsstellung, sondern um<br />

eine aus einem staatlichen Hoheitsakt fließende tatsächliche Auswirkung, einen<br />

Rechtsreflex, der den Eigentümern nur so lange zu wirtschaftlichem Nutzen gereichen<br />

kann, wie das Anwesen die Benennung trägt. Die Beibehaltung der Anschrift<br />

ist eine Chance, die nicht zum geschützten Besitzstand des eingerichteten und<br />

ausgeübten Gewerbebetriebs zählt. Auch unter dem Blickwinkel des Namensrechts<br />

als Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m.<br />

Art. 1 Abs. 1 GG ist die Anschrift nicht geschützt, weil sie nicht zur Identität einer<br />

Person oder Firma gehört (…).“<br />

Dagegen könnte man zwar einwenden, dass bei Umbenennung einer Straße<br />

die individuellen Interessen der betroffenen Grundstückseigentümer nach<br />

h.M. zu berücksichtigen sind. Die beiden Fälle sind indes nicht vergleichbar.<br />

„[14] Anders als bei der Entscheidung über die Vergabe oder Änderung von Straßennamen<br />

… können die Grundstückseigentümer demnach weder bei der erstmaligen<br />

Hausnummernzuteilung noch bei der Umnummerierung geltend machen,<br />

dass die Gemeinde eine fehlerhafte Ermessensentscheidung getroffen hat.<br />

Bei der Vergabe der Hausnummern steht der ordnungsrechtliche Gesichtspunkt so<br />

stark im Vordergrund, dass die Interessen der Anlieger zurücktreten müssen (…).<br />

Wesentliche Vorteile oder Nachteile durch die Zuteilung oder Nichtzuteilung einer<br />

bestimmten Hausnummer sind auch nicht zu erwarten. Entsprechendes hat für<br />

die Änderung bestehender Zuweisungen von Hausnummern zu gelten.“


Rechtsprechung<br />

c) Begründet die Ermächtigungsgrundlage danach kein subjektives Recht,<br />

besteht auch kein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung.<br />

„[14] Es ist ein anerkannter Grundsatz des allgemeinen Verwaltungsrechts, dass<br />

ein Recht auf fehlerfreien Ermessensgebrauch nicht für sich besteht, sondern eine<br />

materielle Rechtsposition voraussetzt, also eine Norm, die zumindest auch dem<br />

Individualinteresse zu dienen bestimmt ist (…). Wie ausgeführt haben jedoch die<br />

Grundstückseigentümer keine Rechtsposition inne, die sie der erstmaligen Zuteilung<br />

einer Hausnummer durch die Gemeinde oder aber der Änderung einer Hausnummerierung<br />

entgegensetzen können.“<br />

III. Da die Zuteilung einer Hausnummer dem Betroffenen keine begünstigende<br />

Rechtsposition vermittelt, ist die Gemeinde bei Änderung oder Einziehung<br />

der Nummerierung auch nicht an die Vorschriften über den Widerruf begünstigender<br />

Verwaltungsakte (§ 49 Abs. 2 VwVfG) gebunden.<br />

„[12] Nummernzuteilung, Umnummerierung und Einziehung einer Hausnummer<br />

stehen in ihrem freien Ermessen, welches allein begrenzt wird durch das in Art. 3<br />

Abs. 1 GG … normierte Willkürverbot.“<br />

Deshalb wird angenommen, dass die Betroffenen zumindest einen Verstoß<br />

gegen Art. 3 Abs. 1 GG rügen können, da staatliches Handeln in keinem Fall<br />

willkürlich sein dürfe. Dagegen spricht zwar, dass Art. 3 Abs. 1 GG grds. kein<br />

Abwehrrecht begründet, sondern lediglich einen Anspruch auf Gleichbehandlung<br />

bei gleicher Betroffenheit (s.o. S. 246 f.). Die Frage kann aber dahinstehen,<br />

wenn die Entscheidung der Behörde jedenfalls nicht willkürlich ist.<br />

„[16] Wenn die Klägerin in diesem Zusammenhang vorträgt, es sei schon im Hinblick<br />

auf eine natürliche Betrachtungsweise und auch im Hinblick auf eine rasche<br />

Auffindbarkeit des neu gebauten Wohnhauses geboten, dieses Anwesen mit „K-<br />

Straße 28“ einzunummerieren, verkennt sie, dass die K-Straße zwischen Hausnummer<br />

25 und der M-Straße nicht die Eigenschaft einer öffentlichen Straße hat.<br />

Es fehlt an einer Widmung … Der ordnungsrechtlichen Funktion der Hausnummerierung<br />

würde es aber widersprechen, ein Anwesen zu einem Privatweg hin einzunummerieren,<br />

bei dem im Prinzip allein der Eigentümer frei bestimmen kann,<br />

ob und gegebenenfalls welche berechtigten Dritten in welchem Ausmaß sein<br />

Grundstück nach Art und Umfang zum Verkehr benutzen dürfen (§ 903 BGB). Unter<br />

ordnungsbezogenen Gesichtspunkten ist demnach das Abstellen der Beklagten<br />

auf eine dauerhafte tatsächliche Zugänglichkeit keinesfalls ein willkürliches<br />

Vorgehen; vielmehr ist es die einzig sachliche Lösung, da nur so die Auffindbarkeit<br />

des Anwesens für Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, Post und Meldewesen zukünftig<br />

gewährleistet ist.“<br />

Ergebnis: Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und die Anfechtungsklage<br />

des K damit unbegründet.<br />

Auch bei Straßen(um)benennungen wird teilweise angenommen, diese erfolgten<br />

ausschließlich im Allgemeininteresse und bezweckten nicht die Erweiterung<br />

der Rechtsstellung der Anwohner. Die Gegenansicht verweist darauf,<br />

dass die Gemeinde bei der Entscheidung die individuellen Interessen der betroffenen<br />

Grundstückseigentümer zu berücksichtigen habe. Danach haben<br />

die Anwohner ein subjektives Recht auf fehlerfreie Ermessensentscheidung<br />

des Inhalts, dass die Gemeinde unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit<br />

die für die Umbenennung sprechenden Gründe und das Interesse<br />

der Anwohner an der Beibehaltung des bisherigen Straßennamens gegeneinander<br />

abzuwägen hat (vgl. OVG NRW RÜ 2008, 125 u. BayVGH RÜ 2010, 460;<br />

ausführlich AS-Skript VwGO [2011], Rdnr. 452 ff.).<br />

Horst Wüstenbecker<br />

RÜ 4/2012<br />

Die Funktion von Art. 3 Abs. 1 GG als Abwehrrecht<br />

ist weitgehend ungeklärt. Die<br />

Rechtsprechung beschränkt sich zumeist<br />

auf die Prüfung, dass die konkrete<br />

Maßnahme nicht willkürlich ist.<br />

255


256<br />

RÜ 4/2012<br />

Rechtsprechung<br />

Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 u. Abs. 2, Art. 19 Abs. 4, Art. 104 GG; § 17 a GVG; Polizeirecht<br />

Rechtswidrigkeit des mehrstündigen Festhaltens in einem<br />

Polizeibus<br />

BayVGH, Urt. v. 27.01.2012 – 10 B 08.2849<br />

Leitsätze<br />

1. Eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit<br />

der konkreten Art und Weise<br />

des polizeilichen Gewahrsams eines Betroffenen<br />

ist auch nach Beendigung der<br />

Maßnahme zur Gewährleistung effektiven<br />

gerichtlichen Rechtsschutzes zulässig,<br />

wenn eine schwerwiegende Beeinträchtigung<br />

von Grundrechten geltend<br />

gemacht wird.<br />

2. Ein mehrstündiges Festhalten in einem<br />

abgestellten Gefangenentransporter<br />

verletzt den Betroffenen in seinem<br />

Grundrecht auf Freiheit der Person, wenn<br />

in der konkreten Situation eine andere<br />

Möglichkeit bestanden hat, die besonders<br />

belastende Form der Freiheitsentziehung<br />

früher zu beenden.<br />

Fall<br />

Am 29.05.2004 beteiligte sich K mit mehreren anderen Personen an einer Art<br />

Straßentheater in M. Diese Aktion wurde von der Polizei als nicht angemeldete<br />

Versammlung angesehen und deshalb aufgelöst. Da davon ausgegangen<br />

wurde, dass K auch am nächsten Tag nicht angemeldete Demonstrationen<br />

durchführen werde, wurde er um ca. 17.00 h von der Polizei in Gewahrsam<br />

genommen, zu einer Gefangenensammelstelle verbracht und dort zunächst<br />

in einer Einzelzelle in einem Gefangenentransportbus festgehalten (Größe 77<br />

x 95 cm). Um 18.00 h wurde K verhört sowie erkennungsdienstlich behandelt.<br />

Anschließend wurde er wieder in den vor der Sammelstelle geparkten Transportbus<br />

gebracht. Erst um 22.30 h wurde K zur Polizeiwache gefahren. Dort<br />

konnte er den Bus verlassen. Die Nacht verbrachte er in einer Haftzelle. Am<br />

Vormittag des 30.05.2004 wurde K dem zuständigen Richter beim Amtsgericht<br />

vorgeführt. Dieser hob die Freiheitsentziehung auf mit der Begründung,<br />

eine weitere Gewahrsamnahme sei unverhältnismäßig, da die Gefahr einer<br />

Störung der öffentlichen Sicherheit durch K nicht mehr bestehe. K wurde daraufhin<br />

gegen 11.00 h vormittags aus dem Gewahrsam entlassen.<br />

Mit Schriftsatz vom 06.06.2004 beantragte K beim zuständigen Amtsgericht<br />

die Feststellung, dass die Ingewahrsamnahme dem Grunde nach ebenso<br />

rechtswidrig war wie die Behandlung während des Gewahrsams. Mit Urteil<br />

vom 06.05.2005 stellte das Landgericht im Beschwerdeverfahren fest, dass die<br />

Freiheitsentziehung rechtswidrig war. Zwar sei die vorläufige Festnahme des<br />

K zunächst zu Recht erfolgt, da zu befürchten gewesen sei, dass er weitere<br />

Straftaten nach § 26 VersG begehen werde. Jedoch sei das Unverzüglichkeitsgebot<br />

des Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG verletzt worden, weil die Polizei nicht umgehend<br />

eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der<br />

Freiheitsentziehung herbeigeführt habe. In Bezug auf die Rüge des K über die<br />

Behandlung während des Gewahrsams erklärte das Landgericht den beschrittenen<br />

Rechtsweg für unzulässig und verwies den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht.<br />

Im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht beantragt K festzustellen, dass das<br />

mehrstündige Festhalten im Gefangenentransporter, ohne transportiert zu werden,<br />

rechtswidrig war. Jedenfalls nach Abschluss der Vernehmung um 19.00 h<br />

wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, ihn in eine nahegelegene Polizeiwache<br />

zu überführen. Die Behörde verweist demgegenüber darauf, dass der<br />

mehrstündige Aufenthalt des K im Gefangenenbus erforderlich gewesen sei,<br />

da noch weitere in Gewahrsam genommene Personen hätten erkennungsdienstlich<br />

behandelt und vernommen werden müssen. Erst nachdem diese<br />

Maßnahmen abgeschlossen gewesen seien, seien alle festgenommenen Personen<br />

zur Polizeiwache transportiert worden. Wie wird das Verwaltungsgericht<br />

entscheiden?<br />

Hinweis: Im Land L ist von den Ermächtigungen in §§ 61 Nr. 3, 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO<br />

kein Gebrauch gemacht worden. Ein Widerspruchsverfahren findet im Land L (abgesehen<br />

von hier nicht einschlägigen Ausnahmen) nicht statt (68 Abs. 1 S. 2, 1. Halbs.<br />

VwGO).


Rechtsprechung<br />

Auszug aus dem Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei im Land L<br />

(Polizeiaufgabengesetz – PAG)<br />

Art. 17 PAG<br />

(1) Die Polizei kann eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn<br />

1. …<br />

2. das unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung<br />

einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit<br />

zu verhindern; …<br />

Art. 18 PAG<br />

(1) Wird eine Person auf Grund von … Art. 17 festgehalten, hat die Polizei unverzüglich<br />

eine richterliche Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung<br />

herbeizuführen. Der Herbeiführung der richterlichen Entscheidung bedarf es<br />

nicht, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung des Richters erst nach Wegfall des<br />

Grundes der polizeilichen Maßnahme ergehen würde. …<br />

(2) Ist die Freiheitsentziehung vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung beendet,<br />

kann die festgehaltene Person … innerhalb eines Monats nach Beendigung der Freiheitsentziehung<br />

die Feststellung beantragen, dass die Freiheitsentziehung rechtswidrig<br />

gewesen ist, wenn hierfür ein berechtigtes Interesse besteht. …<br />

(3) Für die Entscheidung nach Absatz 1 ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk<br />

die Freiheitsentziehung vollzogen wird. Für die Entscheidung nach Absatz 2 ist das<br />

Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Person von der Polizei in Gewahrsam genommen<br />

wurde. Das Verfahren richtet sich nach den Vorschriften des Gesetzes über<br />

das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit;<br />

die Rechtsbeschwerde ist ausgeschlossen.<br />

Art. 19 PAG<br />

(3) … 3Der festgehaltenen Person dürfen nur solche Beschränkungen auferlegt werden,<br />

die der Zweck der Freiheitsentziehung oder die Ordnung im Gewahrsam erfordert.<br />

Entscheidung<br />

A. Zulässigkeit der Klage<br />

I. Der Verwaltungsrechtsweg ist gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO für die öffentlich-rechtliche<br />

Streitigkeit nach dem Polizeirecht nur eröffnet, wenn keine abdrängende<br />

Sonderzuweisung eingreift, die auf dem Gebiet des Landesrechts<br />

auch durch Landesgesetz erfolgen kann (§ 40 Abs. 1 S. 2 VwGO).<br />

Nach Art. 18 Abs. 3 PAG ist für die Entscheidung über Freiheitsentziehungen<br />

das Amtsgericht zuständig. Dies gilt für andauernde (§ 18 Abs. 3 S. 1 PAG) wie<br />

für erledigte Maßnahmen (Art. 18 Abs. 3 S. 2 PAG). Die Sonderzuweisung erfasst<br />

unmittelbar aber nur die Frage, ob die Freiheitsentziehung dem Grunde<br />

nach rechtmäßig war. Deshalb ist umstritten, ob die Regelung auch anwendbar<br />

ist, wenn es darum geht, ob die Art und Weise der Ingewahrsamnahme<br />

rechtmäßig war (also das „Wie“).<br />

1. Der BayVGH (NJW 1989, 1754) ist davon ausgegangen, dass für die Frage, ob<br />

Maßnahmen während der Ingewahrsamnahme rechtsmäßig sind bzw. waren,<br />

aus Gründen des Sachzusammenhangs derselbe Rechtsweg wie für die<br />

gerichtliche Überprüfung der grundsätzlichen Zulässigkeit (und Fortdauer)<br />

der Ingewahrsamnahme gegeben ist, hier also die richterliche Entscheidung<br />

des nach Art. 18 Abs. 3 PAG zuständigen Amtsgerichts. Demgegenüber ist das<br />

OLG Celle (NVwZ-RR 2006, 254) ohne nähere Begründung von einer diesbezüglichen<br />

Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts ausgegangen.<br />

2. Vorliegend kommt es auf diese Streitfrage nicht an. Das Landgericht hat<br />

den Rechtsstreit bezüglich der Maßnahmen während der Ingewahrsamnahme<br />

an das Verwaltungsgericht verwiesen (§ 17 a Abs. 2 S. 1 GVG). Diese Verweisung<br />

ist für das Verwaltungsgericht hinsichtlich des Rechtsweges bindend<br />

(§ 17 a Abs. 2 S. 3 GVG). Der Verwaltungsrechtsweg ist damit in jedem<br />

Fall gegeben.<br />

RÜ 4/2012<br />

Zum weitgehend identischen Landesrecht<br />

vgl. Art. 17 ff. PAG Bay, § 28 PolG BW;<br />

§§ 30 ff. ASOG Bln; §§ 17 ff. BbgPolG;<br />

§§ 15 ff. BremPolG; §§ 13 ff. SOG Hmb;<br />

§§ 32 ff. HSOG, §§ 55, 56 SOG MV; §§ 18 ff.<br />

Nds SOG; §§ 35 ff. PolG NRW; §§ 14 ff.<br />

POG RP; §§ 13 ff. SPolG; § 22 SächsPolG;<br />

§§ 37 ff. SOG LSA; §§ 204, 205 LVwG SH;<br />

§§ 19 ff. Thür PAG.<br />

So § 18 Abs. 3 PAG Bay, § 31 Abs. 3 S. 1<br />

ASOG Bln, § 19 Abs. 3 S. 2 Nds SOG. In<br />

den meisten Ländern gilt die Sonderzuweisung<br />

unmittelbar nur für fortdauernde<br />

Ingewahrsamnahmen (vgl. z.B. § 28<br />

Abs. 3 PolG BW, § 36 Abs. 2 PolG NRW).<br />

Hier wird zum Teil die Sonderzuweisung<br />

wegen der Sachnähe der Amtsgerichte<br />

zu Haftsachen analog angewendet. Für<br />

den Verwaltungsrechtsweg spricht indes<br />

der Wortlaut des § 428 Abs. 2 FamFG („angefochten“),<br />

der von einer andauernden<br />

Freiheitsentziehung ausgeht (ausdrücklich<br />

§ 13 a Abs. 2 S. 4 SOG Hmb: Verwaltungsrechtsweg<br />

bei nachträglicher Überprüfung;<br />

ebenso OVG NRW, Beschl. v.<br />

08.12.2011– 5 A 1045/09).<br />

257


258<br />

RÜ 4/2012<br />

Zur Rechtsnatur von Standard- und<br />

Zwangsmaßnahmen vgl. AS-Skript Verwaltungsrecht<br />

AT 1 [2011], Rdnr. 183 ff.<br />

Rechtsprechung<br />

II. Als statthafte Klageart kommt die Fortsetzungsfeststellungsklage analog<br />

§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO in Betracht, wenn sich K gegen einen erledigten<br />

Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG wendet.<br />

1. Die Ingewahrsamnahme und die während ihrer Dauer getroffenen Maßnahmen<br />

sind an sich Realakte ohne eigenständige Regelungswirkung. Teilweise<br />

wird jedoch angenommen, dass in der Durchführung der Maßnahme<br />

zugleich die Pflicht zu deren Duldung konkretisiert werde. Dieses konkludente<br />

Duldungsgebot stelle einen selbstständigen Verwaltungsakt dar.<br />

„[29] Dabei kann letztlich offen bleiben, ob man die streitbefangenen ,Maßnahmen‘<br />

oder die dem Kläger durch die beanstandeten Umstände seiner Unterbringung<br />

während der polizeilichen Ingewahrsamnahme auferlegten ,Beschränkungen‘<br />

als eigenständige polizeiliche Verwaltungsakte mit entsprechendem Regelungsgehalt<br />

(etwa des Inhalts, diese Maßnahmen oder Beschränkungen zu dulden)<br />

… oder als (bloße) Realakte im Rahmen des Vollzugs des polizeilichen Gewahrsams<br />

(…) einstuft. [30] Denn in jedem Fall ist ein effektiver nachträglicher gerichtlicher<br />

Rechtsschutz (s. Art. 19 Abs. 4 GG) der bereits vor Klageerhebung beendeten<br />

Maßnahmen entweder über eine Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend<br />

§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO oder aber die allgemeine Feststellungsklage gemäß<br />

§ 43 Abs. 1 VwGO gewährleistet.“<br />

Die Annahme eines DuldungsVA ist vor allem historisch begründet, da es vor<br />

Inkrafttreten der VwGO Verwaltungsrechtsschutz nur bei Verwaltungsakten<br />

gab. Deswegen war die Rechtsprechung bemüht, in schlichtes Verwaltungshandeln<br />

einen VA hineinzuinterpretieren, um den Rechtsweg zu eröffnen. Für<br />

eine solche extensive Handhabung des VA-Begriffs besteht heute kein Bedürfnis<br />

mehr, da die VwGO mit der allgemeinen Feststellungsklage (§ 43 VwGO)<br />

ausreichenden Rechtsschutz auch bei (erledigten) Realakten zur Verfügung<br />

stellt. Bezüglich der Art und Weise der Ingewahrsamnahme fehlt es daher mangels<br />

Regelung an einem VA. Die Fortsetzungsfeststellungsklage scheidet aus.<br />

2. Statthaft ist vielmehr die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1<br />

VwGO. Das dafür erforderliche Rechtsverhältnis resultiert aus der streitigen<br />

Frage, ob die Polizei zur Durchführung der Ingewahrsamnahme in der konkreten<br />

Art und Weise berechtigt war. Diese Frage kann K nach Erledigung auch<br />

nicht durch Gestaltungs- oder Leistungsklage klären, sodass die Feststellungsklage<br />

nicht subsidiär ist (§ 43 Abs. 2 S. 1 VwGO).<br />

III. Der Kläger muss ein berechtigtes Interesse (Feststellungsinteresse) an<br />

der baldigen Feststellung haben (§ 43 Abs. 1 VwGO. Ausreichend ist dafür jedes<br />

nach der Sachlage anzuerkennende Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher<br />

oder ideeller Art.<br />

1. Daran könnte es hier fehlen, weil das Landgericht die Ingewahrsamnahme<br />

bereits für rechtswidrig erklärt hat. Diese Entscheidung betraf jedoch nur die<br />

Ingewahrsamnahme dem Grunde nach (das „Ob“) und nicht das „Wie“.<br />

„[32] Die Frage der Anordnung der Ingewahrsamnahme und deren Vollzug sind<br />

nämlich grundsätzlich voneinander zu scheiden. So kann etwa die Anordnung einer<br />

Ingewahrsamnahme durchaus rechtmäßig sein, während einzelne Maßnahmen<br />

während des Vollzugs sich als rechtswidrig erweisen können, ohne dass von<br />

einem Durchschlagen dieses Mangels auf die Freiheitsentziehung als solche ausgegangen<br />

werden muss (…). Das Landgericht hat im o.g. Beschluss die Ingewahrsamnahme<br />

deshalb als rechtswidrig angesehen, weil die den Kläger in Gewahrsam<br />

nehmende Polizei gegen das Unverzüglichkeitsgebot verstoßen hat, d.h.<br />

nicht unverzüglich eine richterliche Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer<br />

der Freiheitsentziehung gemäß Art. 18 Abs. 1 Satz 1 PAG herbeigeführt hat. Demgegenüber<br />

macht der Kläger hier geltend, … durch das lange Sitzen im Polizeibus<br />

in seinen Grundrechten beeinträchtigt zu sein, und zwar über die Grundrechtsbe-


Rechtsprechung<br />

einträchtigung hinaus, die der Gewahrsam an sich für ihn darstellte. Er hat damit<br />

die Art und Weise des Gewahrsams zu einem eigenen Streitgegenstand und insoweit<br />

ausdrücklich eine zusätzliche Verletzung in seinem Persönlichkeitsrecht<br />

und seiner Menschenwürde (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sowie der Freiheit<br />

der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) geltend gemacht. Damit rügt er (auch) eine Verletzung<br />

von Art. 19 Abs. 3 Satz 3 PAG, wonach festgehaltenen Personen nur solche<br />

Beschränkungen auferlegt werden dürfen, die der Zweck der Freiheitsentziehung<br />

oder die Ordnung im Gewahrsam erfordert.“<br />

2. Bei erledigten Maßnahmen kann ein Feststellungsinteresse nur bestehen,<br />

wenn der Kläger noch immer ein Interesse an gerichtlicher Klärung hat.<br />

„[33] Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann jedoch ein Bedürfnis<br />

an einer gerichtlichen Entscheidung fortbestehen, wenn das Interesse des<br />

Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig<br />

ist. Dies ist unabhängig von der hier statthaften Klageart jedenfalls bei Bestehen<br />

einer Wiederholungsgefahr oder einer fortwirkenden Beeinträchtigung durch einen<br />

an sich beendeten Eingriff der Fall. Darüber hinaus kommt ein trotz Erledigung<br />

fortbestehendes Rechtsschutzinteresse in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe<br />

in Betracht (…). Bei derart schwerwiegenden Grundrechtseingriffen hat<br />

das Bundesverfassungsgericht ein durch Art. 19 Abs. 4 GG geschütztes Rechtsschutzinteresse<br />

u.a. in Fällen angenommen, in denen die direkte Belastung durch<br />

den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine<br />

Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der<br />

von der Prozessordnung eröffneten Instanz kaum erlangen kann (…).“<br />

Es gelten daher für das Feststellungsinteresse im Rahmen des § 43 Abs. 1<br />

VwGO dieselben Kriterien wie für das Fortsetzungsfeststellungsinteresse<br />

i.S.d. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO.<br />

„[35] Auch wenn man die vom Kläger angegriffenen polizeilichen Maßnahmen<br />

nicht als Realakte, sondern als polizeiliche Verwaltungsakte ansehen würde, hätte<br />

der Kläger ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO für sein<br />

Klagebegehren. Nach ständiger Rechtsprechung (…) genügt dafür jedes nach vernünftigen<br />

Erwägungen nach Lage des Falles anzuerkennende schutzwürdige Interesse<br />

rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. … Nach ständiger Rechtsprechung<br />

des Bundesverwaltungsgerichts kann ein ideelles Feststellungsinteresse<br />

auch in Betracht kommen, wenn die in Frage stehende Maßnahme den Kläger objektiv<br />

in seinem grundrechtlich geschützten Bereich beeinträchtigt hat (…). Hierzu<br />

zählen namentlich Feststellungsbegehren, die polizeiliche Maßnahmen zum Gegenstand<br />

haben (…).“<br />

a) Danach lässt sich hier ein Feststellungsinteresse des K im Hinblick auf einen<br />

schwerwiegenden Grundrechtseingriff bejahen.<br />

„[34] Denn der Kläger beruft sich auf die Verletzung seiner Menschenwürde nach<br />

Art. 1 Abs. 1 GG sowie seines Rechts auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit<br />

gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und seines Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit<br />

sowie die Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 GG. Diese geltend gemachten<br />

Grundrechtsverletzungen sind nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen, …“<br />

b) Im Übrigen ist auch eine Wiederholungsgefahr anzunehmen, „[33] … da<br />

der Kläger des Öfteren an Versammlungen oder Veranstaltungen wie dem Straßentheater,<br />

das Anlass für seine Ingewahrsamnahme war, teilnimmt und dabei immer<br />

wieder die Gefahr besteht, zumindest kurzfristig in Polizeigewahrsam zu kommen.“<br />

IV. Soweit man mit der Rechtsprechung zur Vermeidung einer Popularklage<br />

eine Klagebefugnis analog § 42 Abs. 2 VwGO auch bei der Feststellungsklage<br />

fordert, ergibt sich diese hier daraus, dass K geltend machen kann, in seinen<br />

Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG verletzt zu sein.<br />

RÜ 4/2012<br />

Feststellungsinteresse bei erledigten<br />

Maßnahmen insbesondere bei<br />

� Wiederholungsgefahr<br />

� Rehabilitationsbedürfnis<br />

� schwerwiegendem Grundrechtseingriff<br />

� Präjudizwirkung<br />

Zur analogen Anwendung des § 42 Abs. 2<br />

VwGO bei der Feststellungsklage vgl.<br />

AS-Skript VwGO [2011], Rdnr. 291.<br />

259


260<br />

RÜ 4/2012<br />

Zu den unterschiedlichen Anforderungen<br />

an Freiheitsbeschränkungen und Freiheitsentziehungen<br />

vgl. AS-Skript Grundrechte<br />

[2011], Rdnr. 177 ff.<br />

Zum identischen Landesrecht vgl. Art. 19<br />

Abs. 3 S. 3 PAG Bay; § 32 Abs. 3 S. 3 ASOG<br />

Bln; § 19 Abs. 3 S. 3 BbgPolG; § 15 Abs. 4<br />

S. 2 BremPolG; § 13 b Abs. 3 S. 3 SOG<br />

Hmb; § 34 Abs. 3 S. 3 HSOG; § 56 Abs. 4<br />

SOG MV; § 20 Abs. 4 S. 3 Nds SOG; § 37<br />

Abs. 3 S. 3 PolG NRW; § 16 Abs. 3 S. 3 POG<br />

RP; § 15 Abs. 3 S. 3 SPolG; § 22 Abs. 6 S. 1<br />

SächsPolG; § 39 Abs. 3 S. 3 SOG LSA; § 205<br />

Abs. 4 LVwG SH; § 21 Abs. 3 S. 3 Thür PAG.<br />

Ob dem K mit einer Entscheidung fast<br />

acht Jahre nach den Vorfällen wirklich<br />

noch gedient ist, dürfte indes zweifelhaft<br />

sein.<br />

Rechtsprechung<br />

V. Weitere besondere Sachurteilsvoraussetzungen bestehen bei der allgemeinen<br />

Feststellungsklage nicht, insbesondere ist vor Klageerhebung kein Vorverfahren<br />

durchzuführen und auch keine Klagefrist zu beachten.<br />

Die Klage des K ist damit als allgemeine Feststellungsklage zulässig.<br />

B. Begründetheit der Klage<br />

Die (negative) Feststellungsklage ist begründet, wenn das streitige Rechtsverhältnis<br />

nicht besteht, die Behörde also nicht berechtigt war, die Ingewahrsamnahme<br />

in der vorliegenden Art und Weise durchzuführen.<br />

I. Die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit von Eingriffen in die Freiheit der<br />

Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) hängen wegen der unterschiedlichen Intensität<br />

davon ab, ob eine Freiheitsbeschränkung oder eine Freiheitsentziehung<br />

vorliegt.<br />

„[44] Während eine Freiheitsbeschränkung nur dann vorliegt, wenn jemand durch<br />

die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort oder<br />

Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich zugänglich ist, ist<br />

der Tatbestand einer Freiheitsentziehung dann verwirklicht, wenn die – tatsächlich<br />

und rechtlich an sich gegebene – körperliche Bewegungsfreiheit durch staatliche<br />

Maßnahmen nach jeder Richtung hin aufgehoben wird (…). Einer derartigen<br />

Freiheitsentziehung war der Kläger durch das mehrstündige Sitzen im Gefangentransportbus<br />

unterworfen. Er konnte sich nicht frei bewegen. Sein Bewegungsradius<br />

war auf engsten Raum beschränkt. Nach den dem Senat vorliegenden Plänen<br />

beträgt der Grundriss einer Einzelkabine in einem derartigen Bus lediglich 77 cm x<br />

95 cm. … [Der Gefangene] kann sich in keiner Richtung bewegen und hat wohl<br />

bis auf einen kleinen Sehschlitz keine Möglichkeit, nach draußen zu sehen, was die<br />

Beengtheit und das Gefühl des Eingesperrtseins noch erheblich verstärkt. Angesichts<br />

dieser extremen Beschränkung der Bewegungsfreiheit ist das Sitzen im Gefangentransporter,<br />

wie oben bereits dargelegt wurde, nicht durch den Gewahrsam<br />

an sich mit umfasst, sondern stellt einen darüber hinausgehenden schweren<br />

Eingriff in das Recht der Freiheit der Person dar. “<br />

II. Nach Art. 19 Abs. 3 S. 3 PAG dürfen festgehaltenen Personen nur solche Beschränkungen<br />

auferlegt werden, die der Zweck der Freiheitsentziehung oder<br />

die Ordnung im Gewahrsam erfordert. Die Erforderlichkeit könnte hier fehlen,<br />

weil die Möglichkeit bestanden hat, K früher in eine Haftzelle zu verbringen.<br />

„[47] Der Beklagte hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass am Tag der Gewahrsamnahme<br />

des Klägers mehrere Personen aufgegriffen wurden, die an verschiedenen<br />

Veranstaltungen teilgenommen hatten und aus unterschiedlichen<br />

Gründen festgehalten worden sind. Es ist auch nachvollziehbar, dass die Ingewahrsamnahme<br />

zahlreicher Personen im Rahmen von größeren Veranstaltungen<br />

eine spezifische Problematik aufweist, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die<br />

personelle und sachliche Ausstattung von Behörden und Gerichten begrenzt und<br />

das Ausmaß des notwendigen außergewöhnlichen Einsatzes nur beschränkt<br />

planbar ist und es demzufolge zu Schwierigkeiten bei der praktischen Durchführung<br />

der Ingewahrsamnahmen kommen kann.“<br />

Hier hätte K jedoch nach Abschluss der Vernehmung um 19.00 h in die nahegelegene<br />

Polizeiwache verbracht werden können. Das weitere mehrstündige<br />

Festhalten des K im Gefangenentransportbus war danach nicht erforderlich<br />

und rechtswidrig. Die zulässig Feststellungsklage ist damit auch begründet.<br />

Ergebnis: Das Verwaltungsgericht stellt fest, dass das mehrstündige Festhalten<br />

des K in einem Gefangenentransportbus, ohne transportiert zu werden,<br />

rechtswidrig war.<br />

Horst Wüstenbecker


Repetitorium<br />

<strong>Staatsstrukturprinzipien</strong> in der Klausur<br />

Nach Art. 20 GG ist die Bundesrepublik Deutschland Demokratie, Republik,<br />

Rechtsstaat, Sozialstaat und Bundesstaat. Diese Staatsformmerkmale sind<br />

unmittelbar geltendes Recht und haben als <strong>Staatsstrukturprinzipien</strong> besondere<br />

Bedeutung für das richtige Verständnis unserer Verfassung. Sie sind in der Verfassung<br />

allerdings nur ansatzweise geregelt und weisen deshalb einen hohen<br />

Abstraktionsgrad auf. Die fallbezogene Anwendung in der Klausur bereitet<br />

daher immer wieder Probleme.<br />

Beispiele: Ein Gesetz ist nur verfassungsgemäß, wenn es nicht im Widerspruch zu den<br />

<strong>Staatsstrukturprinzipien</strong> des Art. 20 GG steht. Als Werte von Verfassungsrang können<br />

die <strong>Staatsstrukturprinzipien</strong> als sog. verfassungsimmanente Schranken einen Grundrechtseingriff<br />

rechtfertigen. In Zweifelsfragen bieten die Prinzipien Auslegungshilfen<br />

und konkretisieren nicht geregelte, aber regelungsbedürftige Fragen (z.B. bei der Rückwirkung<br />

von Gesetzen).<br />

Aber auch diese abstrakten Prinzipien haben eine konkrete Struktur, vor allem<br />

lässt sich ihr materieller Gehalt relativ einfach erfassen, da in den Klausuren<br />

immer wieder dieselben Fallgestaltungen auftauchen. Ausgangspunkt ist zumeist<br />

die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes (Verstoß gegen<br />

Art. 20 GG) oder die Vereinbarkeit eines Hoheitsakts mit Grundrechten (z.B. im<br />

Rahmen einer Verfassungsbeschwerde). Entscheidend ist in jedem Fall, dass<br />

Sie Ihrer Darstellung eine sachgerechte und nachvollziehbare Struktur geben.<br />

Diese sollte, wie bei sonstigen Falllösungen auch, zweckmäßigerweise in<br />

drei Schritten erfolgen:<br />

� Rechtliche Herleitung<br />

� Definition<br />

� Subsumtion<br />

1. Jede Fallbearbeitung muss mit der konkreten rechtlichen Herleitung des<br />

jeweils einschlägigen Prinzips beginnen. Zumeist reicht hier ein Hinweis auf<br />

die einschlägige Regelung in Art. 20 GG. Probleme ergeben sich nur dann,<br />

wenn das Prinzip nicht ausdrücklich normiert ist, sondern aus verschiedenen<br />

Vorschriften abgeleitet werden muss (wie z.B. das Rechtsstaatsprinzip).<br />

2. Im Anschluss daran arbeiten Sie die in Ihrem Fall einschlägige konkrete<br />

Ausprägung des Strukturprinzips heraus und stellen Sie deren Herleitung<br />

und Inhalt dar. Die Definition finden Sie nicht im Grundgesetz, sondern sie ergibt<br />

sich in der Regel aus einer der nachfolgend dargestellten Fallgruppen.<br />

Das Rückwirkungsverbot ist z.B. Ausprägung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes,<br />

das wiederum Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips ist.<br />

3. Abschließend erfolgt die Subsumtion der konkret zu prüfenden hoheitlichen<br />

Maßnahme unter den zuvor herausgearbeiteten Regelungsgehalt des<br />

einschlägigen Prinzips. Häufig hat hierbei eine Abwägung mit Grundrechten<br />

oder anderen Werten von Verfassungsrang zu erfolgen.<br />

I. Demokratie<br />

Das Merkmal der Demokratie beantwortet die Frage, wer Träger der mit der<br />

Staatsgewalt verbundenen Machtbefugnisse ist.<br />

Dabei werden (zurückgehend auf Aristoteles) typischerweise drei Fälle unterschieden:<br />

Träger der Staatsgewalt kann sein<br />

� eine einzelne Person: (absolute) Monarchie,<br />

� eine privilegierte Schicht: Aristokratie (Adel) oder Plutokratie (Besitz),<br />

� das Volk: Demokratie.<br />

RÜ 4/2012<br />

<strong>Staatsstrukturprinzipien</strong><br />

� Demokratie<br />

� Republik<br />

� Rechtsstaat<br />

� Sozialstaat<br />

� Bundesstaat<br />

Prüfungsmuster<br />

� Rechtliche Herleitung<br />

� Definition<br />

� Subsumtion<br />

Vermeiden Sie in der Klausur auf jeden<br />

Fall eine im freien Raum schwebende Argumentation.<br />

Auch allgemeine Prinzipien<br />

lassen sich vernünftig strukturieren!<br />

Beschränken Sie sich stets auf die in Ihrem<br />

Fall relevante Konkretisierung des<br />

Strukturprinzips. Keine überflüssige Wissensvermittlung,<br />

die mit dem Fall nichts<br />

zu tun hat!<br />

261


262<br />

RÜ 4/2012<br />

1. Rechtliche Herleitung<br />

Repetitorium<br />

Dass die Bundesrepublik Deutschland eine Demokratie ist folgt aus der Festlegung<br />

in Art. 20 Abs. 1 GG („demokratischer … Bundesstaat“) und aus Art. 20<br />

Abs. 2 S. 1 GG („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“). Auch Art. 23 Abs. 1 S. 1<br />

(„demokratischen … Grundsätzen“) und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG („demokratischen<br />

… Rechtsstaates“) bestätigen die Geltung des Demokratieprinzips.<br />

2. Definition<br />

Ausübung der Staatsgewalt a) Ausübung der Staatsgewalt<br />

Die Gegenmeinung will zumindest konsultative<br />

Volksbefragungen zulassen, da<br />

es hierbei nicht um direkte Teilhabe und<br />

Ausübung von Staatsgewalt gehe (vgl.<br />

AS-Skript Staatsorganisationsrecht [2012],<br />

Rdnr. 50).<br />

Die wichtigsten Ausprägungen des Demokratieprinzips ergeben sich aus<br />

Art. 20 Abs. 2 GG.<br />

Das Volk ist Träger der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Es übt die Staatsgewalt<br />

aus<br />

� in Wahlen und<br />

� Abstimmungen und<br />

� durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und<br />

der Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG).<br />

aa) Wahlen sind vor allem die Wahlen zum Bundestag, zum Landtag und zu<br />

den Kommunalvertretungen (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG). Sie müssen demokratischen<br />

Grundsätzen entsprechen, d.h. nach dem Verständnis des Grundgesetzes<br />

allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein (Art. 38 Abs. 1 S. 1,<br />

Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG).<br />

Volk i.S.d. Art. 20, 28 GG ist das deutsche Staatsvolk, d.h. alle Deutschen i.S.d. Art. 116<br />

Abs. 1 GG. Ausländer gehören nicht dazu (§ 2 AufentG). Deshalb steht Ausländern auch<br />

kein Wahlrecht zu. Eine Ausnahme gilt für Unionsbürger bei Kommunalwahlen nach<br />

Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG, Art. 22 Abs. 1 AEUV.<br />

Da es in der Demokratie nur Herrschaft auf Zeit gibt, müssen Wahlen periodisch<br />

stattfinden.<br />

Die Verlängerung einer laufenden Legislaturperiode stellt einen Eingriff in den Kernbereich<br />

des Demokratieprinzips dar und ist daher auch durch Verfassungsänderung nicht<br />

zulässig (Art. 79 Abs. 3 GG). Eine Verlängerung künftiger Wahlperioden ist dagegen<br />

durch Verfassungsänderung möglich, wobei überwiegend aber von einer Obergrenze<br />

von fünf Jahren ausgegangen wird.<br />

bb) Abstimmungen sind im Grundgesetz nur noch bei der Neugliederung des<br />

Bundesgebiets vorgesehen (Art. 29 Abs. 2 GG). Andere Formen der Volksbeteiligung<br />

(Volksbefragung, Volksbegehren und Volksentscheid) sind auf Bundesebene<br />

nach h.M. unzulässig. Dies folgt aus dem gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG geltenden<br />

Grundsatz der repräsentativen Demokratie, der nur in ausdrücklich<br />

bestimmten Fällen eine unmittelbare Beteiligung des Volkes zulässt.<br />

In den Verfassungen der Länder sind demgegenüber teilweise obligatorische bzw. fakultative<br />

Volksabstimmungen vorgesehen.<br />

cc) Im Übrigen übt das Volk die Staatsgewalt nur mittelbar durch besondere<br />

Organe der Gesetzgebung (Legislative), der vollziehenden Gewalt (Exekutive)<br />

und der Rechtsprechung (Judikative) aus (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Aufgrund des<br />

Demokratieprinzips bedürfen diese Organe bei jeglichem hoheitlichem Handeln<br />

einer Legitimation, die sich auf das Staatsvolk zurückführen lässt (ununterbrochene<br />

Legitimationskette vom Volk zu den Staatsorganen).<br />

In personeller Hinsicht ist eine hoheitliche Entscheidung legitimiert, wenn sich die Bestellung<br />

desjenigen, der sie trifft, durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf<br />

das Staatsvolk zurückführen lässt. Die sachlich-inhaltliche Legitimation wird durch Gesetzesbindung<br />

und Bindung der Regierung an Aufträge und Weisungen des Parlaments<br />

vermittelt (vgl. BVerfG RÜ 2012, 178, 181).


) Demokratische Willensbildung<br />

Repetitorium<br />

aa) Für die Willensbildung gilt in der Demokratie das Mehrheitsprinzip, wobei<br />

allerdings für einen ausreichenden Minderheitenschutz gesorgt sein muss.<br />

Beschlüsse des Bundestages werden grundsätzlich mit der Mehrheit der abgegebenen<br />

Stimmen gefasst, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt (Art. 42 Abs. 2 GG).<br />

Nach Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG hat der Bundestag aber z.B. auf Antrag eines Viertels seiner<br />

Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen.<br />

bb) Da die Staatsgewalt vom Volk „ausgeht“ (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), muss die<br />

politische Willensbildung vom Volke hin zu den Staatsorganen erfolgen („von<br />

unten nach oben“). Daraus ergibt sich für die Staatsorgane eine Pflicht zur<br />

parteipolitischen Neutralität mit folgenden Konsequenzen:<br />

� Der Staat darf sich nicht mit bestimmten Parteien identifizieren.<br />

Die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsorgane findet deshalb dort ihre Grenze, wo die<br />

unzulässige Wahlwerbung auf Staatskosten beginnt.<br />

� Durch staatliche Zuschüsse darf kein Abhängigkeitsverhältnis der Parteien<br />

vom Staat entstehen (Staatsfreiheit der Parteien).<br />

Daraus folgt z.B. das Verbot der vollständigen oder verdeckten Parteienfinanzierung.<br />

c) Weitere Ausprägungen des Demokratieprinzips sind z.B. das Mehrparteiensystem,<br />

die Möglichkeit einer legalen Opposition und das Bestehen demokratischer<br />

Grundrechte.<br />

Gewisse Grundrechte sind für die Demokratie „schlechthin konstituierend“, z.B. die<br />

Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit<br />

(Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 GG).<br />

3. Formulierungsbeispiel<br />

„In Betracht kommt ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip, das in Art. 20 Abs. 1 u. Abs. 2<br />

GG verankert ist. Gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Dementsprechend<br />

findet die politische Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen statt.<br />

Daraus folgt für alle Staatsorgane die Pflicht zur parteipolitischen Neutralität. Aus diesem<br />

Grunde ist es den Staatsorganen verwehrt, im Vorfeld von Wahlen in amtlicher Funktion offen<br />

oder verdeckt für eine bestimmte Partei einzutreten. Allerdings sind die Staatsorgane<br />

befugt, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Die Öffentlichkeitsarbeit findet aber dort ihre<br />

Grenze, wo die unzulässige Wahlwerbung beginnt. Ob die Grenze überschritten ist, hängt<br />

von den Umständen des Einzelfalls ab. Abgrenzungskriterien sind insbesondere Inhalt, Aufmachung,<br />

Anlass und Adressatenkreis der Publikation. Besonders enge Grenzen gelten für<br />

regierungsamtliche Veröffentlichungen, die – wie im vorliegenden Fall – im nahen Umfeld<br />

einer Wahl erfolgen. Diese sind nur zulässig wenn, …“<br />

II. Republik<br />

1. Rechtliche Herleitung<br />

Die Staatsform der Republik wird durch Art. 20 Abs. 1 GG durch den Staatsnamen<br />

(„Bundesrepublik“) festgelegt und in Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG bestätigt<br />

(„republikanischen … Rechtsstaates“).<br />

2. Definition<br />

Da bereits das Demokratieprinzip verlangt, dass alle Staatsgewalt vom Volke<br />

ausgeht (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), bezieht sich die Staatsform Republik nur auf<br />

die Person des Staatsoberhaupts und hat daher praktisch nur Bedeutung in<br />

Abgrenzung zur Monarchie. In der Bundesrepublik Deutschland darf das<br />

Staatsoberhaupt daher nicht aufgrund von familien- oder erbrechtlichen Umständen<br />

oder auf Lebenszeit in sein Amt gelangen.<br />

Unzulässig wäre daher z.B. eine unbefristete Amtszeit des Bundespräsidenten (vgl.<br />

Art. 54 Abs. 2 GG).<br />

RÜ 4/2012<br />

Demokratische Willensbildung<br />

Weitere Ausprägungen des Demokratieprinzips<br />

Rechtliche Herleitung<br />

Definition<br />

Subsumtion<br />

263


264<br />

RÜ 4/2012<br />

Gegenbegriff ist der Willkürstaat, etwa in<br />

faschistischen oder kommunistischen Diktaturen.<br />

III. Rechtsstaatsprinzip<br />

1. Rechtliche Herleitung<br />

Repetitorium<br />

Die weitaus größte Bedeutung in der Klausur haben die Ausprägungen des<br />

Rechtsstaatsprinzips. Obwohl dieses Prinzips in Art. 20 GG nicht ausdrücklich<br />

erwähnt wird, ist allgemein anerkannt, dass es zu den grundlegenden <strong>Staatsstrukturprinzipien</strong><br />

zählt. Vorausgesetzt wird das Rechtsstaatsprinzip z.B. in<br />

Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG („rechtsstaatlichen … Grundsätzen“) und Art. 28 Abs. 1<br />

S. 1 GG („Rechtsstaates“). Die wichtigsten Ausprägungen finden sich in Art. 1<br />

Abs. 3 GG (Bindung an die Grundrechte), in Art. 20 Abs. 2 S. 2, 3. Fall GG (Gewaltenteilung)<br />

und Art. 20 Abs. 3 GG (Bindung an Recht und Gesetz).<br />

2. Definition<br />

Rechtsstaat ist ein Staat, dessen Ziel die Gewährleistung von Freiheit und Gerechtigkeit<br />

im staatlichen und staatlich beeinflussbaren Bereich ist und dessen<br />

Machtausübung durch Recht und Gesetz geregelt und begrenzt wird. Im<br />

Rechtsstaat ist das Recht primärer Ordnungsfaktor (Primat des Rechts).<br />

a) Gewaltenteilung (Funktionentrennung)<br />

Rechtsgrundlage des Gewaltenteilungsprinzips ist Art. 20 Abs. 2 S. 2, 3. Fall GG.<br />

Danach wird die Staatsgewalt vom Volk durch besondere Organe „der Gesetzgebung,<br />

der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ ausgeübt.<br />

Der Gedanke der Gewaltenteilung geht zurück auf den englischen Rechtsphilosophen<br />

Locke (1632–1704) und wurde später von dem französischen Staatstheoretiker Montesquieu<br />

(1689–1755) fortentwickelt.<br />

Grundlegend für die Gewaltenteilungslehre ist die Unterscheidung zwischen<br />

drei materiellen Staatsfunktionen: Legislative (Gesetzgebung), Exekutive<br />

(Verwaltung), Judikative (Rechtsprechung). Durch wechselseitige Begrenzung<br />

und Kontrolle der Machtausübung („checks and balances“) wird verhindert,<br />

dass eine der drei Funktionen eine übergeordnete Stellung erlangt.<br />

Die Regierung ist vom Vertrauen des Parlaments abhängig (Art. 63, 67, 68 GG). Verwaltung<br />

und Rechtsprechung sind an die vom Parlament erlassenen Gesetze gebunden<br />

(Art. 20 Abs. 3 GG). Die Gerichte kontrollieren die Verfassungsmäßigkeit der vom Parlament<br />

erlassenen Gesetze und die Rechtmäßigkeit einzelner Exekutivakte (Art. 92, 93,<br />

19 Abs. 4 GG) u.v.m.<br />

Ausfluss der Gewaltenteilung ist auch die sog. Inkompatibilität (auch personelle<br />

Gewaltenteilung). Niemand darf zwei Ämter innehaben, die sich gegenseitig<br />

kontrollieren oder hemmen sollen.<br />

Vgl. beispielhaft Art. 55 Abs. 1 GG (Bundespräsident), Art. 66 GG (Regierungsmitglieder),<br />

Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG (Richter des BVerfG), Art. 137 GG (Beamte).<br />

Durchbrechungen des Gewaltenteilungsprinzips sind zulässig, wenn ein besonderer<br />

sachlicher Grund besteht (vgl. z.B. Art. 80 Abs. 1 GG, wonach die Exekutive<br />

Rechtsverordnungen als Gesetze im materiellen Sinne erlassen darf).<br />

Unzulässig ist in jedem Fall ein Eingriff in den Kernbereich einer anderen Gewalt,<br />

auch darf eine Gewalt kein deutliches Übergewicht gegenüber den anderen<br />

Gewalten erhalten.<br />

b) Bindung an Recht und Gesetz<br />

Die Legislative ist an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden (Art. 20<br />

Abs. 3, 1. Halbs. GG), d.h. Gesetze müssen verfassungsgemäß sein. Exekutive<br />

und Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3,<br />

2. Halbs. GG). Die Legislative kann die beiden anderen Gewalten daher durch<br />

Gesetze binden. Die Gesetzesbindung bezieht sich auf das Grundgesetz (insbesondere<br />

die Grundrechte, Art. 1 Abs. 3 GG) und alle sonstigen einfachrechtlichen<br />

Normen des Bundes- und Landesrechts.


Repetitorium<br />

Der Grundsatz der Gesetzesbindung wird durch zwei Grundsätze konkretisiert:<br />

� Nach dem Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes darf keine staatliche Maßnahme<br />

gegen Rechtsnormen verstoßen („kein Handeln gegen Gesetz“).<br />

� Nach dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes ist eine hoheitliche<br />

Maßnahme grundsätzlich nur zulässig, wenn das Handeln in einer Rechtsnorm<br />

gestattet ist („kein Handeln ohne Gesetz“).<br />

Der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes gilt allerdings nicht für die gesamte Staatstätigkeit,<br />

sondern nur für den Bürger belastende Maßnahmen und wesentliche Entscheidungen<br />

(Wesentlichkeitstheorie). Wesentlich in diesem Sinne sind vor allem Maßnahmen,<br />

die den Grundrechtsbereich tangieren, sowie Angelegenheiten, die erhebliche<br />

Auswirkungen für die Allgemeinheit haben (z.B. friedliche Nutzung der Atomkraft).<br />

c) Bindung an Grundrechte<br />

Ein weiteres bedeutsames Element des Rechtsstaatsprinzips ist das Bestehen<br />

von Grundrechten des Bürgers, die das staatliche Handeln begrenzen (Art. 1<br />

Abs. 3 GG) und dem Bürger eine gesicherte Freiheitssphäre einräumen. Deshalb<br />

kann sich aus Grundrechten auch eine Schutzpflicht des Staates gegenüber<br />

Eingriffen Dritter ergeben.<br />

d) Effektiver Rechtsschutz<br />

Im Rechtsstaat muss die Gesetzesbindung vom Bürger durchgesetzt werden<br />

können. Deshalb gehört die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes<br />

gegenüber Hoheitsakten (Art. 19 Abs. 4 GG) ebenso zum Rechtsstaatsprinzip<br />

wie die Existenz von Justizgrundrechten (Art. 101, 103, 104 GG). Auch im Verhältnis<br />

der Bürger untereinander muss ausreichender Rechtsschutz durch<br />

staatliche Gerichte gewährleistet sein.<br />

e) Bestimmtheit<br />

Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips ist der Bestimmtheitsgrundsatz. Gesetze<br />

können ihre Funktion, das Verhalten des Bürgers zu steuern, nur erfüllen,<br />

wenn sie hinreichend bestimmt sind (Grundsatz der Normenklarheit). Dasselbe<br />

gilt für sonstige hoheitliche Maßnahmen (z.B. für Verwaltungsakte, § 37<br />

Abs. 1 VwVfG). Der Bürger muss wissen, was von ihm verlangt wird und nicht<br />

Gefahr laufen, sich anzustrengen und trotzdem seine Pflichten nicht oder<br />

nicht ausreichend zu erfüllen. Der Grad der Bestimmtheit lässt sich allerdings<br />

nicht abstrakt festlegen, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.<br />

Ausreichend ist, dass sich der Inhalt der staatlichen Maßnahme durch Auslegung<br />

ermitteln lässt.<br />

f) Verhältnismäßigkeit<br />

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird (zumindest auch) aus dem<br />

Rechtsstaatsprinzip abgeleitet. Danach muss jede (belastende) staatliche Maßnahme<br />

zur Verfolgung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen<br />

sein.<br />

� Geeignet ist die Maßnahme, wenn mit ihrer Hilfe der gewünschte Erfolg<br />

zumindest gefördert werden kann (er muss also nicht unbedingt erreicht<br />

werden).<br />

Bei Gesetzen billigt das BVerfG der Legislative einen Prognosespielraum zu. Zu prüfen<br />

ist nur, ob das Gesetz zum erstrebten Zweck „objektiv untauglich“ oder „schlechthin<br />

ungeeignet“ sei. Die Verwaltung ist demgegenüber an die gesetzlichen Vorgaben<br />

gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG), ohne dass ihr ein solcher Spielraum zusteht.<br />

� Erforderlich ist eine Maßnahme nur, wenn zur Verfolgung des Zwecks kein<br />

anderes gleich wirksames, aber den Bürger weniger belastendes Mittel zur<br />

Verfügung steht.<br />

RÜ 4/2012<br />

Besondere Ausprägungen des Bestimmtheitsgrundsatzes<br />

finden sich in Art. 80<br />

Abs. 1 S. 2 GG (für Rechtsverordnungen)<br />

und Art. 103 Abs. 2 GG (für Strafgesetze).<br />

Im Grundrechtsbereich ergibt sich der<br />

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in<br />

erster Linie aus dem betroffenen Grundrecht<br />

selbst.<br />

265


266<br />

RÜ 4/2012<br />

Repetitorium<br />

Ein Versammlungsverbot (§ 15 Abs. 1 VersG) ist z.B. nicht erforderlich, wenn Auflagen<br />

zur Abwehr der Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausreichen.<br />

� Angemessen ist die Maßnahme nur, wenn sie nicht zu Nachteilen führt,<br />

die erkennbar außer Verhältnis zum angestrebten Erfolg stehen.<br />

Hierbei hat i.d.R. eine umfassende Abwägung der betroffenen Rechte bzw. Rechtsgüter<br />

zu erfolgen. Unangemessen ist die Maßnahme nur, wenn der herbeigeführte<br />

Nachteil deutlich größer ist als der Vorteil der Maßnahme („erkennbar“).<br />

Vertrauensschutz g) Vertrauensschutz<br />

Ein weiteres Element des Rechtsstaats ist der Grundsatz des Vertrauensschutzes.<br />

Er schränkt insbesondere die Rücknahme von Verwaltungsakten (§§ 48,<br />

49 VwVfG) und die Rückwirkung von Gesetzen ein. Bei rückwirkenden Gesetzen<br />

wird gemeinhin zwischen echter und unechter Rückwirkung unterschieden:<br />

Rückwirkende Strafgesetze sind nach<br />

Art. 103 Abs. 2 GG generell unzulässig.<br />

Rechtliche Herleitung<br />

Definition<br />

Subsumtion<br />

� Echte Rückwirkung liegt vor, wenn ein Gesetz nachträglich in abgeschlossene,<br />

der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift, wenn also die<br />

Rechtsfolgen für einen vor der Verkündung liegenden Zeitpunkt eintreten<br />

sollen (deshalb teilweise auch als Rückbewirkung von Rechtsfolgen bezeichnet).<br />

� Unechte Rückwirkung entfaltet eine Rechtsnorm, wenn sie auf gegenwärtige,<br />

noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt, damit<br />

aber zugleich eine Rechtsposition nachträglich entwertet (auch tatbestandliche<br />

Rückanknüpfung).<br />

Die echte Rückwirkung ist grundsätzlich unzulässig. Sie ist nur ausnahmsweise<br />

zulässig, wenn das Vertrauen des Bürgers nicht schutzwürdig ist, z.B.<br />

weil der Bürger mit einer Regelung rechnen musste, die alte Rechtslage unklar<br />

und verworren war, eine nichtige Vorschrift durch eine wirksame Norm ersetzt<br />

wird oder aus zwingenden Gründen des Gemeinwohls.<br />

Prüfungsansatz bei der echten Rückwirkung ist nach h.M. unmittelbar das Rechtsstaatsprinzip.<br />

Ein Gesetz mit unzulässiger echter Rückwirkung verstößt daher gegen<br />

Art. 20 Abs. 3 GG.<br />

Die unechte Rückwirkung ist dagegen grundsätzlich zulässig. Sie ist nur ausnahmsweise<br />

unzulässig, wenn aufgrund einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung<br />

das Vertrauensinteresse des Bürgers das öffentliche Interesse<br />

überwiegt.<br />

Trotz der Herleitung des Rückwirkungsverbotes aus dem Rechtsstaatsprinzip wird heute<br />

die unechte Rückwirkung eher als ein Problem der Angemessenheit im Rahmen der<br />

Grundrechtsprüfung verstanden (vgl. Altevers RÜ 2010, 742 ff.).<br />

h) Weitere Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips sind u.a.<br />

� das Verbot von Einzelfallgesetzen (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG für Grundrechtseingriffe,<br />

im Übrigen Art. 19 Abs. 4 GG bei Formenmissbrauch),<br />

� Unabhängigkeit der Gerichte und Richter (Art. 92, 97 GG),<br />

� Gebot eines fairen Gerichtsverfahrens (Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG).<br />

3. Formulierungsbeispiel<br />

„Das Gesetz könnte gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Dieses Prinzip ist in Art. 20 GG<br />

zwar nicht ausdrücklich erwähnt, seine verfassungsrechtliche Geltung wird aber in verschiedenen<br />

Vorschriften vorausgesetzt (z.B. Art. 23 Abs. 1 S. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) und ist<br />

deshalb allgemein anerkannt. Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips ist u.a. das Gebot des<br />

Vertrauensschutzes, aus dem sich Einschränkungen für rückwirkende Gesetze ergeben.<br />

Vorliegend soll das Gesetz rückwirkend zum Jahresbeginn in Kraft treten. Darin könnte eine<br />

unzulässige echte Rückwirkung liegen. Dies setzt voraus, dass die Rechtsfolgen der Norm<br />

vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung gelten sollen. Vorliegend ergibt sich, dass …“


IV. Sozialstaatsprinzip<br />

1. Rechtliche Herleitung<br />

Repetitorium<br />

Die Geltung des Sozialstaatsprinzips folgt aus Art. 20 Abs. 1 GG („sozialer Bundesstaat“),<br />

aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG („sozialen … Grundsätzen“) sowie aus<br />

Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG („sozialen Rechtsstaates“). Spezielle Ausprägungen finden<br />

sich in Art. 3 Abs. 3 S. 2 (Behinderte), Art. 6 Abs. 4 (Mutterschutz), Art. 9 Abs. 3<br />

S. 1 (Streikrecht) sowie Art. 14 Abs. 2 GG (Sozialbindung des Eigentums).<br />

2. Definition<br />

Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat zur Herstellung und Erhaltung<br />

sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit.<br />

� Soziale Gerechtigkeit verlangt die Herstellung tatsächlicher Chancengleichheit<br />

sowie Schutz der Schwachen vor den Starken.<br />

Gleichberechtigung (Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG), Schutz der Behinderten (Art. 3 Abs. 3 S. 2<br />

GG), soziales Arbeits- und Mietrecht, Gewährung von Prozesskostenhilfe.<br />

� Soziale Sicherheit bedeutet Schaffung und Erhaltung von Einrichtungen,<br />

die für den Fall des Fehlens eigener Daseinsreserven in Krisen die notwendige<br />

Daseinshilfe gewähren.<br />

Schaffung von Sozialversicherungssystemen, Gewährung von Sozialhilfe.<br />

Da die Schaffung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit gesetzlicher Regelungen<br />

bedarf, richtet sich das Sozialstaatsprinzip in erster Linie an den Gesetzgeber.<br />

Für Verwaltung und Gerichte erlangt das Sozialstaatsprinzip Bedeutung<br />

vor allem bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, für die<br />

Verwaltung auch bei Ermessensentscheidungen. Nur in eng umgrenzten Einzelfällen<br />

kann das Sozialstaatsprinzip (zusammen mit Grundrechten) unmittelbar<br />

Ansprüche des Bürgers begründen.<br />

3. Formulierungsbeispiel<br />

„Die Vorschriften des SGB II könnten den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen<br />

Existenzminimums verletzen. Dieser Anspruch ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m.<br />

dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG, der dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, jedem<br />

ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Hiervon umfasst werden …“ (vgl.<br />

näher BVerfG RÜ 2010, 250, 251).<br />

V. Bundesstaatsprinzip<br />

1. Rechtliche Herleitung<br />

Die Geltung des Bundesstaatsprinzips ergibt sich aus der in Art. 20 Abs. 1 GG<br />

getroffenen ausdrücklichen Feststellung, dass die Bundesrepublik ein Bundesstaat<br />

ist, ferner aus den zahlreichen Vorschriften, die vom Vorhandensein<br />

der Länder ausgehen (z.B. Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG: „in den Ländern“), insbesondere<br />

indem Zuständigkeiten auf Bund und Länder verteilt werden (vgl. Art. 30,<br />

70 ff., 83 ff., 92 ff., 104 a ff. GG).<br />

2. Definition<br />

Bundesstaat ist ein Gesamtstaat, bei dem die Ausübung der Staatsgewalt auf<br />

einen Zentralstaat (Bund) und mehre Gliedstaaten (Länder) aufgeteilt ist. Beim<br />

Bundesstaat haben sowohl der Bund als auch die Länder Staatsqualität.<br />

Beim Einheitsstaat hat nur der Zentralstaat Staatsqualität, nicht dagegen die einzelnen<br />

Untergliederungen, die ihre Befugnisse lediglich vom Zentralstaat ableiten. Beim<br />

Staatenbund übt der Gesamtstaat Staatsgewalt nur nach außen hin aus, während<br />

seine Anordnungen nach innen der Umsetzung der einzelnen Gliedstaaten bedürfen.<br />

Beim Bundesstaat übt der Bund dagegen sowohl nach außen als auch nach innen unmittelbar<br />

Staatsgewalt aus.<br />

RÜ 4/2012<br />

Anders der liberale Rechtsstaat, der lediglich<br />

für rechtliche Chancengleichheit<br />

sorgt.<br />

267


Rechtliche Herleitung<br />

Definition<br />

Subsumtion<br />

268<br />

RÜ 4/2012<br />

Repetitorium<br />

a) Einschränkungen der Eigenstaatlichkeit<br />

Die Staatlichkeit der Länder unterliegt jedoch Einschränkungen:<br />

� Die Länderverfassungen müssen den Grundsätzen des republikanischen,<br />

demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes<br />

entsprechen (Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG). Gefordert wird hierbei jedoch keine<br />

Gleichförmigkeit, sondern nur ein „Mindestmaß an Homogenität“.<br />

� Die Länder haben grundsätzlich keine Befugnisse nach außen (vgl. Art. 24<br />

Abs. 1 a und Art. 32 Abs. 3 GG, wonach völkerrechtliche Verträge nur mit<br />

Zustimmung der Bundesregierung zulässig sind).<br />

� Dem Bund stehen Aufsichtsbefugnisse und Einwirkungsrechte gegenüber<br />

den Ländern zu (z.B. Art. 37, Art. 84 Abs. 3, Art. 85 Abs. 3 GG. Umgekehrt<br />

bestehen Einwirkungsmöglichkeiten der Länder auf den Bund, insbesondere<br />

durch den Bundesrat (Art. 50 GG).<br />

b) Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern<br />

Die Zuweisung staatlicher Aufgaben erfolgt im Grundgesetz<br />

� entweder hinsichtlich konkret bezeichneter Aufgaben,<br />

z.B. für auswärtige Angelegenheiten (Art. 32 Abs. 1 GG), für die Einrichtung der Behörden<br />

und das Verwaltungsverfahren (Art. 84 Abs. 1 GG),<br />

� oder durch Generalklauseln für bestimmte Aufgabenbereiche.<br />

Art. 70 GG für die Gesetzgebung, Art. 83 GG für die Ausführung von Bundesgesetzen,<br />

Art. 92 für die Rechtsprechung.<br />

Auffangtatbestand ist Art. 30 GG, wonach die Ausübung der staatlichen Befugnisse<br />

und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder ist, soweit<br />

das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt.<br />

c) Aufgrund der bundesstaatlichen Ordnung gibt es Bundesrecht und Landesrecht.<br />

Formal sind beide Rechtsordnungen streng getrennt. Allerdings bestimmt<br />

Art. 31 GG: „Bundesrecht bricht Landesrecht.“<br />

Eine RechtsVO des Bundes verdrängt deshalb eine entgegenstehende Regelung in der<br />

Landesverfassung.<br />

d) Bundestreue<br />

Eine wichtige Ausprägung des Bundesstaatsprinzips ist der Grundsatz der<br />

Bundestreue (auch Gebot zu bundesfreundlichem Verhalten). Die Bundestreue<br />

begründet zwar keine selbstständigen Rechte und Pflichten, konkretisiert<br />

jedoch das bestehende Rechtsverhältnis zwischen Bund und Ländern. Aus der<br />

Bundestreue folgt insbesondere eine Pflicht zu gegenseitiger Rücksichtnahme<br />

ebenso wie Nebenpflichten zur Information, Abstimmung und Zusammenarbeit.<br />

Vor allem dürfen Kompetenzen nicht missbräuchlich oder treuwidrig<br />

ausgeübt werden.<br />

3. Formulierungsbeispiel<br />

„Die Weigerung des Landes L, gegen die Stadt S kommunalaufsichtliche Maßnahmen zu ergreifen,<br />

könnte gegen den aus dem Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) folgenden<br />

Grundsatz der Bundestreue verstoßen. Dieser gewohnheitsrechtlich anerkannte Grundsatz<br />

verpflichtet den Bund und die Länder, dem Wesen des Bundesstaates entsprechend zusammenzuwirken<br />

und zu seiner Festigung und zur Wahrung der Belange der Beteiligten beizutragen.<br />

Überschreiten Kommunen ihre Verbandskompetenz durch Eingriffe in Bundeszuständigkeiten<br />

sind die Länder deshalb zu kommunalaufsichtlichem Einschreiten verpflichtet.<br />

Hier hat der Rat der Stadt S beschlossen, dass … Damit hat der Rat unzulässigerweise<br />

Bundeskompetenzen in Anspruch genommen. …“<br />

Horst Wüstenbecker


Zivilrecht<br />

1. Aus welcher Anspruchsgrundlage<br />

kann der Besteller eines Werks Schadensersatz<br />

verlangen, wenn der Unternehmer<br />

Sachen bei der Herstellung<br />

des Werkes beschädigt hat?<br />

2. Umfasst der Pflichtenkreis eines<br />

Beförderungsvertrags mit einem reinen<br />

Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />

auch den sicheren Ab- und Zugang<br />

zu den Bahnsteigen?<br />

3. Gehört der Ausbau einer mangelhaften<br />

Sache zu der vom Verkäufer<br />

geschuldeten Nachlieferung?<br />

4. Hat der Käufer einen unmittelbaren<br />

Anspruch auf Ersatz der Ausbaukosten<br />

einer mangelhaften Sache?<br />

5. Kann der Verkäufer nach der gesetzlichen<br />

Regelung die Nachlieferung<br />

wegen unverhältnismäßiger<br />

Kosten gemäß § 439 Abs. 3 S. 1 BGB<br />

verweigern, wenn die Nachbesserung<br />

unmöglich ist?<br />

6. Wie kann das Verweigerungsrecht<br />

des Verkäufers aus § 439 Abs. 3 S. 1<br />

BGB bei Unmöglichkeit der Nachbesserung<br />

richtlinienkonform ausgestaltet<br />

werden?<br />

7. Benennen Sie die Voraussetzungen<br />

eines Gesamtschuldverhältnisses<br />

i.S.v. § 421 BGB!<br />

8. Was ist ein Verbotsgesetz i.S.v.<br />

§ 134 BGB?<br />

Check<br />

1. Beschädigt der Unternehmer bei der Herstellung des Werks Sachen des Bestellers,<br />

führt dies allein nicht dazu, dass das Werk mangelhaft ist. Ansprüche<br />

aus § 634 Nr. 4 BGB scheiden dann aus. Die Beschädigung der Sachen des Bestellers<br />

ist die Verletzung einer Schutzpflicht, die zu den Rücksichtnahmepflichten<br />

i.S.d. § 241 Abs. 2 BGB gehört. Anspruchsgrundlage für die Verletzung<br />

von Rücksichtnahmepflichten ist § 280 Abs. 1 BGB. (RÜ 4/2012, S. 206)<br />

2. Ja. Schutzpflichten entsteht vor allem dann, wenn die Vertragsparteien dem<br />

anderen Teil im Rahmen des Vertrags eine gesteigerte Einwirkung auf ihre Belange<br />

gestatten und daher in einem höheren Maß als sonst auf die Wahrung<br />

und den Schutz ihrer Rechtsgüter durch den anderen Teil vertrauen oder zu<br />

vertrauen gezwungen sind. Bei einer Bahnfahrt ist die Benutzung des Bahnhofs<br />

zwingen erforderlich und geschieht nicht nur bei Gelegenheit der Bahnfahrt.<br />

Demnach umfassen die Schutzpflichten des Beförderungsvertrags auch<br />

die Sicherheit der Bahnhofsanlagen. (RÜ 4/2012, S. 209)<br />

3. Rein begrifflich ist es zumindest fraglich, ob der Ausbau der mangelhaften<br />

Sache zur Nachlieferung gehört, weil er sich auf eine andere Sache bezieht als<br />

die nachgelieferte. § 439 Abs. 1 BGB ist jedoch richtlinienkonform so auszulegen,<br />

dass die Nachlieferung auch den Ausbau und Abtransport der zuerst<br />

gelieferten mangelhaften Sache umfasst. Der Verkäufer ist zum Ausbau verpflichtet,<br />

aber auch berechtigt. Der Ausbau gehört zu seinem „Recht auf zweite<br />

Andienung“. § 439 Abs. 1 BGB soll dem Verkäufer die Möglichkeit geben,<br />

die Nacherfüllung selbst vorzunehmen. (RÜ 4/2012, S. 212)<br />

4. Ein Anspruch auf Ersatz der Ausbaukosten kann sich aus § 439 Abs. 2 BGB<br />

ergeben. Es besteht aber kein Wahlrecht des Käufers in der Weise, dass er<br />

wahlweise den tatsächlichen Ausbau als Nachlieferung oder Erstattung der<br />

Ausbaukosten verlangen könnte. (RÜ 4/2012, S. 212 f.)<br />

5. Nach dem Wortlaut des Gesetzes kann der Verkäufer die Nachlieferung<br />

auch dann wegen unverhältnismäßiger Kosten verweigern, wenn die Nachbesserung<br />

unmöglich ist. Aus § 439 Abs. 3 S. 3 BGB und § 440 Abs. 1 BGB ergibt<br />

sich eindeutig, dass nach der Konzeption des Gesetzes beide Formen der<br />

Nacherfüllung wegen Unverhältnismäßigkeit verweigert werden können.<br />

(RÜ 4/2012, S. 213 ff.)<br />

6. Da eine Einschränkung des Verweigerungsrechts vom Wortlaut des Gesetzes<br />

nicht gedeckt ist, ist eine richtlinienkonforme teleologische Reduktion des<br />

§ 439 Abs. 3 BGB erforderlich. Die dafür notwendige Regelungslücke ergibt<br />

sich daraus, dass der deutsche Gesetzgeber eine richtlinienkonforme Regelung<br />

schaffen wollte, dieses Ziel aber für den Fall der unverhältnismäßig kostenintensiven<br />

Nachlieferung bei gleichzeitiger Unmöglichkeit der Nachbesserung<br />

nicht erreicht hat. Der BGH schließt die Regelungslücke durch teleologische<br />

Reduktion in der Weise, dass sich in diesen Fällen das Verweigerungsrecht<br />

des Verkäufers darauf beschränkt, den Käufer auf einen angemessenen<br />

Kostenerstattungsanspruch zu verweisen. (RÜ 4/2012, S. 214 ff.)<br />

7. Ein Gesamtschuldverhältnis nach § 421 BGB besteht dann, wenn mehrere<br />

Schuldner (1) eine Leistung (2) in der Weise schulden, dass jeder die ganze<br />

Leistung zu bewirken verpflichtet (3), der Gläubiger aber die Leistung nur einmal<br />

zu fordern berechtigt ist (4). Darüber hinaus bilden nur gleichstufige Verpflichtungen<br />

eine Gesamtschuld (5). (RÜ 4/2012, S. 219 f.)<br />

8. Verbotsgesetze sind Gesetze i.S.v. Art. 2 EGBGB – also nicht nur Gesetze im<br />

formellen Sinn, sondern auch Rechtsverordnungen und Gewohnheitsrecht –,<br />

die eine nach unserer Rechtsordnung grundsätzlich mögliche rechtsgeschäft-<br />

269


9. In welchen Fallkonstellationen ist<br />

die Einziehung erfüllungshalber abgetretenerSchadensersatzforderungen<br />

durch ein Mietwagenunternehmen<br />

nach dem BGH gemäß § 5 Abs. 1<br />

RDG erlaubt?<br />

10. Wie sind nach h.M. die Vorgaben<br />

des AGG im Kündigungsschutzrecht<br />

zu berücksichtigen?<br />

11. Was ist der Unterschied zwischen<br />

einer verhaltensbedingten und einer<br />

personenbedingten Kündigung?<br />

12. Welche Umstände sind im Rahmen<br />

der Interessenabwägung bei<br />

einer verhaltensbedingten Kündigung<br />

zu berücksichtigen?<br />

270<br />

Check<br />

liche Regelung wegen ihres Inhalts oder wegen der Umstände ihres Zustandekommens<br />

untersagen. (RÜ 4/2012, S. 222)<br />

9. Nach Auffassung des BGH gehört der Einzug abgetretener Schadensersatzforderungen<br />

jedenfalls dann als Nebenleistung zum Berufsbild eines Mietwagenunternehmers<br />

und ist daher gemäß § 5 Abs. 1 RDG erlaubt, wenn die<br />

Forderung dem Grunde nach unbestritten ist und es lediglich Streit über deren<br />

Höhe gibt. In einem solchen Fall ist die Rechtsdienstleistung – die Einziehung<br />

der eigenen Vergütungsansprüche gegenüber einem Dritten – besonders<br />

eng mit der eigentlichen, den Vergütungsanspruch auslösenden Haupttätigkeit<br />

verbunden. (RÜ 4/2012, S. 223 f.)<br />

10. Die Benachteiligungsverbote des AGG sind nach h.M. bei der Auslegung<br />

der unbestimmten Rechtsbegriffe des allgemeinen und des besonderen Kündigungsschutzes<br />

(z.B. soziale Rechtfertigung i.S.d. § 1 KSchG; wichtiger Grund<br />

i.S.d. § 626 BGB) zu berücksichtigen. Dadurch wird verhindert, dass ein zweigleisiger<br />

Kündigungsschutz besteht – zum einen über das AGG, zum anderen<br />

über die Kündigungsschutzregelungen. (RÜ 4/2012, S. 226 f.)<br />

11. Eine Kündigung ist verhaltensbedingt, wenn der Arbeitnehmer eine Vertragspflicht<br />

– i.d.R. schuldhaft – erheblich verletzt hat. Eine Kündigung ist personenbedingt,<br />

wenn der Arbeitnehmer aufgrund mangelnder persönlicher<br />

Eignung oder seiner persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften nicht mehr<br />

in der Lage ist, künftig seine arbeitsvertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen.<br />

Daher liegt der Unterschied in der Steuerbarkeit der Umstände seitens des Arbeitnehmers.<br />

Ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund liegt vor, wenn der<br />

Arbeitnehmer nicht will, ein personenbedingter dagegen, wenn der Arbeitnehmer<br />

nicht kann. (RÜ 4/2012, S. 227)<br />

12. Aufseiten des Arbeitgebers sind bei der Abwägung u.a. die Erheblichkeit<br />

der Pflichtverletzung, das Verschulden des Arbeitnehmers, die durch die<br />

Pflichtverletzung verursachte Betriebsstörung und die Beharrlichkeit der Pflichtverletzung<br />

zu berücksichtigen. Demgegenüber kommt es aufseiten des Arbeitnehmers<br />

auf sein früheres Verhalten, ein etwaiges Mitverschulden des Arbeitgebers<br />

sowie das Lebensalter und die Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers<br />

an. (RÜ 4/2012, S. 229 f.)


Strafrecht<br />

1. Unter welchen Voraussetzungen<br />

kommt bei der Prüfung eines strafbefreienden<br />

Rücktritts nach § 24 StGB<br />

eine (mehrfache) Korrektur des Rücktrittshorizonts<br />

in Betracht?<br />

2. Erliegt der Rechtspfleger einem<br />

Irrtum i.S.d. § 263 Abs. 1 StGB, wenn<br />

er einen Mahnbescheid über eine<br />

nur behauptete, tatsächlich aber<br />

nicht vorliegende Forderung erlässt?<br />

3. Können Tagebuchaufzeichnungen<br />

in einem Strafprozess als belastendes<br />

Beweismittel verwertet werden?<br />

4. Sind diese Grundsätze auf nicht<br />

öffentlich geführte Selbstgespräche<br />

übertragbar?<br />

5. Kann eine Notwehrprovokation<br />

gemäß § 229 oder § 222 StGB strafbar<br />

sein, auch wenn sie die Gebotenheit<br />

der Notwehr nicht ausschließt?<br />

6. Was versteht man im Strafrecht<br />

unter einem „anderen gefährlichen<br />

Werkzeug“?<br />

Check<br />

1. Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch richtet<br />

sich nach dem Vorstellungsbild des Täters nach Abschluss der letzten von ihm<br />

vorgenommenen Ausführungshandlung, dem sog. Rücktrittshorizont. Wechselt<br />

das Vorstellungsbild des Täters nach Abschluss der letzten Tathandlung in<br />

engstem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang – nach der Rechtsprechung<br />

etwa 10 Minuten – mehrfach, so kommt auch eine mehrfache Korrektur<br />

des Rücktrittshorizontes sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Täters<br />

in Betracht. (RÜ 4/2012, S. 232 f.)<br />

2. Nach der Rechtsprechung geht der Rechtspfleger aufgrund der prozessualen<br />

Wahrheitspflicht zumindest von der Richtigkeit der behaupteten Forderung<br />

aus, unterliegt also einem Irrtum. Teile der Literatur meinen demgegenüber,<br />

dass allein die fehlende Überzeugung von der Unwahrheit einen Irrtum<br />

nicht zu begründen vermag. (RÜ 4/2012, S. 235 f.)<br />

3. Tagebücher mit Äußerungen aus dem Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung<br />

sind unverwertbar. Dies folgt aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.<br />

Andere Tagebuchaufzeichnungen können verwertet werden, wenn eine Abwägung<br />

des Individualinteresses und des Aufklärungsinteresses dies gebieten.<br />

Zulässig ist die Verwertung von intimen Aufzeichnungen, die in einem unmittelbaren<br />

Bezug zur konkreten schweren Straftat steht, z.B. wenn mit der Tat<br />

geprahlt wird. (RÜ 4/2012, S. 237 f.)<br />

4. Der BGH verneint eine Übertragbarkeit der Grundsätze zu Tagebüchern auf<br />

Selbstgespräche. Diese Form der „Selbstkommunikation“ ist dem Kernbereich<br />

persönlicher Lebensgestaltung zugeordnet. Auf den Inhalt der Gedankenäußerung<br />

kommt es nicht an. Sie ist nie verwertbar. (RÜ 4/2012, S. 238 f.)<br />

5. Nach bisheriger Rechtsprechung kann eine fahrlässige Provokation der Notwehr<br />

gemäß §§ 222, 229 StGB strafbar sein. Ist die Provokation jedoch weder<br />

fahrlässig noch sonst sozialethisch zu missbilligen, scheitert eine Strafbarkeit<br />

am Fehlen einer Sorgfaltspflichtverletzung. Nach einem Teil der Literatur<br />

scheidet auch in diesem Fall eine Strafbarkeit aus, weil der provozierte Angreifer<br />

sich eigenverantwortlich selbst gefährde und deshalb die objektive Zurechnung<br />

zwischen der Provokationshandlung und der durch die Verteidigung<br />

verursachten Verletzung ausgeschlossen sei. (RÜ 4/2012, S. 240 f.)<br />

6. Bei den § 224 Abs. 1 Nr. 2 und § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB kommt es darauf an,<br />

ob der Gegenstand nach seiner Beschaffenheit und der Art seiner konkreten<br />

Verwendung geeignet ist, erhebliche Verletzungen zu verursachen. Im Übrigen<br />

wird, soweit lediglich das Beisichführen vorausgesetzt wird, ein Rückgriff<br />

auf die vorgenannten Kriterien für nicht möglich gehalten. Die Auslegung ist<br />

jedoch umstritten. Überwiegend wird für eine einschränkende Auslegung auf<br />

abstrakt-objektive Kriterien für einen Vergleich mit dem Waffenbegriff abgestellt,<br />

nach a.A. auf eine konkret-objektive Betrachtung. Andere wollen auf<br />

konkret-subjektive Kriterien oder abstrakt-subjektive Maßstäbe, also die generell<br />

bzw. im Einzelfall beabsichtigte Verwendung, abstellen.<br />

(RÜ 4/2012, S. 242)<br />

271


Öffentliches Recht<br />

1. Wieso hat der Bürger keinen Anspruch<br />

auf Entscheidung über die<br />

Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten?<br />

2. Ist der Gesetzgeber berechtigt,<br />

Verhaltensweisen, die Risken für die<br />

eigene Gesundheit begründen, zu<br />

verbieten?<br />

3. Was ist Rechtsgrundlage für die<br />

Zuteilung bzw. Änderung einer Hausnummer?<br />

4. Unter welchen Voraussetzungen<br />

kann der Anlieger ein Abwehrrecht<br />

gegen die Änderung einer Hausnummer<br />

geltend machen?<br />

6. Welcher Rechtsweg ist bei polizeilichen<br />

Ingewahrsamnahmen eröffnet?<br />

7. Nennen Sie die wichtigsten Ausprägungen<br />

des Rechtsstaatsprinzips!<br />

272<br />

Check<br />

1. Die Vorschriften der Anlage 6 zur GO BT sind bloßes Parlamentsinnenrecht<br />

und begründen kein Antragsrecht für Dritte. Auch aus Art. 46 Abs. 2 GG lässt<br />

sich ein solcher Anspruch nicht herleiten. Die Vorschrift schützt die Arbeitsund<br />

Funktionsfähigkeit des Parlaments und begründet kein subjektives Recht<br />

des Bürgers. Auch aus Art. 3 Abs. 1 GG lässt sich grundsätzlich kein originärer<br />

Leistungsanspruch herleiten. Ebenso erfolgt die Durchsetzung des staatlichen<br />

Strafanspruchs (Art. 20 Abs. 3 GG) nur im Interesse der Allgemeinheit, nicht im<br />

Interesse eines Einzelnen. (RÜ 4/2012, S. 245 ff.)<br />

2. Ein entsprechendes Verbot greift in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG<br />

ein. Dieser ist gegenständlich nicht beschränkt, er umfasst jedes menschliche<br />

Verhalten ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht ihm für die Persönlichkeitsentfaltung<br />

zukommt. Auch ein Verhalten, das Risiken für die eigene Gesundheit<br />

oder gar deren Beschädigung in Kauf nimmt, ist daher vom Grundrecht<br />

der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützt. Entsprechende Verbote sind<br />

allerdings im Rahmen der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung gerechtfertigt,<br />

wenn der Gesetzgeber ein legitimes Ziel verfolgt und die Regelung<br />

geeignet, erforderlich und angemessen ist. (RÜ 4/2012, S. 250 f.)<br />

3. § 126 Abs. 3 BauGB begründet nur die Verpflichtung zur Anbringung einer<br />

Hausnummer, setzt aber eine nach anderen Vorschriften erfolgte behördliche<br />

Zuteilungsentscheidung voraus. Teilweise finden sich im Landesrecht spezielle<br />

Rechtsgrundlagen (z.B. Art. 52 Abs. 2 BayStrWG, § 20 Abs. 2 HWG), im Übrigen<br />

ist Ermächtigungsgrundlage die ordnungsrechtliche Generalklausel. Da die<br />

Zuteilung einer Hausnummer eine rein ordnungsrechtliche Aufgabe ist und<br />

dem Betroffenen keine begünstigende Rechtsposition vermittelt wird, finden<br />

auf die Änderung der Hausnummer die Vorschriften über den Widerruf begünstigender<br />

Verwaltungsakte (§ 49 Abs. 2 VwVfG) keine Anwendung.<br />

(RÜ 4/2012, S. 253 ff.)<br />

4. Aufgrund der ordnungsrechtlichen Funktion der Zuteilung einer Hausnummer<br />

kommt ihr weder im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 GG noch Art. 2 Abs. 1<br />

GG eine drittschützende Funktion zu. Anders als bei der Straßenumbenennung,<br />

bei der überwiegend ein Anspruch des Anliegers auf ermessensfehlerfreie<br />

Entscheidung unter Einbeziehung seiner Belange bejaht wird, steht bei<br />

der Vergabe von Hausnummern der ordnungsrechtliche Gesichtspunkt so<br />

sehr im Vordergrund steht, dass die Interessen der Anlieger eindeutig zurücktreten<br />

und ein Abwehrrecht grds. nicht besteht (RÜ 4/2012, S. 254)<br />

6. Für die Überprüfung der Zulässigkeit und der Fortdauer der Ingewahrsamnahme<br />

ist in allen Ländern die Zuständigkeit des Amtsgerichts im Verfahren<br />

nach §§ 415 ff. FamFG begründet. Dies gilt in einigen Ländern ausdrücklich<br />

auch für erledigte Maßnahmen (z.B. Art. 18 Abs. 3 PAG Bay, § 31 Abs. 3 ASOG<br />

Bln). In den übrigen Ländern wird die Sonderzuweisung bei erledigten Freiheitsentziehungen<br />

zum Teil analog angewendet, andere bejahen hierfür den Verwaltungsrechtsweg<br />

nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Auch bei Maßnahmen während<br />

des Gewahrsams (hinsichtlich dessen Art und Weise) wird teilweise aufgrund der<br />

Sachnähe die Sonderzuweisung analog angewendet, während die Gegenansicht<br />

den Verwaltungsrechtsweg bejaht.<br />

(RÜ 4/2012, S. 257)<br />

7. Die wichtigsten Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzip sind: die Gewaltenteilung<br />

(Art. 20 Abs. 2 S. 2, 3. Fall GG), die Rechts- und Gesetzesbindung (Art. 20<br />

Abs. 3 GG), die Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG), effektiver Rechtsschutz<br />

(Art. 19 Abs. 4 GG), die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit staatlicher<br />

Maßnahmen, das Vertrauensschutzprinzip, die Unabhängigkeit der Gerichte und<br />

Richter (Art. 92, 97 GG), ein faires Gerichtsverfahren u.a.m. (RÜ 4/2012, S. 261 ff.)


Herleitung<br />

� Art. 20 Abs. 1 GG:<br />

„demokratischer … Bundesstaat“<br />

� Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG:<br />

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“<br />

� Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG:<br />

„demokratischen … Grundsätzen“<br />

� Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG:<br />

„demokratischen … Rechtsstaates“<br />

Ausprägungen<br />

� Träger der Staatsgewalt ist das Volk<br />

(Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG)<br />

� Ausübung der Staatsgewalt<br />

� Wahlen<br />

– allgemein, unmittelbar, frei, gleich, geheim<br />

(Art. 38 Abs. 1 S. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG)<br />

– periodisch (Herrschaft auf Zeit)<br />

� Abstimmungen<br />

– auf Bundesebene nur, soweit im GG vorgesehen<br />

– auf Landesebene Volksbefragung, Volksbegehren,<br />

Volksentscheid zulässig<br />

� durch besondere Organe der Gesetzgebung, der<br />

vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung<br />

(repräsentative Demokratie)<br />

– ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu<br />

den Staatsorganen<br />

– Gesetzesbindung und Bindung der Regierung an<br />

Weisungen des Parlaments<br />

� Demokratische Willensbildung<br />

� Mehrheitsprinzip mit Minderheitenschutz<br />

� vom Volk zu den Staatsorganen<br />

(„von unten nach oben“)<br />

– Pflicht des Staates und seiner Organe zur parteipolitischen<br />

Neutralität: keine Wahlwerbung durch<br />

Staatsorgane, aber Öffentlichkeitsarbeit zulässig<br />

– Staatsfreiheit der Parteien: keine vollständige oder<br />

verdeckte Parteienfinanzierung durch den Staat<br />

� Mehrparteiensystem mit legaler Opposition<br />

� Demokratische Grundrechte<br />

(u.a. Art. 5 Abs. 1, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 GG)<br />

<strong>Staatsstrukturprinzipien</strong><br />

Demokratie Rechtsstaat Bundesstaat<br />

Herleitung<br />

� Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG:<br />

„rechtsstaatlichen … Grundsätzen“<br />

� Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG:<br />

„Rechtsstaates“<br />

� Art. 20 Abs. 2 S. 2, 3. Fall GG:<br />

Gewaltenteilung<br />

� Art. 20 Abs. 3 GG:<br />

Bindung an Recht und Gesetz<br />

Ausprägungen<br />

� Gewaltenteilung<br />

� nach Funktionen: Legislative, Exekutive, Judikative<br />

� wechselseitige Begrenzung und Kontrolle der<br />

Machtausübung („checks and balances“)<br />

� Inkompatibilität<br />

� Durchbrechungen zulässig bei besonderem sachlichem<br />

Grund, aber kein Eingriff in den Kernbereich<br />

� Rechtsbindung<br />

� Legislative: verfassungsmäßige Ordnung<br />

� Exekutive und Judikative: Gesetz und Recht<br />

– Vorrang des Gesetzes: kein Handeln gegen Gesetz<br />

– Vorbehalt des Gesetzes: kein Handeln ohne Gesetz<br />

� Bindung an Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG)<br />

� Effektiver Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4, 101, 103, 104 GG)<br />

� Bestimmtheit, insbes. Grundsatz der Normenklarheit<br />

� Verhältnismäßigkeit<br />

(geeignet, erforderlich und angemessen)<br />

� Vertrauensschutz<br />

� echte Rückwirkung grundsätzlich unzulässig, nur<br />

zulässig, wenn Vertrauen des Bürgers ausnahmsweise<br />

nicht schutzwürdig<br />

� unechte Rückwirkung grundsätzlich zulässig, ausnahmsweise<br />

unzulässig, wenn Vertrauensinteresse<br />

überwiegt<br />

� Verbot von Einzelfallgesetzen<br />

(Art. 19 Abs. 1 S. 1, 19 Abs. 4 GG)<br />

� Unabhängigkeit der Gerichte und Richter<br />

(Art. 92, 97 GG)<br />

� Faires Gerichtsverfahren<br />

(Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG)<br />

Herleitung<br />

� Art. 20 Abs. 1 GG:<br />

„Bundesstaat“<br />

� Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG:<br />

„föderativen Grundsätzen“<br />

� Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG:<br />

„ … in den Ländern“<br />

� Zuständigkeitsverteilung auf Bund und Länder in<br />

Art. 30, 70 ff., 83 ff., 92 ff., 104 a ff. GG<br />

Ausprägungen<br />

� Aufteilung in Zentralstaat (Bund) und Gliedstaaten<br />

(Länder)<br />

� Einschränkungen der Eigenstaatlichkeit der Länder<br />

� Homogenitätsprinzip (Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG)<br />

� grundsätzlich keine Landesbefugnisse nach außen<br />

� Aufsichtsbefugnisse und Einwirkungsrechte des<br />

Bundes (insbes. Art. 37, 84 ff. GG)<br />

� Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern<br />

� für konkrete Aufgaben<br />

(z.B. Art. 32 Abs. 1, Art. 84 Abs. 1 GG)<br />

� für bestimmte Aufgabenbereiche<br />

– Gesetzgebung, Art. 70 ff. GG<br />

– Verwaltung, Art. 83 ff. GG<br />

– Rechtsprechung, Art. 92 ff. GG<br />

– Finanzwesen, Art. 104 a ff. GG<br />

� Auffangtatbestand, Art. 30 GG<br />

� Einwirkungsmöglichkeiten der Länder auf den<br />

Bund, insbes. durch den Bundesrat (Art. 50 GG)<br />

� Gesetzgebung (Art. 77 Abs. 2 ff. GG)<br />

� Verwaltung (z.B. Art. 84 Abs. 2, 85 Abs. 2 GG)<br />

� Europäische Union (Art. 23, 52 Abs. 3a GG)<br />

� Bundesrecht bricht Landesrecht (Art. 31 GG)<br />

� Bundestreue<br />

(Gebot zu bundesfreundlichem Verhalten)<br />

� keine selbstständigen Rechte und Pflichten<br />

� gegenseitige Rücksichtnahme und Nebenpflichten<br />

(Information, Abstimmung, Zusammenarbeit)<br />

Sozialstaat<br />

Herleitung<br />

� Art. 20 Abs. 1 GG:<br />

„sozialer Bundesstaat“<br />

� Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG:<br />

„sozialen … Grundsätzen“<br />

� Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG:<br />

„sozialen Rechtsstaates“<br />

Ausprägungen<br />

� Schaffung und Erhaltung sozialer Gerechtigkeit<br />

� Herstellung tatsächlicher Chancengleichheit<br />

� Schutz der Schwachen vor den Starken<br />

� Schaffung und Erhaltung sozialer Sicherheit<br />

� Einrichtungen zur Daseinshilfe in Notsituationen<br />

� Anspruch auf menschenwürdiges Existenzminimum<br />

(i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)<br />

Republik<br />

Herleitung<br />

� Art. 20 Abs. 1 GG:<br />

„Bundesrepublik Deutschland“<br />

� Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG:<br />

„republikanischen … Rechtsstaates“<br />

Ausprägungen<br />

Staatsoberhaupt<br />

� nicht aufgrund familien- oder erbrechtlicher Umstände<br />

� nicht auf Lebenszeit

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!