Staatsstrukturprinzipien - Alpmann Schmidt
Staatsstrukturprinzipien - Alpmann Schmidt
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Rechtsprechungs<br />
Übersicht<br />
H 5354 E<br />
Mit AS-Poster<br />
<strong>Staatsstrukturprinzipien</strong><br />
IHRE EXAMENSFÄLLE VON MORGEN<br />
BGH Beschädigung von Sachen des Bestellers bei der Erstellung<br />
eines Werks<br />
BGH Haftung der Bahn für glatten Bahnsteig<br />
BGH Kein unmittelbarer Anspruch des Käufers auf Ersatz der Ausbaukosten<br />
einer mangelhaften Sache<br />
BGH Fehlerhafte Ankaufsuntersuchung beim Pferdekauf<br />
BGH Einziehung von Schadensersatzansprüchen durch Mietwagenunternehmer<br />
BAG Kündigung des Chefarztes einer katholischen Klinik wegen<br />
Wiederverheiratung<br />
BGH Wiederholte Korrektur des Rücktrittshorizonts zuungunsten des<br />
Täters nur bei engstem Zusammenhang zur Tathandlung<br />
BGH, OLG Celle Erwirkung eines Mahnbescheides mittels falscher Angaben<br />
BGH Absolute Unverwertbarkeit abgehörter Selbstgespräche<br />
OVG Berlin- Kein Anspruch eines Privaten auf Aufhebung der Immunität<br />
Brandenburg eines Abgeordneten<br />
BVerfG Sonnenstudioverbot für Minderjährige<br />
BayVGH Kein Anspruch auf Beibehaltung der Hausnummer<br />
BayVGH Rechtswidrigkeit des mehrstündigen Festhaltens in einem<br />
Polizeibus<br />
Seiten 205–272<br />
ISSN 0178-0689<br />
Herausgeber: Josef <strong>Alpmann</strong>, Annegerd <strong>Alpmann</strong>-Pieper, Dr. Rolf Krüger, Horst Wüstenbecker<br />
ALPMANN SCHMIDT Juristische Lehrgänge Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG<br />
4/12
Zivilrecht<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
BGH, Urt. v. 08.12.2011 – VII ZR 198/10<br />
§§ 280, 281 BGB<br />
Beschädigung von Sachen des Bestellers bei der Erstellung eines Werks 205<br />
BGH, Urt. v. 17.01.2012 – X ZR 59/11<br />
§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 278 BGB<br />
Haftung der Bahn für glatten Bahnsteig 208<br />
BGH, Urt. v. 21.12.2011 – VIII ZR 70/08<br />
§ 439 BGB<br />
Kein unmittelbarer Anspruch des Käufers auf Ersatz der Ausbaukosten einer mangelhaften Sache 211<br />
BGH, Urt. v. 26.01.2012 – VII ZR 164/11<br />
§§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 BGB<br />
Fehlerhafte Ankaufsuntersuchung beim Pferdekauf 217<br />
BGH, Urt. v. 31.01.2012 – VI ZR 143/11<br />
§ 134 BGB; §§ 2, 3, 5 RDG<br />
Einziehung von Schadensersatzansprüchen durch Mietwagenunternehmer 221<br />
BAG, Urt. v. 08.09.2011 – 2 AZR 543/10<br />
§ 1 KSchG, §§ 1, 7, 9 AGG<br />
Kündigung des Chefarztes einer katholischen Klinik wegen Wiederverheiratung 225<br />
Strafrecht<br />
BGH, Urt. v. 01.12.2011 – 3 StR 337/11<br />
§§ 22, 23, 24, 212 StGB<br />
Wiederholte Korrektur des Rücktrittshorizonts zuungunsten des Täters nur bei engstem<br />
Zusammenhang zur Tathandlung 231<br />
BGH, Beschl. v. 20.12.2011 – 4 StR 491/11<br />
OLG Celle, Beschl. v. 01.11.2011 – 31 Ss 29/11<br />
§ 263 StGB; §§ 138, 691 ZPO<br />
Erwirkung eines Mahnbescheides mittels falscher Angaben 234<br />
BGH, Urt. v. 22.12.2011 – 2 StR 509/10<br />
Art. 1, 2 GG; § 100 f StPO<br />
Absolute Unverwertbarkeit abgehörter Selbstgespräche 237<br />
Aktuelle Diskussion<br />
Notwehr im Showdown 240<br />
Das „mitgeführte“ gefährliche Werkzeug 242<br />
Öffentliches Recht<br />
OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 26.09.2011 – 3 a B 5.11<br />
Art. 3 Abs. 1; 38 Abs. 1 S. 2; 46 Abs. 2 GG; § 40 VwGO; § 17a Abs. 5 GVG; § 383 StPO<br />
Kein Anspruch eines Privaten auf Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten 243<br />
BVerfG, Beschl. v. 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10<br />
Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 GG; § 4 NiSG<br />
Sonnenstudioverbot für Minderjährige 248
Inhaltsverzeichnis<br />
BayVGH, Urt. v. 06.12.2011 – 8 ZB 11.1676<br />
Art. 2 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG, § 126 Abs. 3 BauGB<br />
Kein Anspruch auf Beibehaltung der Hausnummer 252<br />
BayVGH, Urt. v. 27.01.2012 – 10 B 08.2849<br />
Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 u. Abs. 2, Art. 19 Abs. 4 GG; § 17 a GVG; Polizeirecht<br />
Rechtswidrigkeit des mehrstündigen Festhaltens in einem Polizeibus 256<br />
Repetitorium<br />
<strong>Staatsstrukturprinzipien</strong> in der Klausur 261<br />
Check 269<br />
Impressum<br />
RÜ-RechtsprechungsÜbersicht<br />
Redaktion: <strong>Alpmann</strong> und <strong>Schmidt</strong>, Juristische Lehrgänge,<br />
Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Annette-Allee 35, 48149 Münster,<br />
Tel. (0251) 98109-0, Fax (0251) 98109-60<br />
Verantwortliche Redakteure: Josef <strong>Alpmann</strong>, Annegerd <strong>Alpmann</strong>-<br />
Pieper, Dr. Rolf Krüger, Horst Wüstenbecker<br />
Autoren: Zivilrecht: RA Josef <strong>Alpmann</strong>, RAin u. Notarin Annegerd<br />
<strong>Alpmann</strong>-Pieper, RAin Claudia Haack, RA Dr. Timm Nissen, RA Dr.<br />
Thomas Roßmann, RA Dr. Till Veltmann; Strafrecht: Vors. RiLG Olaf<br />
Klimke, RA/FAStR Dr. Rolf Krüger, StA Dr. Matthias Modrey, RiLG Dr.<br />
Hans-Wilhelm Oymann, StA Dr. Patrick Rieck, RA Dr. Wilhelm-Friedrich<br />
Schneider, RA Christian Sommer, StA Dr. Martin Soyka; Öffent liches<br />
Recht: RA Ralf Altevers, RA Robert Gründer, RA Frank Hansen, RA<br />
Thomas Müller, RA Horst Wüstenbecker<br />
Urheber- und Verlagsrechte: Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten<br />
Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere<br />
die der Übersetzung in fremde Sprachen, sind vorbehalten. Kein<br />
Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages<br />
in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilme oder andere<br />
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dür fen nur von einzelnen Beiträgen und Teilen daraus als Einzelkopien<br />
hergestellt werden.<br />
Die Verlagsrechte erstrecken sich auch auf die veröffentlichten Gerichtsentscheidungen<br />
und deren Leitsätze, die urheberrechtlichen<br />
Schutz genießen, soweit sie vom Einsender oder von der Schriftleitung<br />
redigiert bzw. erarbeitet sind.<br />
Verlag: <strong>Alpmann</strong> und <strong>Schmidt</strong>, Juristische Lehrgänge,<br />
Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Annette-Allee 35, 48149 Münster,<br />
Postfach 1169, 48001 Münster, Tel. (0251) 98109-0, Fax (0251) 98109-60<br />
Internet: www.alpmann-schmidt.de<br />
E-Mail: as.info@alpmann-schmidt.de<br />
ISSN 0178-0689<br />
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§§ 280, 281 BGB<br />
Rechtsprechung<br />
RÜ 4/2012<br />
Beschädigung von Sachen des Bestellers bei der Erstellung<br />
eines Werks<br />
BGH, Urt. v. 08.12.2011 – VII ZR 198/10<br />
Fall<br />
Die Klägerin verlangt Werklohn für Trocknungsarbeiten anlässlich eines von<br />
der Beklagten verursachten Wasserschadens. Die Parteien streiten darüber, ob<br />
die Beklagte mit einem Schadensersatzanspruch aufrechnen kann.<br />
Die Beklagte führte im Rahmen der Errichtung eines Alten- und Pflegeheimes<br />
Installationsarbeiten aus. Nachdem es zu einem Wasserschaden gekommen<br />
war, beauftragte sie im Juli 2008 die Klägerin mit den Trocknungsarbeiten. Zur<br />
Trocknung des Fußbodenaufbaus (schwimmender Estrich auf Betondecken)<br />
schnitt die Klägerin in den gefliesten Bädern die Silikonfugen sowie die dahinter<br />
befindliche Dichtungsschicht zwischen Fußboden und aufgehenden<br />
Wänden auf. Über die geöffneten Randfugen strömte in die Dämmschichten<br />
trockene Luft, die die Klägerin durch ein jeweils im Zentrum des Raumes in<br />
den gefliesten Fußboden gebohrtes Loch wieder absaugte. Die Trocknungsarbeiten<br />
waren erfolgreich. Der Klägerin steht ein Werklohn von 62.453,77 € zu.<br />
Zur Trocknung war das komplette Aufschneiden der Silikonfugen nicht erforderlich,<br />
es hätte ausgereicht, in den Bädern an jeder Ecke die Bodenfliesen zu<br />
durchbohren. Die Beklagte rechnet mit den Kosten für die Wiederherstellung<br />
fachgerechter Fugen zwischen Fußboden und aufgehenden Wänden i.H.v.<br />
31.440,77 € als Schadensersatzanspruch auf.<br />
Besteht der von der Beklagten geltend gemachte Schadensersatzanspruch?<br />
Entscheidung<br />
I. Der Beklagten kann gegen die Klägerin ein Schadensersatzanspruch aus<br />
§§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 u. 3, 281 BGB zustehen.<br />
1. Dann müssten die Parteien einen Werkvertrag abgeschlossen haben. Gemäß<br />
§ 631 Abs. 2 BGB ist der Werkvertrag auf einen herbeizuführenden Erfolg<br />
gerichtet. Die Klägerin ist damit beauftragt worden, den Fußbodenaufbau in<br />
dem Alten- und Pflegeheim zu trocknen. Die Parteien haben damit einen Werkvertrag<br />
geschlossen.<br />
2. Das von der Klägerin hergestellte Werk müsste mangelhaft sein.<br />
Da die Trocknungsarbeiten erfolgreich waren, hat die Klägerin ihre Verpflichtung<br />
zur Herstellung des Werks aus § 631 Abs. 1, 1. Halbs. BGB erfüllt.<br />
Gemäß § 633 Abs. 1 BGB war die Klägerin weiterhin verpflichtet, das Werk frei<br />
von Sach- und Rechtsmängeln zu erstellen. Eine Beschaffenheitsvereinbarung<br />
i.S.d. § 633 Abs. 2 S. 1 BGB haben die Parteien nicht getroffen. Auch die vertraglich<br />
vorausgesetzte Beschaffenheit ist eingehalten (§ 633 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 BGB),<br />
weil der Fußbodenaufbau trocken ist. Die Art und Weise der Herstellung gehört<br />
nicht zur Beschaffenheit des Werks. Das Werk – die Trocknung – eignet<br />
sich auch für die gewöhnliche Verwendung i.S.d. § 633 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 BGB.<br />
Das von der Klägerin hergestellte Werk ist nicht mangelhaft. Der Werkvertrag<br />
ist auf die Herstellung eines Erfolgs gerichtet und dieser Erfolg ist hier uneingeschränkt<br />
und damit mangelfrei eingetreten.<br />
Leitsatz<br />
Wählt ein Unternehmer, der nach einem<br />
Wasserschaden in einem Gebäude damit<br />
beauftragt ist, den Fußbodenaufbau<br />
zu trocknen, und zu diesem Zweck den<br />
Fliesenbelag öffnen muss, eine Trocknungsmethode,<br />
die zu größeren Schäden<br />
am Gebäude als erforderlich führt,<br />
ist der Schadensersatzanspruch des Bestellers<br />
nicht davon abhängig, dass er<br />
dem Unternehmer eine Frist zur Nacherfüllung<br />
gesetzt hat.<br />
205
206<br />
RÜ 4/2012<br />
Rechtsprechung<br />
Ein Anspruch aus §§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 u. 3, 281 BGB besteht nicht.<br />
II. Ein Anspruch der Beklagten gegen die Klägerin auf Schadensersatz kann<br />
sich aus § 280 Abs. 1 BGB ergeben.<br />
1. Mit dem Werkvertrag besteht zwischen den Parteien ein Schuldverhältnis.<br />
2. Die Klägerin müsste eine Pflicht verletzt haben. Nach § 241 Abs. 2 BGB besteht<br />
die Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf die Rechtsgüter des Vertragspartners.<br />
Diese Pflicht hat die Klägerin verletzt, indem sie eine Trocknungsmethode<br />
gewählt hat, die zu größeren Schäden am Gebäude führt, als für die<br />
Trocknung erforderlich war.<br />
„[9] Handelt es sich, wie das Berufungsgericht und die Revisionserwiderung meinen,<br />
um die Verletzung einer Schutzpflicht im Sinne von § 241 Abs. 2 BGB, folgt der<br />
Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB. Er setzt eine Fristsetzung nicht voraus<br />
und steht der Beklagten ohne weiteres zu.<br />
[10] 3. Geht man davon aus, dass es sich um die Verletzung einer Leistungspflicht<br />
handelt und das von der Klägerin geschuldete Werk mangelhaft war, scheitert der<br />
Schadensersatzanspruch der Beklagten nicht daran, dass eine Frist zur Mängelbeseitigung<br />
nicht gesetzt worden ist. Denn eine solche Fristsetzung war entbehrlich,<br />
weil der geltend gemachte Schaden durch eine Nacherfüllung nicht mehr beseitigt<br />
werden konnte.<br />
[11] a) Die Klägerin war von der Beklagten beauftragt worden, den Fußboden in<br />
den von dem Wasserschaden betroffenen Bädern zu trocknen. Die Durchführung<br />
der Trocknung, das Zu- und Abführen von Luft im Fußbodenbereich, setzte dabei<br />
zwingend voraus, dass der Fliesenbelag geöffnet wurde. Diese von der Klägerin<br />
vorzunehmenden Eingriffe in die Bausubstanz waren nach den Feststellungen des<br />
Berufungsgerichts unvermeidlich. Besondere Vereinbarungen über die Art dieser<br />
Eingriffe hatten die Parteien nicht getroffen. Die Klägerin schuldete daher nach<br />
allgemeinen Auslegungsgrundsätzen eine Maßnahme, die einerseits für eine effiziente<br />
Trocknung geeignet war und die andererseits möglichst geringe Eingriffe in<br />
die Bausubstanz erforderte. Diese schonendste Maßnahme hätte hier darin bestanden,<br />
in den Bädern in jeder Ecke die Bodenfliesen zu durchbohren. Die von der<br />
Klägerin gewählte und ausgeführte Methode führte demgegenüber zu größeren<br />
Schäden, insbesondere zu der Durchtrennung der Feuchtigkeitsschutzfolie.<br />
[12] b) Der Schaden, den die Beklagte durch diese Vorgehensweise der Klägerin erlitten<br />
hat, kann durch eine Nacherfüllung nicht mehr beseitigt werden. Die Pflichtverletzung<br />
der Klägerin besteht in der Wahl einer die Bausubstanz mehr als notwendig<br />
schädigenden Trocknungsmaßnahme. Sie kann nicht dadurch ungeschehen<br />
gemacht und der entstandene Schaden beseitigt werden, dass die ordnungsgemäße<br />
Erfüllungsleistung – das Öffnen des Bodens in den vier Ecken der Bäder –<br />
nachgeholt wird. Der Zweck der Fristsetzung, dem Unternehmer eine letzte Gelegenheit<br />
einzuräumen, das noch mit Mängeln behaftete Werk in den vertragsgemäßen<br />
Zustand zu versetzen, ehe an deren Stelle die ihn finanziell regelmäßig<br />
mehr belastenden anderen Mängelansprüche treten, war hier nicht mehr zu erreichen.<br />
Der Bundesgerichtshof hat zum alten Schuldrecht bereits entschieden, dass<br />
bei einer derartigen Sachlage die Setzung einer Frist zur Nachbesserung nicht in<br />
Betracht kommt (Urteil vom 7. November 1985 – VII ZR 270/83, BGHZ 96, 221, 226;<br />
vgl. auch Urteil vom 16. Oktober 1984 – X ZR 86/83, BGHZ 92, 308, 310). Daran hat<br />
sich durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts nichts geändert.“<br />
3. Die Klägerin hat sich nicht gemäß § 280 Abs. 1 S. 2 BGB entlastet.<br />
4. Sie ist verpflichtet, den durch die Pflichtverletzung entstandenen Schaden<br />
zu ersetzen.
Rechtsprechung<br />
Der BGH argumentiert anders als die hier vertretene Lösung. Das hat seinen<br />
Grund in dem Verfahrensablauf. Das Berufungsgericht hat – wie in der obigen<br />
Lösung – die Verletzung einer Rücksichtnahmepflicht und einen Anspruch aus<br />
§ 280 Abs. 1 BGB bejaht. Die Revision hat dagegen vorgetragen, dass das von<br />
der Klägerin geschuldete Werk mangelhaft gewesen sei. Ein Anspruch der Beklagten<br />
gegen die Klägerin bestehe nicht, da der Klägerin keine Frist zur Nacherfüllung<br />
gesetzt worden war. Für die Zurückweisung der Revision waren<br />
mehrere Begründungswege möglich. Der Senat konnte die Ansicht des Berufungsgerichts<br />
bestätigen. Er konnte sich aber auch die Ansicht der Revision<br />
teilweise zu eigen machte und unterstellen, dass das von der Klägerin geschuldete<br />
Werk mangelhaft war. Auch in diesem Fall wäre eine Fristsetzung zur<br />
Nacherfüllung entbehrlich, weil der geltend gemachte Schaden durch eine<br />
Nacherfüllung nicht mehr beseitigt werden konnte. Der Senat hat die letztere<br />
Begründung gewählt. In einem Revisionsurteil ist eine solche Argumentation<br />
zulässig – in einer Klausur nicht. In einem Klausurgutachten darf man nicht<br />
offenlassen, ob ein Gewährleistungsanspruch aus §§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 u. 3.<br />
281 BGB besteht, wenn das Werk (relativ offensichtlich) nicht mangelhaft ist<br />
und kein Schadensersatz statt der Leistung verlangt wird.<br />
Im vorliegenden Fall werden Sachen des Bestellers bei der Herstellung des<br />
Werkes beschädigt. Eine vergleichbare Konstellation, nämlich die Beschädigung<br />
von Sachen des Bestellers bei der Nachbesserung, ist schon häufiger<br />
entschieden worden – leider nur vor der Schuldrechtsreform. Dabei hat der<br />
BGH ausgeführt, dass der Schadensersatzanspruch des Bestellers in diesem<br />
Fall nicht an die Stelle der ursprünglichen Erfüllungsleistung tritt. Er bestehe<br />
vielmehr von vornherein neben dem Nachbesserungsanspruch und werde<br />
weder durch die Erfüllung noch durch die Nichterfüllung des Nachbesserungsanspruchs<br />
berührt (BGH, Urt. v. 07.11.1985 – VII ZR 270/83, BGHZ 96, 221,<br />
277; BGH, Urt. v. 16.10.1984 – X ZR 86/83, BGHZ 92, 308, 310). Beide Entscheidungen<br />
zitiert auch der VII. Senat in dem vorliegenden Urteil (Rdnr. 12 a.E.). Es<br />
hätte daher nahegelegen, das Urteil des Berufungsgerichts in seiner Begründung<br />
zu bestätigen und einen Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs.1 BGB<br />
mit der Verletzung einer Pflicht zur Rücksichtnahme zu begründen.<br />
Josef <strong>Alpmann</strong><br />
RÜ 4/2012<br />
207
208<br />
RÜ 4/2012<br />
§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 278 BGB<br />
Haftung der Bahn für glatten Bahnsteig<br />
BGH, Urt. v. 17.01.2012 – X ZR 59/11<br />
Leitsätze<br />
a) Auch nach der rechtlichen Trennung<br />
von Fahrbetrieb und Infrastruktur durch<br />
das Gesetz zur Neuordnung des Eisenbahnwesens<br />
vom 27. Dezember 1993<br />
(BGBl. I S. 2378, 1994 I S. 2439) ist ein Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />
aufgrund<br />
eines Beförderungsvertrags verpflichtet,<br />
diejenigen Bahnanlagen wie Bahnhöfe<br />
und Bahnsteige, die der Fahrgast vor und<br />
nach der Beförderung benutzen muss,<br />
verkehrssicher bereitzustellen. Wird diese<br />
vertragliche Nebenpflicht schuldhaft verletzt,<br />
haftet das Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />
gemäß § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2<br />
BGB.<br />
b) Werden die Bahnanlagen, die der Fahrgast<br />
für den Zu- und Abgang benutzen<br />
muss, durch ein Eisenbahninfrastrukturunternehmen<br />
bereitgestellt, bedient sich<br />
das Eisenbahnverkehrsunternehmen des<br />
Infrastrukturunternehmens als Erfüllungsgehilfen<br />
und hat dessen Verschulden in<br />
gleichem Umfang zu vertreten wie ein<br />
eigenes Verschulden (§ 278 BGB).<br />
§ 9 Abs. 3 lit. b) EVO<br />
(Eisenbahnverkehrsordnung)<br />
Der Reisende ist verpflichtet, Fahrausweise<br />
und sonstige Karten nach Beendigung<br />
der Fahrt bis zum Verlassen des<br />
Bahnsteigs einschließlich der Zu- und<br />
Abgänge aufzubewahren.<br />
§ 10 EVO<br />
Der Tarif kann bestimmen, dass Bahnsteige<br />
nur mit gültigem Fahrausweis betreten<br />
werden dürfen.<br />
§ 1 Abs. 1 HaftpflG<br />
Wird bei Betrieb einer Schienenbahn<br />
oder einer Schwebebahn ein Mensch<br />
getötet, der Körper oder die Gesundheit<br />
eines Menschen verletzt oder eine Sache<br />
beschädigt, so ist der Betriebsunternehmer<br />
den Geschädigten zum Ersatz des<br />
daraus entstehenden Schadens verpflichtet.<br />
Fall<br />
Rechtsprechung<br />
Die Klägerin begehrt von der Deutschen Bahn AG Schadensersatz wegen eines<br />
Sturzes aufgrund von Glatteis auf einem Bahnsteig. Die Klägerin erwarb<br />
bei der Deutschen Bahn AG einen Fahrausweis für eine Fahrt mit dem ICE von<br />
Solingen nach Dresden. Am 05.03.2006 stürzte die Klägerin auf dem Weg zum<br />
Zug auf dem Bahnsteig 1 des Bahnhofs Solingen-Ohligs (heute Solingen Hauptbahnhof)<br />
und verletzte sich dabei. Eigentümerin des Bahnhofs ist nicht die Beklagte,<br />
sondern die DB Station & Service AG, die der Deutschen Bahn AG die<br />
Benutzung des Bahnhofs vertraglich gestattet hatte. Steht der Klägerin ein Anspruch<br />
gegen die Deutsche Bahn AG zu?<br />
Entscheidung<br />
I. Die Klägerin könnte gegen die Deutsche Bahn AG einen Anspruch auf<br />
Schadensersatz gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB haben.<br />
1. Schuldverhältnis<br />
Zwischen der Klägerin und der Deutschen Bahn AG müsste im Zeitpunkt des<br />
schädigenden Ereignisses ein Schuldverhältnis bestanden haben. Die Klägerin<br />
hatte bei der Deutschen Bahn AG einen Fahrschein für eine Fahrt mit dem ICE<br />
gekauft und somit mit der Bahn einen Beförderungsvertrag geschlossen. Mithin<br />
bestand zwischen den Parteien ein vertragliches Schuldverhältnis.<br />
2. Pflichtverletzung<br />
Die Deutsche Bahn AG müsste ferner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis<br />
verletzt haben. Fraglich ist insoweit, ob ein Beförderungsunternehmen verpflichtet<br />
ist, für die Sicherheit der Fahrgäste auch auf den nicht selbst bewirtschafteten<br />
Bahnsteigen zu sorgen:<br />
„[10] 2. Ein Eisenbahnverkehrsunternehmen ist aufgrund eines Personenbeförderungsvertrags<br />
verpflichtet, die Beförderung so durchzuführen, dass der Fahrgast<br />
keinen Schaden erleidet. Dies betrifft zunächst den eigentlichen Beförderungsvorgang<br />
zwischen Ein- und Aussteigen. Ein Eisenbahnverkehrsunternehmen ist<br />
aufgrund eines Beförderungsvertrags darüber hinaus aber auch verpflichtet,<br />
dem Fahrgast einen sicheren Zu- und Abgang zu ermöglichen. Wird diese<br />
vertragliche Nebenpflicht schuldhaft verletzt, haftet das Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />
gemäß § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB.<br />
[11] a) Vor der Eisenbahnstrukturreform war in der Rechtsprechung anerkannt,<br />
dass das Eisenbahnunternehmen aufgrund des Beförderungsvertrags verpflichtet<br />
ist, für einen sicheren Zugang und Abgang des Fahrgastes zu sorgen, insbesondere<br />
von ihm bereitgestellte Anlagen wie Bahnsteige, die der Fahrgast vor und nach der<br />
Beförderung benutzen muss, verkehrssicher zu halten … Hieran hat sich durch die<br />
rechtliche Trennung von Fahrbetrieb und Infrastruktur durch das Gesetz zur Neuordnung<br />
des Eisenbahnwesens (ENeuOG) vom 27. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2378,<br />
1994 I S. 2439) nichts geändert.<br />
[12] b) Mit der rechtlichen Trennung von Fahrbetrieb und Infrastruktur wurden<br />
diese Teilbereiche dauerhaft verselbständigt und den einzelnen Bahnbetriebsunternehmern<br />
ein jeweils eigenständiger Gefahrenkreis zugeordnet, für den jeder im
Rechtsprechung<br />
Verhältnis der Bahnbetriebsunternehmer untereinander eigenständig die Verantwortung<br />
trägt (…). Trotz dieser Trennung verfügen Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />
und Eisenbahninfrastrukturunternehmen aber gemeinsam über den Eisenbahnbetrieb;<br />
ein reibungsloser Bahnverkehr ist nur durch ihr Zusammenwirken zu<br />
erreichen. Inhalt und Umfang der aus einem Eisenbahnbeförderungsvertrag folgenden<br />
Pflichten sind deshalb selbständig zu bestimmen. Die vertraglichen Nebenpflichten<br />
der Parteien eines Eisenbahnbeförderungsvertrags beschränken<br />
sich nicht auf die Zeit zwischen Ein- und Aussteigen, sondern umfassen<br />
die gesamte Abwicklung der Beförderung, d.h. auch die notwendige Benutzung<br />
der Eisenbahninfrastruktur, die der eigentlichen Beförderungsleistung<br />
vorangeht oder ihr nachfolgt. ….<br />
[13] c) Zu den vertraglichen Nebenpflichten des Eisenbahnverkehrsunternehmens,<br />
die bei der Abwicklung des Beförderungsvertrags bestehen, gehört die<br />
Pflicht, für einen sicheren Zu- und Abgang des Fahrgastes zu sorgen. Der Umfang<br />
vertraglicher Schutzpflichten bestimmt sich nach dem Inhalt des Schuldverhältnisses<br />
(§ 241 Abs. 2 BGB). Eine Schutzpflicht entsteht vor allem dann, wenn die<br />
Vertragsparteien dem anderen Teil im Rahmen des Vertrags eine gesteigerte<br />
Einwirkung auf ihre Belange gestatten und daher in einem höheren Maß<br />
als sonst auf die Wahrung und den Schutz ihrer Rechtsgüter durch den anderen<br />
Teil vertrauen oder zu vertrauen gezwungen sind (…). Dies ist im Rahmen<br />
eines Eisenbahnbeförderungsvertrags nicht nur während der Durchführung<br />
der eigentlichen Beförderung der Fall, sondern während der gesamten Abwicklung.<br />
Der Fahrgast muss zur Durchführung der vertragsgemäßen Beförderung die<br />
besonderen Bahnanlagen wie Bahnhöfe und Bahnsteige benutzen. Diese Nutzung<br />
erfolgt nicht nur bei Gelegenheit der Durchführung des Eisenbahnbeförderungsvertrags,<br />
sondern wird von diesem umfasst. Auch Bahnanlagen, die den Zuund<br />
Abgang ermöglichen, dienen der Abwicklung des Reiseverkehrs, § 4 Abs. 1<br />
Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) vom 8. Mai 1967 (BGBl. II S. 1563).<br />
Durch die Nutzung der besonderen Bahnanlagen ist der Fahrgast den damit einhergehenden<br />
Gefahren in besonderem Maß ausgesetzt. Hiermit geht die Pflicht<br />
des Eisenbahnverkehrsunternehmens einher, den Fahrgast vor diesen Gefahren<br />
zu schützen und Bahnanlagen, die der Fahrgast vor und nach der Beförderung benutzen<br />
muss, verkehrssicher bereitzustellen.<br />
[14] … Das Eisenbahnverkehrsunternehmen bedient sich des Eisenbahninfrastrukturunternehmens,<br />
das die Infrastruktur der Personenbahnhöfe und<br />
damit die notwendigerweise vom Fahrgast zu benutzenden Bahnanlagen<br />
bereitstellt, als Erfüllungsgehilfen bei der Abwicklung eines Beförderungsvertrags<br />
(…). Die unternehmerische Selbständigkeit des Infrastrukturunternehmens<br />
steht seiner Eigenschaft als Erfüllungsgehilfe nicht entgegen (BGH, Urteil<br />
vom 30. März 1988 I ZR 40/86, NJW 1988, 1907, 1908). Das Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />
kann deswegen den Fahrgast bei einer Schädigung infolge nicht verkehrssicher<br />
gehaltener, für die Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen notwendiger<br />
Bahnanlagen nicht auf deliktische Ansprüche gegen Dritte verweisen,<br />
sondern hat ein etwaiges Verschulden des Eisenbahninfrastrukturunternehmens<br />
und im Fall der Übertragung der Verkehrssicherungspflichten auf weitere Dritte<br />
deren Verschulden in gleichem Umfang zu vertreten wie eigenes (§ 278 BGB).“<br />
3. Vertretenmüssen<br />
Der Deutschen Bahn AG selbst ist kein Verschuldensvorwurf zu machen. Allerdings<br />
hat sie gemäß § 278 BGB für das Verschulden der Deutsche Bahn Station &<br />
Service AG einzustehen. Diese hat sich vorliegend nicht exkulpiert.<br />
Ergebnis: Die Klägerin hat gegen die Deutsche Bahn AG einen Anspruch auf<br />
Schadensersatz gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB.<br />
RÜ 4/2012<br />
Auch wenn § 278 BGB nach seinem<br />
Wortlaut nur die Zurechnung von Verschulden<br />
regelt, werden „erst Recht“<br />
Pflichtverletzungen eines Erfüllungsgehilfen<br />
zugerechnet. § 278 BGB ist damit<br />
regelmäßig bereits unter dem Prüfungspunkt<br />
„Pflichtverletzung“ anzusprechen.<br />
209
210<br />
RÜ 4/2012<br />
Der BGH prüft nur den Anspruch aus<br />
§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB, da es in<br />
einem Urteil ausreicht, wenn der Anspruch<br />
aus einer Anspruchsgrundlage<br />
besteht. In einem Gutachten sind die<br />
konkurrierenden Anspruchsgrundlagen<br />
ebenfalls anzusprechen.<br />
Der BGH geht auf die deliktischen Verkehrssicherungspflichten<br />
der Bahn nicht<br />
ein und auch die Vorinstanz (OLG Düsseldorf,<br />
Urt. v. 20.04.2011 – 18 U 158/10,<br />
lässt diese Frage sogar ausdrücklich offen.<br />
Bei entsprechender Argumentation ist<br />
sicherlich auch eine deliktische Verkehrssicherungspflicht<br />
der Bahn vertretbar.<br />
Rechtsprechung<br />
II. Die Klägerin könnte gegen die Deutsche Bahn AG ferner einen Anspruch<br />
auf Schadensersatz gemäß § 1 Abs. 1 HaftPflG haben.<br />
Dies würde allerdings voraussetzen, dass die Klägerin „bei Betrieb“ einer<br />
Schienenbahn verletzt wurde. Der Sturz der Klägerin steht jedoch mit einem<br />
Verkehrsvorgang nicht unmittelbar in Zusammenhang, sodass eine Haftung<br />
nach § 1 HaftPflG ausscheidet.<br />
III. Die Klägerin könnte gegen die Deutsche Bahn AG einen Anspruch auf<br />
Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 1 BGB haben.<br />
1. Die Klägerin hat sich bei dem Sturz verletzt, sodass eine Rechtsgutsverletzung<br />
i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB vorliegt.<br />
2. Die Verletzung der Klägerin ist nicht durch aktives Tun der Deutschen Bahn<br />
AG kausal verursacht worden. Allerdings könnte die Deutsche Bahn AG die<br />
Verletzung durch ein pflichtwidriges Unterlassen verursacht haben. Dies<br />
würde jedoch voraussetzen, dass die Deutsche Bahn AG verpflichtet gewesen<br />
wäre, das Glatteis auf den Bahnsteig zu beseitigen. Dies wäre der Fall, wenn<br />
der Bahn eine entsprechende Verkehrssicherungspflicht oblegen hätte.<br />
Verkehrssicherungspflichtig ist im Allgemeinen derjenige, der eine Gefahrenquelle<br />
eröffnet, sie also beherrscht. Dies ist bei Grundstücken in erster Linie<br />
der jeweilige Grundstückseigentümer, hier also nicht die Deutsche Bahn AG,<br />
sondern die Deutsche Bahn Station & Service AG. Mithin bestand keine (deliktische)<br />
Verkehrssicherungspflicht der Deutschen Bahn AG.<br />
Ergebnis: Die Klägerin hat gegen die Deutsche Bahn AG keinen Anspruch auf<br />
Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 1 BGB.<br />
IV. Schließlich könnte die Klägerin einen Anspruch gegen die Deutsche<br />
Bahn AG gemäß § 831 BGB haben.<br />
Dann müsste die Deutsche Bahn Station & Service AG Verrichtungsgehilfin der<br />
Deutsche Bahn AG sein. Verrichtungsgehilfe ist, wer mit Wissen und Wollen<br />
des Geschäftsherrn in dessen Interesse tätig und von dessen Weisungen abhängig<br />
ist. Selbstständige Unternehmen fallen aus dem Anwendungsbereich<br />
heraus, da sie für ihr Verhalten selbst verantwortlich und deshalb auch nicht<br />
weisungsgebunden sind.<br />
Ergebnis: Die Klägerin hat gegen die Deutsche Bahn AG keinen Anspruch auf<br />
Schadensersatz gemäß § 831 BGB.<br />
V. Gesamtergebnis: Die Klägerin hat gegen die Deutsche Bahn AG einen Anspruch<br />
auf Schadensersatz gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB.<br />
Die vertragliche Haftung für Pflichtverletzungen des Erfüllungsgehilfen ist ein<br />
„Klassiker“ in Examensklausuren. Die Entscheidung des BGH wendet bekannte<br />
Strukturen an: Eine vertragliche Haftung aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 BGB ist<br />
wegen § 278 BGB zu bejahen, während im Deliktsrecht eine derart weite<br />
Zurechnung nicht möglich ist. Die „Weichen“ für die Entscheidung werden<br />
bei der Frage gestellt, ob die Deutsche Bahn AG auch die sichere Benutzung<br />
der Bahnsteige als Nebenpflicht zum Beförderungsvertrag schuldet. Dies ist<br />
– auch nach rechtlicher Trennung von Beförderungsunternehmen und Infrastruktur<br />
– vom BGH zu Recht bejaht worden. Ein schönes Motiv für eine Examensklausur,<br />
das Sie – einschließlich der sicherlich nicht allgemein bekannten<br />
Anspruchsgrundlage aus § 1 Abs. 1 HaftPflG – kennen sollten.<br />
Dr. Till Veltmann
§ 439 BGB<br />
Rechtsprechung<br />
RÜ 4/2012<br />
Kein unmittelbarer Anspruch des Käufers auf Ersatz der<br />
Ausbaukosten einer mangelhaften Sache<br />
BGH, Urt. v. 21.12.2011 – VIII ZR 70/08<br />
Fall<br />
Der Kläger kaufte bei der Beklagten, die einen Baustoffhandel betreibt, 45,36 m²<br />
polierte Bodenfliesen des italienischen Herstellers X zum Preis von 1.382,27 €<br />
einschließlich Umsatzsteuer. Er holte die Fliesen bei der Beklagten ab und ließ<br />
sie dann in seinem Privathaus verlegen. Nach Erledigung der Arbeiten zeigten<br />
sich auf dem Fliesenbelag Schattierungen, die mit bloßem Auge zu erkennen<br />
sind und die aussehen, als hätten die Fliesen Schmutzflecken. Ein Gutachter<br />
stellte fest, dass Abhilfe nur durch einen kompletten Austausch der Bodenfliesen<br />
geschaffen werden könne, da es sich um feine Mikroschleifspuren in der<br />
Oberfläche handele, die auf einen Herstellungsfehler zurückzuführen seien.<br />
Eine Beseitigung dieses Mangels ist technisch unmöglich. Die Beklagte hat bei<br />
der Lieferung die Mikroschleifspuren nicht erkannt und hatte auch keinen<br />
Grund, die Fliesen daraufhin zu überprüfen.<br />
1. Kann der Kläger von der Beklagten die Lieferung neuer Fliesen und den<br />
Ausbau der alten Fliesen verlangen?<br />
2. Hat der Kläger einen Anspruch auf Zahlung der Ausbaukosten?<br />
3. Hat der Kläger einen Anspruch auf Lieferung neuer Fliesen und Ausbau der<br />
alten Fliesen, wenn die Beklagte einwendet, dass die Ausbaukosten i.H.v.<br />
2.122,37 € sie unverhältnismäßig belasten würden?<br />
Entscheidung<br />
1. Frage: Kann der Kläger von der Beklagten die Lieferung neuer Fliesen und<br />
den Ausbau der alten Fliesen verlangen?<br />
Dem Kläger kann gegen die Beklagte ein Anspruch aus §§ 437 Nr. 1, 439 Abs. 1<br />
BGB auf Lieferung neuer Fliesen und den Ausbau der alten Fliesen zustehen.<br />
1. Die Parteien haben einen wirksamen Kaufvertrag über die Fliesen geschlossen.<br />
2. Die Fliesen müssten bei Gefahrübergang mangelhaft gewesen sein. Hier<br />
kann ein Mangel gemäß § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 2. Alt. BGB vorliegen. Eine Beschaffenheitsvereinbarung<br />
ist nicht ersichtlich. Mit den Mikroschleifspuren<br />
wiesen die gelieferten Fliesen eine Beschaffenheit auf, die bei Sachen gleicher<br />
Art nicht üblich ist und die der Käufer nach der Art der Sache auch nicht erwarten<br />
musste. Die von der Beklagten gelieferten Fliesen waren mangelhaft gemäß<br />
§ 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 2. Alt. BGB.<br />
3. Gemäß § 437 Nr. 1 BGB kann der Kläger von der Beklagten Nacherfüllung<br />
nach § 439 BGB verlangen.<br />
Nach § 439 Abs. 1 BGB hat der Käufer ein Wahlrecht zwischen der Beseitigung<br />
des Mangels und der Lieferung einer mangelfreien Sache. Der Kläger hat die<br />
Nachlieferung gewählt.<br />
Der Nachlieferungsanspruch richtet sich zunächst auf die Lieferung neuer,<br />
mangelfreier Fliesen.<br />
Leitsätze<br />
a) § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB ist richtlinienkonform<br />
dahin auszulegen, dass die dort<br />
genannte Nacherfüllungsvariante „Lieferung<br />
einer mangelfreien Sache“ auch den<br />
Ausbau und den Abtransport der mangelhaften<br />
Kaufsache erfasst (im Anschluss<br />
an EuGH, Urteil vom 16. Juni 2011 –<br />
Rechtssachen C-65/09 und C-87/09, NJW<br />
2011, 2269 – Gebr. Weber GmbH/Jürgen<br />
Wittmer und Ingrid Putz/Medianess<br />
Electronics GmbH).<br />
b) Das in § 439 Abs. 3 Satz 3 BGB dem<br />
Verkäufer eingeräumte Recht, die einzig<br />
mögliche Form der Abhilfe wegen (absolut)<br />
unverhältnismäßiger Kosten zu<br />
verweigern, ist mit Art. 3 der Richtlinie<br />
nicht vereinbar (EuGH, aaO). Die hierdurch<br />
auftretende Regelungslücke ist bis<br />
zu einer gesetzlichen Neuregelung durch<br />
eine teleologische Reduktion des § 439<br />
Abs. 3 BGB für Fälle des Verbrauchsgüterkaufs<br />
(§ 474 Abs. 1 Satz 1 BGB) zu<br />
schließen. Die Vorschrift ist beim Verbrauchsgüterkauf<br />
einschränkend dahingehend<br />
anzuwenden, dass ein Verweigerungsrecht<br />
des Verkäufers nicht besteht,<br />
wenn nur eine Art der Nacherfüllung<br />
möglich ist oder der Verkäufer die<br />
andere Art der Nacherfüllung zu Recht<br />
verweigert.<br />
c) In diesen Fällen beschränkt sich das<br />
Recht des Verkäufers, die Nacherfüllung<br />
in Gestalt der Ersatzlieferung wegen unverhältnismäßiger<br />
Kosten zu verweigern,<br />
auf das Recht, den Käufer bezüglich des<br />
Ausbaus der mangelhaften Kaufsache<br />
und des Einbaus der als Ersatz gelieferten<br />
Kaufsache auf die Kostenerstattung<br />
in Höhe eines angemessenen Betrags zu<br />
verweisen. Bei der Bemessung dieses Betrags<br />
sind der Wert der Sache in mangelfreiem<br />
Zustand und die Bedeutung des<br />
Mangels zu berücksichtigen. Zugleich ist<br />
zu gewährleisten, dass durch die Beschränkung<br />
auf eine Kostenbeteiligung<br />
des Verkäufers das Recht des Käufers auf<br />
Erstattung der Aus- und Einbaukosten<br />
nicht ausgehöhlt wird.<br />
211
212<br />
RÜ 4/2012<br />
Rechtsprechung<br />
a) Nach der früheren Rechtsprechung ergab sich aus § 439 Abs. 1 BGB keine<br />
Verpflichtung zum Ausbau der mangelhaften Sache. Der Ausbau gehöre nicht<br />
zur Nachlieferung, weil er die zuerst gelieferte Sache betreffe und nicht die<br />
nachgelieferte.<br />
b) Der EuGH hat entschieden, dass Art. 3 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 1999/44/<br />
EG so auszulegen ist, dass der Verkäufer verpflichtet ist, den Ausbau einer<br />
mangelhaften Sache selbst vorzunehmen oder die Kosten für den Ausbau zu<br />
tragen. § 439 BGB ist unter Berücksichtigung dieser Vorgabe richtlinienkonform<br />
auszulegen.<br />
aa) Eine richtlinienkonforme Auslegung ist in der Weise möglich, dass der<br />
Nachlieferungsanspruch begrifflich auf die Lieferung einer mangelfreien Sache<br />
beschränkt bleibt und durch einen Anspruch auf Ersatz der Ausbaukosten<br />
aus § 439 Abs. 2 BGB ergänzt wird (Greiner/Benedix ZGS 2011, 489, 493). Danach<br />
wäre die Beklagte nicht zum Ausbau der Fliesen, sondern nur zur Erstattung<br />
der Ausbaukosten verpflichtet.<br />
bb) Dem deutschen Gewährleistungsrecht entspricht es jedoch eher, wenn<br />
man den Nachlieferungsanspruch aus § 439 Abs. 1 BGB erweiternd auslegt<br />
und den Verkäufer zum Ausbau verpflichtet. § 439 Abs. 1 BGB soll<br />
dem Verkäufer die Möglichkeit geben, die Nacherfüllung selbst vorzunehmen.<br />
Dieses gesetzgeberische Ziel wird nicht erreicht, wenn bzgl. des<br />
Ausbaus nur ein Kostenerstattungsanspruch besteht. Der Verkäufer wird häufig<br />
selbst den Ausbau günstiger bewerkstelligen können als der Käufer. Ein<br />
Selbstvornahmerecht des Käufers wird im deutschen Recht jedenfalls von der<br />
Rechtsprechung nicht anerkannt.<br />
„[25] 4. Vor diesem Hintergrund ist zunächst § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB richtlinienkonform<br />
dahin auszulegen, dass die dort genannte Nacherfüllungsvariante ,Lieferung<br />
einer mangelfreien Sache‘ auch den Ausbau und den Abtransport<br />
der mangelhaften Kaufsache – hier der von der Beklagten gelieferten mangelhaften<br />
Bodenfliesen – umfasst (…).<br />
[26] a) Diese Auslegung ist noch vom Wortlaut des § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB gedeckt<br />
(…). Nach allgemeinem Sprachgebrauch wird ,liefern‘ zwar verstanden als ,bringen‘<br />
oder ,übergeben‘ einer (bestellten) Sache (…). Auch im nationalen Kaufrecht<br />
ist unter ,Lieferung‘ grundsätzlich nur die Handlung zu verstehen, die der Verkäufer<br />
vorzunehmen hat, um seine Übergabe- und Übereignungspflicht aus § 433<br />
Abs. 1 BGB zu erfüllen (…). Dies schließt es jedoch nicht aus, den in § 439 Abs. 1<br />
Alt. 2 BGB verwendeten Begriff der Lieferung einer mangelfreien Sache weiter zu<br />
fassen. Denn dieser Begriff ist ausfüllungsfähig und eröffnet einen gewissen Wertungsspielraum<br />
(…). Der Gesetzgeber hat die Bestimmung des § 439 Abs. 1 Alt. 2<br />
BGB zur Umsetzung des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie geschaffen (vgl. BT-<br />
Drucks. 14/6040, S. 230). Dabei hat er nicht nur in der Gesetzesbegründung mehrfach<br />
den Begriff der Lieferung einer mangelfreien Sache mit der in der deutschen<br />
Fassung der Richtlinie verwendeten Wortwahl ,Ersatzlieferung‘ gleichgesetzt (BT-<br />
Drucks. 14/6040, S. 232), die – wie vom Gerichtshof ausgeführt (EuGH, aaO Rn. 54) –<br />
auch die Deutung zulässt, dass das vertragswidrige Verbrauchsgut durch die als<br />
Ersatz gelieferte Sache auszutauschen ist. Vielmehr hat der Gesetzgeber durch den<br />
in § 439 Abs. 4 BGB enthaltenen Verweis auf § 346 Abs. 1 Alt. 1 BGB, wonach der<br />
Verkäufer seinerseits die Rückgewähr der mangelhaften Sache verlangen kann,<br />
zum Ausdruck gebracht, dass dem Begriff der ,Lieferung einer mangelfreien Sache‘<br />
in § 439 Abs. 1 BGB ein gewisses (Aus-)Tauschelement innewohnt (…).“<br />
2. Frage: Hat der Kläger einen Anspruch auf Zahlung der Ausbaukosten?<br />
I. Ein Anspruch des Klägers auf Zahlung der Ausbaukosten kann sich aus § 439<br />
Abs. 2 BGB ergeben.
Rechtsprechung<br />
Der EuGH hat entschieden, dass Art. 3 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 1999/44/EG<br />
so auszulegen ist, dass der Verkäufer verpflichtet ist, den Ausbau einer mangelhaften<br />
Sache selbst vorzunehmen oder die Kosten für den Ausbau zu tragen.<br />
Damit hat der EuGH kein Wahlrecht des Käufers begründet. Es besteht<br />
nur ein Wahlrecht bei der Umsetzung der Richtlinie durch Gesetzgebung und<br />
richtlinienkonforme Rechtsanwendung durch die Gerichte.<br />
„[27] b) Die gebotene richtlinienkonforme Auslegung des § 439 Abs. 1 BGB führt<br />
– anders als die Revisionserwiderung meint – nicht dazu, dass dem Käufer im<br />
Rahmen des Nacherfüllungsverlangens ein Wahlrecht dahin zusteht, ob er dem<br />
Verkäufer den Aus- und Einbau gestattet oder diese Arbeiten selbst durchführt<br />
und den Verkäufer nur auf Kostenerstattung in Anspruch nimmt. …“<br />
Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Zahlung der Ausbaukosten<br />
aus § 439 Abs. 2 BGB.<br />
II. Ein Anspruch auf Erstattung der Ausbaukosten kann sich aus §§ 437 Nr. 3,<br />
280 Abs. 1 u. 3, 281 BGB ergeben.<br />
Der Kläger hat der Beklagten keine Frist zur Nacherfüllung gesetzt. Da die<br />
Fristsetzung auch nicht entbehrlich ist, besteht kein Anspruch aus §§ 437<br />
Nr. 3, 280 Abs. 1 u. 3, 281 BGB.<br />
3. Frage: Hat der Kläger einen Anspruch auf Lieferung neuer Fliesen und Ausbau<br />
der alten Fliesen, wenn die Beklagte einwendet, dass die Ausbaukosten<br />
i.H.v. 2.122,37 € sie unverhältnismäßig belasten würden?<br />
Der Kläger hatte gegen die Beklagte zunächst einen Anspruch aus § 439 Abs. 1<br />
BGB auf den Ausbau der mangelhaften Fliesen.<br />
Fraglich ist, welche Rechte dem Kläger zustehen, wenn die Beklagte die Nachlieferung<br />
gemäß § 439 Abs. 3 S. 1 BGB verweigert.<br />
1. § 439 Abs. 3 S. 1 BGB könnte für die Nachlieferung unanwendbar sein, weil<br />
eine Nachbesserung unmöglich ist und damit die Gefahr besteht, dass der<br />
Käufer gar keinen Nacherfüllungsanspruch hat.<br />
„[29] § 439 Abs. 3 Satz 1 BGB erlaubt dem Verkäufer, die vom Käufer gewählte Art<br />
der Nacherfüllung zu verweigern, wenn sie nur mit unverhältnismäßigen Kosten<br />
möglich ist. Die genannte Regelung enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass sie<br />
sich auf die Fälle beschränkt, in denen beide Formen der Nacherfüllung möglich<br />
sind und lediglich eine Abhilfevariante im Verhältnis zu der anderen unverhältnismäßig<br />
hohe Kosten verursacht (relative Unverhältnismäßigkeit). Vielmehr ergibt<br />
sich aus den Bestimmungen des § 439 Abs. 3 Satz 3 Halbsatz 2 BGB und des § 440<br />
Satz 1 BGB eindeutig, dass nach der Konzeption des Gesetzes beide Formen der<br />
Nacherfüllung wegen Unverhältnismäßigkeit verweigert werden können und damit<br />
der Begriff der Unverhältnismäßigkeit absolut zu verstehen ist. § 439 Abs. 3<br />
Satz 3 BGB beschränkt den Anspruch des Käufers für den Fall, dass der Verkäufer<br />
die eine Form der Nacherfüllung wegen unverhältnismäßiger Kosten verweigert,<br />
zunächst auf die andere Art der Nacherfüllung, sieht aber weiter vor, dass das<br />
,Recht des Verkäufers, auch diese unter den Voraussetzungen des Satzes 1 zu verweigern‘,<br />
unberührt bleibt. Auf diese Regelung nimmt § 440 Satz 1 BGB Bezug, der<br />
den Käufer unter anderem dann vom Erfordernis einer Fristsetzung vor der Geltendmachung<br />
von Rücktritt oder Schadensersatz befreit, ,wenn der Verkäufer beide<br />
Arten der Nacherfüllung gemäß § 439 Abs. 3 [BGB] verweigert‘.“<br />
Bei wortgenauer Anwendung des § 439 Abs. 3 S. 1 BGB hat der Kläger keinen<br />
durchsetzbaren Nacherfüllungsanspruch.<br />
2. Nach Art. 3 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 1999/44/EG ist der Verkäufer verpflichtet,<br />
den Ausbau einer mangelhaften Sache selbst vorzunehmen oder die<br />
RÜ 4/2012<br />
213
214<br />
RÜ 4/2012<br />
Rechtsprechung<br />
Kosten für den Ausbau zu tragen. Für den Fall, dass nur eine Form der Nacherfüllung<br />
möglich ist und diese unverhältnismäßige Kosten verursacht, hat der<br />
EuGH entschieden, dass auch eine reduzierte, verhältnismäßige Kostenbeteiligung<br />
des Verkäufers den Vorgaben der Richtlinie entspricht.<br />
Diese europarechtlichen Erfordernisse können nicht durch richtlinienkonforme<br />
Auslegung erfüllt werden, da der Wortlaut für so weitgehende Modifikationen<br />
keine Anhaltspunkte bietet. § 439 Abs. 3 BGB ist richtlinienkonform<br />
teleologisch zu reduzieren.<br />
a) Die teleologische Reduktion setzt eine verdeckte Regelungslücke voraus.<br />
Diese ergibt sich daraus, dass § 439 Abs. 3 BGB bei uneingeschränkter Anwendung<br />
nicht richtlinienkonform ist, der Gesetzgeber aber eine der Richtlinie<br />
entsprechende Regelung treffen wollte.<br />
„[31] a) Eine Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion setzt eine<br />
verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit<br />
des Gesetzes voraus (Senatsurteil vom 26. November 2008 – VIII ZR 200/05, aaO<br />
Rn. 22 mwN). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt.<br />
[32] aa) Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich, dass der Gesetzgeber die Einrede<br />
der Unverhältnismäßigkeit zwar so ausgestalten wollte, dass sie mit der Richtlinie<br />
vereinbar ist, er hierbei jedoch Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie so verstanden hat, dass<br />
dieser auch die absolute Unverhältnismäßigkeit erfasse (vgl. auch Staudinger,<br />
aaO). …<br />
[33] bb) Das der Fassung des § 439 Abs. 3 Satz 3 BGB zugrunde liegende Verständnis,<br />
dass Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie auch die absolute Unverhältnismäßigkeit erfasse,<br />
ist jedoch fehlerhaft, wie der Gerichtshof nunmehr mit Bindungswirkung<br />
festgestellt hat. Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie erlaubt es nur, den Anspruch des Verbrauchers<br />
auf Erstattung der Kosten für den Ausbau des mangelhaften Verbrauchsguts<br />
und den Einbau des als Ersatz gelieferten Verbrauchsguts auf einen<br />
angemessenen Betrag zu beschränken, nicht jedoch, den Anspruch des Verbrauchers<br />
auf Ersatzlieferung als einzig mögliche Art der Abhilfe wegen Unverhältnismäßigkeit<br />
der Ein- und Ausbaukosten völlig auszuschließen. Die gesetzliche Regelung<br />
in § 439 Abs. 3 Satz 3 BGB steht folglich in Widerspruch zu dem mit dem Gesetz<br />
zur Modernisierung des Schuldrechts verfolgten Grundanliegen, die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie<br />
bis zum Ablauf des 31. Dezember 2001 ordnungsgemäß<br />
umzusetzen (vgl. hierzu auch BT-Drucks. 14/6040, S. 1).<br />
[34] cc) Damit erweist sich das Gesetz als planwidrig unvollständig (…). Es liegt<br />
eine verdeckte Regelungslücke vor, weil der Wortlaut des § 439 Abs. 3 BGB, der ein<br />
Verweigerungsrecht bei absoluter Unverhältnismäßigkeit einschließt, keine Einschränkung<br />
für den Anwendungsbereich der Richtlinie enthält und deshalb mit<br />
dieser nicht im Einklang steht. Diese Unvollständigkeit des Gesetzes ist deswegen<br />
planwidrig, weil hinsichtlich der Einrede der Unverhältnismäßigkeit ein Widerspruch<br />
zur konkret geäußerten, von der Annahme der Richtlinienkonformität getragenen<br />
Umsetzungsabsicht des Gesetzgebers besteht (…).“<br />
b) Die Regelungslücke ist durch teleologische Reduktion zu schließen.<br />
aa) Dazu sind im Anschluss an das Urteil des EuGH verschiedene Lösungen<br />
vertreten worden.<br />
„[38] aa) Nach dem Vorschlag von Faust (JuS 2011, 744, 747 f.), dem sich die Revision<br />
inhaltlich anschließt, soll der Verkäufer den Aus- und Einbau nach § 439<br />
Abs. 3 BGB verweigern dürfen, sofern sich nicht der Verbraucher zur Beteiligung an<br />
den Kosten bereit erklärt. Dieser Ansatz erscheint jedoch insofern problematisch,<br />
als er dem Verkäufer die Möglichkeit einer völligen Verweigerung des im Rahmen<br />
der Ersatzlieferung nach § 439 Abs. 1 Fall 2 BGB geschuldeten Aus- und Einbaus bis
Rechtsprechung<br />
zur Abgabe einer Erklärung des Verbrauchers eröffnet. Dies ist unvereinbar mit der<br />
Vorgabe des Gerichtshofs, die Berücksichtigung der Interessen des Verkäufers dürfe<br />
nicht dazu führen, dass die dem Verbraucher zustehenden Rechte in der Praxis<br />
ausgehöhlt werden (vgl. EuGH, aaO Rn. 76).<br />
[39] bb) Förster (aaO [ZIP 2011, 1493] S. 1500) schlägt vor, § 439 Abs. 3 BGB mit der<br />
Maßgabe anzuwenden, dass der Verkäufer die Ersatzlieferung als einzig mögliche<br />
Art der Nacherfüllung nicht verweigern, sondern nur unter Berücksichtigung von<br />
§ 439 Abs. 3 Satz 2 BGB der Höhe nach angemessen herabsetzen darf. … Es ist jedoch<br />
praktisch nicht durchführbar, die tatsächliche Vornahme des Ausbaus<br />
der mangelhaften Kaufsache und des Einbaus der als Ersatz gelieferten Sache<br />
auf einen angemessen Umfang zu begrenzen (vgl. auch Ayad/Schnell, BB<br />
2011, 1938, 1939).<br />
[40] cc) Ein anderer Lösungsansatz besteht darin, die Anwendung des § 439 Abs. 3<br />
Satz 3 Halbsatz 2 BGB für die Fälle des Verbrauchsgüterkaufs ganz auszuschließen<br />
(Purnhagen, aaO [EuZW 2011, 646] S. 629 f.; Staudinger, aaO [DAR 2011, 502]<br />
S. 506; Lorenz, NJW 2011, 2241, 2244). Hierbei fehlt es jedoch an einer überzeugenden<br />
rechtlichen Konstruktion, die es dem Verkäufer gleichwohl ermöglicht, den Ersatz<br />
der Ein- und Ausbaukosten auf einen angemessenen Betrag zu begrenzen.<br />
Eine solche ist jedoch erforderlich, um dem vom deutschen Gesetzgeber mit der<br />
Schaffung des § 439 Abs. 3 BGB verfolgten Ziel einer Berücksichtigung der Interessen<br />
des Verkäufers (vgl. BT-Drucks. 16/6040, S. 232) in dem europarechtlich (noch)<br />
zulässigen Umfang Rechnung zu tragen.<br />
[41] (1) Teilweise wird versucht, eine Begrenzung der Kostentragungspflicht des<br />
Verkäufers dadurch zu erreichen, dass dieser im Hinblick auf den Ausbau der mangelhaften<br />
und den Einbau der als Ersatz gelieferten Kaufsache von vornherein<br />
nicht zu deren Vornahme, sondern nur zur Erstattung der dafür erforderlichen<br />
Kosten verpflichtet sein soll und diese angemessen reduziert werden können<br />
(vgl. Pfeiffer, LMK 2011, 321439 sowie den Alternativvorschlag von Faust,<br />
aaO). Dieser Ansatz übersieht jedoch, dass die Nacherfüllung gemäß § 439 Abs. 1<br />
BGB nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers auch dazu dienen soll, dem<br />
Verkäufer die ,Möglichkeit zur zweiten Andienung‘ einzuräumen (BT-Drucks.<br />
16/6040, S. 220; vgl. hierzu Senatsurteil vom 23. Februar 2005 – VIII ZR 100/04,<br />
BGHZ 162, 219, 227 f.). Mit dem hierdurch zum Ausdruck kommenden Ziel, bereits<br />
im Rahmen des § 439 Abs. 1 BGB auch den Interessen des Verkäufers Rechnung zu<br />
tragen, wäre es nur schwer zu vereinbaren, wenn der Verkäufer im Rahmen der Ersatzlieferung<br />
den Ausbau der mangelhaften und den Einbau der als Ersatz gelieferten<br />
Sache nicht selbst vornehmen dürfte, sondern von vornherein dem Käufer<br />
die hierfür erforderlichen Kosten schuldete. Denn der Verkäufer wird in vielen Fällen<br />
den Aus- und Einbau günstiger bewerkstelligen können als der Käufer (vgl. Lorenz,<br />
NJW 2011, 2241, 2243). …“<br />
bb) Der BGH entschied, dass auch bei unverhältnismäßig hohen Ausbaukosten<br />
der Verkäufer zunächst zum tatsächlichen Ausbau verpflichtet und berechtigt<br />
ist. Erst die Verweigerung der Nacherfüllung wegen Unverhältnismäßigkeit<br />
führt zum Entstehen eines Kostenerstattungsanspruchs in Höhe eines<br />
angemessenen Betrags.<br />
„[35] b) Die bis zu einer gesetzlichen Neuregelung bestehende verdeckte Regelungslücke<br />
ist durch eine teleologische Reduktion des § 439 Abs. 3 BGB für die Fälle<br />
des Verbrauchsgüterkaufs (§ 474 Abs. 1 Satz 1 BGB) zu schließen. Die Vorschrift ist<br />
in solchen Fällen einschränkend dahingehend anzuwenden, dass ein Verweigerungsrecht<br />
nicht besteht, wenn nur eine Art der Nacherfüllung möglich ist oder der<br />
Verkäufer die andere Art der Nacherfüllung zu Recht verweigert. In den zuletzt<br />
genannten Fällen beschränkt sich das Recht des Verkäufers, die Nacherfüllung<br />
in Gestalt der Ersatzlieferung wegen unverhältnismäßiger Kosten zu<br />
RÜ 4/2012<br />
215
216<br />
RÜ 4/2012<br />
Da keine weiteren Kriterien genannt<br />
sind, wird man in Klausuren auch nur unter<br />
Berücksichtigung der Schwere des<br />
Mangels und des Werts der mangelfreien<br />
Sache eine pauschale Schätzung vornehmen<br />
können.<br />
Rechtsprechung<br />
verweigern, auf das Recht, den Käufer bezüglich des Ausbaus der mangelhaften<br />
Kaufsache und des Einbaus der als Ersatz gelieferten Kaufsache auf<br />
die Kostenerstattung in Höhe eines angemessenen Betrags zu verweisen.<br />
Bei der Bemessung dieses Betrags sind der Wert der Sache in mangelfreiem Zustand<br />
und die Bedeutung des Mangels zu berücksichtigen. Zugleich ist zu gewährleisten,<br />
dass durch die Beschränkung auf eine Kostenbeteiligung des Verkäufers<br />
das Recht des Käufers auf Erstattung der Aus- und Einbaukosten nicht ausgehöhlt<br />
wird (EuGH, aaO Rn. 76). …<br />
[49] 8. Der – auf eine angemessene Höhe begrenzte – Anspruch des Klägers auf Erstattung<br />
der für den Ausbau der mangelhaften Fliesen entstehenden Kosten setzt<br />
entgegen der Ansicht der Revision auch nicht voraus, dass der Kläger den Austausch<br />
bereits vorgenommen hat und die Kosten schon entstanden sind. Der Kläger<br />
kann vielmehr den Anspruch bereits vor Durchführung des Ausbaus in Form<br />
eines abrechenbaren Vorschusses geltend machen (so auch Kaiser, aaO S. 984 f.).<br />
Dies ergibt sich aus dem in der Richtlinie enthaltenen Unentgeltlichkeitsgebot.<br />
[54] … Der Anspruch ist auf insgesamt 600 € zu begrenzen. Dieser Betrag erscheint<br />
dem Senat unter Berücksichtigung der Bedeutung der Vertragswidrigkeit (optischer<br />
Mangel der Fliesen ohne Funktionsbeeinträchtigung) und des Werts der<br />
mangelfreien Sache (circa 1.200 €) angemessen. Der Senat sieht davon ab, Grenzoder<br />
Richtwerte für die Bestimmung der angemessenen Höhe einer Beteiligung<br />
des Verkäufers an den Aus- und Einbaukosten in Fällen der Ersatzlieferung zu entwickeln;<br />
die durch die Entscheidung des Gerichtshofs aufgedeckte Gesetzeslücke<br />
durch eine generelle Regelung zu schließen, ist dem Gesetzgeber vorbehalten.“<br />
Da die Beklagte die Nachlieferung gemäß § 439 Abs. 3 BGB verweigert hat, hat<br />
die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von 600 €.<br />
Das Verfahren hatte die ursprünglich vom Kläger geltend gemachten Kosten<br />
für den Einbau der nachgelieferten Fliesen nicht mehr zum Gegenstand. Die<br />
Einbaukosten sind aber nach der Entscheidung des EuGH gleich zu behandeln.<br />
Der Käufer hat in richtlinienkonformer Auslegung des § 439 Abs. 1 BGB<br />
einen Anspruch auf Einbau der nachgelieferten Sache. Einen Anspruch auf Ersatz<br />
der Einbaukosten hat er unter den Voraussetzungen des § 281 BGB oder<br />
dann, wenn die Nachbesserung unmöglich ist und der Verkäufer den Einbau<br />
gemäß § 439 Abs. 3 S. 1 BGB wegen unverhältnismäßiger Kosten verweigert.<br />
Im letzteren Fall reduziert sich der Kostenerstattungsanspruch auf einen angemessenen<br />
Betrag.<br />
Der BGH hat die Vorgaben des EuGH so umgesetzt, dass das deutsche Recht<br />
möglichst wenig modifiziert ist. Entscheidend ist, dass der Käufer keinen unmittelbaren<br />
Anspruch auf Erstattung der Aus- und Einbaukosten hat. Es bleibt<br />
das vor allem durch § 281 BGB gewährleistete „Recht zur zweiten Andienung“<br />
erhalten. Der Verkäufer Aus- und Einbau in jedem Fall – auch bei unverhältnismäßigen<br />
Kosten – selbst vornehmen. Die Interessen des Käufers sind dadurch<br />
gewahrt, dass er dem Verkäufer eine Frist zum Aus- und Einbau setzen kann.<br />
Josef <strong>Alpmann</strong>
§§ 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 BGB<br />
Rechtsprechung<br />
RÜ 4/2012<br />
Fehlerhafte Ankaufsuntersuchung beim Pferdekauf<br />
BGH, Urt. v. 26.01.2012 – VII ZR 164/11<br />
Fall<br />
Der Kläger (im Folgenden: K) begehrt von dem Beklagten (im Folgenden: B),<br />
einem Tierarzt, wegen einer mangelhaft durchgeführten Ankaufsuntersuchung<br />
eines Pferdes Schadensersatz.<br />
K kaufte am 25.02.2008 von dem Verkäufer (V) den Hengst C. B hatte zuvor am<br />
22.02.2008 im Auftrag des K eine Ankaufsuntersuchung durchgeführt, wobei<br />
ausdrücklich auch das Röntgen des Kniegelenks links und rechts vereinbart<br />
war. Das Röntgenergebnis hatte er als „ohne besonderen Befund“ angegeben.<br />
Tatsächlich befanden sich mehrere Chips im Kniegelenk des Hengstes, die<br />
auf den Röntgenaufnahmen ersichtlich waren. Hiervon erfuhr der K anlässlich<br />
einer Körungsvorauswahl am 01.09.2008.<br />
Mit Schreiben vom 16.01.2009 erklärte K gegenüber V den Rücktritt vom Kaufvertrag<br />
und verlangte von ihm Kostenerstattung. Dieser verwies ihn an den B,<br />
dessen Haftpflichtversicherer mit Schreiben vom 03.04.2009 erklärte, es würden<br />
keine Einwände gegen den Anspruchsgrund geltend gemacht und Ansprüche<br />
bzgl. Kaufpreis und Zinsen anerkannt. Dementsprechend erfolgte die<br />
Herausgabe des Pferdes an den B Zug um Zug gegen Kaufpreiserstattung<br />
durch dessen Haftpflichtversicherer.<br />
K macht mit der Behauptung, bei ordnungsgemäß mitgeteiltem Befund der<br />
Ankaufsuntersuchung hätte er das Pferd von dem V nicht gekauft, weil er es<br />
als Zuchtpferd habe weiterveräußern wollen, was nun nicht mehr möglich gewesen<br />
sei, weitere Aufwendungen geltend, die ihm ab dem Zeitpunkt des Erwerbs<br />
des Pferdes bis zu dessen Rückgabe entstanden seien. Konkret begehrt<br />
er die Erstattung von 10.500 € für die Ausbildung des Pferdes zum Zuchthengst<br />
in der Zeit von März 2008 bis zum 15.01.2009 (10,5 Monate á 1.000 €).<br />
B ist der Auffassung, insoweit hafte vorrangig der V. Zudem sei der Betrag<br />
jedenfalls anteilig zu kürzen, da K spätestens seit dem 01.09.2008 nicht mehr<br />
davon ausgehen durfte, der Hengst sei zu Zuchtzwecken geeignet.<br />
Besteht der von K gegen B geltend gemachte Anspruch?<br />
Entscheidung<br />
§ 433 BGB (25.02.2008)<br />
(Verkäufer) (Eigentümer)<br />
V<br />
ab März 2008: Ausbildung des Pferdes<br />
01.09.2008: Kenntniserlangung durch K<br />
16.01.2009: Rücktritt des K vom Kaufvertrag<br />
I. Der von K gegen B geltend gemachte Anspruch könnte sich aus den §§ 634<br />
Nr. 4, 280 Abs. 1 BGB ergeben.<br />
1. Der zwischen K und B geschlossene Vertrag über die Ankaufsuntersuchung<br />
ist rechtlich als Werkvertrag einzuordnen, da B einen konkreten Erfolg schuldete.<br />
K<br />
B<br />
§ 631 BGB:<br />
Ankaufs-<br />
untersuchung<br />
(22.02.2008)<br />
(Tierarzt)<br />
Leitsatz<br />
Ein Tierarzt, der seine Pflichten aus einem<br />
Vertrag über die Ankaufsuntersuchung<br />
eines Pferdes verletzt und deshalb<br />
einen unzutreffenden Befund erstellt<br />
hat, haftet unabhängig von einer etwaigen<br />
Haftung des Verkäufers seinem Vertragspartner<br />
auf Ersatz des Schadens,<br />
der diesem dadurch entstanden ist, dass<br />
er das Pferd aufgrund des fehlerhaften<br />
Befundes erworben hat (Bestätigung<br />
von BGH, Urt. v. 22. Dezember 2011 – VII<br />
ZR 7/11, zur Veröffentlichung in BGHZ<br />
bestimmt, und VII ZR 136/11, zur Veröffentlichung<br />
vorgesehen).<br />
217
218<br />
RÜ 4/2012<br />
Hinweis zum Aufbau: Selbstverständlich<br />
wäre es auch denkbar, zunächst das<br />
Verhältnis der Ansprüche des K gegen V<br />
und B zueinander zu klären, bevor die<br />
Anspruchskürzung wegen Verletzung<br />
der Schadensminderungspflicht durch K<br />
thematisiert wird.<br />
Rechtsprechung<br />
„[12] Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Tierarzt bei der<br />
Ankaufsuntersuchung eines Pferdes nicht nur verpflichtet ist, die Untersuchung<br />
ordnungsgemäß durchzuführen, sondern er seinem Auftraggeber auch deren Ergebnis,<br />
insbesondere Auffälligkeiten des Tieres, mitzuteilen hat. Der mit der Ankaufsuntersuchung<br />
beauftragte Tierarzt schuldet einen fehlerfreien Befund.<br />
Erfüllt er insoweit seine Pflichten nicht, haftet er, weil der Vertrag als Werkvertrag<br />
einzuordnen ist (vgl. BGH, Urteil vom 5. Mai 1983 – VII ZR 174/81, BGHZ 87, 239),<br />
gemäß § 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB auf Ersatz des Schadens, der bei dem Vertragspartner<br />
dadurch entstanden ist, dass er das Pferd aufgrund des fehlerhaften Befundes<br />
erworben hat (vgl. Senatsurteile vom 22. Dezember 2011 – VII ZR 7/11, zur<br />
Veröffentlichung in BGHZ bestimmt, und VII ZR 136/11, zur Veröffentlichung vorgesehen).“<br />
2. B hat die Ankaufsuntersuchung mangelhaft durchgeführt, weil er trotz geschuldeten<br />
Röntgens des Kniegelenks links und rechts die zahlreichen Chips<br />
im Kniegelenk des Hengstes, die auf den Röntgenaufnahmen ersichtlich waren,<br />
übersah und das Röntgenergebnis fehlerhaft als „ohne besonderen Befund“<br />
angab. Dies stellte zugleich die maßgebliche Pflichtverletzung des B dar.<br />
3. Einer Frist zur Nacherfüllung bedurfte es nicht, da es sich um einen Schadensersatzanspruch<br />
neben der Leistung in Form eines sog. Mangelfolgeschadens<br />
handelt.<br />
4. B handelte jedenfalls fahrlässig und kann sich deshalb nicht exkulpieren,<br />
vgl. § 280 Abs. 1 S. 2 BGB.<br />
5. B schuldet K demgemäß nach den §§ 249 ff. BGB grundsätzlich den Ersatz<br />
desjenigen Schadens, der durch die Pflichtverletzung entstanden ist. K hätte<br />
im Falle einer ordnungsgemäßen Ankaufsuntersuchung, d.h., bei Entdecken<br />
der diversen Chips im Kniegelenk des Hengstes, den Kaufvertrag mit V über das<br />
Pferd nicht abgeschlossen. Er kann deshalb im Grundsatz von B verlangen, so gestellt<br />
zu werden, wie er stünde, wenn er diesen Vertrag nicht geschlossen hätte.<br />
Zum Teil ist diese hypothetische Vermögenslage bereits dadurch hergestellt<br />
worden, dass K den Kaufpreis nebst Zinsen Zug um Zug gegen Herausgabe<br />
des Pferdes durch den Haftpflichtversicherer des B erstattet bekam. Hätte K<br />
den Hengst nicht käuflich erworben, hätte er diesen aber auch nicht ausgebildet,<br />
sodass die hierfür insgesamt aufgewandten 10.500 € ebenfalls eine ersatzfähige<br />
Schadensposition darstellen könnten.<br />
a) Insoweit ist jedoch zunächst unter dem Gesichtspunkt der Schadensminderungspflicht<br />
des K gemäß § 254 Abs. 2 S. 1 BGB eine Anspruchskürzung<br />
i.H.v. 4.500 € vorzunehmen. Da K von den Chips im Kniegelenk des Hengstes<br />
anlässlich einer Körungsvorauswahl am 01.09.2008 erfuhr, durfte er ab diesem<br />
Zeitpunkt nicht mehr damit rechnen, das Pferd sei – wie durch K beabsichtigt<br />
– zur Zucht geeignet. Der kostspieligen Ausbildung des Pferdes bedurfte es ab<br />
diesem Zeitpunkt nicht mehr, sodass lediglich die in der Zeit von März bis einschließlich<br />
August 2008 angefallenen Ausbildungskosten i.H.v. 6.000 €, nicht<br />
aber die danach in der Zeit vom 01.09.2008 bis zum 15.01.2009 angefallenen<br />
4.500 € erstattungsfähig sein können.<br />
„[17] … Die nach August 2008 insoweit nur im Hinblick auf einen beabsichtigten<br />
Einsatz als Zuchtpferd getätigten Aufwendungen sind daher gemäß § 254 Abs. 2<br />
Satz 1 BGB nicht mehr ersatzpflichtig. …“<br />
b) Hinsichtlich des verbleibenden Restbetrages von 6.000 € stellt sich die<br />
Frage, ob K diesen Betrag nicht vorrangig von V verlangen muss. Man könnte<br />
sich – dem Vortrag des B entsprechend – auf den Standpunkt stellen, die Haftung<br />
des Tierarztes sei gegenüber der Kaufgewährleistungshaftung des V<br />
mangels Gleichstufigkeit nachrangig. Zur Begründung dieser Sichtweise ließe<br />
sich anführen, dass das Vorhandensein der Chips im Kniegelenk einen Sach-
Rechtsprechung<br />
mangel und damit in erster Linie eine Hauptleistungspflichtverletzung des V<br />
darstellt. Dies könnte dafür sprechen, dass V näher am Schadensgeschehen ist<br />
als der Tierarzt B, der lediglich zur Erstellung eines fehlerfreien Gutachtens verpflichtet<br />
gewesen ist.<br />
aa) Eine derartige Sichtweise wäre aber<br />
„[14] … schon deshalb rechtsfehlerhaft, weil der [B] dem [K] auch dann auf Schadensersatz<br />
haften würde, wenn eine Gesamtschuld nicht vorläge. In diesem Fall<br />
würde sich allenfalls die Frage stellen, ob der [B] gemäß § 255 BGB die Abtretung<br />
der Ansprüche gegen den [V] verlangen könnte. …“<br />
bb) Im Übrigen ist ein Gesamtschuldverhältnis zwischen V und B zu bejahen.<br />
Dies hat der BGH in zwei vergleichbaren Fällen jüngst mit zwei Urteilen<br />
vom 22.12.2011 (Az.: VII ZR 7/11, RÜ 2012, 140 – zur Veröffentlichung in BGHZ<br />
bestimmt – und VII ZR 136/11) entschieden.<br />
(1) Sowohl V als auch B schulden dem K den Ersatz desjenigen Schadens, der<br />
durch den Ankauf des mangelbehafteten Pferdes entstanden ist. Der Anspruch<br />
richtet sich mithin gegen mehrere Schuldner.<br />
(2) V und B schuldeten K auch „eine Leistung“. Erforderlich ist insoweit eine<br />
Identität des Leistungsinteresses. Eine völlige Identität von Leistungsinhalt<br />
und -umfang ist jedoch nicht erforderlich. Es genügt eine an der Grenze zur inhaltlichen<br />
Gleichheit liegende besonders enge Verwandtschaft der Ansprüche<br />
(Palandt/Grüneberg, BGB, 71. Aufl. 2012, § 421 Rdnr. 6).<br />
Auch dies hier zu bejahen. Hätte B den Mangel im Rahmen der Ankaufsuntersuchung<br />
erkannt, hätte K das Pferd nicht erworben und infolgedessen auch<br />
nicht unter Aufwendung der hierdurch entstehenden Kosten ausgebildet.<br />
V ist hingegen der Vorwurf zu machen, dass das Pferd überhaupt mangelhaft<br />
ist. Im Rahmen des Schadensersatzes statt der Leistung hat er den K folglich so<br />
zustellen, wie er im Falle ordnungsgemäßer, d.h. mangelfreier Erfüllung des<br />
Kaufvertrages gestanden hätte. Dann aber hätte K die Ausbildungskosten<br />
zwar ebenfalls aufgewandt, jedoch mit dem entscheidenden Unterschied,<br />
dass sich diese Aufwendungen dann rentiert hätten. Das Leistungsinteresse<br />
des K ist deshalb in beiden Fällen identisch.<br />
(3) V und B schulden dem K jeweils den Ersatz des insgesamt entstandenen<br />
Schadens. Jeder ist die ganze Leistung zu bewirken verpflichtet.<br />
(4) K darf diese Leistung selbstverständlich nur einmal fordern.<br />
(5) Fraglich kann demnach allein die für die Annahme eines Gesamtschuldverhältnisses<br />
erforderliche Gleichstufigkeit der Haftungen des Verkäufers und<br />
des die Ankaufsuntersuchung durchführenden Tierarztes sein.<br />
Diese Gleichstufigkeit ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung teilweise<br />
mit dem Hinweis darauf verneint worden, vom Verkäufer verlange der Käufer<br />
das positive Interesse, vom Tierarzt hingegen nur das negative Interesse (vgl.<br />
z.B. OLG Karlsruhe, Urt. v. 11.12.1997 – 11 U 16/97, NJW-RR 1998, 601). Der Käufer<br />
müsse deshalb zunächst den Verkäufer in Anspruch nehmen, soweit das<br />
positive Interesse auch das gegen den Tierarzt geltend gemachte negative Interesse<br />
darstelle. Der Verkäufer sei „näher am Schadensgeschehen dran“, dem<br />
Tierarzt komme nur eine Beratungsfunktion zu.<br />
Dem kann nach der Gegenauffassung (vgl. z.B. OLG Stuttgart, Urt. v. 10.05.<br />
2011 – 1 U 6/11), der sich der BGH – bzgl. der mit den vorliegenden Ausbildungskosten<br />
insoweit vergleichbaren Unterbringungs- und Behandlungskosten<br />
– angeschlossen hat, aus folgenden Gründen nicht gefolgt werden (vgl.<br />
BGH, Urt. v. 22.12.2011 – VII ZR 7/11, Tz. 18 f.):<br />
RÜ 4/2012<br />
Voraussetzung einer Gesamtschuld<br />
gemäß § 421 BGB:<br />
� Mehrere Schuldner<br />
(„schulden mehrere“)<br />
� Gleiches Leistungsinteresse des<br />
Gläubigers („eine Leistung“)<br />
� Vollständige Leistungsverpflichtung<br />
der Schuldner im Außenverhältnis<br />
(„jeder die ganze Leistung zu bewirken<br />
verpflichtet“)<br />
� Einmaliges Forderungsrecht des Gläubigers<br />
(„der Gläubiger die Leistung<br />
nur einmal zu fordern berechtigt“)<br />
� Gleichstufigkeit (ungeschriebenes<br />
Tatbestandsmerkmal zur Abgrenzung<br />
zu § 255 BGB und den Fällen der cessio<br />
legis)<br />
219
220<br />
RÜ 4/2012<br />
Leitsatz 2 zu BGH, Urt. v. 22.12.2011 –<br />
VII ZR 7/11:<br />
„Beruht der fehlerhafte Befund darauf,<br />
dass der Tierarzt einen Mangel des Pferdes<br />
nicht erkannt oder seinem Vertragspartner<br />
nicht mitgeteilt hat, haftet er mit dem<br />
zu Schadensersatz oder Rückgewähr verpflichteten<br />
Verkäufer des Pferdes als Gesamtschuldner.“<br />
Rechtsprechung<br />
„[18] Die Gleichstufigkeit der Verpflichtungen ergibt sich daraus, dass sowohl<br />
der Verkäufer als auch der Tierarzt die Unterbringungs- und Behandlungskosten<br />
mit einer Geldzahlung ersetzen müssen, ohne dass einer der<br />
Schuldner nur subsidiär oder vorläufig für die andere Verpflichtung einstehen<br />
muss (vgl. BGH, Urteil vom 28. November 2006 – VI ZR 136/05, NJW 2007,<br />
1208). Auf die Einordnung als Verwendungsersatz gemäß § 347 Abs. 2 BGB oder<br />
als Schadensersatz kommt es ebenso wenig an wie auf die Frage, ob ein Anspruch<br />
auf Ersatz des negativen Interesses oder des positiven Interesses geltend gemacht<br />
wird. Auch ist unerheblich, dass der Verkäufer möglicherweise trotz fehlenden Verschuldens<br />
haftet, während die Haftung des Tierarztes Verschulden voraussetzt<br />
(OLG Stuttgart, Urteil vom 10. Mai 2011 – 1 U 6/11). Entscheidend ist allein, dass<br />
sowohl der Verkäufer als auch der Tierarzt verpflichtet sind, die Unterbringungsund<br />
Behandlungskosten zu ersetzen. Insoweit wird ein inhaltsgleiches Gläubigerinteresse<br />
befriedigt. Sowohl der Verkäufer als auch der Tierarzt haben für die Beseitigung<br />
des gleichartigen Vermögensnachteils einzustehen, den der Käufer dadurch<br />
erlitten hat, dass jeder von ihnen seine vertraglichen Pflichten nicht erfüllt<br />
hat (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Februar 1965 – GSZ 1/64, BGHZ 43, 227, 230; Urteil<br />
vom 19. Dezember 1968 – VII ZR 23/66, BGHZ 51, 275, 277). Es kommt auch nicht<br />
darauf an, dass Verkäufer und Tierarzt, bezogen auf das Kaufgeschäft, nicht im<br />
selben Lager stehen und kein gemeinsames Interesse verfolgen. Ohne Belang ist<br />
auch, dass Verkäufer und Tierarzt unterschiedliche Hauptleistungspflichten<br />
zu erfüllen haben (OLG Stuttgart, Urteil vom 10. Mai 2011 – 1 U 6/11, S. 7).<br />
[19] Daran ändern auch nichts die Erwägungen, mit denen eine größere Sachnähe<br />
des Verkäufers begründet wird. Diese Erwägungen lassen im Übrigen unberücksichtigt,<br />
dass der Tierarzt mit einem fehlerhaften Befund zur Ankaufsuntersuchung<br />
die eigentliche Ursache für den Ankauf gesetzt haben kann und bagatellisieren<br />
zu Unrecht die Aufklärungsfunktion der Ankaufsuntersuchung.“<br />
Nach alledem steht es dem Gläubiger (K) frei, welchen Gesamtschuldner (V<br />
oder B) er in Anspruch nimmt.<br />
„[15] … Ihm kann deshalb grundsätzlich nicht als Verschulden bei der Obliegenheit<br />
zur Schadensminderung angelastet werden, den Schuldner seiner Wahl in Anspruch<br />
genommen zu haben. Inwieweit es im Einzelfall ausnahmsweise gleichwohl<br />
nach den Maßstäben von Treu und Glauben geboten sein kann, zunächst<br />
den Verkäufer auf Rückabwicklung des Vertrages in Anspruch zu nehmen (vgl.<br />
hierzu BGH, Urteil vom 22. Dezember 2011 – VII ZR 136/11), kann offenbleiben.<br />
Denn jedenfalls wäre hierfür Voraussetzung, dass die Rückabwicklung der einfachere<br />
und jedenfalls nicht aufwändigere Weg der Schadloshaltung wäre. Diese<br />
Voraussetzungen sind hier nicht gegeben. Der [V] ist nicht bereit, dem [K] die geltend<br />
gemachten Aufwendungen und Schäden zu ersetzen. Zu einer gerichtlichen<br />
Geltendmachung seiner Ansprüche ist der [K] vor einer Inanspruchnahme des [B]<br />
gemäß § 242 BGB jedenfalls nicht verpflichtet.“<br />
II. Ergebnis: Der von K gegen B geltend gemachte Schadensersatzanspruch<br />
besteht i.H.v. 6.000 €. Im Übrigen ist die Klage – mit entsprechender Kostenverteilung<br />
gem. § 92 Abs. 1 ZPO – abzuweisen.<br />
Der BGH hat in drei unmittelbar aufeinander folgenden Entscheidungen einen<br />
Streit in der obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt und diesen dahingehend<br />
entschieden, dass zwischen dem Verkäufer eines mangelhaften Pferdes<br />
und dem Tierarzt, der im Rahmen einer Ankaufsuntersuchung diesen Mangel<br />
nicht entdeckt, ein Gesamtschuldverhältnis besteht. Es bedarf insoweit keiner<br />
hellseherischen Fähigkeit um vorherzusagen, dass aus diesen drei grundlegenden,<br />
zum Teil für die amtliche Entscheidungssammlung BGHZ vorgesehenen<br />
Entscheidungen Examensklausuren hervorgehen werden.<br />
Dr. Timm Nissen
§ 134 BGB; §§ 2, 3, 5 RDG<br />
Rechtsprechung<br />
RÜ 4/2012<br />
Einziehung von Schadensersatzansprüchen durch<br />
Mietwagenunternehmer<br />
BGH, Urt. v. 31.01.2012 – VI ZR 143/11<br />
Fall<br />
Die K, eine Autovermietung, verlangt von der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung<br />
B aus abgetretenem Recht der Geschädigten G Ersatz restlicher Mietwagenkosten<br />
nach einem Verkehrsunfall.<br />
V, die Versicherungsnehmerin der B, fuhr am 04.11.2009 aus Unachtsamkeit<br />
auf das verkehrsbedingt anhaltende Fahrzeug der G auf. Die volle Einstandspflicht<br />
der B für den aufgrund des Verkehrsunfalls entstandenen Schaden<br />
steht außer Streit.<br />
Die G mietete für die Zeit des schädigungsbedingten Ausfalls ihres Kraftfahrzeugs<br />
(05.11.2009 bis 14.11.2009) bei der K ein Ersatzfahrzeug an. In diesem<br />
Zusammenhang unterzeichneten die Mietvertragsparteien am 05./09.11.2009<br />
eine von der K vorformulierte Erklärung „Abtretung und Zahlungsanweisung“<br />
mit folgendem Wortlaut:<br />
„Hiermit trete ich die Schadensersatzforderung auf Erstattung der Mietwagenkosten<br />
gegen den Fahrer, Halter und deren/dessen Haftpflichtversicherung aus<br />
dem oben genannten Schadensereignis erfüllungshalber an die … (K) ab.<br />
Ich weise die Versicherung und gegebenenfalls den regulierenden Rechtsanwalt<br />
an, den sich aus der Fahrzeuganmietung ergebenden Schadensbetrag unmittelbar<br />
an die oben genannte Autovermietung zu zahlen und bitte darum, die Zahlungsbereitschaft<br />
kurzfristig dorthin zu bestätigen.<br />
Durch diese Abtretung und Zahlungsanweisung werde ich nicht von meiner Verpflichtung<br />
zur Zahlung der Mietwagenkosten befreit, wenn die Versicherung<br />
nicht in angemessener Zeit/Höhe leistet. Zahlungen werden mit den Ansprüchen<br />
der Geschädigten verrechnet.“<br />
Die K übersandte das Original ihrer Rechnung über einen Betrag von 1.246,41 €<br />
an die Zedentin und eine Kopie an die B, die auf den Rechnungsbetrag 575 €<br />
erstattete.<br />
In der Folgezeit reduzierte K ihre Forderung bzgl. der Mietwagenkosten auf<br />
einen „Normaltarif/Selbstzahlertarif“ unter Heranziehung des Schwacke-Mietpreisspiegels<br />
unter Hinzurechnung eines Zuschlages für unfallbedingte Zusatzleistungen<br />
i.H.v. 262 € auf einen Mindestbetrag von 1.147,40 €. Unter Anrechnung<br />
der von B erbrachten Teilzahlung i.H.v. 575 € ergibt sich daher nach<br />
Ansicht der K noch eine Restforderung i.H.v. 572,40 €.<br />
B macht demgegenüber geltend, K sei nicht berechtigt, diese Forderung geltend<br />
zu machen, da die Abtretung gegen die Vorschriften des RDG verstoße<br />
und daher gemäß § 134 BGB nichtig sei.<br />
Steht K gegen B ein Anspruch auf Zahlung i.H.v. 572,40 € zu?<br />
Entscheidung<br />
K kann ein Schadensersatzanspruch aus abgetretenem Recht gegen B i.H.v.<br />
572,40 € aus § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG i.V.m. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG<br />
Leitsätze<br />
a) Die Einziehung einer an ein Mietwagenunternehmen<br />
abgetretenen Schadensersatzforderung<br />
des Geschädigten auf<br />
Erstattung von Mietwagenkosten ist gemäß<br />
§ 5 Abs. 1 Satz 1 RDG grundsätzlich<br />
erlaubt, wenn allein die Höhe der Mietwagenkosten<br />
streitig ist.<br />
b) Etwas anderes gilt, wenn die Haftung<br />
dem Grunde nach oder die Haftungsquote<br />
streitig ist oder Schäden geltend<br />
gemacht werden, die in keinem Zusammenhang<br />
mit der Haupttätigkeit stehen.<br />
Das Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG)<br />
hat zum 01.07.2008 das Rechtsberatungsgesetz<br />
(RBerG) abgelöst.<br />
221
222<br />
§ 3 RDG<br />
RÜ 4/2012<br />
Die selbstständige Erbringung außergerichtlicher<br />
Rechtsdienstleistungen ist nur<br />
in dem Umfang zulässig, in dem sie<br />
durch dieses Gesetz oder durch oder<br />
aufgrund anderer Gesetze erlaubt wird.<br />
§ 2 RDG<br />
(1) Rechtsdienstleistung ist jede Tätigkeit<br />
in konkreten fremden Angelegenheiten,<br />
sobald sie eine rechtliche Prüfung<br />
des Einzelfalls erfordert. …<br />
§ 5 RDG<br />
(1) 1 Erlaubt sind Rechtsdienstleistungen<br />
im Zusammenhang mit einer anderen<br />
Tätigkeit, wenn sie als Nebenleistung<br />
zum Berufs- oder Tätigkeitsbild gehören.<br />
2 Ob eine Nebenleistung vorliegt, ist nach<br />
ihrem Inhalt, Umfang und sachlichen Zusammenhang<br />
mit der Haupttätigkeit unter<br />
Berücksichtigung der Rechtskenntnisse<br />
zu beurteilen, die für die Haupttätigkeit<br />
erforderlich sind.<br />
Rechtsprechung<br />
sowie § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 1 ff. StVO i.Vm. § 398 BGB zustehen.<br />
Dazu ist eine wirksame Abtretung des Anspruchs aus § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1<br />
VVG i.V.m. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG sowie § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m.<br />
§§ 1 ff. StVO von der G an die K erforderlich.<br />
I. Dies setzt zunächst eine wirksame Einigung von G und K i.S.v. § 398 S. 1 BGB<br />
voraus.<br />
1. G und K haben sich in dem Vertrag vom 05./09.11.2009 darüber geeinigt,<br />
dass G ihre Schadensersatzforderung auf Erstattung der Mietwagenkosten gegen<br />
den Fahrer, Halter und dessen Haftpflichtversicherung aus dem Schadensereignis<br />
vom 04.11.2009 erfüllungshalber an die K abtritt.<br />
2. Diese Einigung i.S.v. § 398 S. 1 BGB könnte wegen Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz<br />
gemäß § 134 BGB i.V.m. § 3 RDG nichtig sein.<br />
a) Dazu muss es sich bei § 3 RDG um ein Verbotsgesetz handeln.<br />
Verbotsgesetze sind Gesetze i.S.v. Art. 2 EGBGB – also nicht nur Gesetze im formellen<br />
Sinn, sondern auch Rechtsverordnungen und Gewohnheitsrecht –, die<br />
eine nach unserer Rechtsordnung grundsätzlich mögliche rechtsgeschäftliche<br />
Regelung wegen ihres Inhalts oder wegen der Umstände ihres Zustandekommens<br />
untersagen (Palandt/Ellenberger, 71. Aufl. 2012, § 134 Rdnr. 2, 5).<br />
§ 3 RDG verbietet die selbstständige Erbringung außergerichtlicher Rechtsdienstleistungen,<br />
falls diese nicht durch oder aufgrund gesetzlicher Regelung<br />
erlaubt wird. Somit untersagt diese Regelung in gewissem Umfang Verträge<br />
über Rechtsberatung und stellt daher ein Verbotsgesetz i.S.v. § 134 BGB dar<br />
(Jauernig/Jauernig, 14. Aufl. 2011, § 134 Rdnr. 11).<br />
b) Ferner muss ein Verstoß gegen das Verbotsgesetz gegeben sein.<br />
Die Abtretung der Schadensersatzansprüche auf Erstattung der Mietwagenkosten<br />
verstößt gegen § 3 RDG, wenn es sich bei der Geltendmachung der abgetretenen<br />
Ansprüche durch K um die selbstständige Erbringung einer außergerichtlichen<br />
Rechtsdienstleistung handelt, für die K keine Erlaubnis durch<br />
oder aufgrund eines Gesetzes besitzt.<br />
Ob es sich bei der Geltendmachung der abgetretenen Forderung durch K<br />
überhaupt um eine Rechtsdienstleistung i.S.v. § 2 Abs. 1 RDG handelt, kann<br />
dahinstehen, wenn K für eine derartige Rechtsdienstleistung eine Erlaubnis<br />
gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 RDG zusteht. Danach sind Rechtsdienstleistungen im Zusammenhang<br />
mit einer anderen Tätigkeit erlaubt, wenn sie als Nebenleistung<br />
zum Berufs- oder Tätigkeitsbild des Handelnden gehören. Ob eine Nebenleistung<br />
vorliegt, ist gemäß § 5 Abs. 1 S. 2 RDG nach ihrem Inhalt, Umfang und<br />
sachlichen Zusammenhang mit der Haupttätigkeit unter Berücksichtigung<br />
der Rechtskenntnisse zu beurteilen, die für die Haupttätigkeit erforderlich<br />
sind.<br />
„[8] a) Die Frage, ob die Einziehung erfüllungshalber abgetretener Schadensersatzforderungen<br />
von Kunden zum Berufs- oder Tätigkeitsbild des Autovermieters<br />
gehört, wird in Rechtsprechung und Schrifttum unterschiedlich beurteilt.<br />
Nach der auch vom Berufungsgericht vertretenen Auffassung besteht das Berufsoder<br />
Tätigkeitsbild eines Mietwagenunternehmens in der Vermietung von Kraftfahrzeugen<br />
und beinhaltet schon mangels ausreichender Rechtskenntnisse des<br />
durchschnittlichen Autovermieters nicht die Befassung mit komplexen Rechtsfragen<br />
des Schadensersatzrechts (…). Eine andere Auffassung verweist darauf, dass<br />
die Einziehung abgetretener Kundenforderungen zu den üblichen Nebenleistungen<br />
von Mietwagenunternehmen gehöre und es durchaus in einem sachlichen<br />
Zusammenhang zu der Vermietungstätigkeit stehe, wenn der Autovermieter die
Rechtsprechung<br />
Berechtigung der abgerechneten Mietwagenkosten der gegnerischen Versicherung<br />
gegenüber nachweise; eine vertiefte rechtliche Prüfung sei hierbei nicht anzustellen<br />
(…). Einschränkend sieht eine dritte Meinung die Forderungseinziehung<br />
durch Mietwagenunternehmen nur dann als erlaubte Nebenleistung<br />
an, wenn allein die Höhe der Mietwagenkosten im Streit steht, wegen der darüber<br />
hinausgehenden Komplexität der Rechtslage hingegen nicht, wenn die Haftung<br />
dem Grunde nach bzw. die Haftungsquote streitig ist oder Schäden geltend<br />
gemacht werden, die in keinem Zusammenhang mit der Haupttätigkeit stehen,<br />
wie z.B. Schmerzensgeldansprüche (…).<br />
[9] b) Die letztgenannte Auffassung ist richtig … . Dies entspricht dem im Gesetzgebungsverfahren<br />
zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers und den<br />
Interessen der Beteiligten. …<br />
[11] bb) … § 5 RDG … [soll] … als zentrale Erlaubnisnorm für alle wirtschaftlich<br />
tätigen Unternehmen den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechend den<br />
Weg für eine neue, weitere Auslegung der zulässigen Nebentätigkeit durch die<br />
Rechtsprechung eröffnen … . Zwar sind auch nach jetzt geltendem Recht Rechtsdienstleistungen<br />
nur erlaubt, wenn es sich um eine Nebenleistung handelt und<br />
diese zum Berufs- und Tätigkeitsbild des Unternehmens gehört (§ 5 Abs. 1 Satz 1<br />
RDG). Im Vordergrund muss also die allgemeine, nicht rechtliche Dienstleistung<br />
stehen; die Rechtsdienstleistung darf nicht ein solches Gewicht haben, dass für sie<br />
die volle Kompetenz eines Rechtsanwalts oder die besondere Sachkunde einer registrierten<br />
Person (vgl. §§ 10 ff. RDG) erforderlich ist. … Entscheidend ist, ob ein<br />
sachlicher Zusammenhang zwischen Haupt- und Nebenleistung besteht (…).<br />
[12] cc) Nach diesen Grundsätzen soll nach dem Entwurf zum Rechtsdienstleistungsgesetz<br />
die Einziehung von Kundenforderungen, die einem Unternehmer,<br />
Arzt oder einer Werkstatt erfüllungshalber abgetreten wurden, grundsätzlich erlaubt<br />
sein, auch wenn sie eine rechtliche Prüfung erfordert, weil die Rechtsdienstleistung<br />
– die Einziehung der eigenen Vergütungsansprüche gegenüber<br />
einem Dritten – besonders eng mit der eigentlichen, den Vergütungsanspruch<br />
auslösenden Haupttätigkeit verbunden ist. Als ein Anwendungsfall<br />
der als Nebenleistung zulässigen Inkassotätigkeit wird der Bereich der Unfallschadenregulierung,<br />
etwa bei der Geltendmachung von Mietwagenkosten, genannt,<br />
wobei häufig Streit über die Höhe der Mietwagenrechnung entstehe, insbesondere<br />
bei Zugrundelegung eines so genannten Unfallersatztarifs. Gerade die in einem<br />
Streitfall erforderliche Rechtfertigung der eigenen Leistung durch den Unternehmer<br />
belege die in § 5 Abs. 1 RDG geforderte Zugehörigkeit zu dessen eigentlicher<br />
Hauptleistung. …<br />
[13] Allerdings hat der Regierungsentwurf hinsichtlich der Einziehung von Kundenforderungen<br />
durch Autovermieter danach differenziert, ob die betroffene Forderung<br />
dem Grunde oder lediglich der Höhe nach im Streit steht. Die Regulierung<br />
dem Grunde nach streitiger Schadensfälle soll keine nach § 5 Abs. 1 RDG zulässige<br />
Nebenleistung der Vermietung eines Kraftfahrzeugs sein, weil die<br />
Klärung der Verschuldensfrage für den Unfallgeschädigten von essentieller<br />
Bedeutung sei. Zudem gehöre die rechtliche Beurteilung von Verkehrsunfällen<br />
nicht zum Berufsbild des Mietwagenunternehmers, so dass es auch an dem erforderlichen<br />
Zusammenhang mit der eigentlichen Hauptleistung fehle. Soweit ein<br />
Mietwagenunternehmen dem Unfallgeschädigten dagegen bei unstreitigem Haftungsgrund<br />
Hinweise zur Erstattungsfähigkeit der durch seine Beauftragung entstandenen<br />
Kosten erteile, soll die rechtliche Beratung des Unfallgeschädigten<br />
nach § 5 Abs. 1 RDG zulässig sein (…).“<br />
Folglich gehört nach Auffassung des BGH der Forderungseinzug jedenfalls<br />
dann als Nebenleistung zum Berufsbild eines Mietwagenunternehmers und<br />
ist daher gemäß § 5 Abs. 1 RDG erlaubt, wenn die Forderung dem Grunde<br />
nach unbestritten ist und es lediglich Streit über deren Höhe gibt.<br />
RÜ 4/2012<br />
Nach der früheren Rechtslage war eine<br />
rechtsberatende Tätigkeit gemäß Art. 1<br />
§ 5 Nr. 1 RBerG zulässig, wenn kaufmännische<br />
oder sonstige gewerbliche Unternehmer<br />
für ihre Kunden rechtliche Angelegenheiten<br />
erledigten, die mit einem<br />
Geschäft ihres Gewerbebetriebs in unmittelbarem<br />
Zusammenhang standen.<br />
Zu dieser Norm hat der BGH entschieden,<br />
dass ihre Voraussetzungen bei einem<br />
gewerblichen Kraftfahrzeugvermieter<br />
nicht vorliegen, weil es seine Berufstätigkeit<br />
nicht erfordert, sich geschäftsmäßig<br />
mit der Regulierung von Schadensfällen<br />
seiner Kunden zu befassen,<br />
und deshalb kein unmittelbarer Zusammenhang<br />
mit dem Hauptberuf gegeben<br />
ist (…). Bereits 1994 (BGH VersR 1994,<br />
950, 952) hat der BGH allerdings darauf<br />
hingewiesen, dass ein solches Vorgehen<br />
branchenüblich geworden sei und von<br />
den Kfz-Vermietern sogar erwartet werde,<br />
dass sie unmittelbar mit dem Haftpflichtversicherer<br />
des Schädigers abrechneten<br />
und ihm gegenüber die Ansprüche<br />
des Geschädigten verfolgten und durchsetzten.<br />
… Die Bindung des Richters an<br />
das Gesetz lasse es aber nicht zu, diesem<br />
Bedürfnis durch eine die gesetzgeberische<br />
Regelung „überholende“ richterliche<br />
Gesetzesauslegung Rechnung zu<br />
tragen. Es müsse vielmehr dem Gesetzgeber<br />
überlassen bleiben, die Notwendigkeit<br />
einer Gesetzesänderung zu überprüfen<br />
und gegebenenfalls das Gesetz<br />
zu ändern. Der Gesetzgeber hat diese<br />
Erwägungen in § 5 RDG aufgegriffen<br />
(BGH, Urt. v. 31.01.2012 – VI ZR 143/11,<br />
Rdnr. 10, 11).<br />
223
224<br />
RÜ 4/2012<br />
Nach Ansicht des BGH entspricht diese<br />
Sichtweise auch den Interessen der Beteiligten.<br />
Die Unfallgeschädigten gingen<br />
für den Vermieter erkennbar davon aus,<br />
dass die Mietwagenkosten von dem<br />
gegnerischen Haftpflichtversicherer, der<br />
ihnen gegenüber dem Grunde nach zu<br />
deren Übernahme verpflichtet ist, erstattet<br />
werden und sie mit der Schadensregulierung<br />
in keinem größeren Umfang<br />
behelligt werden, als unbedingt notwendig<br />
(…). Demzufolge seien Direktabrechnungen<br />
von Autovermietern mit<br />
dem gegnerischen Haftpflichtversicherer<br />
weit verbreitet (…). Damit liege es<br />
auch im Interesse des Vermieters, seine<br />
Tarife so zu gestalten, dass sie einerseits<br />
dem eigenen Gewinnmaximierungsinteresse<br />
entsprechen, andererseits in der<br />
Abrechnung mit dem Haftpflichtversicherer<br />
durchgesetzt werden können.<br />
Schon im Hinblick darauf müsse sich der<br />
Autovermieter – auch rechtliche – Kenntnisse<br />
hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit<br />
von Rechnungen aneignen, wenn es<br />
sich um die Anmietung eines Ersatzfahrzeugs<br />
nach einem Unfall handele. Es sei<br />
– auch im Streitfall – nicht ersichtlich, dass<br />
sich dann bei der nach einer Abtretung<br />
erfolgten Geltendmachung einer dem<br />
Grunde nach unstreitigen Forderung regelmäßig<br />
komplexe juristische Fragen<br />
stellten, die darüber hinausgehende<br />
Rechtskenntnisse erforderten (BGH, Urt. v.<br />
31.01.2012 – VI ZR 143/11, Rdnr. 15, 16).<br />
Rechtsprechung<br />
Da die Haftung der Kfz-Haftpflichtversicherung B für den von ihrer Versicherungsnehmerin<br />
V verursachten Unfallschaden dem Grunde nach von Anfang<br />
an unstreitig war und sie die von K geltend gemachte Forderung allein wegen<br />
der Höhe angreift, stellt die Geltendmachung der Mietwagenrechnung durch<br />
K nach den vom BGH entwickelten Grundsätzen eine Nebenleistung dar, die<br />
zum Berufsbild der Autovermieterin K gehört. Somit ist der Forderungseinzug<br />
durch K – wenn man diesbzgl. eine Rechtsdienstleistung i.S.v. § 2 Abs. 1 RDG<br />
annehmen würde – eine gemäß § 5 Abs. 1 RDG erlaubte Tätigkeit, sodass kein<br />
Verstoß gegen § 3 RDG vorliegt.<br />
Infolgedessen ist die Einigung von G und K über den Übergang der Schadensersatzforderung<br />
nicht gemäß § 134 BGB i.V.m. § 3 RDG nichtig, sodass die für<br />
eine Abtretung erforderliche wirksame Einigung i.S.v. § 398 S. 1 BGB gegeben<br />
ist.<br />
II. Ferner muss die G zur Abtretung berechtigt gewesen sein. Das ist der Fall,<br />
wenn sie verfügungsberechtigte Forderungsinhaberin ist.<br />
G könnte gegen B ein Anspruch auf Zahlung i.H.v. 572,40 € aus § 115 Abs. 1 S. 1<br />
Nr. 1 VVG i.V.m. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG sowie § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m.<br />
§§ 1 ff. StVO zustehen.<br />
Die Kfz-Haftpflichtversicherung B haftet gemäß § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG im<br />
gleichen Maße wie die Kfz-Halterin V.<br />
1. V haftet wegen des von ihr verursachten Auffahrunfalls gegenüber G aus §§ 7<br />
Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG sowie aus § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 1 ff. StVO.<br />
2. Die Haftpflichtversicherung B muss der G daher den aus der Beschädigung<br />
des Pkw entstandenen Schaden gemäß §§ 10 ff. StVG i.V.m. §§ 249 ff. BGB ersetzen.<br />
a) Infolge des Unfalls konnte die G für einige Tage ihr eigenes Fahrzeug nicht<br />
nutzen und musste deshalb für diesen Zeitraum ein Ersatzfahrzeug anmieten,<br />
was ohne den Unfall nicht erforderlich gewesen wäre, sodass der Schaden<br />
nach der für die Schadensermittlung maßgeblichen Differenzhypothese in<br />
den Mietwagenkosten besteht.<br />
b) Durch die Anmietung eines vergleichbaren Pkw wird wirtschaftlich ein Zustand<br />
hergestellt, der dem Zustand ohne das Schadensereignis vergleichbar<br />
ist, sodass Mietwagenkosten an sich gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 BGB ersatzfähig<br />
sind. Dabei muss sich der Geschädigte wegen des Wirtschaftlichkeitspostulats<br />
bei der Anmietung eines Ersatzfahrzeugs grundsätzlich für den Normaltarif<br />
entscheiden. Der von den Autovermietern oftmals angebotene und deutlich<br />
höhere Unfallersatztarif ist nur zu ersetzen, wenn spezifische im Normaltarif<br />
nicht berücksichtigte Leistungen bei der Vermietung einen Zuschlag rechtfertigen<br />
(BGH NJW 2007, 1122, 3782).<br />
Da das Berufungsgericht keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob im Streitfall<br />
unfallbedingte Zusatzleistungen i.H.v. 262 € erforderlich waren, hat der<br />
BGH das Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung<br />
an das Berufungsgericht zurückverwiesen.<br />
Es kann folglich nicht abschließend beurteilt werden, ob K gegen B ein Anspruch<br />
aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG sowie aus § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m.<br />
§§ 1 ff. StVO i.V.m. § 398 BGB i.H.v. 572,40 € zusteht.<br />
Claudia Haack
§ 1 KSchG, §§ 1, 7, 9 AGG<br />
Rechtsprechung<br />
RÜ 4/2012<br />
Kündigung des Chefarztes einer katholischen Klinik wegen<br />
Wiederverheiratung<br />
BAG, Urt. v. 08.09.2011 – 2 AZR 543/10<br />
Fall (Sachverhalt vereinfacht)<br />
K ist seit dem Jahre 2000 im katholischen S-Krankenhaus in D als Chefarzt der<br />
Abteilung Innere Medizin („Abteilungsarzt“) beschäftigt. Trägerin des Krankenhauses<br />
ist die B.<br />
Nach dem Arbeitsvertrag der Parteien leisten die Mitarbeiter ihren Dienst im<br />
Geist christlicher Nächstenliebe; als wichtiger Grund zur außerordentlichen<br />
Kündigung ist u.a. „Leben in kirchlich ungültiger Ehe oder eheähnlicher Gemeinschaft“<br />
vorgesehen.<br />
Nach Art. 3 Abs. 2 der auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Grundordnung<br />
des kirchlichen Dienstes vom 22.09.1993 (GrO) können kirchliche Dienstgeber<br />
pastorale, katechetische sowie in der Regel erzieherische und leitende Aufgaben<br />
nur einer Person übertragen, die der katholischen Kirche angehört. Art. 4<br />
Abs. 1 GrO fordert von den katholischen Mitarbeitern, dass sie die Grundsätze<br />
der katholischen Glaubens- und Sittenlehre anerkennen und beachten. Bei leitenden<br />
katholischen Mitarbeitern, zu denen u.a. Abteilungsärzte gehören, ist<br />
das persönliche Lebenszeugnis i.S.d. Grundsätze der katholischen Glaubensund<br />
Sittenlehre erforderlich.<br />
Nach Art. 5 Abs. 1 GrO muss der Dienstgeber, wenn ein Mitarbeiter die Beschäftigungsanforderungen<br />
nicht mehr erfüllt, durch Beratung zu erreichen<br />
versuchen, dass dieser den Mangel auf Dauer beseitigt. Als letzte Maßnahme<br />
kommt eine Kündigung in Betracht. Gemäß Art. 5 Abs. 2 GrO ist der Abschluss<br />
einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen<br />
Ehe* ein schwerwiegender Loyalitätsverstoß, der eine Kündigung<br />
rechtfertigen kann. In diesem Fall ist nach Art. 5 Abs. 3 S. 1 GrO die Weiterbeschäftigung<br />
u.a. dann ausgeschlossen, wenn der Loyalitätsverstoß von leitend<br />
tätigen Mitarbeitern begangen wird. Lediglich aus schwerwiegenden Gründen<br />
des Einzelfalls kann ausnahmsweise von der Kündigung abgesehen werden<br />
(Art. 5 Abs. 3 S. 2 GrO). Im Fall des Abschlusses einer nach dem Glaubensverständnis<br />
und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe scheidet eine<br />
Weiterbeschäftigung jedenfalls dann aus, wenn sie unter öffentliches Ärgernis<br />
erregenden oder die Glaubwürdigkeit der Kirche beeinträchtigenden Umständen<br />
geschlossen wird (Art. 5 Abs. 5 GrO).<br />
Nachdem sich seine erste Ehefrau im Jahre 2005 von ihm getrennt hatte, lebte<br />
K mit seiner jetzigen Frau von 2006 bis 2008 unverheiratet zusammen, was der<br />
B seit Herbst 2006 bekannt war. Nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau<br />
Anfang 2008 heiratete K im August 2008 seine jetzige Frau standesamtlich.<br />
Davon erfuhr B spätestens im November 2008. In den folgenden Wochen fanden<br />
sowohl zwischen den Parteien als auch aufseiten der B Erörterungen und<br />
Beratungen statt. Nach Anhörung der bei ihr bestehenden Mitarbeitervertretung<br />
(MAV), die von einer Stellungnahme absah, kündigte die B das Arbeitsverhältnis<br />
im März 2009 fristgerecht schriftlich zum 30.09.2009.<br />
K vertritt die Auffassung, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Die erneute<br />
Heirat stelle keinen Kündigungsgrund dar, da er als Chefarzt weder leitender<br />
Angestellter noch Träger der kirchlichen Verkündigung i.S.d. Art. 5 Abs. 3<br />
Leitsatz<br />
Auch bei Kündigungen wegen Enttäuschung<br />
der berechtigten Loyalitätserwartungen<br />
eines kirchlichen Arbeitgebers<br />
kann die stets erforderliche Interessenabwägung<br />
im Einzelfall zu dem Ergebnis<br />
führen, dass dem Arbeitgeber die<br />
Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers<br />
zumutbar und die Kündigung deshalb unwirksam<br />
ist. Abzuwägen sind das Selbstverständnis<br />
der Kirchen einerseits und<br />
das Recht des Arbeitnehmers auf Achtung<br />
seines Privat- und Familienlebens<br />
andererseits.<br />
* Eine ungültige Ehe schließt nach katholischem<br />
Rechtsverständnis (vgl. Canon<br />
[Can.] 1085 § 1 Codex Iuris Canonici<br />
[CIC]), wer durch das Band einer früheren<br />
Ehe gebunden ist. Eine neue Eheschließung<br />
ist auch dann nicht erlaubt, wenn<br />
eine frühere Ehe aus irgendeinem Grund<br />
nichtig oder aufgelöst worden ist, die<br />
Nichtigkeit bzw. die Auflösung der früheren<br />
Ehe aber noch nicht rechtmäßig<br />
und sicher feststeht, Can. 1085 § 2 CIC.<br />
225
226<br />
RÜ 4/2012<br />
§ 30<br />
Anhörung und Mitberatung<br />
bei ordentlicher Kündigung<br />
(1) Der Mitarbeitervertretung ist vor jeder<br />
ordentlichen Kündigung durch den<br />
Dienstgeber schriftlich die Absicht der<br />
Kündigung mitzuteilen. Bestand das Arbeitsverhältnis<br />
im Zeitpunkt der beabsichtigten<br />
Kündigung bereits mindestens<br />
sechs Monate, so hat er auch die<br />
Gründe der Kündigung darzulegen.<br />
…<br />
(5) Eine ohne Einhaltung des Verfahrens<br />
nach den Absätzen 1 und 2 ausgesprochene<br />
Kündigung ist unwirksam.<br />
Rechtsprechung<br />
GrO sei. Zudem verstoße die Kündigung gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz,<br />
da B andere geschiedene und wiederverheiratete Chefärzte durchaus<br />
eingestellt oder weiterbeschäftigt habe oder sogar derzeit beschäftige. Ferner<br />
habe er sich nicht kirchenfeindlich verhalten. Die Trennung sei nicht öffentlich<br />
geworden und sie habe auch bei der Belegschaft kein Ärgernis erregt.<br />
B ist demgegenüber der Ansicht, die Kündigung sei sozial gerechtfertigt. K sei<br />
eine ungültige Ehe i.S.d. katholischen Kirchenrechts eingegangen und habe<br />
dadurch in erheblicher Weise gegen seine Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis<br />
verstoßen. Er sei als leitender Mitarbeiter i.S.d. Art. 5 Abs. 3 GrO anzusehen.<br />
Ein Großteil der von K benannten geschiedenen und wiederverheirateten<br />
Chefärzte sei nicht katholisch. Andere arbeiteten in Krankenhäusern,<br />
die nicht in ihrer Trägerschaft stünden. Herr Dr. B sei Ende 2003 ausgeschieden.<br />
Zudem habe dieser seine Wiederverheiratung erst einen Monat vor seinem<br />
altersbedingten Ausscheiden angezeigt; mit Rücksicht auf das kurz<br />
bevorstehende Ausscheiden sei in diesem Fall von einer Kündigung abgesehen<br />
worden. Allenfalls bei dem schon in den 80er Jahren verstorbenen Chefarzt<br />
Dr. S könne ein vergleichbarer Sachverhalt angenommen werden. Damals<br />
habe die Grundordnung des kirchlichen Dienstes aber noch nicht gegolten.<br />
Hat die Kündigung das Arbeitsverhältnis zum 30.09.2009 beendet?<br />
Entscheidung<br />
B könnte das Arbeitsverhältnis durch eine ordentliche Kündigung zum 30.09.<br />
2009 beendet haben.<br />
I. K ist seit dem Jahr 2000 bei der B beschäftigt, sodass zwischen K und B<br />
ursprünglich ein wirksamer Arbeitsvertrag vorgelegen hat.<br />
II. Eine schriftliche Kündigungserklärung i.S.v. § 623 BGB hat die B im März<br />
2009 abgegeben.<br />
III. Die gemäß § 30 MAVO (Mitarbeitervertretungsordnung) erforderliche vorherige<br />
Beteiligung der Mitarbeitervertretung ist erfolgt.<br />
IV. B hat sich für eine Kündigung des K entschieden, da dieser mit seiner erneuten<br />
Heirat eine nach der Rechtsordnung der katholischen Kirche ungültige<br />
Ehe abgeschlossen und dadurch ihrer Ansicht nach einen schwerwiegenden<br />
Loyalitätsverstoß begangen hat. Infolgedessen könnte die Kündigungserklärung<br />
der B gemäß § 134 BGB i.V.m. § 7 Abs. 1 AGG wegen einer Benachteiligung<br />
aus Gründen der Religion nichtig sein.<br />
Nach § 2 Abs. 4 AGG gelten für Kündigungen jedoch ausschließlich die Bestimmungen<br />
zum allgemeinen und besonderen Kündigungsschutz, sodass<br />
das Benachteiligungsverbot des § 7 Abs. 1 AGG auf Kündigungen nach dem<br />
Wortlaut der Norm keine Anwendung findet. Da die Antidiskriminierungsrichtlinien,<br />
deren Umsetzung das AGG dient, jedoch ausdrücklich auch „Entlassungsbedingungen“<br />
erfassen, ist umstritten, ob die Regelung des § 2 Abs. 4<br />
AGG europarechtskonform ist.<br />
1. Nach einer Ansicht (ArbG Osnabrück BB 2007, 1504; Sagan NZA 2006,<br />
1257) ist die Regelung europarechtswidrig und daher unanwendbar, da die<br />
europäischen Richtlinien auch einen wirksamen Schutz vor diskriminierenden<br />
Kündigungen verlangen, den der deutsche Gesetzgeber wegen der Bereichsausnahme<br />
in § 2 Abs. 4 AGG nicht ausreichend gewährt.<br />
2. Nach h.M. (BAG, Urt. v. 06.11.2008 – 2 AZR 523/07, RÜ 2009, 297 = NZA<br />
2009, 361; Adomeit/Mohr § 2 AGG Rdnr. 199.; Bauer/Krieger NZA 2007, 674,<br />
675) kann § 2 Abs. 4 AGG dahingehend europarechtskonform ausgelegt wer-
Rechtsprechung<br />
den, dass die Benachteiligungsverbote des AGG bei der Auslegung der unbestimmten<br />
Rechtsbegriffe des allgemeinen und des besonderen Kündigungsschutzes<br />
(soziale Rechtfertigung i.S.d. § 1 KSchG; wichtiger Grund i.S.d. § 626<br />
BGB) zu berücksichtigen sind.<br />
3. Stellungnahme: Der deutsche Gesetzgeber muss die Vorgaben der europäischen<br />
Richtlinien umsetzen, er ist jedoch nicht verpflichtet, dies durch ein<br />
einziges Gesetz – wie das AGG – zu tun. Eine ausreichende Umsetzung liegt<br />
daher auch dann vor, wenn bereits vorhandene Regelungen das durch die<br />
Richtlinie angestrebte Ziel verwirklichen. Da die Benachteiligungsverbote des<br />
AGG bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des allgemeinen<br />
und besonderen Kündigungsschutzes berücksichtigt werden können, ist bereits<br />
dadurch ein ausreichender Schutz vor diskriminierenden Kündigungen<br />
gegeben und § 2 Abs. 4 AGG ist somit europarechtskonform.<br />
Folglich ist die Kündigungserklärung der B nicht gemäß § 134 BGB i.V.m. § 7<br />
Abs. 1 AGG nichtig.<br />
V. Die Kündigung könnte jedoch gemäß § 1 Abs. 1 KSchG wegen Sozialwidrigkeit<br />
unwirksam sein (allgemeiner Kündigungsschutz).<br />
1. Dazu muss das Kündigungsschutzgesetz anwendbar sein.<br />
Das Arbeitsverhältnis des K, der seit dem Jahr 2000 bei der B beschäftigt ist,<br />
bestand zum Zeitpunkt der Kündigung länger als sechs Monate, § 1 Abs. 1<br />
KSchG, und es ist davon auszugehen, dass im Betrieb der B mehr als 5 Arbeitnehmer<br />
beschäftigt werden, § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG, sodass das Kündigungsschutzgesetz<br />
in persönlicher und betrieblicher Hinsicht anwendbar ist.<br />
2. Gemäß § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG ist die Kündigung sozialwidrig, es sei denn, sie<br />
ist aus Gründen, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers<br />
liegen, oder aus dringenden betrieblichen Gründen gerechtfertigt.<br />
a) K könnte mit seiner erneuten Heirat einen schwerwiegenden Loyalitätsverstoß<br />
wegen Missachtung maßgeblicher kirchlicher Vorschriften begangen haben,<br />
sodass seine Kündigung verhaltensbedingt gerechtfertigt sein könnte.<br />
Eine Kündigung ist verhaltensbedingt i.S.v. § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG, wenn der Arbeitnehmer<br />
eine Vertragspflicht – i.d.R. schuldhaft – erheblich verletzt hat<br />
(Schaub/Linck, Arbeitsrechts-Handbuch, 14. Aufl. 2011, § 133 Rdnr. 1).<br />
Ferner könnte durch die zweite Eheschließung die persönliche Eignung des K<br />
für die von ihm auszuübende Tätigkeit als Chefarzt einer katholischen Klinik<br />
fortgefallen sein, sodass die Kündigung auch aus Gründen in der Person des<br />
Arbeitnehmers bedingt sein könnte. Eine Kündigung ist personenbedingt,<br />
wenn der Arbeitnehmer aufgrund mangelnder persönlicher Eignung oder seiner<br />
persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften nicht mehr in der Lage ist,<br />
künftig seine arbeitsvertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen (Schaub/Linck<br />
a.a.O., § 131 Rdnr. 1).<br />
Nach Maßgabe der Regelungen der kirchlichen Grundordnung, die auf Einhaltung<br />
der katholischen Glaubenslehre gerichtet ist, könnte die Kündigung personen-<br />
bzw. verhaltensbedingt sein. Fraglich ist jedoch, ob für die Beurteilung<br />
der Kündigung diese Regelungen überhaupt maßgeblich sind.<br />
„[20] aa) Das Verlangen der Beklagten nach Einhaltung der Vorschriften der katholischen<br />
Glaubens- und Sittenlehre steht im Einklang mit den verfassungsrechtlichen<br />
Vorgaben.<br />
[21] (1) Dem Kläger steht freilich das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit<br />
gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und auf Schutz der Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) zu. Diese<br />
Grundrechte umfassen regelmäßig auch die Freiheit, eine zweite Ehe einzugehen.<br />
…<br />
RÜ 4/2012<br />
Der Schwellenwert von i.d.R. mehr als<br />
zehn Arbeitnehmern gilt gemäß § 23<br />
Abs. 1 S. 3 KSchG nur für Neueinstellungen<br />
ab 01.01.2004.<br />
Ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund<br />
liegt vor, wenn der Arbeitnehmer<br />
nicht arbeiten will, ein personenbedingter<br />
dagegen, wenn der Arbeitnehmer<br />
nicht arbeiten kann.<br />
Das BAG hat offengelassen, ob es sich<br />
um eine personenbedingte und zugleich<br />
um eine verhaltensbedingte Kündigung<br />
handelt (BAG, Urt. v. 08.09.2011 –<br />
2 AZR 543/10, Rdnr. 15).<br />
227
228<br />
RÜ 4/2012<br />
Das AGG ist seit 18.08.2006 in Kraft und<br />
schützt insbesondere Beschäftigte, vgl.<br />
§ 6 Abs. 1 AGG, gegen Benachteiligungen<br />
im Arbeitsverhältnis, vgl. § 7 Abs. 1<br />
AGG i.V.m. § 1 AGG.<br />
Rechtsprechung<br />
[22] (2) Die Grundrechte des Arbeitnehmers nach Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG bestehen<br />
jedoch nicht uneingeschränkt. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts<br />
vom 4. Juni 1985 (…), dem das Bundesarbeitsgericht in ständiger<br />
Rechtsprechung gefolgt ist (…), kommt das durch Art. 140 GG iVm. Art. 137<br />
Abs. 3 WRV verfassungsrechtlich verbürgte Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht<br />
neben den verfassten Kirchen auch den ihnen zugeordneten,<br />
insbesondere karitativen Einrichtungen zu (…). …<br />
[23] (3) … Das ermöglicht es den Kirchen, in den Schranken des für alle geltenden<br />
Gesetzes den kirchlichen Dienst nach ihrem Selbstverständnis zu regeln und dazu<br />
die spezifischen Obliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer verbindlich zu machen.<br />
Werden Loyalitätsanforderungen in einem Arbeitsvertrag festgelegt, nimmt der<br />
kirchliche Arbeitgeber nicht nur die allgemeine Vertragsfreiheit für sich in Anspruch;<br />
er macht zugleich von seinem verfassungskräftigen Selbstbestimmungsrecht<br />
Gebrauch (…).<br />
[24] (4) Welche kirchlichen Grundverpflichtungen als Gegenstand des Arbeitsverhältnisses<br />
bedeutsam sein können, richtet sich nach den von der verfassten Kirche<br />
anerkannten Maßstäben. … Es bleibt danach grundsätzlich den verfassten Kirchen<br />
überlassen, verbindlich zu bestimmen, was die ,Glaubwürdigkeit der Kirche<br />
und der Einrichtung, in der sie beschäftigt sind‘ (vgl. Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 5 GrO)<br />
erfordert, welches die zu beachtenden ,Grundsätze der katholischen Glaubensund<br />
Sittenlehre‘ sind (vgl. Art. 4 Abs. 1 GrO) und welche ,Loyalitätsverstöße‘ (vgl.<br />
Art. 5 Abs. 2 GrO) aus ,kirchenspezifischen Gründen‘ als ,schwerwiegend‘ anzusehen<br />
sind. Auch die Entscheidung darüber, ob und wie innerhalb der im kirchlichen<br />
Dienst tätigen Mitarbeiter eine Abstufung der Loyalitätsanforderungen eingreifen<br />
soll (vgl. Art. 5 Abs. 3 und Abs. 4 GrO), ist grundsätzlich eine dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht<br />
unterliegende Angelegenheit (…).“<br />
Daher sind für die Beurteilung der Kündigung die Regelungen der kirchlichen<br />
Grundordnung, die auf das Arbeitsverhältnis zwischen K und B anwendbar ist,<br />
maßgeblich. Danach ist K als Abteilungsarzt für „Innere Medizin“ leitender Mitarbeiter<br />
i.S.d. Art 5 Abs. 3 GrO und er hat mit seiner Wiederheirat eine nach katholischem<br />
Kirchenrecht ungültige Ehe begründet und somit einen schwerwiegenden<br />
Loyalitätsverstoß gemäß Art. 5 Abs. 2 GrO begangen, der an sich<br />
geeignet ist, eine ordentliche Kündigung zu begründen.<br />
b) Die Kündigung könnte jedoch eine Benachteiligung aus Gründen der Religion<br />
darstellen und daher wegen Verstoßes gegen §§ 1, 7 AGG sozial ungerechtfertigt<br />
gemäß § 1 Abs. 1 KSchG sein.<br />
Gemäß § 7 Abs. 1 AGG dürfen Beschäftigte nicht wegen eines in § 1 AGG genannten<br />
Grundes benachteiligt werden. K ist Arbeitnehmer der B und daher<br />
Beschäftigter i.S.v. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AGG. Ihm wurde gekündigt, weil er als<br />
Katholik durch seine zweite Heirat eine nach katholischem Kirchenrecht ungültige<br />
Ehe eingegangen ist.<br />
„[33] (1) Die Kündigung stellt zwar eine unmittelbare Benachteiligung des Klägers<br />
wegen der Religion iSd. § 3 Abs. 1 AGG dar. Dem Kläger wäre nicht wegen<br />
Wiederverheiratung gekündigt worden, wenn er nicht katholisch wäre.<br />
[34] (2) Die Benachteiligung ist jedoch nach § 9 Abs. 2 AGG gerechtfertigt.<br />
[35] (a) Nach § 9 Abs. 2 AGG berührt das Verbot unterschiedlicher Behandlung wegen<br />
der Religion nicht das Recht der Religionsgemeinschaften und der ihnen zugeordneten<br />
Einrichtungen iSd. § 9 Abs. 1 AGG, von ihren Beschäftigten ein loyales<br />
und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses verlangen<br />
zu können. …<br />
[36] (b) Im Streitfall hat der Kläger sich illoyal im Sinne des Ethos der Beklagten verhalten.<br />
Die Beklagte sieht, … , für leitende Mitarbeiter die Wiederverheiratung Ge-
Rechtsprechung<br />
schiedener als einen schweren Verstoß gegen zentrale Anforderungen ihrer Glaubens-<br />
und Sittenlehre an. Danach kommt der Ehe nicht eine formelle Funktion im<br />
Sinne eines frei zu schließenden und auch wieder zu lösenden privatrechtlichen<br />
Vertrages zu, sondern sie ist als Sakrament unauflöslich und integraler Bestandteil<br />
der göttlichen Schöpfungs- und Erlösungsordnung (…). Diese Vorgabe muss von<br />
der staatlichen Gewalt geachtet werden. Die erneute Heirat eines nach kirchlichem<br />
Verständnis Verheirateten ist ein schwerer und ernster Verstoß gegen<br />
die Loyalitätsanforderungen (…).<br />
[37] (c) Die umstrittene Frage, ob und in welchem Umfang Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie<br />
2000/78/EG es gebietet, dass die nach § 9 AGG vom Arbeitgeber gestellte berufliche<br />
Anforderung zugleich die Voraussetzungen einer nach der Art der Tätigkeit<br />
gerechtfertigten Anforderung erfüllt (…), kann dahinstehen. … Im Streitfall<br />
ist das Verbot der Wiederverheiratung auch nach der Art der vom Kläger ausgeübten<br />
Tätigkeit gerechtfertigt. Die Einhaltung der katholischen Glaubens- und Sittenlehre<br />
ist zwar nicht Voraussetzung für die Ausübung des Heilberufs im rein<br />
praktischen Sinne. Der Kläger ist jedoch als Chefarzt Vorgesetzter zahlreicher Mitarbeiter<br />
und verkörpert ihnen gegenüber und auch gegenüber den Patienten und<br />
ihren Angehörigen sowie in der Öffentlichkeit in besonderem Maße das Ethos der<br />
Beklagten. Sein Verhalten wird von seinen Mitarbeitern und von den Patienten<br />
und ihren Angehörigen der Beklagten zugerechnet. … Diese in mehrfacher Hinsicht<br />
besondere Funktion rechtfertigt es, dass die Beklagte von denjenigen Mitarbeitern,<br />
die sie mit der Wahrnehmung der Leitungsaufgaben betraut, eine Identifikation<br />
mit den Kernpunkten der katholischen Glaubens- und Sittenlehre fordert.“<br />
Die Kündigung stellt somit zwar eine Benachteiligung des K wegen der Religion<br />
dar, diese Benachteiligung ist jedoch gemäß § 9 Abs. 2 AGG gerechtfertigt,<br />
sodass die Kündigung nicht wegen Verstoßes gegen §§ 1, 7 AGG sozial ungerechtfertigt<br />
gemäß § 1 Abs. 1 KSchG ist.<br />
c) Bei der Beurteilung der sozialen Rechtfertigung muss jedoch grundsätzlich<br />
eine umfassende Interessenabwägung stattfinden. Dies gilt jedenfalls für<br />
die personen- und verhaltensbedingte Kündigung. Die Gründe in der Person<br />
oder im Verhalten des Arbeitnehmers müssen so gewichtig sein, dass sie bei<br />
verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien<br />
und des Betriebs die Kündigung als billigenswert und angemessen erscheinen<br />
lassen (Junker, Grundkurs Arbeitsrecht, 10. Aufl. 2011, Rdnr. 364).<br />
Die Kündigung der B ist somit trotz des Loyalitätsverstoßes des K und des damit<br />
vorliegenden Kündigungsgrundes in der Person bzw. im Verhalten des Arbeitnehmers<br />
nur dann sozial gerechtfertigt, wenn die Interessenabwägung<br />
zulasten des K ausfällt – also der B die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar<br />
ist.<br />
„[39] aa) Zu Gunsten der Beklagten wiegt die unverkennbare Schwere des Loyalitätsverstoßes.<br />
Die Beklagte hat als katholische Einrichtung das vom Grundgesetz<br />
gestützte Recht, auch als solche zu wirken und in Erscheinung zu treten. …<br />
[40] bb) Entscheidend geschwächt wird das Interesse der Beklagten an der Auflösung<br />
des Arbeitsverhältnisses allerdings durch drei Umstände, aus denen hervorgeht,<br />
dass sie selbst die Auffassung vertritt, einer ausnahmslosen Durchsetzung<br />
ihrer sittlichen Ansprüche zur Wahrung ihrer Glaubwürdigkeit nicht<br />
immer zu bedürfen.<br />
[41] (1) Dies zeigt sich daran, dass die Beklagte nach Art. 3 Abs. 2 GrO mit leitenden<br />
Tätigkeiten auch nichtkatholische Personen betrauen kann. Der katholische<br />
Glaube ist nur regelmäßige Voraussetzung für die Übertragung von Leitungsaufgaben.<br />
Die Beklagte ist also durch die Grundordnung nicht gezwungen, ihr<br />
RÜ 4/2012<br />
Das Kündigungsrecht wird vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />
beherrscht, d.h.<br />
der Arbeitgeber hat in jedem Fall zu versuchen,<br />
die Kündigung durch andere<br />
geeignete Maßnahmen zu vermeiden.<br />
229
230<br />
RÜ 4/2012<br />
Interessenabwägung bei einer verhaltensbedingten<br />
Kündigung:<br />
� Aufseiten des Arbeitgebers sind zu berücksichtigen:<br />
Erheblichkeit der Pflichtverletzung,<br />
Verschulden des Arbeitnehmers,<br />
Betriebsstörungen, Beharrlichkeit<br />
der Pflichtverletzung;<br />
� aufseiten des Arbeitnehmers: früheres<br />
Verhalten des Arbeitnehmers, Mitverschulden<br />
des Arbeitgebers, Lebensalter<br />
und Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers.<br />
Rechtsprechung<br />
,Wohl und Wehe‘ gewissermaßen bedingungslos mit dem Lebenszeugnis ihrer leitenden<br />
Mitarbeiter für die katholische Sittenlehre zu verknüpfen.<br />
[42] (2) Durch diese Rechtslage ist es auch zu erklären, dass die Beklagte mehrfach<br />
Chefärzte beschäftigt hat bzw. beschäftigt, die als Geschiedene erneut geheiratet<br />
haben. Es handelt sich insoweit überwiegend um nichtkatholische Arbeitnehmer<br />
… Richtig ist, dass darin … kein Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz<br />
gefunden werden kann. Das ändert aber nichts daran, dass<br />
die Beklagte das Ethos ihrer Organisation durch eine differenzierte Handhabung<br />
bei der Anwendung und Durchsetzung ihres legitimen Loyalitätsbedürfnisses<br />
selbst nicht zwingend gefährdet sieht.<br />
[43] (3) Die Beklagte hat nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts den<br />
nach dem Vertrag der Parteien der Wiederverheiratung gleichwertigen Verstoß<br />
des ehelosen Zusammenlebens des Klägers seit dem Herbst 2006 gekannt<br />
und hingenommen. Auch das zeigt, dass sie selbst ihre moralische Glaubwürdigkeit<br />
nicht ausnahmslos bei jedem Loyalitätsverstoß als erschüttert betrachtet,<br />
sondern sich, möglicherweise angesichts der ausgeprägten Verdienste des Klägers<br />
um die Patienten und ihres eigenen mit diesen Verdiensten verbundenen Rufs,<br />
durchaus zu unterscheiden gestattet. …<br />
[46] Zu Gunsten des Klägers fällt sein grundrechtlich und durch Art. 8, Art. 12 EMRK<br />
geschützter Wunsch in die Waagschale, in einer nach bürgerlichem Recht geordneten<br />
Ehe mit seiner jetzigen Frau zu leben. Auch deren Recht, die Form des Zusammenlebens<br />
mit dem von ihr gewählten Partner im gesetzlich vorgesehenen<br />
Rahmen zu bestimmen, verdient Achtung. Freilich hat der Kläger als Katholik<br />
durch den Vertragsschluss mit der Beklagten in die Einschränkung seines Rechts<br />
auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingewilligt. Wenn er an der Erfüllung<br />
seiner religiösen Pflicht aus Gründen, die den innersten Bezirk des Privatlebens betreffen,<br />
gescheitert ist, so geschah dies jedoch nicht aus einer ablehnenden oder<br />
auch nur gleichgültigen Haltung heraus. Der Kläger stellt die mit seiner Religionszugehörigkeit<br />
verbundenen ethischen Pflichten nicht in Abrede und hat<br />
sich zu keinem Zeitpunkt gegen die kirchliche Sittenlehre ausgesprochen oder ihre<br />
Geltung oder Zweckmäßigkeit in Zweifel gezogen. Im Gegenteil versucht er, den<br />
ihm nach kanonischem Recht verbliebenen Weg zur kirchenrechtlichen Legalisierung<br />
seiner Ehe zu beschreiten. Seine Leistung und sein Einsatz für die ihm anvertrauten<br />
Patienten, für seine Mitarbeiter und für sie selbst werden von der Beklagten<br />
anerkannt. Störungen des Leistungsaustauschs bestehen nicht. Irgendwelche<br />
auch nur leichten Irritationen bei Mitarbeitern oder Patienten wegen des<br />
Kündigungssachverhalts sind nicht erkennbar.“<br />
Nach alledem erscheint es für die B nicht unzumutbar, den K weiterzubeschäftigen:<br />
Zwar hat K mit seiner erneuten Heirat einen schweren Loyalitätsverstoß<br />
begangen, aber die B hat durch ihr Verhalten in der Vergangenheit selbst gezeigt,<br />
dass sie auf die Befolgung der von ihr aufgestellten Regeln nicht immer<br />
konsequent Wert legt. Ferner ist bislang durch die erneute Heirat des K weder<br />
das Vertrauensverhältnis zu den Mitarbeitern oder den Patienten beeinträchtigt<br />
worden noch wurde das Ansehen der B dadurch erkennbar in Mitleidenschaft<br />
gezogen. Da es für weitere Loyalitätsverstöße seitens K keinerlei Anhaltspunkte<br />
gibt, wird K und B eine künftige Zusammenarbeit möglich sein.<br />
Infolgedessen ist der B die Weiterbeschäftigung des K zumutbar. Die Kündigung<br />
ist daher sozial ungerechtfertigt und somit gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam.<br />
Folglich hat die Kündigung der B vom März 2009 das Arbeitsverhältnis zwischen<br />
K und B nicht zum 30.09.2009 beendet.<br />
Claudia Haack
§§ 22, 23, 24, 212 StGB<br />
Rechtsprechung<br />
RÜ 4/2012<br />
Wiederholte Korrektur des Rücktrittshorizonts zuungunsten<br />
des Täters nur bei engstem Zusammenhang zur Tathandlung<br />
BGH, Urt. v. 01.12.2011 – 3 StR 337/11<br />
Fall (Sachverhalt vereinfacht)<br />
A traf sich mit K und G in seiner Wohnung, um eine seit längerem streitige Angelegenheit<br />
zu klären. Das Gespräch verlief zunächst ruhig. Kurz nachdem G<br />
den Raum für einen Toilettenbesuch verlassen hatte, begannen A und K heftig<br />
zu streiten. A fasste daher den Entschluss, K zu erstechen. Die jederzeit mögliche<br />
Rückkehr des G und sein zu erwartender Widerstand schreckten ihn hiervon<br />
nicht ab, da er ihm körperlich überlegen war. A zog ein mitgebrachtes<br />
Messer aus seiner Jackentasche und stieß es zwei Mal in den Brustkorb des K,<br />
der zusammenbrach und zunächst auf dem Boden liegen blieb.<br />
A ging davon aus, alles Erforderliche zur Tötung des K getan zu haben und<br />
ging auf den nun zurückkehrenden G los. In diesem Moment stand K unerwartet<br />
auf und stürzte sich von hinten auf A, der dachte, nochmals zustechen zu<br />
müssen, um K zu töten. Dies gelang ihm zunächst nicht, da K und G ihn gemeinsam<br />
überwältigen und auf dem Boden fixieren konnten. Da A davon ausging,<br />
sich schnell aus der Umklammerung lösen und sowohl K als auch G dann<br />
erstechen zu können, wehrte er sich heftig.<br />
K lief deshalb in das Nachbarzimmer und alarmierte telefonisch Hilfe. Anschließend<br />
brach er bewusstlos zusammen. Hierbei stöhnte er so laut, dass sowohl<br />
A als auch G dies hörten. G ließ A daraufhin los und rannte aus der Wohnung,<br />
um Hilfe zu holen. Auch A bemerkte nun die inzwischen eingetretene<br />
Handlungsunfähigkeit des K. Er ging deshalb „erst recht“ davon aus, dass K<br />
ohne weitere Tathandlungen sterben werde und flüchtete. K wurde durch die<br />
von ihm herbeigerufenen Sanitäter gerettet.<br />
Strafbarkeit des A wegen versuchten Totschlags?<br />
Entscheidung<br />
A könnte sich durch die Messerstiche gegen K wegen versuchten Totschlags<br />
gemäß §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben.<br />
I. Die Tat ist nicht vollendet, weil K überlebt hat. Die Strafbarkeit des Versuchs<br />
folgt aus § 23 Abs. 1 StGB.<br />
II. A hielt es zum Zeitpunkt der Messerstiche für möglich, dass der Tod des K<br />
eintrat und nahm dies billigend in Kauf. Der erforderliche Tatentschluss liegt<br />
somit vor. Ferner hat er subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht es los“ der Tat<br />
überschritten, das Leben des K mit den Messerstichen nach seinem Vorstellungsbild<br />
in eine konkrete nahe Gefahr gebracht und folglich nach § 22 StGB<br />
unmittelbar zur Tatbestandsverwirklichung angesetzt. Er handelte auch<br />
rechtswidrig und schuldhaft.<br />
III. Fraglich ist jedoch, ob A gemäß § 24 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. StGB strafbefreiend<br />
zurückgetreten ist, indem er aus der Wohnung flüchtete und auf weitere<br />
Messerstiche verzichtete.<br />
1. Hierzu müsste zu diesem Zeitpunkt ein Aufgeben der weiteren Tatausführung<br />
noch möglich gewesen sein. Nach h.L. und Rechtsprechung setzen sämt-<br />
Leitsätze<br />
1. Eine Korrektur des Rücktrittshorizonts<br />
ist in engen Grenzen möglich. Der Versuch<br />
eines Tötungsdeliktes ist daher<br />
nicht beendet, wenn der Täter zunächst<br />
irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich<br />
hält, aber nach alsbaldiger Erkenntnis<br />
seines Irrtums von weiteren Ausführungshandlungen<br />
Abstand nimmt. Rechnet<br />
der Täter dagegen zunächst nicht<br />
mit einem tödlichen Ausgang, liegt eine<br />
umgekehrte Korrektur des Rücktrittshorizonts<br />
vor, wenn er unmittelbar darauf<br />
erkennt, dass er sich insoweit geirrt hat.<br />
2. Wechselt das vorgenannte Vorstellungsbild<br />
des Täters nach Abschluss der<br />
letzten Tathandlung in engstem räumlichem<br />
und zeitlichem Zusammenhang<br />
mehrfach, so kommt auch eine mehrfache<br />
Korrektur des Rücktrittshorizontes<br />
sowohl zugunsten als auch zuungunsten<br />
des Täters in Betracht.<br />
(Leitsätze des Bearbeiters)<br />
Bei der Rücktrittsprüfung sollten im Obersatz<br />
zunächst die einschlägige gesetzliche<br />
Rücktrittsvariante – regelmäßig<br />
der tätergünstigste § 24 Abs. 1 S. 1, 1. Alt.<br />
StGB für den Rücktritt vom unbeendeten<br />
Versuch – sowie das hierfür in Betracht<br />
kommende Täterverhalten genannt werden.<br />
Bei mehraktigen Geschehensabläufen<br />
mit wechselnden täterseitigen Erkenntnishorizonten<br />
wie dem vorliegenden<br />
empfiehlt es sich ferner, bei der<br />
Prüfung zeitlich an das Vorstellungsbild<br />
des Täters vor dem abschließenden<br />
Verzicht auf weitere Tathandlungen<br />
– hier also an die Flucht des A aus<br />
der Wohnung – anzuknüpfen. So können<br />
mögliche vorherige Korrekturen des<br />
täterseitigen Rücktrittshorizonts sauber<br />
in die Fallprüfung integriert werden.<br />
231
232<br />
RÜ 4/2012<br />
Der BGH ist in der vorliegenden Entscheidung<br />
bei der Rücktrittsprüfung – seiner<br />
ständigen Rechtsprechung entsprechend<br />
– von der Gesamtbetrachtungslehre<br />
ausgegangen, ohne die hiervon divergierenden<br />
Ansätze zum Rücktritt bei<br />
mehraktigen Geschehensabläufen zu erörtern<br />
(vgl. hierzu im Einzelnen AS-Skript<br />
Strafrecht AT 2 [2011], Rdnr. 186 f.). Er<br />
konnte dabei die Frage des Fehlschlags<br />
offenlassen, da ein strafbefreiender Rücktritt<br />
aus den unten erörterten Gründen<br />
scheiterte. In einer Klausur ist ein derartige<br />
vorgreifliche Prüfung nicht zulässig<br />
und eine saubere Fehlschlagprüfung damit<br />
unerlässlich. Da nach dem Vorstellungsbild<br />
des A nach Abschluss der letzten<br />
Ausführungshandlung durchgehend<br />
kein Fehlschlag vorlag, musste die Frage,<br />
ob sein zwischenzeitlich geändertes Vorstellungsbild<br />
überhaupt eine relevante<br />
Korrektur seines ursprünglichen Rücktrittshorizonts<br />
in Richtung eines Fehlschlags<br />
bewirken konnte, an dieser Stelle<br />
noch nicht erörtert werden.<br />
Der BGH hat eine erforderliche grundlegende<br />
Tatplanänderung und damit<br />
einen Fehlschlag in einer jüngeren Entscheidung<br />
ausdrücklich bejaht, wenn der<br />
Täter nach Abschluss seiner letzten Ausführungshandlung<br />
erkennt, dass die ursprünglich<br />
zur Tatbestandverwirklichung<br />
eingeplante Unterstützungshandlung einer<br />
anderen Person nicht erbracht wird<br />
und er stattdessen den Widerstand dieser<br />
Person überwinden muss (vgl. BGH<br />
RÜ 2010, 505 f.). In der vorliegenden<br />
Konstellation hat A im Unterschied hierzu<br />
von vornherein mit dem Widerstand<br />
des G gerechnet.<br />
Rechtsprechung<br />
liche Rücktrittsalternativen des § 24 StGB begriffsnotwendig voraus, dass der<br />
Versuch nicht fehlgeschlagen ist (vgl. BGHSt 35, 90, 94, Sch/Sch/Eser, StGB,<br />
28. Aufl. 2010, § 24 Rdnr. 7 ff.).<br />
Ein Fehlschlag liegt auf Grundlage der herrschenden Gesamtbetrachtungslehre<br />
vor, wenn der Täter nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung<br />
erkennt oder annimmt, dass er den von seinem Vorsatz umfassten<br />
Tatbestand entweder überhaupt nicht, nur mit einer zeitlichen Verzögerung<br />
(Zäsur) oder nur mit einer grundlegenden Änderung des ursprünglichen<br />
Tatplans vollenden kann (vgl. BGH NStZ 2007, 91; NStZ 2008, 393).<br />
A ging sowohl unmittelbar nach den Messerstichen als auch nach dem Zusammenbruch<br />
des K aufgrund des lauten Stöhnens davon aus, dass K ohne<br />
weitere Tathandlungen sterben werde. Als Anknüpfungspunkt für einen Fehlschlag<br />
kommt folglich allein sein geändertes Vorstellungsbild während seiner<br />
zwischenzeitlichen Fixierung durch K und G in Betracht. Denn während<br />
dieses Zeitraums hielt A es zwar für möglich, K und G schnell überwältigen und<br />
beide unmittelbar anschließend – also ohne zeitliche Zäsur – erstechen zu<br />
können. Hierin könnte jedoch eine einen Fehlschlag begründende grundlegende<br />
Änderung des ursprünglich allein auf die Tötung des K gerichteten<br />
Tatplans liegen.<br />
Hiergegen spricht, dass K bereits vor den Messerstichen die Rückkehr des G<br />
und dessen Widerstand für möglich hielt. Auch während seiner Fixierung<br />
musste er folglich zur Tatbestandsvollendung nach seinem Vorstellungsbild<br />
keinen völlig neuen abweichenden Tatplan entwickeln und umsetzen. Sein<br />
Versuch war folglich auch in dieser Zeitspanne nicht fehlgeschlagen.<br />
2. Fraglich ist jedoch, ob zum Zeitpunkt der Flucht des A aus der Wohnung<br />
überhaupt ein unbeendeter Versuch i.S.v. § 24 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. StGB vorlag<br />
und er daher durch den schlichten Verzicht auf weitere Messerstiche strafbefreiend<br />
zurücktreten konnte.<br />
„[7] Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch bestimmt<br />
sich nach dem Vorstellungsbild des Täters nach Abschluss der letzten von ihm vorgenommenen<br />
Ausführungshandlung, dem sogenannten Rücktrittshorizont (…).<br />
Bei einem Tötungsdelikt liegt demgemäß ein unbeendeter Versuch vor, bei dem<br />
allein der Abbruch der begonnenen Tathandlung zum strafbefreienden Rücktritt<br />
vom Versuch führt, wenn der Täter zu diesem Zeitpunkt noch nicht alles getan hat,<br />
was nach seiner Vorstellung zur Herbeiführung des Todes erforderlich oder zumindest<br />
ausreichend ist (…). Ein beendeter Tötungsversuch, bei dem er für einen strafbefreienden<br />
Rücktritt vom Versuch den Tod des Opfers durch eigene Rettungsbemühungen<br />
verhindern oder sich darum zumindest freiwillig und ernsthaft bemühen<br />
muss, ist hingegen anzunehmen, wenn der Täter den Eintritt des Todes bereits<br />
für möglich hält (…) oder sich keine Vorstellungen über die Folgen seines Tuns<br />
macht (…).“<br />
a) Wie dargestellt, dachte A unmittelbar nach den Messerstichen zunächst,<br />
dass K auch ohne weitere Messerstiche sterben werde, er also alles Erforderliche<br />
zu seiner Tötung getan habe. Nach seinem Vorstellungsbild lag somit im<br />
unmittelbaren Anschluss an seine letzte Ausführungshandlung zunächst ein<br />
beendeter Versuch vor.<br />
b) Fraglich ist jedoch, ob dieser ursprüngliche Rücktrittshorizont zugunsten<br />
des A in einen unbeendeten Versuch zu korrigieren ist, da er hiervon abweichend<br />
während seiner Fixierung durch G und K davon ausging, zur Tötung des<br />
K weitere Messerstiche verüben zu müssen.<br />
Zweifel an einer derartigen Korrektur des Rücktrittshorizonts bestehen insbesondere<br />
vor dem Hintergrund, dass A nach dem Zusammenbruch des K auf-
Rechtsprechung<br />
grund seines lauten Stöhnens – in Übereinstimmung mit seinem Vorstellungsbild<br />
unmittelbar nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung – wieder<br />
davon ausging, alles Erforderliche zur Tötung des K getan zu haben.<br />
„[7] (…) Eine Korrektur des Rücktrittshorizonts ist in engen Grenzen möglich. Der<br />
Versuch eines Tötungsdeliktes ist daher nicht beendet, wenn der Täter zunächst<br />
irrtümlich den Eintritt des Todes für möglich hält, aber nach alsbaldiger Erkenntnis<br />
seines Irrtums von weiteren Ausführungshandlungen Abstand nimmt (…).<br />
Rechnet der Täter dagegen zunächst nicht mit einem tödlichen Ausgang, so liegt<br />
eine umgekehrte Korrektur des Rücktrittshorizonts vor, wenn er unmittelbar darauf<br />
erkennt, dass er sich insoweit geirrt hat. In diesem Fall ist ein beendeter<br />
Versuch gegeben, wenn sich die Vorstellung des Täters bei fortbestehender<br />
Handlungsmöglichkeit sogleich nach der letzten Tathandlung in engstem<br />
räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dieser ändert (…).<br />
[8] Nach diesen Maßstäben war der Mordversuch an K beendet, als der Angeklagte<br />
in der Vorstellung die Wohnung verließ, sein Opfer könne aufgrund der Stiche versterben.<br />
(…)<br />
[11] Sollte der Angeklagte aufgrund des Verhaltens des K, insbesondere dessen<br />
Beteiligung an der Rangelei, zwischendurch zu der Vorstellung gekommen<br />
sein, es bestehe für diesen doch keine Lebensgefahr, so lag in dem<br />
rechtsfehlerfrei festgestellten erneuten Wechsel im Vorstellungsbild des<br />
Angeklagten eine nochmalige Korrektur des Rücktrittshorizonts, die zum<br />
Vorliegen eines beendeten Versuchs führt.<br />
Der erforderliche enge zeitliche und räumliche Zusammenhang zwischen den<br />
zwei Messerstichen und dem Wechsel des Vorstellungsbildes (…) lag noch vor.<br />
Nach den Feststellungen vergingen vom Zeitpunkt der Stiche bis zum Zusammenbruch<br />
des Tatopfers im Wohnzimmer nur wenige Sekunden, maximal eine Minute.<br />
Es handelte sich um ein ohne wesentliche Zwischenakte ablaufendes dynamisches<br />
Geschehen. Ein fehlender enger zeitlicher Zusammenhang mit einer Tötungshandlung<br />
ist von der Rechtsprechung demgegenüber erst bei einer deutlich<br />
länger andauernden Zäsur von 15 (…) bzw. zehn Minuten (…) angenommen<br />
worden.“<br />
Selbst für den Fall einer zwischenzeitlichen Korrektur des Rücktrittshorizonts<br />
zugunsten des A wurde dieser somit abermals zuungunsten des A in einen beendeten<br />
Versuch korrigiert. A ist folglich nicht gemäß § 24 Abs. 1 S. 1, 1. Alt.<br />
StGB strafbefreiend zurückgetreten, indem er aus der Wohnung flüchtete<br />
und auf weitere Messerstiche verzichtete.<br />
IV. A hat ferner weder die Tatvollendung i.S.v. § 24 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. StGB<br />
verhindert noch hat er sich freiwillig und ernsthaft um deren Verhinderung<br />
i.S.v. § 24 Abs. 1 S. 2 StGB bemüht. Ein strafbefreiender Rücktritt von seinem<br />
beendeten Versuch liegt folglich ebenfalls nicht vor.<br />
Ergebnis: A hat sich durch die Messerstiche gegen K wegen versuchten Totschlags<br />
gemäß §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.<br />
Dr. Hans-Wilhelm Oymann<br />
RÜ 4/2012<br />
Eine Korrektur des Rücktrittshorizonts<br />
kommt denklogisch erst in Betracht,<br />
nachdem ein derartiger Rücktrittshorizont<br />
erstmalig entstanden ist. Letzteres<br />
ist insbesondere bei einem – hier<br />
nicht vorliegenden – Irrtum über die<br />
Tatvollendung problematisch. Denn solange<br />
der Täter irrtümlich annimmt, den<br />
tatbestandlichen Erfolg bereits herbeigeführt<br />
zu haben, stellt sich für ihn wegen<br />
dieses Irrtums die Frage eines etwaigen<br />
Rücktritts vom Versuch von vornherein<br />
nicht. Ein korrekturfähiger Rücktrittshorizont<br />
kann in diesen Fällen vielmehr<br />
erstmals mit dem Erkennen des<br />
Irrtums über die Tatvollendung entstehen.<br />
Die Entdeckung des Irrtums über<br />
die Tatvollendung ist dann der maßgebliche<br />
Zeitpunkt für die Abgrenzung zwischen<br />
beendetem und unbeendetem<br />
Versuch (vgl. hierzu BGH RÜ 2011, 573 f.).<br />
233
234<br />
RÜ 4/2012<br />
§ 263 StGB; §§ 138, 691 ZPO<br />
Rechtsprechung<br />
Erwirkung eines Mahnbescheides mittels falscher Angaben<br />
BGH, Beschl. v. 20.12.2011 – 4 StR 491/11<br />
OLG Celle, Beschl. v. 01.11.2011 – 31 Ss 29/11<br />
Leitsatz<br />
Die Erklärung unrichtiger Tatsachen in<br />
einem Mahnantrag mit dem Willen, den<br />
Rechtspfleger zum Erlass eines Mahnbescheides<br />
gegen den Antragsgegner zu<br />
veranlassen, obwohl dem Antragsteller<br />
die Nichtexistenz der geltend gemachten<br />
Forderung bewusst ist, erfüllt den<br />
Tatbestand des versuchten Betrugs.<br />
(Leitsatz des OLG Celle)<br />
In einigen Bundesländern (etwa in Nordrhein-Westfalen,<br />
vgl. § 1 MBearbMahn-<br />
NRW i.V.m. § 689 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 ZPO)<br />
werden Mahnanträge zentral bei einem<br />
Amtsgericht im automatisierten Verfahren<br />
bearbeitet. Eine Bearbeitung durch<br />
den Rechtspfleger erfolgt in diesem Fall<br />
nur noch ausnahmsweise bei einer deutlichen<br />
Überschreitung des Durchschnittswertes.<br />
Erfolgt lediglich eine maschinelle<br />
Bearbeitung, scheidet eine Strafbarkeit<br />
wegen Betruges von vornherein aus,<br />
weil es an der erforderlichen Täuschung<br />
einer natürlichen Person fehlt. In Betracht<br />
kommt dann jedoch (vgl. Fischer<br />
a.a.O., § 263 a Rdnr. 11) ein Computerbetrug<br />
gemäß § 263 a Abs. 1 StGB in der<br />
Modalität der Verwendung unrichtiger<br />
Daten. Soweit auch hier die Strafbarkeit<br />
umstritten ist (zum Streitstand vgl. Fischer<br />
a.a.O., § 263 a Rdnr. 7a), gelten die<br />
nachfolgend vom BGH angeführten Argumente<br />
entsprechend.<br />
Fall<br />
A beantragte bei dem zuständigen Amtsgericht den Erlass eines Mahnbescheides<br />
gegen F über eine Forderung i.H.v. 11.000 €. Als Anspruchsgrund bezeichnete<br />
A dabei einen „Dienstleistungsvertrag gemäß Rechnung vom 02.11.<br />
2010“. Sowohl die geltend gemachte Forderung als auch der zu ihrer Begründung<br />
herangezogene Vertrag waren – was A bekannt war – nicht existent.<br />
A beabsichtigte mit seiner Vorgehensweise, den zuständigen Rechtspfleger<br />
zum Erlass eines entsprechenden Mahnbescheides zu veranlassen, um auf<br />
dieser Grundlage anschließend einen Vollstreckungsbescheid zu erwirken,<br />
aus dem er seine Forderung vollstrecken wollte. Dabei ging er davon aus, dass<br />
der Rechtspfleger die Angaben auf ihre Richtigkeit überprüfen würde. Der<br />
Mahnbescheid wurde antragsgemäß erlassen und F entsprechend den Angaben<br />
des A im Mahnantrag zugestellt. Nach erfolgter Zustellung erhob F rechtzeitig<br />
Widerspruch.<br />
Strafbarkeit des A?<br />
Entscheidung<br />
I. Ein vollendeter Betrug gemäß § 263 Abs. 1 StGB scheidet aus, da es weder<br />
zu einer Vermögensverfügung noch zu einem Vermögensschaden in der<br />
Form einer konkreten Vermögensgefährdung gekommen ist. Dies ist erst<br />
dann der Fall ist, wenn die Wahrscheinlichkeit des endgültigen Verlusts eines<br />
Vermögensbestandteils zum Zeitpunkt der täuschungsbedingten Verfügung<br />
so groß ist, dass dies bereits eine wirtschaftliche Minderung des Gesamtvermögens<br />
zur Folge hat (vgl. BVerfG, Beschl. v. 07.12.2011 – 2 BvR 2500/09, 2 BvR<br />
1857/10; BGHSt 48, 331, 346; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 263 Rdnr. 159).<br />
Eine solche Gefahr droht mit dem Erlass eines Mahnbescheides nicht, denn die<br />
Gefahr eines Vermögensschadens durch Vollstreckung wird erst mit Erlass<br />
und Zustellung des Vollstreckungsbescheides hinreichend konkret (vgl.<br />
BGHSt 24, 261; Sch/Sch-Cramer/Perron, StGB, 28. Aufl. 2010, § 263 Rdnr. 74).<br />
II. A könnte jedoch wegen versuchten Betruges strafbar sein §§ 263 Abs. 1,<br />
2, 22 StGB.<br />
1. Dann müsste A Tatentschluss bzgl. aller Umstände, die zur Verwirklichung<br />
der objektiven Tatbestandsmerkmale des § 263 Abs. 1 StGB führen, gehabt sowie<br />
in der Absicht der stoffgleichen und rechtswidrigen Bereicherung gehandelt<br />
haben.<br />
a) A müsste sich zunächst eine Täuschung über Tatsachen vorgestellt haben.<br />
Fraglich ist, ob es sich bei den Angaben des A nicht lediglich um eine im<br />
Rahmen des § 263 Abs. 1 StGB irrelevante Rechtsbehauptung handelt. Nach<br />
einer Ansicht in der Literatur (vgl. Kretschmar, GA 2004, 458, 469) können den<br />
in einem Mahnantrag enthaltenen kargen Angaben keine Behauptungen zu<br />
tatsächlichen Umständen entnommen werden. Nach Auffassung des OLG Celle<br />
enthält der im Mahnantrag anzugebende Forderungsgrund hingegen einen<br />
hinreichenden Tatsachenkern. Wird nämlich das Bestehen einer Forderung
Rechtsprechung<br />
behauptet, genügt es, wenn sich aus dem Erklärungswert der Äußerung ein<br />
objektivierbarer Tatsachenkern ergibt, über dessen Vorhandensein oder Fehlen<br />
beim Getäuschten unrichtige Vorstellungen erweckt werden (vgl. Fischer<br />
a.a.O., Rdnr. 8). Hier lässt sich der Behauptung „Dienstleistungsvertrag gemäß<br />
Rechnung vom 02.11.2010“ demnach der objektivierbare Tatsachenkern entnehmen,<br />
dass ein Dienstleistungsvertrag geschlossen und seine Erfüllung am<br />
02.11.2010 in Rechnung gestellt wurde.<br />
b) A müsste sich ferner vorgestellt haben, beim zuständigen Rechtspfleger einen<br />
Irrtum, also eine Fehlvorstellung über Tatsachen, hervorzurufen.<br />
aa) Fraglich ist schon, ob bei einem Rechtspfleger durch falsche Angaben in<br />
einem Mahnantrag eine Fehlvorstellung über Tatsachen hervorgerufen werden<br />
kann, da er gemäß § 691 Abs. 1 ZPO nur dazu verpflichtet ist, vor Erlass des<br />
Mahnbescheides die allgemeinen Sachurteils- und besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />
des Mahnverfahrens zu prüfen. Eine Überprüfung der Richtigkeit<br />
der behaupteten Tatsachen wird nicht verlangt.<br />
(1) Teile der Literatur (vgl. Tiedemann, LK-StGB, 11. Aufl. 2005, § 263 Rdnr. 90;<br />
Sch/Sch/Cramer/Perron a.a.O., § 263 Rdnr. 52, 73; MK-Hefendehl, § 263 Rdnr. 215)<br />
lehnen einen Irrtum des Rechtspflegers daher ab. Allein die fehlende Überzeugung<br />
von der Unwahrheit könne einen Irrtum nicht begründen.<br />
(2) Nach Auffassung des BGH sollte der Rechtspfleger einem Irrtum unterliegen,<br />
denn<br />
„[6] …das Mahnverfahren soll eine vereinfachte Durchsetzung gegebener Ansprüche<br />
ermöglichen, nicht aber der Durchsetzung unbegründeter Forderungen<br />
dienen […]. Als unabhängiges Rechtspflegeorgan (§ 1 RPflG) ist der Rechtspfleger<br />
der materiellen Gerechtigkeit verpflichtet (Art. 20 Abs. 3 GG). Er darf daher nicht sehenden<br />
Auges einen unrichtigen Titel schaffen. Hat er – aus welchen Quellen auch<br />
immer – Kenntnis davon, dass der zur Rechtfertigung eines Mahnantrages angebrachte<br />
Tatsachenvortrag entgegen der sich auch insoweit aus § 138 Abs. 1 ZPO<br />
ergebenden Verpflichtung zum wahrheitsgemäßen Vorbringen unwahr ist und<br />
der geltend gemachte Anspruch deshalb nicht besteht, muss er den Antrag zurückweisen.<br />
Erlässt er den beantragten Bescheid, geschieht dies daher regelmäßig<br />
in der allgemeinen – nicht notwendig fallbezogenen aktualisierten – Vorstellung,<br />
dass die nach dem Verfahrensrecht ungeprüft zu übernehmenden tatsächlichen<br />
Behauptungen des Antragstellers pflichtgemäß aufgestellt wurden und wahr sind<br />
[…]. Ist dies nicht der Fall, hat sich der Rechtspfleger in einem Irrtum befunden, der<br />
seine Entscheidung für den Erlass der nachfolgenden Bescheide und damit die für<br />
das Vermögen des Antragsgegners nachteiligen Verfügungen bestimmt hat.“<br />
bb) OLG Celle vertritt im Kern denselben Ansatz. Vorliegend besteht unabhängig<br />
vom vorgenannten Streit die Besonderheit, dass sich A einen Irrtum des<br />
Rechtspflegers vorgestellt hat, weil er von einer Prüfung seines Antrags durch<br />
einen Rechtspfleger ausging. Hierbei hat sich A bei einer – unterstellt – fehlenden<br />
Prüfung auch kein strafloses Wahndelikt vorgestellt. Ein solches liegt<br />
vor, wenn der Täter die tatsächliche Lage zutreffend erfasst, aber fälschlich annimmt,<br />
sein Verhalten verstoße gegen ein strafrechtliches Verbot (vgl. LK-Hillenkamp,<br />
12. Aufl. 2007, § 22 Rdnr. 225 f.; Roxin, Strafrecht AT II, § 29 Rdnr. 409).<br />
Dazu OLG Celle:<br />
„Indem sich der Angeklagte aber vorgestellt hat, der Rechtspfleger werde die Tatsachengrundlage<br />
des Anspruchs prüfen, hat er Inhalt und Umfang des Betrugstatbestandes<br />
nicht verkannt. Er hat nicht etwa angenommen, dass ein Irrtum gemäß<br />
§ 263 Abs. 1 StGB auch dann gegeben sei, wenn den Rechtspfleger keine Prüfungspflicht<br />
hinsichtlich der anspruchsbegründenden Tatsachen treffe. Vielmehr hat er<br />
verstanden, dass ein Irrtum des Rechtspflegers nur in Frage kommt, soweit diesem<br />
RÜ 4/2012<br />
Gemäß § 22 StGB versucht eine Tat wer<br />
nach seiner Vorstellung von der Tat zur<br />
Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar<br />
ansetzt. Das tatsächliche Vorliegen<br />
objektiver Tatumstände (hier ein Irrtum<br />
des Rechtspflegers über Tatsachen)<br />
ist nicht erforderlich (vgl. Fischer a.a.O.,<br />
§ 22 Rdnr. 10 m.w.N.).<br />
235
236<br />
RÜ 4/2012<br />
Rechtsprechung<br />
zivilprozessual eine Pflicht zur Kontrolle der gemachten Angaben trifft, und sich<br />
eine entsprechende Situation vorgestellt. Damit hat der Täter irrtümlich Umstände<br />
angenommen, die bei ihrem tatsächlichen Vorliegen den § 263 Abs. 1 StGB ausfüllten,<br />
und diese folgerichtig unter den Betrugstatbestand subsumiert.“<br />
Damit ist vorliegend der Tatentschluss für einen Irrtum gegeben, unabhängig<br />
davon, ob der Rechtspfleger sich wirklich in einem Irrtum befunden hat.<br />
c) A stellte sich auch eine auf seine Erklärung beruhende Vermögensverfügung<br />
und einen hierdurch eintretenden Vermögensschaden vor. Denn A beabsichtigte<br />
auch den späteren Erlass eines Vollstreckungsbescheides sowie<br />
eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses.<br />
d) Fraglich ist, ob A in seine Vorstellung auch eine Kausalität zwischen seiner<br />
Erklärung im Mahnantrag und dem Eintritt des Vermögensschadens<br />
durch Erlass eines Vollstreckungsbescheides aufgenommen hat.<br />
aa) Z.T. wird die Kausalität verneint (Sch/Sch/Cramer/Perron a.a.O., Rdnr. 52,<br />
73; Tiedemann a.a.O., Rdnr. 90), weil das Parteiverhalten des Antragsgegners<br />
in Form der Nichterhebung eines Widerspruchs nach §§ 699 Abs. 1 S. 1, 694<br />
ZPO bzw. die Einhaltung der formellen Anforderungen der Vorschriften zum<br />
Mahnverfahren die Grundlage für den Erlass eines Vollstreckungsbescheides<br />
bilden.<br />
bb) Das OLG Celle sieht das anders:<br />
„Die Ursächlichkeit der Täuschungshandlung für den Erlass des späteren Vollstreckungsbescheides<br />
wird hierdurch nicht in Frage gestellt […]. Ohne die Täuschungshandlung<br />
des Rechtspflegers im Mahnverfahren hätte der Angeklagte<br />
sein eigentliches Ziel, einen Titel gegen die Antragsgegner zu erhalten, nie erreichen<br />
können. Sobald der Mahnbescheid erlassen ist, ist aus Sicht des Täters die<br />
hauptsächliche Hürde überwunden. …“<br />
2. A hat mit der Beantragung des Mahnbescheides nach seiner Tatvorstellung<br />
auch zur Tatbestandverwirklichung unmittelbar angesetzt, weil die Erwirkung<br />
des Mahnbescheides nicht bloße Vorbereitung für einen in der Erwirkung<br />
des Vollstreckungsbescheides liegenden Betruges ist (vgl. OLG Düsseldorf<br />
NStZ 1991, 586).<br />
3. A handelte auch rechtswidrig und schuldhaft und ist damit wegen Betrugsversuchs<br />
strafbar.<br />
III. Wegen einer Urkundenfälschung gemäß § 267 Abs. 1 StGB ist A nicht<br />
strafbar, weil es an der erforderlichen Identitätstäuschung fehlt.<br />
IV. A könnte aber wegen mittelbarer Falschbeurkundung nach § 271 Abs. 1<br />
StGB strafbar sein. Zwar handelte es sich bei dem Mahnbescheid um eine<br />
öffentliche Urkunde (vgl. zum Begriff § 415 Abs. 1 ZPO; Fischer a.a.O., § 271<br />
Rdnr. 6). A hat jedoch nicht bewirkt, dass eine Tatsache als geschehen beurkundet<br />
wurde. Die tatsächlichen Angaben des A nehmen an der erhöhten Beweiswirkung<br />
nicht teil, denn dem Mahnbescheid ist lediglich die Behauptung<br />
einer Tatsache durch den Antragsteller, nicht aber ihr tatsächliches Vorliegen<br />
zu entnehmen (vgl. Sch/Sch/Cramer/Heine, § 271 Rdnr. 23; LK-Zieschang,<br />
12. Aufl. 2009, § 271 Rdnr. 45).<br />
Ergebnis: A ist strafbar wegen Betrugsversuchs.<br />
Dr. Matthias Modrey
Art. 1, 2 GG; § 100 f StPO<br />
Rechtsprechung<br />
RÜ 4/2012<br />
Absolute Unverwertbarkeit abgehörter Selbstgespräche<br />
BGH, Urt. v. 22.12.2011 – 2 StR 509/10<br />
Fall<br />
S, I und W sind verdächtig, die L getötet zu haben. S war der Ehemann der L,<br />
die von den Philippinen stammte und ein gemeinsames Kind zur Welt gebracht<br />
hatte. L hatte sich im Folgenden wenig um das Kind gekümmert; I und<br />
W, in deren Haus die Eheleute S und L wohnten, behandelten das Kind wie ihr<br />
eigenes. Die Ehe von S und L scheiterte. S, I und W befürchteten, die L würde<br />
das Umgangsrecht des Vaters durch Wegziehen vereiteln. S, I und W beschlossen,<br />
die L zu töten. S erschlug im Einvernehmen mit I und W seine Ehefrau in<br />
deren Wohnung, damit das Kind bei S, I und W aufwachsen konnte.<br />
Im Zuge der Ermittlungen wurden auf entsprechende Beschlüsse des Ermittlungsrichters<br />
verschiedene verdeckte Überwachungsmaßnahmen durchgeführt.<br />
Unter anderem fand gemäß § 100 f StPO i.V.m. §§ 100 b Abs. 1, 100 d<br />
Abs. 2 StPO eine Überwachung im Auto des S statt. Dabei wurden dessen<br />
Selbstgespräche, als er sich alleine im Auto befand, an mehreren Tagen aufgezeichnet.<br />
Dabei fielen unter anderem die Worte „oho i kill her … oh yes, oh yes<br />
… and this ist my problem …“, ferner „nö I, wir haben sie tot gemacht…“.<br />
S, I und W wurden wegen Mordes angeklagt. Im Rahmen der Beweisaufnahme<br />
wurden die Inhalte der akustischen Überwachung verlesen.<br />
Können diese bei der Urteilsfindung verwertet werden?<br />
Entscheidung<br />
A. Die Selbstgespräche können dann nicht verwendet werden, wenn sie einem<br />
Beweisverwertungsverbot unterliegen. Hier kommt ein selbstständiges,<br />
aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG folgendes Beweisverwertungsverbot<br />
in Betracht, weil durch eine Verwertung in den Kernbereich persönlicher<br />
Lebensgestaltung eingegriffen werden könnte.<br />
I. Der absolut geschützte Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung wird aus<br />
Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet (z.B. BVerfGE 80, 367). Sein<br />
Schutzbereich wird durch heimliche Aufzeichnung des nichtöffentlich geführten<br />
Selbstgesprächs der Zielperson staatlicher Ermittlungsmaßnahmen und<br />
deren Verwertung in der Hauptverhandlung berührt (BGHSt 50, 206, 212). Der<br />
Grund für den absoluten Schutz eines Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung<br />
besteht in der Eröffnung einer Möglichkeit für Menschen, sich in einem<br />
letzten Rückzugsraum mit dem eigenen Ich befassen zu können, ohne Angst<br />
davor haben zu müssen, das staatliche Stellen dies überwachen (BGHSt 31,<br />
296, 299 f.). Ob das nichtöffentlich gesprochene Wort zum absolut geschützten<br />
Kernbereich oder zu dem nur relativ geschützten Bereich des Persönlichkeitsrechts<br />
gehört, ist durch Gesamtbewertung aller Umstände im Einzelfall<br />
festzustellen.<br />
II. Hier könnte sich die Unverwertbarkeit aus einer Rechtsanalogie zur Rechtsprechung<br />
hinsichtlich der Verwertbarkeit von Tagebuchaufzeichnungen<br />
ergeben. Schriftliche Aufzeichnungen, die der Intimsphäre angehören, können<br />
unverwertbar sein (BVerfGE 34, 238, 245), sind jedoch nicht schlechthin<br />
von der Verwertung ausgenommen (BVerfGE 80, 367). Verwertet werden kön-<br />
Leitsatz<br />
Ein in einem Kraftfahrzeug mittels akustischer<br />
Überwachung aufgezeichnetes<br />
Selbstgespräch eines sich unbeobachtet<br />
fühlenden Beschuldigten ist im Strafverfahren<br />
– auch gegen Mitbeschuldigte –<br />
unverwertbar, da es dem durch Art. 2<br />
Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1<br />
absolut geschützten Kernbereich der Persönlichkeit<br />
zuzurechnen ist (…).<br />
Man unterscheidet gesetzlich geregelte,<br />
selbstständige und unselbstständige<br />
Beweisverwertungsverbote (= BVV). Bei<br />
selbstständigen BVV (abgeleitet aus dem<br />
GG) wird die Unverwertbarkeit unabhängig<br />
von sonstigen strafprozessualen<br />
Fehlern angenommen. Alle anderen BVV<br />
setzen einen Rechtsverstoß der Ermittlungsbehörden<br />
voraus. Hier gibt es die<br />
geschriebenen (z.B. § 136 a StPO) und<br />
ungeschriebenen (z.B. Belehrungsfehler).<br />
Die Unterscheidung ist deshalb so<br />
wichtig, weil an die Feststellung der Unverwertbarkeit<br />
unterschiedliche Anforderungen<br />
gestellt werden.<br />
237
238<br />
RÜ 4/2012<br />
Das BVerfG unterscheidet drei verschiedene<br />
Sphären, aus denen Beweismittel<br />
stammen können: Beweise aus der sog.<br />
Geschäftssphäre sind voll verwertbar,<br />
da sie dem Bereich des sozialen Interagierens<br />
entstammen. Beweise aus der<br />
Individualsphäre sind prinzipiell verwertbar,<br />
wenn eine Abwägung zwischen<br />
dem Persönlichkeitsschutz und der Strafrechtspflege<br />
dies gebietet. Im Bereich<br />
der Intimsphäre sind staatliche Eingriffe<br />
unzulässig. Dies wird im Strafprozessrecht<br />
als Kernbereich privater Lebensgestaltung<br />
bezeichnet.<br />
Es kommt also darauf an, in einem ersten<br />
Schritt die betroffene Sphäre zu bestimmen,<br />
bevor sich die Frage der Abwägung<br />
stellt.<br />
Rechtsprechung<br />
nen Aufzeichnungen, die nur äußerliche Ereignisse festhalten, ferner, falls sie<br />
Angaben über begangene oder bevorstehende schwere Straftaten enthalten.<br />
In sonstigen Fällen ist zwischen dem Persönlichkeitsschutz einerseits und den<br />
Belangen einer funktionsfähigen Strafrechtspflege andererseits abzuwägen<br />
(BGHSt 34, 397, 401). Das BVerfG hat die Abwägung – sofern es nicht um Dinge<br />
aus dem absolut geschützten Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung<br />
geht – für zulässig erachtet und auch intime Aufzeichnungen für verwertbar<br />
erklärt, wenn diese in einem unmittelbaren Bezug zur konkreten Straftat stehen<br />
(BVerfGE 80, 570).<br />
1. Maßgebend ist somit zunächst, ob die Selbstgespräche im Auto unter den<br />
Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung fallen. Hiergegen könnte sprechen,<br />
dass es sich bei einem Kfz nicht um eine abgeschlossene Enklave wie<br />
eine Wohnung handelt, in der der Betroffene nicht damit rechnen muss, dass<br />
seine Äußerungen von Dritten zur Kenntnis genommen werden.<br />
„[14] … Ob das nichtöffentlich gesprochene Wort zum absolut geschützten Kernbereich<br />
oder zu dem nur relativ geschützten Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts<br />
gehört, ist durch Gesamtbewertung aller Umstände im Einzelfall festzustellen.<br />
Aus einer Kumulation von Umständen folgt hier, dass die Selbstgespräche<br />
des Angeklagten S. dem Kernbereich zuzurechnen sind. Dazu zählen die Eindimensionalität<br />
der ,Selbstkommunikation‘, die Nichtöffentlichkeit der Äußerungssituation,<br />
die mögliche Unbewusstheit der Äußerungen im Selbstgespräch,<br />
die Identität der Äußerung mit den inneren Gedanken beim Selbstgespräch<br />
und die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes.<br />
[15] Der Grund für den absoluten Schutz eines Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung<br />
besteht in der Eröffnung einer Möglichkeit für Menschen, sich in einem<br />
letzten Rückzugsraum mit dem eigenen Ich befassen zu können, ohne<br />
Angst davor haben zu müssen, dass staatliche Stellen dies überwachen (…).<br />
Die Gedanken sind grundsätzlich frei, weil Denken für Menschen eine Existenzbedingung<br />
darstellt (…). Den Gedanken fehlt aus sich heraus die Gemeinschaftsbezogenheit,<br />
die jenseits des Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung liegt.<br />
Gleiches gilt für die Gedankenäußerung im nicht öffentlich geführten Selbstgespräch<br />
(…). Die Gedankeninhalte des inneren Sprechens treten vor allem in Situationen,<br />
in denen der Sprechende sich unbeobachtet fühlt, durch Aussprechen<br />
hervor. Das möglicherweise unbewusste ,laute Denken‘ beim nichtöffentlich<br />
geführten Selbstgespräch nimmt sodann an der Gedankenfreiheit teil. Bedeutung<br />
für die Zuordnung zum Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung hat<br />
dabei auch die Nichtöffentlichkeit der Äußerungssituation. Zwar fanden die hier<br />
in Rede stehenden Selbstgespräche nicht in einer Wohnung im Sinne von Art. 13<br />
Abs. 1 GG statt, woraus sich eine ,Vermutung‘ hätte ergeben können, ,dass der<br />
Kernbereich tangiert sein kann‘ (…) Hieraus ist aber nicht zu schließen, dass<br />
der Schutz des Kernbereichs der Persönlichkeit in Bezug auf Äußerungen<br />
sich ausschließlich auf den räumlichen Bereich von Wohnungen beschränke.<br />
Vielmehr kann auch das ‚Alleinsein mit sich selbst‘ in einem Pkw diesen<br />
Schutz begründen (…) Die Nichtöffentlichkeit der Gesprächssituation war daher<br />
bei einer Gesamtbewertung der Umstände des Einzelfalls derjenigen in einer Wohnung<br />
gleichzusetzen.“<br />
2. Möglicherweise könnten die Äußerungen gleichwohl verwertbar sein, weil<br />
sie in einem inneren Zusammenhang mit einer begangenen schweren Straftat<br />
stehen.<br />
„[16] Auf den Inhalt der Gedankenäußerung und dessen mehr oder weniger großen<br />
Sozialbezug kommt es demgegenüber bei Selbstgesprächen nicht entscheidend<br />
an. Insofern gilt etwas anderes als bei der Fixierung von Gedanken in<br />
einem Tagebuch oder bei der Erfassung des Gesprächs eines Beschuldigten mit<br />
Dritten.
Rechtsprechung<br />
[17] Die Tagebuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (…), bei der wegen<br />
Stimmengleichheit eine Grundrechtsverletzung nicht festgestellt werden<br />
konnte, kann nicht ohne Weiteres auf die Frage der Zuordnung des heimlich abgehörten<br />
Selbstgesprächs zum Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung oder<br />
zur allgemeinen Persönlichkeitssphäre übertragen werden. War dort der Raum, in<br />
dem die Anfertigung von Notizen stattfand, für die Frage der Verwertbarkeit der<br />
schriftlich fixierten Gedanken im Strafverfahren ohne Belang, weil die Notizen freiwillig<br />
der Sicherstellung preisgegeben wurde, so erlangt im vorliegenden Fall<br />
das Kriterium der Nichtöffentlichkeit des Ortes der Gedankenäußerung erhebliche<br />
Bedeutung. Spielte in der Tagebuchentscheidung die Flüchtigkeit des<br />
gesprochenen Wortes keine Rolle, weil der Betroffene seine Gedanken dort im<br />
Tagebuch fixiert und beidem Schreibvorgang unter Umständen auch noch repetiert<br />
hatte, so erlangt die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes als Abgrenzungskriterium<br />
im vorliegenden Fall besonderes Gewicht. In der Tagebuchentscheidung<br />
waren überdies auch präventive Überlegungen für die Annahme<br />
der Verwertbarkeit von Bedeutung (…), weil die dort fraglichen Tagebuchaufzeichnungen<br />
vor der Tatbegehung gemacht worden waren und bei rechtzeitiger<br />
Erfassung durch die Polizeibehörden theoretisch auch zur Verhinderung der Tat<br />
als Maßnahme der Gefahrenabwehr hätten genutzt werden können. Dagegen<br />
spielt die Möglichkeit der Prävention zugunsten anderer Grundrechtsträger<br />
als Frage der Grundrechtskollision hier keine Rolle (…).<br />
[19] Der somit gebotene Kernbereichsschutz entfällt nur, wenn der Grundrechtsträger<br />
den Bereich der privaten Lebensgestaltung von sich aus öffnet,<br />
bestimmte Angelegenheiten der Öffentlichkeit zugänglich macht und damit<br />
die Sphäre anderer oder die Belange der Gemeinschaft berührt. Dies geschieht<br />
nicht ohne weiteres schon dadurch, dass er sich außerhalb des besonders<br />
geschützten Bereichs seiner Wohnung im Sinne von Art. 13 Abs. 1<br />
GG aufhält, sofern er einen anderen Rückzugsraum wählt, in dem er sich unbeobachtet<br />
fühlen kann. Das war hier hinsichtlich des Pkw der Fall. Nach<br />
außen gerichtete Äußerungen in einem Pkw, in dem die betreffende Person allein<br />
ist, können nicht Äußerungen in der Öffentlichkeit gleichgestellt werden. Es bleibt<br />
deshalb bei der Zuordnung der Selbstgespräche des Angeklagten S. zum absolut<br />
geschützten Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung mit der Folge der Unverwertbarkeit.“<br />
B. Dieses Beweisverbot entfaltet wegen seiner Absolutheit auch Wirkung<br />
auf die nicht unmittelbar von der Überwachung betroffenen Mitangeklagten<br />
(BGH a.a.O., Rdnr. 20). Aus diesem Grund ist weder der Rechtskreisgedanke<br />
maßgeblich noch ist ein Widerspruch in der Hauptverhandlung – anders als<br />
bei unselbstständigen Beweisverwertungsverboten – nötig.<br />
Ergebnis: Die Selbstgespräche dürfen bei der Urteilsfindung für keinen der<br />
Angeklagten verwertet werden.<br />
Dr. Martin Soyka<br />
RÜ 4/2012<br />
Hätte S die Äußerungen in einem Tagebuch<br />
niedergelegt, wären Sie wohl verwertbar<br />
gewesen. Die Argumente des<br />
BGH überzeugen nicht.<br />
Dass in dem Tagebuchfall das Beweisstück<br />
freiwillig herausgegeben und nicht<br />
beschlagnahme wurde, kann für die Verwertbarkeit<br />
keine Rolle spielen. Beweismittel<br />
sind gemäß § 94 StPO in Verwahrung<br />
zu nehmen, entweder durch Sicherstellung<br />
oder durch Beschlagnahme. Daraus,<br />
dass ein Tagebuch freiwillig übergeben<br />
wurde, kann nicht gleichzeitig ein<br />
Einverständnis mit der Verwertung desselben<br />
als Beweismittel abgeleitet werden.<br />
Dass bei einem Tagebuch über die Einträge<br />
nachgedacht wird, bei Selbstgesprächen<br />
über das Geäußerte nicht, kann<br />
auch keinen Unterschied machen, weil<br />
beides nicht für die Kenntnisnahme Dritter<br />
bestimmt ist.<br />
Als geradezu zynisch mutet das Argument<br />
an, die – allenfalls abstrakte – Möglichkeit<br />
der Prävention zugunsten anderer<br />
Grundrechtsträger spiele keine Rolle,<br />
faktisch weil das Opfer ja bereits tot ist.<br />
Dass im Falle der Überführung und Aburteilung<br />
eines Mörders die Vollstreckung<br />
der Freiheitsstrafe auch eine spezialpräventive<br />
Wirkung hat, weil während der<br />
Strafhaft dieser von der Begehung weiterer<br />
Kapitalverbrechen abgehalten oder<br />
eine solche zumindest erschwert werden,<br />
ist außer Acht gelassen worden.<br />
239
240<br />
RÜ 4/2012<br />
Notwehr im Showdown<br />
Kretschmer Jura 2012, 189<br />
Der Begriff des Showdowns ist dem Pokerspiel<br />
entlehnt: Niederlegen und Zeigen<br />
der Karten.<br />
Aktuelle Diskussion<br />
Der Titel des Beitrags von Kretschmer bezieht sich auf Lebenssachverhalte, in<br />
denen es zwischen zwei oder mehr Kontrahenten zu einer Zuspitzung kommt.<br />
Anlass zur Beschäftigung mit dem Thema sind zwei neuere Beschlüsse des<br />
Zweiten Strafsenats des BGH zur Frage des Gebotenseins einer Notwehr in Fällen<br />
der Notwehrprovokation.<br />
BGH 2 StR 118/10, RÜ 2010, 779 I. In dem seinem Beschl. v. 04.08.2010 zugrunde liegenden Fall hatte der Vater<br />
eines Sechzehnjährigen, der mit einem polizeilich bekannten Intensivtäter im<br />
Streit lag, diesen mit seinem Sohn vor einer Gaststätte aufgesucht, um ihn zum<br />
Einlenken zu bewegen. Jedoch eskalierte dort der Streit derart, dass der als gewaltbereit<br />
bekannte Kontrahent den Vater durch einen mit einem Knüppel auf<br />
den Kopf zielenden Schlag angriff, sodass sich der Vater gezwungen sah, sich<br />
mit einem mitgebrachten Butterflymesser durch einen lebensgefährlichen<br />
Stich in den Oberkörper des Angreifers zu verteidigen.<br />
BGH NStZ 2001, 143, RÜ 2001, 78; ausführlich<br />
auch AS Skript Strafrecht AT 1<br />
[2011], 94 ff.<br />
Die Lehre von der actio illicta in causa<br />
lehnt dagegen eine Einschränkung der<br />
Notwehr ab und sieht ein strafbares Verhalten<br />
zwar nicht in der Verteidigungshandlung,<br />
wohl aber in der vorsätzlichen<br />
oder fahrlässigen Provokation der<br />
Notwehrlage.<br />
1. Die Vorinstanz hatte den darin liegenden versuchten Totschlag gemäß<br />
§§ 212, 22, 23 StGB und die gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 StGB<br />
für durch Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt gehalten, in der Provokation<br />
der Notwehrlage jedoch eine fahrlässige Körperverletzung gemäß § 229<br />
StGB gesehen. Der BGH teilte die Ansicht des Schwurgerichts, dass der Messerstich<br />
durch Notwehr geboten gewesen sei, hob jedoch die Verurteilung wegen<br />
fahrlässiger Körperverletzung auf. Das Mitführen des Butterflymessers sei<br />
weder im Hinblick auf die vom Vater als möglich vorhergesehene körperliche<br />
Auseinandersetzung noch deshalb pflichtwidrig gewesen, weil er über die für<br />
das Führen des Messers erforderliche waffenrechtliche Erlaubnis nicht verfügte.<br />
Denn „es wäre ein Widerspruch, wenn die Rechtsordnung zum einen die<br />
Befugnis erteilte, das Notwehrrecht auszuüben, zum anderen aber gerade für<br />
diesen Fall die Bestrafung aufgrund eines Delikts androhte, dessen tatbestandliche<br />
Voraussetzungen mit der Ausübung dieser Befugnis erfüllt werden“.<br />
Dies gelte jedenfalls dann, wenn für den Fahrlässigkeitserfolg nicht an<br />
eine vorwerfbare Provokation der Notwehrlage angeknüpft werden könne.<br />
2. Diese Beurteilung steht in gewissem Widerspruch zu der Entscheidung des<br />
Dritten Strafsenats im sog. „Schrotflintenfall“. Dort hatte der Täter das Opfer in<br />
den Wald gelockt, um ihm als Racheakt mit einer abgesägten Schrotflinte ins<br />
Knie zu schießen. Als er das Opfer von hinten niederschlagen wollte, kam es jedoch<br />
zu einem Kampf, in dessen Verlauf das Opfer den unterlegenen Täter totzuschlagen<br />
drohte, sodass dieser das Opfer in äußerster Not mit der bis dahin<br />
versteckt gehaltenen Waffe erschoss. Der BGH hielt den Totschlag für durch<br />
Notwehr geboten, sah jedoch in der Notwehrprovokation eine fahrlässige Tötung<br />
gemäß § 222 StGB.<br />
3. Kretschmer teilt die in den Entscheidungen vertretene Ansicht, dass die jeweilige<br />
Verteidigung erforderlich und die Notwehr jeweils geboten gewesen<br />
sei. Die Begründung des Zweiten Senats für die Ablehnung einer fahrlässigen<br />
Körperverletzung hält er jedoch für vorgeschoben, um einer Divergenzvorlage<br />
gemäß § 132 Abs. 2 GVG zu entgehen.<br />
a) Die sog. sozialethischen Schranken der Notwehr werden üblicherweise an<br />
der Voraussetzung der Gebotenheit gemäß § 32 Abs. 1 StGB festgemacht. Als<br />
Fallgruppen anerkannt sind Fälle krassen Missverhältnisses, Angriffe durch<br />
Schuldlose, soziale Näheverhältnisse und Fälle der Notwehrprovokation. Eine<br />
solche hatte der BGH für diesen Fall abgelehnt. Das Aufsuchen der Gaststätte<br />
durch den Vater habe zwar „dem Gebot der Vorsicht und der Lebensklugheit<br />
widersprochen“, sei aber sonst nicht zu missbilligen gewesen.
Aktuelle Diskussion RÜ 4/2012<br />
Das hält Kretschmer für falsch. Zwar könne dem Vater nicht zum Vorwurf gemacht<br />
werden, dem Intensivtäter nicht aus dem Weg gegangen zu sein. In einer<br />
freiheitlichen Gesellschaft gehe es nicht an, einen Bürger in seiner Lebensführung<br />
zu beschneiden, weil ein anderer daran Anstoß nehmen und gewalttätig<br />
werden könne. Jedoch habe er gezielt die Konfrontation gesucht und<br />
sich an Absichtsprovokation grenzend und zumindest bedingt vorsätzlich<br />
selbst in Not begeben. Dem Vater sei es nicht mehr um die Wahrnehmung<br />
bürgerlicher Freiheitsrechte gegangen, sondern um einen klärenden Showdown.<br />
Es habe sich in Wahrheit um einen Fall unzulässiger präventiver Nothilfe<br />
gehandelt. Der BGH goutiere mit seiner Bewertung Selbstjustiz. Diese<br />
widerstrebe aber dem friedensstiftenden Gewaltmonopol des Staates, wo obrigkeitliche<br />
Hilfe, z.B. in Form einer polizeilichen Gefährderansprache erreichbar<br />
sei. Zudem diene die Notwehr nicht nur dem Rechtsgüterschutz, sondern<br />
auch dem Schutz der Rechtsordnung als solcher. Der Provokant tauge aber<br />
nicht als Repräsentant des Rechts. Daher sei es Provokateuren nicht geboten,<br />
„sogleich die volle Notwehrkeule auszupacken, wenn sie in Bedrängnis geraten“.<br />
Dennoch habe sich der Vater nicht von seinem Kontrahenten erschlagen<br />
oder ernsthaft verletzen lassen müssen, als dieser mit dem Knüppel zuschlug.<br />
Daher sei dem Senat im Ergebnis beizupflichten.<br />
b) Eine andere Frage sei, ob das Vorverhalten eine fahrlässige Körperverletzung<br />
darstelle. Nach der Begründung des BGH scheiterte dies an dem Fehlen<br />
einer Sorgfaltspflichtverletzung: Wo in der Provokation kein sozialethisches<br />
Fehlverhalten liegt, liegt auch kein fahrlässiges Vorverhalten vor. Diese Begründung<br />
trägt das Ergebnis nach Kretschmer nicht, da die Herausforderung<br />
zum Showdown als sorgfaltswidrig einzustufen sei. Gegen eine fahrlässige<br />
Körperverletzung könne auch nicht – wie ein Teil der Literatur argumentiert –<br />
angeführt werden, dass derselbe Erfolg, die Verletzung des Angreifers, nicht<br />
zugleich rechtswidrig und rechtmäßig sein könne. Denn rechtlich missbilligt<br />
werde nicht der Erfolg, sondern nur die Verursachungshandlung.<br />
Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung scheitere jedoch an einer<br />
eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des Angreifers. Es falle in die ureigene<br />
Risikosphäre des Rechtsbrechers, dass sich sein ausersehenes Opfer<br />
nicht widerstandslos ergebe und sich erfolgreich wehre. Erlittene Verletzungen<br />
habe sich der Angreifer selbst beizumessen, ohne die Verantwortung auf<br />
jemand anderes abwälzen zu dürfen.<br />
II. In dem Beschl. v. 10.11.2010 hatte der Zweite Strafsenat den Fall zu entscheiden,<br />
dass der Täter seine Meinungsverschiedenheiten mit einer Gruppe von<br />
Kontrahenten durch eine „einverständliche Prügelei“ mit einem stellvertretenden<br />
Mitglied dieser Gruppe siegreich geklärt hatte, als die beiden anderen<br />
Mitglieder begannen, mit ihren Gürteln auf ihn einzuschlagen. Als eine Verteidigung<br />
mit dem eigenen Gürtel sich als nicht ausreichend erwies und der Täter<br />
ernsthaft verletzt zu werden fürchtete, beendete er den Streit durch einen<br />
gezielten Stich mit einem Messer in die Brust eines der Angreifer.<br />
Der BGH hob die Verurteilung durch das Schwurgericht wegen versuchten<br />
Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung auf und sprach den<br />
Angeklagten frei. Nachdem die vorherige Prügelei durch eine wechselseitige<br />
Einwilligung gerechtfertigt gewesen sei, liege weder eine rechtswidrige noch<br />
sonst sozialethisch zu missbilligende Notwehrprovokation vor.<br />
Auch insoweit teilt Kretschmer die Ansicht des Senats, dass der Messerstich<br />
durch Notwehr geboten gewesen sei, obwohl er die einverständliche Prügelei<br />
für sozialethisch verwerflich hält. Eine fahrlässige Körperverletzung scheitere<br />
jedoch an dem Vorliegen einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung des<br />
später verletzten Angreifers.<br />
Eine Absichtsprovokation schließt die Berufung<br />
auf Notwehr grundsätzlich aus,<br />
während eine sonst schuldhaft herbeigeführte<br />
Notwehrlage zu einer abgestuften<br />
Einschränkung führt: Ausweichen<br />
– Schutzwehr – Trutzwehr. Ob das Vorverhalten<br />
rechtswidrig sein muss, ist streitig.<br />
Z.T. wird die Ansicht vertreten, nur<br />
ein rechtswidriges Vorverhalten könne<br />
zu einer Einschränkung der Notwehr<br />
führen. Nach a.A. und ständiger Rechtsprechung,<br />
so auch Kretschmer, genügt<br />
auch ein sozialethisch zu missbilligendes<br />
Vorverhalten, um Notwehrbeschränkungen<br />
zu begründen.<br />
Unabhängig davon bleibt der Verstoß<br />
gegen § 52 Abs. 3 Nr. 1 WaffG, wenn der<br />
Täter die Waffe unerlaubt führt.<br />
BGH 2 StR 483/10, RÜ 2011, 232<br />
Unter einer „einverständlichen Prügelei“<br />
versteht man eine verabredete körperliche<br />
Auseinandersetzung von zwei oder<br />
mehreren Personen. Die wechselseitigen<br />
Misshandlungen sind nach h.M. durch eine<br />
wechselseitige rechtfertigende Einwilligung<br />
gedeckt, soweit nicht die Grenze<br />
des § 228 StGB überschritten ist.<br />
Eine Strafbarkeit gemäß § 229 StGB wurde<br />
in dieser Entscheidung – folgerichtig –<br />
gar nicht erst erwogen.<br />
Wünschenswert wäre jedoch eine Klarstellung<br />
dieser Frage durch eine Divergenzvorlage.<br />
241
242<br />
RÜ 4/2012<br />
Aktuelle Diskussion<br />
Das „mitgeführte“ gefährliche Werkzeug<br />
Rönnau JuS 2012, 117<br />
Die Problematik entstand mit Inkrafttreten<br />
des 6. StRG am 01.04.1998, als das<br />
„gefährliche Werkzeug“ in den §§ 177<br />
Abs. 3, 244 Abs. 1 Nr. 1 a), 250 Abs. 1<br />
Nr. 1 a) und Abs. 2 Nr. 1 StGB als Oberbegriff<br />
zu dem der „Waffe“ aufgenommen<br />
wurde. Darüber hinaus wurde jüngst<br />
durch das 44. StrÄndG, in Kraft seit dem<br />
01.11.2011, dieser Begriff auch in den<br />
§§ 113 Abs. 2 Nr. 1, 121 Abs. 3 Nr. 2 und<br />
125 a S. 2 Nr. 2 StGB aufgenommen; s.<br />
hierzu bereits RÜ 2011, 794 und 2012, 32.<br />
Beachte: Der Waffenbegriff im Strafrecht<br />
ist also nicht mit dem des WaffG<br />
identisch!<br />
Das gefährliche Werkzeug wird heute<br />
in § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB, der seine Verwendung<br />
voraussetzt, wie in § 224 Abs. 1<br />
Nr. 2 StGB verstanden. Vereinzelt blieb<br />
der Vorschlag, die Anwendung bei §§ 244<br />
Abs. 1 Nr. 1 a), 250 Abs. 1 Nr. 1 a) StGB auf<br />
Gegenstände zu beschränken, deren Besitz<br />
einem gesetzlichen Verbot unterliegt,<br />
oder das abstrakte Verletzungspotenzial<br />
ausreichen zu lassen.<br />
Sog. „Lehre vom Verwendungsvorbehalt“<br />
Vgl. BGHSt 52, 257; das OLG Stuttgart,<br />
NJW 2009, 2756, hat demgegenüber darauf<br />
abgestellt, ob der gefährliche Einsatz<br />
des Werkzeugs „nach den konkreten<br />
Tatumständen droht“.<br />
Einigkeit besteht lediglich dahingehend,<br />
dass ein Werkzeug nur dann als gefährlich<br />
einzustufen ist, wenn es zur Herbeiführung<br />
erheblicher Verletzungen taugt<br />
und nach seiner konkreten Beschaffenheit<br />
als Mittel zur Gewaltanwendung oder<br />
-drohung eingesetzt werden könnte.<br />
Der vom BGH und Teilen der Literatur erhobenen<br />
Forderung nach einer gesetzlichen<br />
Neuregelung ist der Gesetzgeber<br />
nicht nachgekommen, sondern hat das<br />
Problem lediglich durch die Einführung<br />
eines minder schweren Falles in § 244<br />
Abs. 3 StGB „entschärft“.<br />
Das OLG Köln, Urt. v. 10.01.2012 – 1 RVs<br />
258/11, BeckRS 2012, 01232, folgt dem<br />
BGH und hält das Beisichführen eines<br />
Schweizer Taschenmessers unabhängig<br />
davon für tatbestandsmäßig, ob der Einsatz<br />
im konkreten Fall gedroht habe.<br />
Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals des „gefährlichen Werkzeugs“ gehört<br />
zu den umstrittensten Fragen des Besonderen Strafrechts.<br />
Unter Waffen werden im Strafrecht Gegenstände verstanden, die nach ihrer<br />
Art zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken bestimmt sind und zur Verursachung<br />
erheblicher Verletzungen generell geeignet sind. Das andere gefährliche<br />
Werkzeug sollte nach der Vorstellung des Gesetzgebers zu verstehen<br />
sein wie in § 223 a StGB a.F., heute § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Dort ist ein Werkzeug<br />
gefährlich, wenn es aufgrund seiner objektiven Beschaffenheit und<br />
der Art seiner Verwendung im konkreten Einzelfall geeignet ist, erhebliche<br />
Verletzungen herbeizuführen. Dagegen besteht Konsens darüber, dass<br />
dies nicht auf § 244 Abs. 1 Nr. 1 a) StGB zu übertragen ist, da dort das bloße Beisichführen<br />
genügt und hieraus ein Schluss auf die Gefährlichkeit des Gegenstandes<br />
nicht möglich ist.<br />
1. Die herrschende Literatur bevorzugt eine einschränkende Auslegung anhand<br />
objektiver Kriterien. Überwiegend wird dabei im Wege einer abstraktobjektiven<br />
Betrachtung auf den waffenähnlichen Charakter bzw. die Waffenersatzfunktion<br />
des Gegenstandes abgestellt. Andere stellen dagegen darauf<br />
ab, ob nach den konkreten Tatumständen der mitgeführte Gegenstand<br />
keine andere Funktion erfüllen kann, als zu Verletzungszwecken eingesetzt zu<br />
werden.<br />
2. Nach a.A. sollen subjektive Kriterien für eine Einschränkung maßgebend<br />
sein. Dabei wird überwiegend auf die konkrete Verwendungsabsicht im Einzelfall<br />
und darauf abgestellt, dass die beabsichtigte Verwendung zur Verursachung<br />
erheblicher Verletzungen geeignet sei. Andere dagegen wollen im Wege<br />
einer abstrakt-subjektiven Betrachtung darauf abstellen, ob der Gegenstand<br />
bei der vom Täter generell beabsichtigten Verwendung hierzu geeignet ist.<br />
3. Die Rechtsprechung zu dieser Frage divergiert. Während zunächst noch die<br />
abstrakte Tauglichkeit zur Verursachung erheblicher Verletzungen für ausreichend<br />
gehalten wurde, wurde später auf das Bewusstsein des Täters bei der<br />
Tat hinsichtlich einer solchen Gebrauchsmöglichkeit abgestellt. Der BGH hat<br />
demgegenüber unter Verwerfung des subjektiven Ansatzes allein objektive<br />
Kriterien für maßgeblich gehalten, sich jedoch zu einer für alle Fälle gleichermaßen<br />
gültigen Auslegung außerstande erklärt.<br />
4. Für eine Einschränkung anhand objektiver Kriterien werden vor allem der<br />
Gesetzeswortlaut und das systematische Verhältnis des § 244 Abs. 1 Nr. 1 a) zu<br />
Nr. 1 b) StGB geltend gemacht, weil es nur dort auf eine Verwendungsabsicht<br />
ankomme. Zudem widerspreche eine subjektive Begriffsbestimmung dem<br />
Waffenbegriff. Rönnau folgt dennoch dem subjektiven Ansatz. Die Gefährlichkeit<br />
eines Werkzeugs sei mit einer subjektivierenden Interpretation nicht nur<br />
vereinbar, sondern ohne Berücksichtigung des Handlungskontextes und den<br />
Willen des Täters kaum zu bestimmen. Eine rein objektive Betrachtung führe<br />
zu einem Verdachtstatbestand und einer schwer kalkulierbaren Einzelfallkasuistik,<br />
die mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht vereinbar sei. Auch bleibe bei dieser Betrachtung<br />
für § 144 Abs. 1 Nr. 1 b) StGB ein eigenständiger Anwendungsbereich<br />
für die Fälle des ungefährlichen beabsichtigten Scheinwaffeneinsatzes.<br />
Beweisschwierigkeiten hinsichtlich der Verwendungsabsicht stellten dagegen<br />
keinen grundsätzlichen Einwand dar, da sie alle subjektiven Tatbestandsmerkmale<br />
betreffen. Zudem führe die Gegenansicht zu Widersprüchen bei der<br />
Auslegung von § 250 Abs. 1 Nr. 1 a) und Abs. 2 Nr. 2 StGB.<br />
Dr. Wilhelm-Friedrich Schneider
Rechtsprechung<br />
RÜ 4/2012<br />
Art. 3 Abs. 1; 38 Abs. 1 S. 2; 46 Abs. 2 GG; § 40 VwGO; § 17a Abs. 5 GVG; § 383 StPO<br />
Kein Anspruch eines Privaten auf Aufhebung der Immunität<br />
eines Abgeordneten<br />
OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 26.09.2011 – 3 a B 5.11<br />
Fall<br />
Frau S ist Abgeordnete des Deutschen Bundestages und war von 2001–2009<br />
Bundesministerin für Gesundheit. Im Zuge eines Ärzteprotestes äußerte sich S<br />
im Rahmen eines Interviews: „ … Mich ärgert vielleicht, wenn Patienten oder<br />
kranke Menschen in Geiselhaft genommen werden für Forderungen nach<br />
mehr Geld. …“<br />
A ist Arzt und fühlte sich durch diese Äußerung persönlich verleumdet. Seine<br />
Privatklage (§ 374 StPO wegen Verleumdung und übler Nachrede wiesen sowohl<br />
das Amtsgericht als auch das Landgericht als unzulässig mit der Begründung<br />
zurück, A habe nicht zuvor als Privatkläger die Aufhebung der Immunität<br />
der S beantragt. A stellte daraufhin beim Bundestag einen Antrag auf Aufhebung<br />
der Immunität der Abgeordneten S. Der Sekretär des Ausschusses für<br />
Immunitätsangelegenheiten wies A darauf in, dass auf den Antrag eines Privatklägers<br />
die Immunität eines Abgeordneten nicht aufgehoben werden<br />
könne.<br />
Anfang Februar 2009 „erneuerte“ A seine Privatklage gegen die Abgeordnete<br />
S beim Amtsgericht. Das Amtsgericht beantragte im März 2009 die Aufhebung<br />
der Immunität der Abgeordneten S für das Privatklageverfahren. Es vertrat<br />
darin die Auffassung, dass vor Aufhebung der Immunität eine materiellrechtliche<br />
Vorprüfung der mit der Privatklage erhobenen Vorwürfe durch das<br />
Gericht nicht stattzufinden habe. Mit Schreiben vom 04.05.2009 teilte der Vorsitzende<br />
des Immunitätsausschusses dem Amtsgericht mit, dass der Ausschuss<br />
über den Aufhebungsantrag erst dann beraten werde, wenn das Gericht<br />
eine Entscheidung nach § 383 StPO – zunächst ohne Berücksichtigung<br />
der Immunität – getroffen habe. Eine Befassung des Bundestages mit dem Antrag<br />
auf Aufhebung der Immunität der Abgeordneten ziehe erhebliche öffentliche<br />
Aufmerksamkeit auf sich. Die Befassung des Bundestags könne erst nach<br />
einer gerichtlichen Vorprüfung des Privatklagevorbringens erfolgen.<br />
A erhob daraufhin Klage vor dem Verwaltungsgericht und beantragte, den<br />
Deutschen Bundestag zu verurteilen, über den Antrag auf Aufhebung der Immunität<br />
der Bundestagsabgeordneten zu entscheiden und dabei auf eine Vorprüfung<br />
der Privatklage durch das Amtsgericht zu verzichten. Das Verwaltungsgericht<br />
hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, A fehle für die<br />
Klage schon das Rechtsschutzbedürfnis. Er habe aber jedenfalls keinen Anspruch<br />
auf Aufhebung der Immunität.<br />
Gegen diese Entscheidung hat A zulässigerweise Berufung zum Oberverwaltungsgericht<br />
erhoben. Ist die zulässige Berufung begründet?<br />
Entscheidung<br />
Die Berufung ist begründet, wenn das erstinstanzliche Urteil des Verwaltungsgerichts<br />
fehlerhaft ist. Dies ist bei einem – wie hier – klageabweisenden Urteil<br />
der Fall, wenn die Klage des A vor dem Verwaltungsgericht zulässig und begründet<br />
war.<br />
Leitsätze<br />
1. Ein Privatkläger hat gegen den Deutschen<br />
Bundestag kein subjektives Recht<br />
darauf, dass dieser über den Antrag eines<br />
Strafgerichts auf Aufhebung der Immunität<br />
(Artikel 46 Abs. 2 GG) eines Bundestagsabgeordneten<br />
entscheidet oder das<br />
Parlament die Entscheidung im Hinblick<br />
auf die Belange eines Privatklägers frei von<br />
Willkür trifft. Der Bundestag ist nicht verpflichtet,<br />
bei Beweisklagen ohne rechtliche<br />
Vorprüfung des Strafvorwurfes durch<br />
das zuständige Gericht eine Entscheidung<br />
über die Aufhebung der Immunität<br />
eines Abgeordneten zu treffen.<br />
2. Die Regelung des § 17 a Abs. 5 GVG zur<br />
Prüfung des Rechtsweges ist auf das Verhältnis<br />
zwischen dem Verwaltungsrechtsweg<br />
und dem Bundesverfassungsgericht<br />
unanwendbar.<br />
3. Berechtigt zur Stellung eines Antrags<br />
auf Aufhebung der Immunität ist nach<br />
der enumerativen Regelung in A. Ziff. 1<br />
Buchst. b der Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten<br />
im Privatklageverfahren<br />
nur das Gericht, bevor es nach § 383 StPO<br />
das Hauptsacheverfahren eröffnet. Der<br />
Privatkläger ist nicht antragsberechtigt.<br />
4. Die Entscheidung des Deutschen Bundestages<br />
über die Aufhebung der Immunität<br />
eines Abgeordneten nach Artikel 46<br />
Abs. 2 GG ist als Maßnahme im Rahmen<br />
der Parlamentsautonomie, die vom Plenum<br />
durch echten Parlamentsbeschluss<br />
gefasst wird, kein Verwaltungsakt.<br />
Die Berufung bedarf nach § 124 Abs. 1<br />
VwGO der Zulassung durch das Verwaltungsgericht<br />
oder durch das OVG.<br />
243
244<br />
RÜ 4/2012<br />
Beachte: Das OVG prüft nicht, ob eine<br />
öffentlich-rechtliche Streitigkeit gegeben<br />
ist. Insoweit ist es an die Entscheidung<br />
des VG gebunden, § 17 a Abs. 5<br />
GVG. Es prüft aber, ob die Streitigkeit<br />
verfassungsrechtlicher Natur ist.<br />
A. Zulässigkeit der Klage<br />
Rechtsprechung<br />
I. Dann müsste zunächst der Verwaltungsrechtsweg eröffnet sein. Fraglich<br />
ist jedoch, ob das OVG die Eröffnung des Rechtsweges überhaupt prüft.<br />
1. Nach § 17a Abs. 5 GVG prüft das Rechtsmittelgericht nicht, ob der beschrittene<br />
Rechtsweg zulässig ist.<br />
„[23] § 17a Abs. 5 GVG ist aber auf das hier betroffene Verhältnis zwischen dem<br />
Verwaltungsrechtsweg und dem Bundesverfassungsgericht unanwendbar. Mit<br />
dem Begriff des Rechtswegs im Sinne von § 17 a Abs. 5 GVG wird nämlich nur die<br />
Abgrenzung der Zuständigkeiten der einzelnen (Fach-) Gerichtsbarkeiten zueinander<br />
angesprochen (z.B. § 13 GVG, § 40 VwGO, § 33 FGO, § 51 SGG), die als Gerichte<br />
eine umfassende Nachprüfungskompetenz haben, nicht hingegen das<br />
Verhältnis zu dem auf die Nachprüfung von Verfassungsrecht beschränkten Bundesverfassungsgericht.“<br />
Damit prüft das OVG (zumindest), ob eine Streitigkeit verfassungsrechtlicher<br />
Art gegeben ist.<br />
Vgl. AS-Skript VwGO [2011], Rdnr. 81 ff. 2. Eine Streitigkeit ist verfassungsrechtlich, wenn am Verfassungsleben Beteiligte<br />
um die Auslegung und Anwendung von Verfassungsrecht streiten<br />
(sog. doppelte Verfassungsunmittelbarkeit). A begehrt die Aufhebung der<br />
Immunität der Abgeordneten S. Streitentscheidend ist dafür die verfassungsrechtliche<br />
Vorschrift des Art. 46 Abs. 2 GG. A als Privatkläger ist aber nicht am<br />
Verfassungsleben beteiligtes Organ, sodass die doppelte Verfassungsunmittelbarkeit<br />
nicht gegeben ist. Daher ist – trotz der Beteiligung des Deutschen<br />
Bundestages – eine Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben.<br />
Zum Behördenbegriff vgl. BVerwG RÜ<br />
2012, 188, 190.<br />
Zu der streitigen Frage, ob für die allgemeine<br />
Leistungsklage eine Klagebefugnis<br />
erforderlich ist, vgl. AS-Skript VwGO<br />
[2011], Rdnr. 235 f. Das OVG hat in der<br />
vorliegenden Entscheidung die Klagebefugnis<br />
nicht angesprochen und ausschließlich<br />
das Rechtsschutzbedürfnis<br />
problematisiert.<br />
Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet.<br />
II. A begehrt die Verpflichtung des Bundestages, die Immunität der Abgeordneten<br />
S aufzuheben.<br />
1. Statthafte Klageart könnte die Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1,<br />
2. Fall VwGO sein. Dann müsste die Aufhebung der Immunität durch den Bundestag<br />
ein Verwaltungsakt i.S.d. § 35 VwVfG sein. Fraglich ist insofern, ob der<br />
Bundestag als „Behörde“ handelt. Behörde ist gemäß § 1 Abs. 4 VwVfG jede<br />
Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt. Verwaltung ist<br />
die Staatstätigkeit, die weder Gesetzgebung noch Rechtsprechung ist (sog.<br />
Substraktionsmethode).<br />
„[26] Soweit ein Parlament oder seine Organe nicht funktionell Verwaltungsaufgaben<br />
wahrnehmen, sind sie keine Behörde im Sinne dieser Regelung. Die Entscheidung<br />
über die Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten nach Art. 46<br />
Abs. 2 GG ist eine Maßnahme des Bundestages im Rahmen der Parlamentsautonomie,<br />
die vom Plenum durch einen verbindlichen echten Parlamentsbeschluss<br />
gefasst wird (…).“<br />
Der Bundestag wird hinsichtlich der Aufhebung der Immunität daher nicht als<br />
Behörde tätig. Demzufolge begehrt A nicht den Erlass eines Verwaltungsaktes,<br />
sodass eine Verpflichtungsklage ausscheidet.<br />
2. Statthafte Klageart ist vielmehr die allgemeine Leistungsklage, die in der<br />
VwGO nicht ausdrücklich geregelt, aber an verschiedenen Stellen vorausgesetzt<br />
wird (vgl. §§ 43 Abs. 2, 111 VwGO) und gewohnheitsrechtlich anerkannt<br />
ist. Sie ist statthaft, wenn der Kläger eine Leistung begehrt, die – wie hier –<br />
nicht im Erlass oder der Aufhebung eines Verwaltungsaktes besteht.<br />
III. Zum Ausschluss von Popularklagen wird von der h.M. auch für die Leistungsklage<br />
eine Klagebefugnis analog § 42 Abs. 2 VwGO verlangt. Es erscheint<br />
zumindest nicht von vornherein und offensichtlich ausgeschlossen,
Rechtsprechung<br />
dass A ein subjektives Recht aus Art. 46 Abs. 2 GG darauf hat, dass das Parlament<br />
auf Antrag des Strafgerichts eine Entscheidung auf Aufhebung der Immunität<br />
der Abgeordneten S trifft. A ist somit klagebefugt.<br />
IV. Für die Klage des A müsste auch ein Rechtsschutzbedürfnis bestehen. A<br />
hat zwar zunächst selbst die Aufhebung der Immunität beim Bundestag beantragt.<br />
Das Rechtsschutzbedürfnis könnte aber fehlen, wenn die Immunität<br />
nach Anlage 6 der GO BT durch Beschluss des Bundestages von vornherein<br />
aufgehoben wäre. Danach „genehmigt der Deutsche Bundestag bis zum Ablauf<br />
der Wahlperiode die Durchführung von Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder<br />
des Bundestages wegen Strafverfahren“, allerdings mit Ausnahme von<br />
Beleidigungen politischen Charakters (§§ 185, 186, 187, 188 StGB). A behauptet<br />
mit seiner Privatklage, die politische Äußerung der S sei eine üble Nachrede<br />
(§ 186 StGB), sodass die Immunität durch das Parlament im Einzelfall<br />
aufgehoben werden muss.<br />
„[27] Die begehrte Entscheidung ist auch nicht nutzlos, da sie im Erfolgsfall dem<br />
Kläger seinem Ziel der strafrechtlichen Verfolgung der Abgeordneten S. näher<br />
bringen würde. Wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung darf nach Art. 46<br />
Abs. 2 GG ein Abgeordneter nur mit Genehmigung des Deutschen Bundestages<br />
zur Verantwortung gezogen werden. Dieser Immunitätsschutz ist ein Verfahrenshindernis,<br />
das auch gegenüber Privatklagen besteht, weshalb das Gericht das<br />
Hauptsacheverfahren nach § 383 StPO erst nach Aufhebung der Immunität des<br />
Abgeordneten eröffnen darf.“<br />
Das Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben. Die allgemeine Leistungsklage ist zulässig.<br />
B. Begründetheit der Klage<br />
Die allgemeine Leistungsklage ist begründet, wenn der Kläger einen Anspruch<br />
auf die begehrte Leistung hat.<br />
I. Ein Anspruch des A auf Aufhebung der Immunität könnte sich aus Anlage 6<br />
zur Geschäftsordnung des Bundestages (GO BT) ergeben.<br />
1. Damit A einen Anspruch aus der Anlage 6 zur GO BT herleiten kann, müssten<br />
diese Regelungen zunächst überhaupt im Verhältnis zwischen dem Bundestag<br />
und dem Bürger gelten. Bei der GO BT, die sich der Bundestag gemäß<br />
Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG gibt, handelt es sich um ein Innenrecht mit Satzungscharakter.<br />
Daher bindet die GO BT grundsätzlich auch nur die Mitglieder des Bundestages.<br />
„[31] Gleichwohl ist es anerkannt, dass die Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten<br />
auch nach außen, insbesondere gegen Strafverfolgungsbehörden und private<br />
Dritte – wie den Privatkläger – verbindlich wirken.“<br />
2. Problematisch ist allerdings, dass nach Anlage 6, A. Ziff. 1 b) GO BT im Privatklageverfahren<br />
nur das Gericht, bevor es nach § 383 StPO das Privatklageverfahren<br />
eröffnet, antragsberechtigt im Verfahren zur Aufhebung der Immunität<br />
ist. Der Privatkläger selbst ist danach nicht antragsberechtigt.<br />
„[30] Die in der strafrechtlichen Literatur und vom Landgericht vertretene Gegenauffassung,<br />
wonach der Privatkläger den Antrag selbst beim Bundestag stellen<br />
könne, übersieht die Neuregelung in A. Ziffer 1 Buchstabe b der Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten.<br />
Der Bundestag ist rechtlich nicht gezwungen, dem Privatkläger<br />
ein Antragsrecht einzuräumen, weil die Regelungen über das Verfahren<br />
zur Aufhebung der Immunität der Parlamentsautonomie unterfallen. Wenn der<br />
Kläger als Privatkläger demnach nicht einmal antragsberechtigt ist, einen Antrag<br />
auf Aufhebung der Immunität zu stellen, steht ihm erst Recht kein Anspruch auf<br />
eine Sachentscheidung zu.“<br />
RÜ 4/2012<br />
Die Anlage 6 und der Beschluss des Bundestages<br />
sind abgedruckt im Sartorius I<br />
unter 35.<br />
So z.B. Meyer/Goßner, StPO, 54. Aufl. 2011,<br />
§ 152 a Rdnr. 9: Der Privatkläger wendet<br />
sich (zur Aufhebung der Immunität) unter<br />
Nachweis der Privatklageerhebung<br />
unmittelbar an das Parlament.<br />
245
246<br />
RÜ 4/2012<br />
Vgl. dazu AS-Skript Staatsorganisationsrecht<br />
[2012], Rdnr. 253.<br />
Rechtsprechung<br />
A hat demnach keinen Anspruch auf Aufhebung der Immunität aus Anlage 6,<br />
A. Ziff. 1 zur GO BT.<br />
II. Ein Anspruch des A könnte sich möglicherweise unmittelbar aus Art. 46<br />
Abs. 2 GG ergeben. Danach darf ein Abgeordneter wegen einer mit Strafe bedrohten<br />
Handlung nur mit Genehmigung des Bundestages zur Verantwortung<br />
gezogen werden. Fraglich ist, ob sich daraus ein subjektives Recht eines<br />
Bürgers auf Aufhebung der Immunität ergibt.<br />
1. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist Art. 46 Abs. 2 GG nicht als subjektives<br />
Recht eines Bürgers ausgestaltet (grammatikalische Auslegung).<br />
2. Fraglich ist, ob die Stellung des Art. 46 GG im III. Abschnitt des GG eine Auslegung<br />
zulässt, nach der dem A ein subjektives Recht aus Art. 46 Abs. 2 GG zusteht<br />
(systematische Auslegung). Der III. Abschnitt regelt den „Bundestag“.<br />
Darin geht es um die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Organ Bundestag<br />
und seine Untergliederungen. Insbesondere geht es um die Regelungen<br />
zur Parlamentsautonomie.<br />
„[34] Die dem Parlament zustehende Autonomie erstreckt sich nicht nur auf Angelegenheiten<br />
der Geschäftsordnung (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG). Autonomie bezeichnet<br />
die allgemeine Befugnis des Parlaments, seine eigenen Angelegenheiten selbst<br />
zu regeln. Über die Genehmigung der Durchführung von Strafverfahren gegen seine<br />
Mitglieder entscheidet das Parlament daher grundsätzlich in eigener Verantwortung.<br />
Es kann sie erteilen oder versagen. Dies spricht dagegen, dass das Parlament<br />
auf Belange eines außenstehenden Privatklägers in maßgeblicher Weise<br />
Rücksicht nehmen muss oder ihm eine subjektive Rechtstellung im Sinne eines Anspruchs<br />
auf eine Entscheidung über die Aufhebung der Immunität zustehen soll.“<br />
3. Etwas anderes könnte jedoch die Auslegung nach dem Sinn und Zweck<br />
des Art. 46 Abs. 2 GG (teleologische Auslegung) ergeben. Während früher<br />
die Immunität insbesondere den Abgeordneten vor „tendenziöser Verfolgung<br />
durch die Exekutive“ schützen sollte, wird heute überwiegend angenommen,<br />
die Immunität schütze die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments.<br />
Dies macht deutlich, dass das Parlament, und gerade nicht der Bürger<br />
bzw. ein Privatkläger durch Art. 46 Abs. 2 GG geschützt werden soll. Damit ergibt<br />
auch die teleologische Auslegung, dass ein Privatkläger kein subjektives<br />
Recht unmittelbar aus Art. 46 Abs. 2 GG herleiten kann.<br />
III. A könnte aber möglicherweise zumindest ein Recht darauf zustehen, dass<br />
der Bundestag willkürfrei über die Aufhebung der Immunität entscheidet.<br />
1. Anerkannt ist, dass ein Abgeordneter ein Recht darauf hat, dass sich das<br />
Parlament bei der Entscheidung über die Aufhebung der Immunität nicht von<br />
sachfremden, willkürlichen Motiven leiten lässt (Art. 46 Abs. 2 i.V.m. Art. 38<br />
Abs. 1 S. 2 GG). Dies ist damit zu begründen, dass der Abgeordnete in seinem<br />
freien Mandat (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) geschützt werden soll. Die Immunität soll<br />
verhindern, dass missliebige Abgeordnete in ihrer parlamentarischen Arbeit<br />
behindert werden.<br />
Ein Privatkläger hat dagegen keinen dem Abgeordneten vergleichbaren Status.<br />
Beim Bürger besteht nicht die Gefahr, dass durch Strafverfolgungsmaßnahmen<br />
die verfassungsrechtlich geschützte parlamentarische Arbeit behindert<br />
wird.<br />
2. Ein Anspruch des A auf willkürfreie Entscheidung könnte sich aus Art. 3<br />
Abs. 1 i.V.m. Art. 46 Abs. 2 GG ergeben.<br />
„[39] Es ist aber anerkannt, dass sich aus Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich keine verfassungsunmittelbaren<br />
originären Leistungsansprüche herleiten lassen. Auch<br />
nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts folgt aus Art. 3 Abs. 1
Rechtsprechung<br />
GG ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung nur, wenn die zugrunde<br />
liegenden Normen mindestens auch im Interesse des Klägers als Einzelnen erlassen<br />
wurden.“<br />
Art. 46 Abs. 2 GG schützt, wie bereits festgestellt, das Parlament und den Abgeordneten.<br />
Der Schutz erstreckt sich aber gerade nicht auf den Privatkläger,<br />
sodass auch ein Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 46 Abs. 2 GG nicht besteht.<br />
3. Ein Recht des A könnte sich aus dem aus Art. 20 Abs. 3 GG hergeleiteten<br />
staatlichen Strafanspruch ergeben. Der Rechtsstaat kann nur verwirklicht<br />
werden, wenn sichergestellt ist, dass Straftäter einer gerechten Bestrafung zugeführt<br />
werden. Die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs erfolgt aber<br />
im Interesse der Allgemeinheit, nicht im Interesse eines Einzelnen. Ein solches<br />
öffentliches Interesse ist im vorliegenden Fall offensichtlich nicht gegeben.<br />
„[40] Würde nämlich ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung der Abgeordneten<br />
bestehen, hätte die Staatsanwaltschaft nach § 376 StPO öffentliche Klage<br />
wegen der in § 374 Abs. 2 Nr. 2 StPO bezeichneten Beleidigungsdelikte erheben<br />
müssen.“<br />
Damit kann sich ein subjektives Recht des A auch nicht aus dem staatlichen<br />
Strafanspruch ergeben.<br />
4. Letztlich ergibt sich auch kein Anspruch des A auf Aufhebung der Immunität<br />
aus Art. 19 Abs. 4 GG. Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgt zwar ein Anspruch auf<br />
möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle. Dies setzt aber voraus, dass sich<br />
aus den einschlägigen Normen ein subjektives Recht des Betroffenen ergibt.<br />
Das ist, wie festgestellt, nicht der Fall.<br />
Demzufolge hat A keinen Anspruch auf Aufhebung der Immunität der Abgeordneten<br />
S. Die allgemeine Leistungsklage ist unbegründet.<br />
Ergebnis: Die zulässige Berufung ist daher ebenfalls unbegründet und bleibt<br />
erfolglos.<br />
Die Immunitätsvorschriften sind jüngst durch den Antrag der Staatsanwaltschaft<br />
Hannover auf Aufhebung der Immunität des ehemaligen Bundespräsidenten<br />
Wulff in den Fokus der Öffentlichkeit gelangt. Für den Bundespräsidenten<br />
gelten die Vorschriften über die Immunität der Bundestagsabgeordneten<br />
gemäß Art. 60 Abs. 4 GG entsprechend. Da Art. 60 Abs. 4 GG ausdrücklich<br />
nur auf die entsprechende Anwendung des Art. 46 Abs. 2–4 GG verweist,<br />
genießt der Bundespräsident keine Indemnität i.S.d. Art. 46 Abs. 1 GG.<br />
Problematisch war in diesem Zusammenhang, wer über die Aufhebung der<br />
Immunität des Bundespräsidenten entscheidet. Der Bundestag wählt den<br />
Bundespräsidenten nicht und übt auch sonst keine parlamentarische Kontrolle<br />
über ihn aus. Außerdem sind Art. 46 Abs. 2–4 GG nur „entsprechend“ anwendbar,<br />
was sich eigentlich nur auf eine Modifikation beim Genehmigungsorgan<br />
beziehen kann. Andererseits ist die Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten<br />
wählt (Art. 54 Abs. 1 GG), kein ständiges Bundesorgan und<br />
kommt daher nicht in Betracht. Auch der Bundespräsident selbst kann kaum<br />
über die Aufhebung seiner eigenen Immunität entscheiden, sodass nur der<br />
Bundestag als Genehmigungsorgan infrage kam (Herzog in Maunz/Dürig, GG,<br />
Art. 60 Rdnr. 59). Die Entscheidung hat sich aber dadurch erledigt, dass Christian<br />
Wulff am 17.02. 2012 mit sofortiger Wirkung vom Amt des Bundespräsidenten<br />
zurückgetreten ist mit der Folge, dass seine Immunität automatisch<br />
entfallen ist.<br />
Ralf Altevers<br />
RÜ 4/2012<br />
247
248<br />
RÜ 4/2012<br />
Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 GG; § 4 NiSG<br />
Sonnenstudioverbot für Minderjährige<br />
BVerfG, Beschl. v. 21.12.2011 – 1 BvR 2007/10<br />
Leitsätze<br />
1. § 4 NiSG, der es den Betreibern von<br />
Sonnenstudios verbietet, Minderjährigen<br />
die Nutzung zu gestatten, ist verfassungsgemäß.<br />
2. Zwar greift das an die Betreiber von<br />
Sonnenstudios gerichtete Verbot nicht<br />
unmittelbar in die Handlungsfreiheit der<br />
Minderjährigen ein, es wirkt sich aber im<br />
Ergebnis auch für Minderjährige wie ein<br />
Verbot aus und stellt daher ein „funktionales<br />
Äquivalent“ eines Eingriffs dar.<br />
3. Es stellt grundsätzlich ein legitimes<br />
Gemeinwohlanliegen dar, Menschen davor<br />
zu bewahren, sich selbst leichtfertig<br />
einen größeren persönlichen Schaden<br />
zuzufügen.<br />
(Leitsätze des Bearbeiters)<br />
Z.B. wird dem 14-jährigen die „Religionsmündigkeit“<br />
zuerkannt wegen § 5 des<br />
Gesetzes über die religiöse Kindererziehung,<br />
wonach einem Kind nach der Vollendung<br />
des vierzehnten Lebensjahres<br />
die Entscheidung darüber zusteht, zu<br />
welchem religiösen Bekenntnis es sich<br />
halten will (vgl. BVerwG RÜ 2012, 182,<br />
184).<br />
Fall<br />
Rechtsprechung<br />
Am 04.08.2009 trat die Vorschrift des § 4 des Gesetzes zum Schutz vor nichtionisierender<br />
Strahlung bei der Anwendung am Menschen (NiSG) in Kraft: „Die<br />
Benutzung von Anlagen nach § 3 zur Bestrahlung der Haut mit künstlicher<br />
ultravioletter Strahlung in Sonnenstudios, ähnlichen Einrichtungen oder sonst<br />
öffentlich zugänglichen Räumen darf Minderjährigen nicht gestattet werden."<br />
Zur Begründung führt der Gesetzgeber an, das Risiko, im Erwachsenenalter an<br />
Hautkrebs zu erkranken, steige, wenn Menschen bereits in Kindheit und Jugend<br />
verstärkt der ultravioletten Strahlung (UV-Strahlung) ausgesetzt gewesen seien.<br />
Die 16-jährige Schülerin S nutzt gelegentlich öffentliche Solarien und sieht<br />
sich durch die Verbotsregelung in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt.<br />
Das GG verpflichte niemanden dazu, gesund oder vernünftig zu leben.<br />
Zudem sei das Verbot ungeeignet, da sich Minderjährige, die ein Solarium<br />
nicht nutzen dürften, verstärkt der natürlichen UV-Strahlung der Sonne aussetzen<br />
würden. Zudem hätte die UV-Strahlung bekanntermaßen auch positive<br />
Effekte, z.B. hinsichtlich der Bildung von Vitamin D. Die Eltern M und V<br />
rügen die Verletzung ihres Elterngrundrechts, weil der nach ihrer Ansicht unverhältnismäßige<br />
Eingriff sie daran hindere, ihrer Tochter die Solariennutzung<br />
zu erlauben. Haben die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden<br />
Erfolg?<br />
Hinweis: Das NiSG ist formell verfassungsgemäß.<br />
Entscheidung<br />
Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.<br />
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde<br />
I. Das BVerfG ist gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 13 Nr. 8 a BVerfGG zuständig<br />
für die Entscheidung über Individualverfassungsbeschwerden.<br />
II. Beteiligtenfähig ist nach § 90 Abs. 1 BVerfGG jedermann, d.h., jeder, der fähig<br />
ist, Grundrechtsträger zu sein. Sowohl S als auch die Eltern M und V sind als<br />
natürliche Personen Träger von Grundrechten und daher beteiligtenfähig.<br />
III. Hinsichtlich der 16-jährigen S ist fraglich, ob diese prozessfähig ist. In Ermangelung<br />
von Vorschriften im BVerfGG ist ein Minderjähriger prozessfähig,<br />
wenn er auch grundrechtsmündig ist. Dabei wird allgemein nicht auf eine<br />
starre Altersgrenze abgestellt; vielmehr hängt die Grundrechtsmündigkeit von<br />
der Einsichtsfähigkeit hinsichtlich der Tragweite des konkreten Grundrechts<br />
ab (Theorie der flexiblen Altersgrenze). Dabei ergeben sich Indizien aus Altersgrenzen<br />
im GG selbst oder in einfachen Gesetzen.<br />
1. Hinsichtlich des möglicherweise betroffenen Grundrechts der allgemeinen<br />
Handlungsfreiheit der S (Art. 2 Abs. 1 GG) ist davon auszugehen, dass ein Minderjähriger<br />
eher nicht die volle Tragweite und Bedeutung der Handlungsfreiheit<br />
überblicken kann. Daher ist davon auszugehen, dass die 16-jährige S nicht<br />
selbst grundrechtsmündig und damit nicht prozessfähig ist.<br />
2. Für S handeln daher die Eltern M und V als gesetzliche Vertreter.
Rechtsprechung<br />
IV. Zulässiger Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde ist gemäß<br />
§ 90 Abs. 1 BVerfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt. Die Beschwerdeführer<br />
wenden sich gegen § 4 NiSG im Rahmen einer sog. Rechtssatzverfassungsbeschwerde.<br />
V. Der Beschwerdeführer muss behaupten, durch den Akt der öffentlichen Gewalt<br />
möglicherweise in seinen Grundrechten verletzt zu sein (§ 90 Abs. 1<br />
BVerfGG, Beschwerdebefugnis).<br />
1. Dann müsste zunächst eine Verletzung der gerügten Grundrechte möglich<br />
sein.<br />
a) S rügt eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG.<br />
Art. 2 Abs. 1 GG schützt jegliches menschliches Verhalten. Darunter fällt auch<br />
die Möglichkeit, ein Sonnenstudio zu nutzen, sodass eine Verletzung des Art. 2<br />
Abs. 1 GG zumindest möglich erscheint.<br />
b) Die Eltern M und V fühlen sich in ihrem elterlichen Erziehungsrecht aus<br />
Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG verletzt, wonach Pflege und Erziehung des Kindes das natürliche<br />
Recht der Eltern ist. Durch das Verbot des § 4 NiSG kann verhindert<br />
werden, dass die Eltern ihrem Kind den Besuch eines Solariums erlauben können,<br />
sodass eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG nicht offensichtlich ausgeschlossen<br />
ist.<br />
2. Der Beschwerdeführer muss durch den Akt der öffentlichen Gewalt auch<br />
selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein. Die Beschwerdeführer<br />
sind hinsichtlich der gerügten Grundrechte selbst und gegenwärtig betroffen.<br />
Fraglich ist, ob auch eine unmittelbare Betroffenheit gegeben ist.<br />
a) Die unmittelbare Beschwer fehlt, wenn nicht der angegriffene Akt der öffentlichen<br />
Gewalt selbst, sondern erst ein weiterer Vollzugsakt in das Grundrecht<br />
eingreift. § 4 NiSG untersagt den Betreibern entsprechender Anlagen,<br />
Minderjährigen die Benutzung zu gestatten. Es handelt sich um eine Verbotsnorm,<br />
die nicht weiter vollzogen werden muss (sog. self-executing-Norm).<br />
b) Fraglich ist aber, ob S und ihre Eltern unmittelbar betroffen sind. Sie sind –<br />
anders als die Betreiber von Sonnenstudios – nicht Adressaten der Norm.<br />
„[18] § 4 NiSG richtet sein Verbot zwar nicht unmittelbar gegen Minderjährige,<br />
sondern wendet sich in erster Linie an Betreiber von Sonnenstudios und ähnlichen<br />
Einrichtungen. Die Vorschrift wirkt sich im Ergebnis aber auch für die Beschwerdeführerin<br />
zu 1) wie ein Verbot der Nutzung von Solarien aus und ist damit funktionales<br />
Äquivalent eines Eingriffs in die allgemeine Handlungsfreiheit.“<br />
Damit ist S von dem Verbot des § 4 NiSG unmittelbar betroffen. Die Eltern, die<br />
der S einen Besuch des Sonnenstudios demzufolge auch nicht gestatten können,<br />
sind ebenfalls unmittelbar betroffen.<br />
Die Beschwerdeführer sind beschwerdebefugt.<br />
VI. In Ermangelung eines Rechtsweges gegen Parlamentsgesetze (Rechtswegerschöpfung,<br />
§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) wären die Verfassungsbeschwerden<br />
unzulässig, wenn es den Beschwerdeführern zumutbar und möglich wäre, § 4<br />
NiSG zunächst inzident durch ein Fachgericht überprüfen zu lassen (Grundsatz<br />
der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde).<br />
1. Fraglich ist, ob der Grundsatz der Subsidiarität gilt, wenn sich der Beschwerdeführer<br />
gegen ein nachkonstitutionelles Parlamentsgesetz zur Wehr<br />
setzt. In diesem Fall müsste ein Fachgericht, wenn es von der Verfassungswidrigkeit<br />
der Norm überzeugt ist, im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle<br />
(Art. 100 Abs. 1 GG) das BVerfG vorab entscheiden lassen. Aus diesem Grunde<br />
wird eine Inzidentprüfung der Fachgerichte bei Parlamentsgesetzen teilweise<br />
nicht für erforderlich gehalten. Dagegen spricht jedoch, dass ein Fachgericht<br />
RÜ 4/2012<br />
Insofern wäre auch ein Betreiber eines<br />
Solariums unproblematisch unmittelbar<br />
betroffen und beschwerdebefugt.<br />
Zum Grundsatz der Subsidiarität AS-<br />
Skript Grundrechte [2011], Rdnr. 476 ff.<br />
249
250<br />
RÜ 4/2012<br />
Gegenstand der Feststellungsklage wäre<br />
nicht die Wirksamkeit der Norm, sondern<br />
die (drohende) Anwendung der Norm<br />
im konkreten Fall (also das der Norm<br />
nachgelagerte Rechtsverhältnis).<br />
Rechtsprechung<br />
die angegriffene Norm nicht zwingend dem BVerfG zur Entscheidung vorlegen<br />
muss, sondern nur dann, wenn es von der Verfassungswidrigkeit der<br />
Norm überzeugt ist. Zudem trifft das BVerfG dann auf einen in tatsächlicher<br />
und rechtlicher Hinsicht umfassend vorbereiteten Fall, sodass der Grundsatz<br />
der Subsidiarität auch für nachkonstitutionelle Parlamentsgesetze gilt.<br />
2. Den Beschwerdeführern wäre es ggf. möglich, § 4 NiSG im Rahmen einer<br />
Feststellungsklage (§ 43 VwGO) vor dem VG inzident überprüfen zu lassen.<br />
Das feststellungsfähige Rechtsverhältnis könnte aus der Frage resultieren, ob<br />
sich aus der Anwendung der Norm des § 4 NiSG im konkreten Fall konkrete<br />
Rechte und Pflichten der Beteiligten ergeben, hier bzgl. der (Nicht-)Nutzung<br />
von Solarien. Dies hängt von der Wirksamkeit des § 4 NiSG ab.<br />
3. Eine inzidente Überprüfung im Rahmen einer Feststellungsklage müsste<br />
den Beschwerdeführern auch zumutbar sein. Wenn (insbesondere) S auf einen<br />
fachgerichtlichen Rechtsschutz verwiesen würde, hätte sie vor Erschöpfung<br />
des Rechtsweges bereits das 18. Lebensjahr vollendet und dürfte vorher<br />
als Minderjährige nicht mehr das Solarium nutzen. Es käme zu einer (möglichen)<br />
Rechtsvereitelung. Damit ist eine Inzidentkontrolle nicht zumutbar. Der<br />
Grundsatz der Subsidiarität steht der Zulässigkeit nicht entgegen.<br />
VII. Die Form- und Fristregeln (§§ 23 Abs. 1, 92, 93 Abs. 1 BVerfGG) sind eingehalten.<br />
Damit ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.<br />
B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde<br />
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit die Beschwerdeführer<br />
durch § 4 NiSG in ihren Grundrechten verletzt werden.<br />
I. Verfassungsbeschwerde der S<br />
S könnte durch das Verbot in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2<br />
Abs. 1 GG) verletzt sein.<br />
1. Art. 2 Abs. 1 GG schützt jegliches menschliches Verhalten, sodass durch das<br />
Verbot der Solariumsnutzung der Schutzbereich betroffen ist.<br />
„[17] Auch ein Verhalten, das Risiken für die eigene Gesundheit oder gar deren Beschädigung<br />
in Kauf nimmt, ist vom Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit<br />
geschützt.“<br />
2. Wie oben bereits festgestellt, stellt das Verbot der Nutzung eines Sonnenstudios<br />
ein funktionales Äquivalent eines Eingriffs dar.<br />
3. Der Eingriff könnte verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.<br />
a) Art. 2 Abs. 1 GG ist einschränkbar durch die verfassungsmäßige Ordnung.<br />
Darunter fallen alle verfassungsgemäßen Gesetze.<br />
b) Fraglich ist, ob § 4 NiSG eine verfassungsgemäße Konkretisierung der<br />
Einschränkungsmöglichkeit darstellt.<br />
aa) Das NiSG ist formell verfassungsgemäß.<br />
bb) § 4 NiSG müsste auch materiell verfassungsgemäß, insbesondere verhältnismäßig<br />
sein. Das ist der Fall, wenn das Gesetz zur Verfolgung eines legitimen<br />
Ziels geeignet, erforderlich und angemessen ist.<br />
(1) Der Gesetzgeber müsste ein legitimes Ziel verfolgen.<br />
„[21] Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es grundsätzlich<br />
ein legitimes Gemeinwohlanliegen, Menschen davor zu bewahren, sich selbst<br />
leichtfertig einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen. Insbesondere der<br />
Schutz der Jugend ist nach einer vom Grundgesetz selbst getroffenen Wertung ein<br />
Ziel von bedeutsamem Rang und ein wichtiges Gemeinschaftsanliegen.“
Rechtsprechung<br />
(2) Eine Maßnahme ist geeignet, wenn sie die Zielerreichung zumindest fördern<br />
kann. S trägt vor, dass sich Jugendliche verstärkt der natürlichen Sonnenstrahlung<br />
aussetzen würden, wenn die Nutzung von Solarien verboten würde.<br />
„[24] Dieser Einwand stellt die Geeignetheit des § 4 NiSG zur Erreichung des mit seiner<br />
Einführung verfolgten Zwecks schon deshalb nicht infrage, weil Sonnenstudios<br />
und ähnliche Einrichtungen jederzeit, insbesondere zu jeder Jahreszeit, und<br />
unabhängig von Witterung und Tageszeit die Möglichkeit bieten, sich der UV-<br />
Strahlung auszusetzen. Dass der Ausschluss dieser, die natürlichen Optionen ergänzenden<br />
zusätzlichen Bestrahlungsmöglichkeit zumindest unter mitteleuropäischen<br />
Witterungsbedingungen geeignet ist, eine deutliche Reduzierung der<br />
auf Kinder und Jugendliche einwirkenden UV-Strahlung zu erreichen, durfte der<br />
Gesetzgeber annehmen.“<br />
(3) Eine Maßnahme ist erforderlich, wenn von mehreren gleich geeigneten<br />
Mitteln das am wenigsten belastende gewählt wird. Andere, gleich wirksame<br />
Mittel, die ebenso effektiv verhindern könnten, dass Jugendliche frühzeitig einer<br />
hohen UV-Strahlung ausgesetzt werden, sind nicht erkennbar.<br />
(4) Das Verbot müsste auch angemessen sein. Das bedeutet, dass bei einer<br />
Gesamtabwägung der Schaden des Einzelnen nicht erkennbar außer Verhältnis<br />
zu dem Nutzen der Allgemeinheit stehen darf.<br />
„[33] [Es] wird dem Minderjährigen mit dem Verbot des § 4 NiSG im Bereich privater<br />
Lebensgestaltung und damit in einem Kernbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit<br />
die Dispositionsbefugnis über die Gestaltung seines Aussehens und<br />
seiner Freizeitgestaltung teilweise genommen, ohne dass es sich dabei um ein<br />
gemeinwohlschädliches Verhalten handeln würde.“<br />
Andererseits ist der Jugendschutz als Rechtfertigungsgrund für Grundrechtseingriffe<br />
im GG ausdrücklich anerkannt (z.B. in Art. 5 Abs. 2 GG). Insbesondere<br />
die mangelnde Einsichtsfähigkeit oder auch -bereitschaft von Jugendlichen<br />
spricht dafür, erst Volljährigen hinsichtlich einer Selbstgefährdung die Entscheidung<br />
zu überlassen, ob sie sich künstlicher UV-Strahlung aussetzen wollen.<br />
Zwar kann die UV-Strahlung im Hinblick auf die Vitamin-D-Bildung auch<br />
positive Effekte aufweisen. Der Vitamin-D-Haushalt kann jedoch auch über<br />
Aufenthalte im Freien ausreichend reguliert werden. Damit stellt § 4 NiSG keine<br />
unangemessene Regelung dar und ist verhältnismäßig.<br />
S ist nicht in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt.<br />
II. Verfassungsbeschwerde der Eltern<br />
„[37] Es kann dahinstehen, ob das Verbot des § 4 NiSG in das grundrechtlich geschützte<br />
Erziehungsrecht der [Eltern] eingreift, weil es ihnen die Möglichkeit nimmt,<br />
nach ihren eigenen Erziehungsvorstellungen darüber zu entscheiden, ob ihr Kind<br />
ein Sonnenstudio oder eine ähnliche Einrichtung besuchen können soll. Der Eingriff<br />
wäre jedenfalls gerechtfertigt. [38] Der Eingriff in das Elterngrundrecht aus<br />
Art. 6 Abs. 2 GG wäre nur geringfügig, da es den Eltern unbenommen bleibt, ihrem<br />
Kind im privaten Lebensbereich den Zugang zu einer UV-Bestrahlung zu eröffnen,<br />
wenn sie dies für verantwortbar und richtig halten. Der Gesetzgeber war von Verfassungs<br />
wegen auch nicht gehalten, aus Verhältnismäßigkeitserwägungen ein<br />
bloßes Verbot mit elterlichem Einverständnisvorbehalt vorzusehen. Angesichts<br />
der allenfalls geringen Eingriffsintensität durfte er sich auf ein umfassendes, nicht<br />
nach Altersgruppen und daran anknüpfende Einverständnispflichten differenzierendes<br />
und damit für alle Beteiligten leicht praktikables Verbot entscheiden.“<br />
Damit sind auch die Eltern nicht in ihren Grundrechten verletzt.<br />
Ergebnis: Die Verfassungsbeschwerden bleiben erfolglos.<br />
Ralf Altevers<br />
RÜ 4/2012<br />
Im Originalfall war auch ein Betreiber<br />
eines Sonnenstudios wegen einer Verletzung<br />
der Berufsfreiheit (Art. 12 GG)<br />
gegen § 4 NiSG vorgegangen. Der Eingriff<br />
in die Berufsausübungsfreiheit war<br />
jedoch gerechtfertigt, da „von den potenziellen<br />
Kunden den Betreibern nur die<br />
Minderjährigen und diese auch nur für<br />
die Dauer ihrer Minderjährigkeit entzogen“<br />
würden. Angesichts der hohen<br />
Bedeutung des Jugendschutzes und der<br />
Gefahren für Jugendliche durch UV-<br />
Strahlen ist das Verbot auch insoweit<br />
verhältnismäßig.<br />
Art. 6 Abs. 2 GG umfasst Pflege und Erziehung<br />
der Kinder durch die Eltern und damit<br />
nach herrschendem Verständnis allgemein<br />
die Sorge für das körperliche und<br />
seelische Wohl des Kindes. Legt man dagegen<br />
einen engen Erziehungsbegriff<br />
zugrunde, wäre das Verbot auch bzgl.<br />
der Eltern an Art. 2 Abs. 1 GG zu messen.<br />
251
252<br />
RÜ 4/2012<br />
Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG, § 126 Abs. 3 BauGB<br />
Rechtsprechung<br />
Kein Anspruch auf Beibehaltung der Hausnummer<br />
BayVGH, Urt. v. 06.12.2011 – 8 ZB 11.1676<br />
Leitsätze<br />
1. Die Zuteilung einer Hausnummer wird<br />
nicht vom Eigentumsschutz nach Art. 14<br />
Abs. 1 GG und auch nicht vom allgemeinen<br />
Persönlichkeitsrecht nach Art. 2 Abs. 1<br />
i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG erfasst.<br />
2. Da die Zuweisung einer Hausnummer<br />
kein subjektives Recht begründet, ist die<br />
Gemeinde bei Änderung oder Einziehung<br />
der Nummerierung auch nicht an die<br />
Vorschriften über den Widerruf begünstigender<br />
Verwaltungsakte gebunden.<br />
3. Nummernzuteilung und Umnummerierung<br />
stehen im freien Ermessen der<br />
Gemeinde, das allein durch das Willkürverbot<br />
begrenzt wird.<br />
(Leitsätze des Bearbeiters)<br />
Fall<br />
K hatte auf dem Grundstück K-Straße 28 in der Gemeinde G im Land L eine<br />
Wohnanlage mit Geschäftshaus errichtet, das an der Einmündung zur M-Straße<br />
liegt. Mit Schreiben vom 25.08.2009 beantragte er die Einnummerierung des<br />
Geschäftshauses mit K-Straße 28 und der Wohnanlage mit K-Straße 28 a, 28 b<br />
und 28 c. Daraufhin verfügte die Gemeinde G mit Bescheid vom 15.09.2009 die<br />
Einziehung der Hausnummer K-Straße 28 und die Einnummerierung des Geschäftshauses<br />
mit M-Straße 14 und die Einnummerierung der Wohnanlage<br />
mit M-Straße 14 a, 14 b und 14 c. Zur Begründung verwies die Behörde darauf,<br />
dass das Gebäude mit der früheren Hausnummer K-Straße 28 im Hinblick auf<br />
den jetzigen Neubau beseitigt worden sei. Der Neubau und die angrenzende<br />
Wohnanlage seien über die M-Straße erschlossen. Eine Erschließung über die<br />
K-Straße sei nicht möglich. Die Widmung der K-Straße ende in Höhe der Hausnummer<br />
25. Der Bereich zwischen der Hausnummer 25 und der M-Straße sei<br />
nicht gewidmet. Dort sei die Straße auch schmaler und diene als „Fahrradstraße“,<br />
die durch rot-weiße Pfosten abgesperrt sei. Schließlich befinde sich die K-<br />
Straße in diesem Bereich auch nicht im städtischen Eigentum.<br />
K hat gegen den Bescheid vom 15.09.2009 form- und fristgerecht Klage erhoben.<br />
Er macht geltend, für das Geschäftshaus sei die bisherige Nummerierung<br />
K-Straße 28 beizubehalten. Der Verkehr habe sich seit den 60er Jahren auf diese<br />
Hausnummerierung eingerichtet. Die Wohnanlage habe ebenfalls keinen<br />
Bezug zur M-Straße. Rettungsfahrzeuge und Feuerwehr könnten über die K-<br />
Straße zufahren.<br />
Wie wird das Verwaltungsgericht entscheiden?<br />
Hinweise: Eine besondere Rechtsgrundlage für die Zuteilung einer Hausnummer existiert<br />
im Land L nicht. Von den Ermächtigungen in §§ 61 Nr. 3, 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ist<br />
kein Gebrauch gemacht worden. Ein Widerspruchsverfahren findet nach dem AG-<br />
VwGO des Landes (von hier nicht einschlägigen Ausnahmen) nicht statt (§ 68 Abs. 1 S. 2,<br />
1. Halbs. VwGO).<br />
Entscheidung<br />
Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts hängt davon ab, ob die Klage zulässig<br />
und begründet ist.<br />
A. Zulässigkeit der Klage<br />
I. Der Verwaltungsrechtsweg könnte gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet<br />
sein. Fraglich ist allein das Vorliegen einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit.<br />
Nach § 126 Abs. 3 BauGB hat der Eigentümer sein Grundstück mit der von der<br />
Gemeinde festgesetzten Nummer zu versehen. Die Begründung dieser Pflicht<br />
erfolgt daher hoheitlich aufgrund öffentlich-rechtlicher Befugnisse der Gemeinde,<br />
sodass eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vorliegt, die den Verwaltungsrechtsweg<br />
eröffnet.<br />
II. Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 1. Fall<br />
VwGO, wenn es sich bei dem Bescheid vom 15.09.2009 um einen Verwaltungsakt<br />
i.S.d. § 35 VwVfG handelt, dessen Aufhebung K begehrt. Die erstma-
Rechtsprechung<br />
lige Zuteilung bzw. die Änderung der Hausnummer ist die Maßnahme einer<br />
Behörde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts (s.o.). Der Regelungsgehalt<br />
liegt in der Zuordnung eines Grundstücks zu einer bestimmten Straße und darin,<br />
dass die gesetzliche Verpflichtung des Eigentümers nach § 126 Abs. 3<br />
BauGB konkretisiert wird. Die Maßnahme betrifft auch einen Einzelfall und hat<br />
Außenwirkung. Der Bescheid vom 15.09.2009 stellt daher einen Verwaltungsakt<br />
dar, der mit der Anfechtungsklage angegriffen werden kann.<br />
III. Die nach § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis setzt voraus, dass<br />
K geltend machen kann, in einem subjektiven Recht verletzt zu sein. Die Zuteilung<br />
der Hausnummer erfolgt zwar vorrangig im Interesse der Allgemeinheit.<br />
Sie hat für den Betroffenen jedoch die unmittelbare Folge, dass er künftig nur<br />
noch die neue Nummer verwenden darf und insbesondere die Hausnummer<br />
auszutauschen hat (§ 126 Abs. 3 BauGB). Als Adressat des angefochtenen Verwaltungsakts<br />
kann K daher geltend machen, zumindest in seiner allgemeinen<br />
Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt zu sein (sog. Adressatentheorie).<br />
IV. Ein Vorverfahren war nach § 68 Abs. 1 S. 2, 1. Halbs. VwGO i.V.m. Landesrecht<br />
nicht erforderlich.<br />
V. Die Klagefrist des § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO (ein Monat ab Bekanntgabe des<br />
Verwaltungsakts) ist gewahrt.<br />
VI. Klagegegner ist gemäß 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO die Gemeinde, deren Behörde<br />
(Bürgermeister, Magistrat etc.) den Verwaltungsakt erlassen hat.<br />
Die Klage ist damit als Anfechtungsklage zulässig.<br />
B. Begründetheit der Klage<br />
Die Anfechtungsklage ist begründet, soweit der angefochtene Verwaltungsakt<br />
rechtswidrig und K dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt ist<br />
(§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).<br />
I. Rechtsgrundlage für die Zuteilung einer Hausnummer könnte § 126 Abs. 3<br />
BauGB sein.<br />
„[13] Nach dieser Vorschrift hat der Eigentümer sein Grundstück mit der von der<br />
Gemeinde festgesetzten Nummer zu versehen. Damit regelt diese Norm lediglich<br />
die Verpflichtung eines Bauherrn, die Anbringung einer Hausnummer zu dulden<br />
(…). Sie begründet hingegen keinen Anspruch auf Festsetzung oder gar Beibehaltung<br />
einer bestimmten Hausnummer, sondern setzt die Festsetzung zur Begründung<br />
der Folgepflicht des Eigentümers schon voraus.“<br />
§ 126 Abs. 3 BauGB begründet daher nur die Verpflichtung zur Anbringung<br />
der Hausnummer, setzt aber eine nach anderen Vorschriften erfolgte behördliche<br />
Zuteilungsentscheidung voraus.<br />
II. Teilweise enthalten die Landesstraßengesetze spezielle Normen für die<br />
Zuteilung von Hausnummern. Ist das – wie hier – nicht der Fall, ist Ermächtigungsgrundlage<br />
die polizei- bzw. ordnungsrechtliche Generalklausel (vgl.<br />
Sauthoff, Öffentliche Straßen, 2. Aufl. 2010, Rdnr. 551).<br />
1. Der formell ordnungsgemäße Bescheid ist materiell rechtmäßig, wenn eine<br />
Gefahr für die öffentliche Sicherheit besteht. Die Nummerierung dient der<br />
Auffindbarkeit bestimmter Gebäude und hat Bedeutung für Meldewesen, Polizei,<br />
Post, Feuerwehr und Rettungsdienst. Bei unzureichender Nummerierung<br />
können Leib und Leben der Bewohner bedroht sein und damit eine Gefahr für<br />
die öffentliche Sicherheit bestehen. Die Voraussetzungen für die Nummerierung<br />
lagen damit vor.<br />
RÜ 4/2012<br />
Landesrechtliche Spezialregelungen finden<br />
sich z.B. in Art. 52 Abs. 2 BayStrWG,<br />
§ 20 Abs. 2 HWG, § 47 Abs. 1 StrG SH.<br />
253
254<br />
RÜ 4/2012<br />
Die Entscheidung des HessVGH betraf<br />
allerdings nur die Frage der Zuordnung<br />
eines Gebäudes zu einer bestimmten<br />
Straße, ohne dass die sich daraus ergebende<br />
Umnummerierung weiter problematisiert<br />
wurde.<br />
Ebenso OVG NRW, Urt. v. 21.07.1995 – 23<br />
A 3493/94 (juris) und BVerwG NVwZ 1984,<br />
36 für die Änderung der postalischen Zustellanschrift.<br />
Zum Abwehrrecht bei Straßenumbenennungen<br />
vgl. AS-Skript VwGO [2011],<br />
Rdnr. 452 ff.<br />
Rechtsprechung<br />
2. Der Rechtsfolge nach eröffnet die Generalklausel Ermessen, insbesondere<br />
welche Hausnummer vergeben wird. Rechtswidrig ist die Entscheidung dann,<br />
wenn sie ermessensfehlerhaft ist (§ 114 S. 1 VwGO). Hier könnte ein sog. Ermessensfehlgebrauch<br />
vorliegen, wenn die Behörde bei Ausübung des Ermessens<br />
nicht alle Gesichtspunkte berücksichtigt hat, wozu insbesondere die Interessen<br />
des K zählen könnten.<br />
a) Teilweise wird darauf abgestellt, dass zu den Schutzgütern der öffentlichen<br />
Sicherheit auch die Individualinteressen des Einzelnen zählen. Die Behörde<br />
müsse daher im Rahmen ihres Ermessens unter Beachtung des Grundsatzes<br />
der Verhältnismäßigkeit die für ihre Maßnahme sprechenden Gründe mit dem<br />
Interesse der Anwohner abwägen. Diese hätten daher einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie<br />
Entscheidung.<br />
HessVGH NVwZ 1983, 551, 552: „Da diese Personen sich zumeist auf den seitherigen<br />
Zustand eingestellt und ihn zum Anlaß von Dispositionen gemacht haben,<br />
führt eine Änderung der Grundstückszuordnung für sie in aller Regel zu Nachteilen<br />
tatsächlicher Art; sie sind damit wesentlich stärker von einer solchen Maßnahme<br />
betroffen als die Allgemeinheit. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen,<br />
daß die individuellen Interessen der Straßenanlieger an einer Beibehaltung der<br />
bisherigen Grundstückszuordnung rechtlich in der Weise geschützt sind, daß ihre<br />
Berücksichtigung mit Hilfe eines Rechts auf fehlerfreie behördliche Ermessensausübung<br />
grundsätzlich gerichtlich durchsetzbar sein kann.“<br />
b) Nach Auffassung des BayVGH handelt es sich bei der Bezeichnung der<br />
Grundstücke einer Gemeinde mit Hausnummern dagegen um eine rein ordnungsrechtliche<br />
Aufgabe, bei der Interessen des K keine Rolle spielen.<br />
„[11] Sie dient dem Interesse der Allgemeinheit an einer klar erkennbaren Gliederung<br />
des Gemeindegebiets und hat Bedeutung für Meldewesen, Polizei, Post, Feuerwehr<br />
und Rettungsdienst. Sie verleiht den Eigentümern der Grundstücke keine<br />
Befugnisse oder Rechtsstellungen, die sie ohne die Bezeichnung nicht hätten, und<br />
begründet auch keine begünstigenden Rechtspositionen. Die Benennung eines<br />
Anwesens mit einer Hausnummer gehört nicht zu dem nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten<br />
Eigentum. Es handelt sich nicht um eine Rechtsstellung, sondern um<br />
eine aus einem staatlichen Hoheitsakt fließende tatsächliche Auswirkung, einen<br />
Rechtsreflex, der den Eigentümern nur so lange zu wirtschaftlichem Nutzen gereichen<br />
kann, wie das Anwesen die Benennung trägt. Die Beibehaltung der Anschrift<br />
ist eine Chance, die nicht zum geschützten Besitzstand des eingerichteten und<br />
ausgeübten Gewerbebetriebs zählt. Auch unter dem Blickwinkel des Namensrechts<br />
als Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m.<br />
Art. 1 Abs. 1 GG ist die Anschrift nicht geschützt, weil sie nicht zur Identität einer<br />
Person oder Firma gehört (…).“<br />
Dagegen könnte man zwar einwenden, dass bei Umbenennung einer Straße<br />
die individuellen Interessen der betroffenen Grundstückseigentümer nach<br />
h.M. zu berücksichtigen sind. Die beiden Fälle sind indes nicht vergleichbar.<br />
„[14] Anders als bei der Entscheidung über die Vergabe oder Änderung von Straßennamen<br />
… können die Grundstückseigentümer demnach weder bei der erstmaligen<br />
Hausnummernzuteilung noch bei der Umnummerierung geltend machen,<br />
dass die Gemeinde eine fehlerhafte Ermessensentscheidung getroffen hat.<br />
Bei der Vergabe der Hausnummern steht der ordnungsrechtliche Gesichtspunkt so<br />
stark im Vordergrund, dass die Interessen der Anlieger zurücktreten müssen (…).<br />
Wesentliche Vorteile oder Nachteile durch die Zuteilung oder Nichtzuteilung einer<br />
bestimmten Hausnummer sind auch nicht zu erwarten. Entsprechendes hat für<br />
die Änderung bestehender Zuweisungen von Hausnummern zu gelten.“
Rechtsprechung<br />
c) Begründet die Ermächtigungsgrundlage danach kein subjektives Recht,<br />
besteht auch kein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung.<br />
„[14] Es ist ein anerkannter Grundsatz des allgemeinen Verwaltungsrechts, dass<br />
ein Recht auf fehlerfreien Ermessensgebrauch nicht für sich besteht, sondern eine<br />
materielle Rechtsposition voraussetzt, also eine Norm, die zumindest auch dem<br />
Individualinteresse zu dienen bestimmt ist (…). Wie ausgeführt haben jedoch die<br />
Grundstückseigentümer keine Rechtsposition inne, die sie der erstmaligen Zuteilung<br />
einer Hausnummer durch die Gemeinde oder aber der Änderung einer Hausnummerierung<br />
entgegensetzen können.“<br />
III. Da die Zuteilung einer Hausnummer dem Betroffenen keine begünstigende<br />
Rechtsposition vermittelt, ist die Gemeinde bei Änderung oder Einziehung<br />
der Nummerierung auch nicht an die Vorschriften über den Widerruf begünstigender<br />
Verwaltungsakte (§ 49 Abs. 2 VwVfG) gebunden.<br />
„[12] Nummernzuteilung, Umnummerierung und Einziehung einer Hausnummer<br />
stehen in ihrem freien Ermessen, welches allein begrenzt wird durch das in Art. 3<br />
Abs. 1 GG … normierte Willkürverbot.“<br />
Deshalb wird angenommen, dass die Betroffenen zumindest einen Verstoß<br />
gegen Art. 3 Abs. 1 GG rügen können, da staatliches Handeln in keinem Fall<br />
willkürlich sein dürfe. Dagegen spricht zwar, dass Art. 3 Abs. 1 GG grds. kein<br />
Abwehrrecht begründet, sondern lediglich einen Anspruch auf Gleichbehandlung<br />
bei gleicher Betroffenheit (s.o. S. 246 f.). Die Frage kann aber dahinstehen,<br />
wenn die Entscheidung der Behörde jedenfalls nicht willkürlich ist.<br />
„[16] Wenn die Klägerin in diesem Zusammenhang vorträgt, es sei schon im Hinblick<br />
auf eine natürliche Betrachtungsweise und auch im Hinblick auf eine rasche<br />
Auffindbarkeit des neu gebauten Wohnhauses geboten, dieses Anwesen mit „K-<br />
Straße 28“ einzunummerieren, verkennt sie, dass die K-Straße zwischen Hausnummer<br />
25 und der M-Straße nicht die Eigenschaft einer öffentlichen Straße hat.<br />
Es fehlt an einer Widmung … Der ordnungsrechtlichen Funktion der Hausnummerierung<br />
würde es aber widersprechen, ein Anwesen zu einem Privatweg hin einzunummerieren,<br />
bei dem im Prinzip allein der Eigentümer frei bestimmen kann,<br />
ob und gegebenenfalls welche berechtigten Dritten in welchem Ausmaß sein<br />
Grundstück nach Art und Umfang zum Verkehr benutzen dürfen (§ 903 BGB). Unter<br />
ordnungsbezogenen Gesichtspunkten ist demnach das Abstellen der Beklagten<br />
auf eine dauerhafte tatsächliche Zugänglichkeit keinesfalls ein willkürliches<br />
Vorgehen; vielmehr ist es die einzig sachliche Lösung, da nur so die Auffindbarkeit<br />
des Anwesens für Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, Post und Meldewesen zukünftig<br />
gewährleistet ist.“<br />
Ergebnis: Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und die Anfechtungsklage<br />
des K damit unbegründet.<br />
Auch bei Straßen(um)benennungen wird teilweise angenommen, diese erfolgten<br />
ausschließlich im Allgemeininteresse und bezweckten nicht die Erweiterung<br />
der Rechtsstellung der Anwohner. Die Gegenansicht verweist darauf,<br />
dass die Gemeinde bei der Entscheidung die individuellen Interessen der betroffenen<br />
Grundstückseigentümer zu berücksichtigen habe. Danach haben<br />
die Anwohner ein subjektives Recht auf fehlerfreie Ermessensentscheidung<br />
des Inhalts, dass die Gemeinde unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit<br />
die für die Umbenennung sprechenden Gründe und das Interesse<br />
der Anwohner an der Beibehaltung des bisherigen Straßennamens gegeneinander<br />
abzuwägen hat (vgl. OVG NRW RÜ 2008, 125 u. BayVGH RÜ 2010, 460;<br />
ausführlich AS-Skript VwGO [2011], Rdnr. 452 ff.).<br />
Horst Wüstenbecker<br />
RÜ 4/2012<br />
Die Funktion von Art. 3 Abs. 1 GG als Abwehrrecht<br />
ist weitgehend ungeklärt. Die<br />
Rechtsprechung beschränkt sich zumeist<br />
auf die Prüfung, dass die konkrete<br />
Maßnahme nicht willkürlich ist.<br />
255
256<br />
RÜ 4/2012<br />
Rechtsprechung<br />
Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 u. Abs. 2, Art. 19 Abs. 4, Art. 104 GG; § 17 a GVG; Polizeirecht<br />
Rechtswidrigkeit des mehrstündigen Festhaltens in einem<br />
Polizeibus<br />
BayVGH, Urt. v. 27.01.2012 – 10 B 08.2849<br />
Leitsätze<br />
1. Eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit<br />
der konkreten Art und Weise<br />
des polizeilichen Gewahrsams eines Betroffenen<br />
ist auch nach Beendigung der<br />
Maßnahme zur Gewährleistung effektiven<br />
gerichtlichen Rechtsschutzes zulässig,<br />
wenn eine schwerwiegende Beeinträchtigung<br />
von Grundrechten geltend<br />
gemacht wird.<br />
2. Ein mehrstündiges Festhalten in einem<br />
abgestellten Gefangenentransporter<br />
verletzt den Betroffenen in seinem<br />
Grundrecht auf Freiheit der Person, wenn<br />
in der konkreten Situation eine andere<br />
Möglichkeit bestanden hat, die besonders<br />
belastende Form der Freiheitsentziehung<br />
früher zu beenden.<br />
Fall<br />
Am 29.05.2004 beteiligte sich K mit mehreren anderen Personen an einer Art<br />
Straßentheater in M. Diese Aktion wurde von der Polizei als nicht angemeldete<br />
Versammlung angesehen und deshalb aufgelöst. Da davon ausgegangen<br />
wurde, dass K auch am nächsten Tag nicht angemeldete Demonstrationen<br />
durchführen werde, wurde er um ca. 17.00 h von der Polizei in Gewahrsam<br />
genommen, zu einer Gefangenensammelstelle verbracht und dort zunächst<br />
in einer Einzelzelle in einem Gefangenentransportbus festgehalten (Größe 77<br />
x 95 cm). Um 18.00 h wurde K verhört sowie erkennungsdienstlich behandelt.<br />
Anschließend wurde er wieder in den vor der Sammelstelle geparkten Transportbus<br />
gebracht. Erst um 22.30 h wurde K zur Polizeiwache gefahren. Dort<br />
konnte er den Bus verlassen. Die Nacht verbrachte er in einer Haftzelle. Am<br />
Vormittag des 30.05.2004 wurde K dem zuständigen Richter beim Amtsgericht<br />
vorgeführt. Dieser hob die Freiheitsentziehung auf mit der Begründung,<br />
eine weitere Gewahrsamnahme sei unverhältnismäßig, da die Gefahr einer<br />
Störung der öffentlichen Sicherheit durch K nicht mehr bestehe. K wurde daraufhin<br />
gegen 11.00 h vormittags aus dem Gewahrsam entlassen.<br />
Mit Schriftsatz vom 06.06.2004 beantragte K beim zuständigen Amtsgericht<br />
die Feststellung, dass die Ingewahrsamnahme dem Grunde nach ebenso<br />
rechtswidrig war wie die Behandlung während des Gewahrsams. Mit Urteil<br />
vom 06.05.2005 stellte das Landgericht im Beschwerdeverfahren fest, dass die<br />
Freiheitsentziehung rechtswidrig war. Zwar sei die vorläufige Festnahme des<br />
K zunächst zu Recht erfolgt, da zu befürchten gewesen sei, dass er weitere<br />
Straftaten nach § 26 VersG begehen werde. Jedoch sei das Unverzüglichkeitsgebot<br />
des Art. 104 Abs. 2 S. 2 GG verletzt worden, weil die Polizei nicht umgehend<br />
eine richterliche Entscheidung über die Zulässigkeit und Fortdauer der<br />
Freiheitsentziehung herbeigeführt habe. In Bezug auf die Rüge des K über die<br />
Behandlung während des Gewahrsams erklärte das Landgericht den beschrittenen<br />
Rechtsweg für unzulässig und verwies den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht.<br />
Im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht beantragt K festzustellen, dass das<br />
mehrstündige Festhalten im Gefangenentransporter, ohne transportiert zu werden,<br />
rechtswidrig war. Jedenfalls nach Abschluss der Vernehmung um 19.00 h<br />
wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, ihn in eine nahegelegene Polizeiwache<br />
zu überführen. Die Behörde verweist demgegenüber darauf, dass der<br />
mehrstündige Aufenthalt des K im Gefangenenbus erforderlich gewesen sei,<br />
da noch weitere in Gewahrsam genommene Personen hätten erkennungsdienstlich<br />
behandelt und vernommen werden müssen. Erst nachdem diese<br />
Maßnahmen abgeschlossen gewesen seien, seien alle festgenommenen Personen<br />
zur Polizeiwache transportiert worden. Wie wird das Verwaltungsgericht<br />
entscheiden?<br />
Hinweis: Im Land L ist von den Ermächtigungen in §§ 61 Nr. 3, 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO<br />
kein Gebrauch gemacht worden. Ein Widerspruchsverfahren findet im Land L (abgesehen<br />
von hier nicht einschlägigen Ausnahmen) nicht statt (68 Abs. 1 S. 2, 1. Halbs.<br />
VwGO).
Rechtsprechung<br />
Auszug aus dem Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei im Land L<br />
(Polizeiaufgabengesetz – PAG)<br />
Art. 17 PAG<br />
(1) Die Polizei kann eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn<br />
1. …<br />
2. das unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung<br />
einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit<br />
zu verhindern; …<br />
Art. 18 PAG<br />
(1) Wird eine Person auf Grund von … Art. 17 festgehalten, hat die Polizei unverzüglich<br />
eine richterliche Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung<br />
herbeizuführen. Der Herbeiführung der richterlichen Entscheidung bedarf es<br />
nicht, wenn anzunehmen ist, dass die Entscheidung des Richters erst nach Wegfall des<br />
Grundes der polizeilichen Maßnahme ergehen würde. …<br />
(2) Ist die Freiheitsentziehung vor Erlass einer gerichtlichen Entscheidung beendet,<br />
kann die festgehaltene Person … innerhalb eines Monats nach Beendigung der Freiheitsentziehung<br />
die Feststellung beantragen, dass die Freiheitsentziehung rechtswidrig<br />
gewesen ist, wenn hierfür ein berechtigtes Interesse besteht. …<br />
(3) Für die Entscheidung nach Absatz 1 ist das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk<br />
die Freiheitsentziehung vollzogen wird. Für die Entscheidung nach Absatz 2 ist das<br />
Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Person von der Polizei in Gewahrsam genommen<br />
wurde. Das Verfahren richtet sich nach den Vorschriften des Gesetzes über<br />
das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit;<br />
die Rechtsbeschwerde ist ausgeschlossen.<br />
Art. 19 PAG<br />
(3) … 3Der festgehaltenen Person dürfen nur solche Beschränkungen auferlegt werden,<br />
die der Zweck der Freiheitsentziehung oder die Ordnung im Gewahrsam erfordert.<br />
Entscheidung<br />
A. Zulässigkeit der Klage<br />
I. Der Verwaltungsrechtsweg ist gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO für die öffentlich-rechtliche<br />
Streitigkeit nach dem Polizeirecht nur eröffnet, wenn keine abdrängende<br />
Sonderzuweisung eingreift, die auf dem Gebiet des Landesrechts<br />
auch durch Landesgesetz erfolgen kann (§ 40 Abs. 1 S. 2 VwGO).<br />
Nach Art. 18 Abs. 3 PAG ist für die Entscheidung über Freiheitsentziehungen<br />
das Amtsgericht zuständig. Dies gilt für andauernde (§ 18 Abs. 3 S. 1 PAG) wie<br />
für erledigte Maßnahmen (Art. 18 Abs. 3 S. 2 PAG). Die Sonderzuweisung erfasst<br />
unmittelbar aber nur die Frage, ob die Freiheitsentziehung dem Grunde<br />
nach rechtmäßig war. Deshalb ist umstritten, ob die Regelung auch anwendbar<br />
ist, wenn es darum geht, ob die Art und Weise der Ingewahrsamnahme<br />
rechtmäßig war (also das „Wie“).<br />
1. Der BayVGH (NJW 1989, 1754) ist davon ausgegangen, dass für die Frage, ob<br />
Maßnahmen während der Ingewahrsamnahme rechtsmäßig sind bzw. waren,<br />
aus Gründen des Sachzusammenhangs derselbe Rechtsweg wie für die<br />
gerichtliche Überprüfung der grundsätzlichen Zulässigkeit (und Fortdauer)<br />
der Ingewahrsamnahme gegeben ist, hier also die richterliche Entscheidung<br />
des nach Art. 18 Abs. 3 PAG zuständigen Amtsgerichts. Demgegenüber ist das<br />
OLG Celle (NVwZ-RR 2006, 254) ohne nähere Begründung von einer diesbezüglichen<br />
Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts ausgegangen.<br />
2. Vorliegend kommt es auf diese Streitfrage nicht an. Das Landgericht hat<br />
den Rechtsstreit bezüglich der Maßnahmen während der Ingewahrsamnahme<br />
an das Verwaltungsgericht verwiesen (§ 17 a Abs. 2 S. 1 GVG). Diese Verweisung<br />
ist für das Verwaltungsgericht hinsichtlich des Rechtsweges bindend<br />
(§ 17 a Abs. 2 S. 3 GVG). Der Verwaltungsrechtsweg ist damit in jedem<br />
Fall gegeben.<br />
RÜ 4/2012<br />
Zum weitgehend identischen Landesrecht<br />
vgl. Art. 17 ff. PAG Bay, § 28 PolG BW;<br />
§§ 30 ff. ASOG Bln; §§ 17 ff. BbgPolG;<br />
§§ 15 ff. BremPolG; §§ 13 ff. SOG Hmb;<br />
§§ 32 ff. HSOG, §§ 55, 56 SOG MV; §§ 18 ff.<br />
Nds SOG; §§ 35 ff. PolG NRW; §§ 14 ff.<br />
POG RP; §§ 13 ff. SPolG; § 22 SächsPolG;<br />
§§ 37 ff. SOG LSA; §§ 204, 205 LVwG SH;<br />
§§ 19 ff. Thür PAG.<br />
So § 18 Abs. 3 PAG Bay, § 31 Abs. 3 S. 1<br />
ASOG Bln, § 19 Abs. 3 S. 2 Nds SOG. In<br />
den meisten Ländern gilt die Sonderzuweisung<br />
unmittelbar nur für fortdauernde<br />
Ingewahrsamnahmen (vgl. z.B. § 28<br />
Abs. 3 PolG BW, § 36 Abs. 2 PolG NRW).<br />
Hier wird zum Teil die Sonderzuweisung<br />
wegen der Sachnähe der Amtsgerichte<br />
zu Haftsachen analog angewendet. Für<br />
den Verwaltungsrechtsweg spricht indes<br />
der Wortlaut des § 428 Abs. 2 FamFG („angefochten“),<br />
der von einer andauernden<br />
Freiheitsentziehung ausgeht (ausdrücklich<br />
§ 13 a Abs. 2 S. 4 SOG Hmb: Verwaltungsrechtsweg<br />
bei nachträglicher Überprüfung;<br />
ebenso OVG NRW, Beschl. v.<br />
08.12.2011– 5 A 1045/09).<br />
257
258<br />
RÜ 4/2012<br />
Zur Rechtsnatur von Standard- und<br />
Zwangsmaßnahmen vgl. AS-Skript Verwaltungsrecht<br />
AT 1 [2011], Rdnr. 183 ff.<br />
Rechtsprechung<br />
II. Als statthafte Klageart kommt die Fortsetzungsfeststellungsklage analog<br />
§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO in Betracht, wenn sich K gegen einen erledigten<br />
Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG wendet.<br />
1. Die Ingewahrsamnahme und die während ihrer Dauer getroffenen Maßnahmen<br />
sind an sich Realakte ohne eigenständige Regelungswirkung. Teilweise<br />
wird jedoch angenommen, dass in der Durchführung der Maßnahme<br />
zugleich die Pflicht zu deren Duldung konkretisiert werde. Dieses konkludente<br />
Duldungsgebot stelle einen selbstständigen Verwaltungsakt dar.<br />
„[29] Dabei kann letztlich offen bleiben, ob man die streitbefangenen ,Maßnahmen‘<br />
oder die dem Kläger durch die beanstandeten Umstände seiner Unterbringung<br />
während der polizeilichen Ingewahrsamnahme auferlegten ,Beschränkungen‘<br />
als eigenständige polizeiliche Verwaltungsakte mit entsprechendem Regelungsgehalt<br />
(etwa des Inhalts, diese Maßnahmen oder Beschränkungen zu dulden)<br />
… oder als (bloße) Realakte im Rahmen des Vollzugs des polizeilichen Gewahrsams<br />
(…) einstuft. [30] Denn in jedem Fall ist ein effektiver nachträglicher gerichtlicher<br />
Rechtsschutz (s. Art. 19 Abs. 4 GG) der bereits vor Klageerhebung beendeten<br />
Maßnahmen entweder über eine Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend<br />
§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO oder aber die allgemeine Feststellungsklage gemäß<br />
§ 43 Abs. 1 VwGO gewährleistet.“<br />
Die Annahme eines DuldungsVA ist vor allem historisch begründet, da es vor<br />
Inkrafttreten der VwGO Verwaltungsrechtsschutz nur bei Verwaltungsakten<br />
gab. Deswegen war die Rechtsprechung bemüht, in schlichtes Verwaltungshandeln<br />
einen VA hineinzuinterpretieren, um den Rechtsweg zu eröffnen. Für<br />
eine solche extensive Handhabung des VA-Begriffs besteht heute kein Bedürfnis<br />
mehr, da die VwGO mit der allgemeinen Feststellungsklage (§ 43 VwGO)<br />
ausreichenden Rechtsschutz auch bei (erledigten) Realakten zur Verfügung<br />
stellt. Bezüglich der Art und Weise der Ingewahrsamnahme fehlt es daher mangels<br />
Regelung an einem VA. Die Fortsetzungsfeststellungsklage scheidet aus.<br />
2. Statthaft ist vielmehr die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1<br />
VwGO. Das dafür erforderliche Rechtsverhältnis resultiert aus der streitigen<br />
Frage, ob die Polizei zur Durchführung der Ingewahrsamnahme in der konkreten<br />
Art und Weise berechtigt war. Diese Frage kann K nach Erledigung auch<br />
nicht durch Gestaltungs- oder Leistungsklage klären, sodass die Feststellungsklage<br />
nicht subsidiär ist (§ 43 Abs. 2 S. 1 VwGO).<br />
III. Der Kläger muss ein berechtigtes Interesse (Feststellungsinteresse) an<br />
der baldigen Feststellung haben (§ 43 Abs. 1 VwGO. Ausreichend ist dafür jedes<br />
nach der Sachlage anzuerkennende Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher<br />
oder ideeller Art.<br />
1. Daran könnte es hier fehlen, weil das Landgericht die Ingewahrsamnahme<br />
bereits für rechtswidrig erklärt hat. Diese Entscheidung betraf jedoch nur die<br />
Ingewahrsamnahme dem Grunde nach (das „Ob“) und nicht das „Wie“.<br />
„[32] Die Frage der Anordnung der Ingewahrsamnahme und deren Vollzug sind<br />
nämlich grundsätzlich voneinander zu scheiden. So kann etwa die Anordnung einer<br />
Ingewahrsamnahme durchaus rechtmäßig sein, während einzelne Maßnahmen<br />
während des Vollzugs sich als rechtswidrig erweisen können, ohne dass von<br />
einem Durchschlagen dieses Mangels auf die Freiheitsentziehung als solche ausgegangen<br />
werden muss (…). Das Landgericht hat im o.g. Beschluss die Ingewahrsamnahme<br />
deshalb als rechtswidrig angesehen, weil die den Kläger in Gewahrsam<br />
nehmende Polizei gegen das Unverzüglichkeitsgebot verstoßen hat, d.h.<br />
nicht unverzüglich eine richterliche Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer<br />
der Freiheitsentziehung gemäß Art. 18 Abs. 1 Satz 1 PAG herbeigeführt hat. Demgegenüber<br />
macht der Kläger hier geltend, … durch das lange Sitzen im Polizeibus<br />
in seinen Grundrechten beeinträchtigt zu sein, und zwar über die Grundrechtsbe-
Rechtsprechung<br />
einträchtigung hinaus, die der Gewahrsam an sich für ihn darstellte. Er hat damit<br />
die Art und Weise des Gewahrsams zu einem eigenen Streitgegenstand und insoweit<br />
ausdrücklich eine zusätzliche Verletzung in seinem Persönlichkeitsrecht<br />
und seiner Menschenwürde (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) sowie der Freiheit<br />
der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) geltend gemacht. Damit rügt er (auch) eine Verletzung<br />
von Art. 19 Abs. 3 Satz 3 PAG, wonach festgehaltenen Personen nur solche<br />
Beschränkungen auferlegt werden dürfen, die der Zweck der Freiheitsentziehung<br />
oder die Ordnung im Gewahrsam erfordert.“<br />
2. Bei erledigten Maßnahmen kann ein Feststellungsinteresse nur bestehen,<br />
wenn der Kläger noch immer ein Interesse an gerichtlicher Klärung hat.<br />
„[33] Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann jedoch ein Bedürfnis<br />
an einer gerichtlichen Entscheidung fortbestehen, wenn das Interesse des<br />
Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig<br />
ist. Dies ist unabhängig von der hier statthaften Klageart jedenfalls bei Bestehen<br />
einer Wiederholungsgefahr oder einer fortwirkenden Beeinträchtigung durch einen<br />
an sich beendeten Eingriff der Fall. Darüber hinaus kommt ein trotz Erledigung<br />
fortbestehendes Rechtsschutzinteresse in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe<br />
in Betracht (…). Bei derart schwerwiegenden Grundrechtseingriffen hat<br />
das Bundesverfassungsgericht ein durch Art. 19 Abs. 4 GG geschütztes Rechtsschutzinteresse<br />
u.a. in Fällen angenommen, in denen die direkte Belastung durch<br />
den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine<br />
Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der<br />
von der Prozessordnung eröffneten Instanz kaum erlangen kann (…).“<br />
Es gelten daher für das Feststellungsinteresse im Rahmen des § 43 Abs. 1<br />
VwGO dieselben Kriterien wie für das Fortsetzungsfeststellungsinteresse<br />
i.S.d. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO.<br />
„[35] Auch wenn man die vom Kläger angegriffenen polizeilichen Maßnahmen<br />
nicht als Realakte, sondern als polizeiliche Verwaltungsakte ansehen würde, hätte<br />
der Kläger ein berechtigtes Interesse im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO für sein<br />
Klagebegehren. Nach ständiger Rechtsprechung (…) genügt dafür jedes nach vernünftigen<br />
Erwägungen nach Lage des Falles anzuerkennende schutzwürdige Interesse<br />
rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art. … Nach ständiger Rechtsprechung<br />
des Bundesverwaltungsgerichts kann ein ideelles Feststellungsinteresse<br />
auch in Betracht kommen, wenn die in Frage stehende Maßnahme den Kläger objektiv<br />
in seinem grundrechtlich geschützten Bereich beeinträchtigt hat (…). Hierzu<br />
zählen namentlich Feststellungsbegehren, die polizeiliche Maßnahmen zum Gegenstand<br />
haben (…).“<br />
a) Danach lässt sich hier ein Feststellungsinteresse des K im Hinblick auf einen<br />
schwerwiegenden Grundrechtseingriff bejahen.<br />
„[34] Denn der Kläger beruft sich auf die Verletzung seiner Menschenwürde nach<br />
Art. 1 Abs. 1 GG sowie seines Rechts auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit<br />
gemäß Art. 2 Abs. 1 GG und seines Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit<br />
sowie die Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 GG. Diese geltend gemachten<br />
Grundrechtsverletzungen sind nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen, …“<br />
b) Im Übrigen ist auch eine Wiederholungsgefahr anzunehmen, „[33] … da<br />
der Kläger des Öfteren an Versammlungen oder Veranstaltungen wie dem Straßentheater,<br />
das Anlass für seine Ingewahrsamnahme war, teilnimmt und dabei immer<br />
wieder die Gefahr besteht, zumindest kurzfristig in Polizeigewahrsam zu kommen.“<br />
IV. Soweit man mit der Rechtsprechung zur Vermeidung einer Popularklage<br />
eine Klagebefugnis analog § 42 Abs. 2 VwGO auch bei der Feststellungsklage<br />
fordert, ergibt sich diese hier daraus, dass K geltend machen kann, in seinen<br />
Grundrechten aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG verletzt zu sein.<br />
RÜ 4/2012<br />
Feststellungsinteresse bei erledigten<br />
Maßnahmen insbesondere bei<br />
� Wiederholungsgefahr<br />
� Rehabilitationsbedürfnis<br />
� schwerwiegendem Grundrechtseingriff<br />
� Präjudizwirkung<br />
Zur analogen Anwendung des § 42 Abs. 2<br />
VwGO bei der Feststellungsklage vgl.<br />
AS-Skript VwGO [2011], Rdnr. 291.<br />
259
260<br />
RÜ 4/2012<br />
Zu den unterschiedlichen Anforderungen<br />
an Freiheitsbeschränkungen und Freiheitsentziehungen<br />
vgl. AS-Skript Grundrechte<br />
[2011], Rdnr. 177 ff.<br />
Zum identischen Landesrecht vgl. Art. 19<br />
Abs. 3 S. 3 PAG Bay; § 32 Abs. 3 S. 3 ASOG<br />
Bln; § 19 Abs. 3 S. 3 BbgPolG; § 15 Abs. 4<br />
S. 2 BremPolG; § 13 b Abs. 3 S. 3 SOG<br />
Hmb; § 34 Abs. 3 S. 3 HSOG; § 56 Abs. 4<br />
SOG MV; § 20 Abs. 4 S. 3 Nds SOG; § 37<br />
Abs. 3 S. 3 PolG NRW; § 16 Abs. 3 S. 3 POG<br />
RP; § 15 Abs. 3 S. 3 SPolG; § 22 Abs. 6 S. 1<br />
SächsPolG; § 39 Abs. 3 S. 3 SOG LSA; § 205<br />
Abs. 4 LVwG SH; § 21 Abs. 3 S. 3 Thür PAG.<br />
Ob dem K mit einer Entscheidung fast<br />
acht Jahre nach den Vorfällen wirklich<br />
noch gedient ist, dürfte indes zweifelhaft<br />
sein.<br />
Rechtsprechung<br />
V. Weitere besondere Sachurteilsvoraussetzungen bestehen bei der allgemeinen<br />
Feststellungsklage nicht, insbesondere ist vor Klageerhebung kein Vorverfahren<br />
durchzuführen und auch keine Klagefrist zu beachten.<br />
Die Klage des K ist damit als allgemeine Feststellungsklage zulässig.<br />
B. Begründetheit der Klage<br />
Die (negative) Feststellungsklage ist begründet, wenn das streitige Rechtsverhältnis<br />
nicht besteht, die Behörde also nicht berechtigt war, die Ingewahrsamnahme<br />
in der vorliegenden Art und Weise durchzuführen.<br />
I. Die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit von Eingriffen in die Freiheit der<br />
Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) hängen wegen der unterschiedlichen Intensität<br />
davon ab, ob eine Freiheitsbeschränkung oder eine Freiheitsentziehung<br />
vorliegt.<br />
„[44] Während eine Freiheitsbeschränkung nur dann vorliegt, wenn jemand durch<br />
die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort oder<br />
Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich zugänglich ist, ist<br />
der Tatbestand einer Freiheitsentziehung dann verwirklicht, wenn die – tatsächlich<br />
und rechtlich an sich gegebene – körperliche Bewegungsfreiheit durch staatliche<br />
Maßnahmen nach jeder Richtung hin aufgehoben wird (…). Einer derartigen<br />
Freiheitsentziehung war der Kläger durch das mehrstündige Sitzen im Gefangentransportbus<br />
unterworfen. Er konnte sich nicht frei bewegen. Sein Bewegungsradius<br />
war auf engsten Raum beschränkt. Nach den dem Senat vorliegenden Plänen<br />
beträgt der Grundriss einer Einzelkabine in einem derartigen Bus lediglich 77 cm x<br />
95 cm. … [Der Gefangene] kann sich in keiner Richtung bewegen und hat wohl<br />
bis auf einen kleinen Sehschlitz keine Möglichkeit, nach draußen zu sehen, was die<br />
Beengtheit und das Gefühl des Eingesperrtseins noch erheblich verstärkt. Angesichts<br />
dieser extremen Beschränkung der Bewegungsfreiheit ist das Sitzen im Gefangentransporter,<br />
wie oben bereits dargelegt wurde, nicht durch den Gewahrsam<br />
an sich mit umfasst, sondern stellt einen darüber hinausgehenden schweren<br />
Eingriff in das Recht der Freiheit der Person dar. “<br />
II. Nach Art. 19 Abs. 3 S. 3 PAG dürfen festgehaltenen Personen nur solche Beschränkungen<br />
auferlegt werden, die der Zweck der Freiheitsentziehung oder<br />
die Ordnung im Gewahrsam erfordert. Die Erforderlichkeit könnte hier fehlen,<br />
weil die Möglichkeit bestanden hat, K früher in eine Haftzelle zu verbringen.<br />
„[47] Der Beklagte hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass am Tag der Gewahrsamnahme<br />
des Klägers mehrere Personen aufgegriffen wurden, die an verschiedenen<br />
Veranstaltungen teilgenommen hatten und aus unterschiedlichen<br />
Gründen festgehalten worden sind. Es ist auch nachvollziehbar, dass die Ingewahrsamnahme<br />
zahlreicher Personen im Rahmen von größeren Veranstaltungen<br />
eine spezifische Problematik aufweist, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die<br />
personelle und sachliche Ausstattung von Behörden und Gerichten begrenzt und<br />
das Ausmaß des notwendigen außergewöhnlichen Einsatzes nur beschränkt<br />
planbar ist und es demzufolge zu Schwierigkeiten bei der praktischen Durchführung<br />
der Ingewahrsamnahmen kommen kann.“<br />
Hier hätte K jedoch nach Abschluss der Vernehmung um 19.00 h in die nahegelegene<br />
Polizeiwache verbracht werden können. Das weitere mehrstündige<br />
Festhalten des K im Gefangenentransportbus war danach nicht erforderlich<br />
und rechtswidrig. Die zulässig Feststellungsklage ist damit auch begründet.<br />
Ergebnis: Das Verwaltungsgericht stellt fest, dass das mehrstündige Festhalten<br />
des K in einem Gefangenentransportbus, ohne transportiert zu werden,<br />
rechtswidrig war.<br />
Horst Wüstenbecker
Repetitorium<br />
<strong>Staatsstrukturprinzipien</strong> in der Klausur<br />
Nach Art. 20 GG ist die Bundesrepublik Deutschland Demokratie, Republik,<br />
Rechtsstaat, Sozialstaat und Bundesstaat. Diese Staatsformmerkmale sind<br />
unmittelbar geltendes Recht und haben als <strong>Staatsstrukturprinzipien</strong> besondere<br />
Bedeutung für das richtige Verständnis unserer Verfassung. Sie sind in der Verfassung<br />
allerdings nur ansatzweise geregelt und weisen deshalb einen hohen<br />
Abstraktionsgrad auf. Die fallbezogene Anwendung in der Klausur bereitet<br />
daher immer wieder Probleme.<br />
Beispiele: Ein Gesetz ist nur verfassungsgemäß, wenn es nicht im Widerspruch zu den<br />
<strong>Staatsstrukturprinzipien</strong> des Art. 20 GG steht. Als Werte von Verfassungsrang können<br />
die <strong>Staatsstrukturprinzipien</strong> als sog. verfassungsimmanente Schranken einen Grundrechtseingriff<br />
rechtfertigen. In Zweifelsfragen bieten die Prinzipien Auslegungshilfen<br />
und konkretisieren nicht geregelte, aber regelungsbedürftige Fragen (z.B. bei der Rückwirkung<br />
von Gesetzen).<br />
Aber auch diese abstrakten Prinzipien haben eine konkrete Struktur, vor allem<br />
lässt sich ihr materieller Gehalt relativ einfach erfassen, da in den Klausuren<br />
immer wieder dieselben Fallgestaltungen auftauchen. Ausgangspunkt ist zumeist<br />
die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes (Verstoß gegen<br />
Art. 20 GG) oder die Vereinbarkeit eines Hoheitsakts mit Grundrechten (z.B. im<br />
Rahmen einer Verfassungsbeschwerde). Entscheidend ist in jedem Fall, dass<br />
Sie Ihrer Darstellung eine sachgerechte und nachvollziehbare Struktur geben.<br />
Diese sollte, wie bei sonstigen Falllösungen auch, zweckmäßigerweise in<br />
drei Schritten erfolgen:<br />
� Rechtliche Herleitung<br />
� Definition<br />
� Subsumtion<br />
1. Jede Fallbearbeitung muss mit der konkreten rechtlichen Herleitung des<br />
jeweils einschlägigen Prinzips beginnen. Zumeist reicht hier ein Hinweis auf<br />
die einschlägige Regelung in Art. 20 GG. Probleme ergeben sich nur dann,<br />
wenn das Prinzip nicht ausdrücklich normiert ist, sondern aus verschiedenen<br />
Vorschriften abgeleitet werden muss (wie z.B. das Rechtsstaatsprinzip).<br />
2. Im Anschluss daran arbeiten Sie die in Ihrem Fall einschlägige konkrete<br />
Ausprägung des Strukturprinzips heraus und stellen Sie deren Herleitung<br />
und Inhalt dar. Die Definition finden Sie nicht im Grundgesetz, sondern sie ergibt<br />
sich in der Regel aus einer der nachfolgend dargestellten Fallgruppen.<br />
Das Rückwirkungsverbot ist z.B. Ausprägung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes,<br />
das wiederum Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips ist.<br />
3. Abschließend erfolgt die Subsumtion der konkret zu prüfenden hoheitlichen<br />
Maßnahme unter den zuvor herausgearbeiteten Regelungsgehalt des<br />
einschlägigen Prinzips. Häufig hat hierbei eine Abwägung mit Grundrechten<br />
oder anderen Werten von Verfassungsrang zu erfolgen.<br />
I. Demokratie<br />
Das Merkmal der Demokratie beantwortet die Frage, wer Träger der mit der<br />
Staatsgewalt verbundenen Machtbefugnisse ist.<br />
Dabei werden (zurückgehend auf Aristoteles) typischerweise drei Fälle unterschieden:<br />
Träger der Staatsgewalt kann sein<br />
� eine einzelne Person: (absolute) Monarchie,<br />
� eine privilegierte Schicht: Aristokratie (Adel) oder Plutokratie (Besitz),<br />
� das Volk: Demokratie.<br />
RÜ 4/2012<br />
<strong>Staatsstrukturprinzipien</strong><br />
� Demokratie<br />
� Republik<br />
� Rechtsstaat<br />
� Sozialstaat<br />
� Bundesstaat<br />
Prüfungsmuster<br />
� Rechtliche Herleitung<br />
� Definition<br />
� Subsumtion<br />
Vermeiden Sie in der Klausur auf jeden<br />
Fall eine im freien Raum schwebende Argumentation.<br />
Auch allgemeine Prinzipien<br />
lassen sich vernünftig strukturieren!<br />
Beschränken Sie sich stets auf die in Ihrem<br />
Fall relevante Konkretisierung des<br />
Strukturprinzips. Keine überflüssige Wissensvermittlung,<br />
die mit dem Fall nichts<br />
zu tun hat!<br />
261
262<br />
RÜ 4/2012<br />
1. Rechtliche Herleitung<br />
Repetitorium<br />
Dass die Bundesrepublik Deutschland eine Demokratie ist folgt aus der Festlegung<br />
in Art. 20 Abs. 1 GG („demokratischer … Bundesstaat“) und aus Art. 20<br />
Abs. 2 S. 1 GG („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“). Auch Art. 23 Abs. 1 S. 1<br />
(„demokratischen … Grundsätzen“) und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG („demokratischen<br />
… Rechtsstaates“) bestätigen die Geltung des Demokratieprinzips.<br />
2. Definition<br />
Ausübung der Staatsgewalt a) Ausübung der Staatsgewalt<br />
Die Gegenmeinung will zumindest konsultative<br />
Volksbefragungen zulassen, da<br />
es hierbei nicht um direkte Teilhabe und<br />
Ausübung von Staatsgewalt gehe (vgl.<br />
AS-Skript Staatsorganisationsrecht [2012],<br />
Rdnr. 50).<br />
Die wichtigsten Ausprägungen des Demokratieprinzips ergeben sich aus<br />
Art. 20 Abs. 2 GG.<br />
Das Volk ist Träger der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Es übt die Staatsgewalt<br />
aus<br />
� in Wahlen und<br />
� Abstimmungen und<br />
� durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und<br />
der Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG).<br />
aa) Wahlen sind vor allem die Wahlen zum Bundestag, zum Landtag und zu<br />
den Kommunalvertretungen (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG). Sie müssen demokratischen<br />
Grundsätzen entsprechen, d.h. nach dem Verständnis des Grundgesetzes<br />
allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein (Art. 38 Abs. 1 S. 1,<br />
Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG).<br />
Volk i.S.d. Art. 20, 28 GG ist das deutsche Staatsvolk, d.h. alle Deutschen i.S.d. Art. 116<br />
Abs. 1 GG. Ausländer gehören nicht dazu (§ 2 AufentG). Deshalb steht Ausländern auch<br />
kein Wahlrecht zu. Eine Ausnahme gilt für Unionsbürger bei Kommunalwahlen nach<br />
Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG, Art. 22 Abs. 1 AEUV.<br />
Da es in der Demokratie nur Herrschaft auf Zeit gibt, müssen Wahlen periodisch<br />
stattfinden.<br />
Die Verlängerung einer laufenden Legislaturperiode stellt einen Eingriff in den Kernbereich<br />
des Demokratieprinzips dar und ist daher auch durch Verfassungsänderung nicht<br />
zulässig (Art. 79 Abs. 3 GG). Eine Verlängerung künftiger Wahlperioden ist dagegen<br />
durch Verfassungsänderung möglich, wobei überwiegend aber von einer Obergrenze<br />
von fünf Jahren ausgegangen wird.<br />
bb) Abstimmungen sind im Grundgesetz nur noch bei der Neugliederung des<br />
Bundesgebiets vorgesehen (Art. 29 Abs. 2 GG). Andere Formen der Volksbeteiligung<br />
(Volksbefragung, Volksbegehren und Volksentscheid) sind auf Bundesebene<br />
nach h.M. unzulässig. Dies folgt aus dem gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG geltenden<br />
Grundsatz der repräsentativen Demokratie, der nur in ausdrücklich<br />
bestimmten Fällen eine unmittelbare Beteiligung des Volkes zulässt.<br />
In den Verfassungen der Länder sind demgegenüber teilweise obligatorische bzw. fakultative<br />
Volksabstimmungen vorgesehen.<br />
cc) Im Übrigen übt das Volk die Staatsgewalt nur mittelbar durch besondere<br />
Organe der Gesetzgebung (Legislative), der vollziehenden Gewalt (Exekutive)<br />
und der Rechtsprechung (Judikative) aus (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Aufgrund des<br />
Demokratieprinzips bedürfen diese Organe bei jeglichem hoheitlichem Handeln<br />
einer Legitimation, die sich auf das Staatsvolk zurückführen lässt (ununterbrochene<br />
Legitimationskette vom Volk zu den Staatsorganen).<br />
In personeller Hinsicht ist eine hoheitliche Entscheidung legitimiert, wenn sich die Bestellung<br />
desjenigen, der sie trifft, durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf<br />
das Staatsvolk zurückführen lässt. Die sachlich-inhaltliche Legitimation wird durch Gesetzesbindung<br />
und Bindung der Regierung an Aufträge und Weisungen des Parlaments<br />
vermittelt (vgl. BVerfG RÜ 2012, 178, 181).
) Demokratische Willensbildung<br />
Repetitorium<br />
aa) Für die Willensbildung gilt in der Demokratie das Mehrheitsprinzip, wobei<br />
allerdings für einen ausreichenden Minderheitenschutz gesorgt sein muss.<br />
Beschlüsse des Bundestages werden grundsätzlich mit der Mehrheit der abgegebenen<br />
Stimmen gefasst, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt (Art. 42 Abs. 2 GG).<br />
Nach Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG hat der Bundestag aber z.B. auf Antrag eines Viertels seiner<br />
Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen.<br />
bb) Da die Staatsgewalt vom Volk „ausgeht“ (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), muss die<br />
politische Willensbildung vom Volke hin zu den Staatsorganen erfolgen („von<br />
unten nach oben“). Daraus ergibt sich für die Staatsorgane eine Pflicht zur<br />
parteipolitischen Neutralität mit folgenden Konsequenzen:<br />
� Der Staat darf sich nicht mit bestimmten Parteien identifizieren.<br />
Die Öffentlichkeitsarbeit der Staatsorgane findet deshalb dort ihre Grenze, wo die<br />
unzulässige Wahlwerbung auf Staatskosten beginnt.<br />
� Durch staatliche Zuschüsse darf kein Abhängigkeitsverhältnis der Parteien<br />
vom Staat entstehen (Staatsfreiheit der Parteien).<br />
Daraus folgt z.B. das Verbot der vollständigen oder verdeckten Parteienfinanzierung.<br />
c) Weitere Ausprägungen des Demokratieprinzips sind z.B. das Mehrparteiensystem,<br />
die Möglichkeit einer legalen Opposition und das Bestehen demokratischer<br />
Grundrechte.<br />
Gewisse Grundrechte sind für die Demokratie „schlechthin konstituierend“, z.B. die<br />
Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit<br />
(Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 GG).<br />
3. Formulierungsbeispiel<br />
„In Betracht kommt ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip, das in Art. 20 Abs. 1 u. Abs. 2<br />
GG verankert ist. Gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Dementsprechend<br />
findet die politische Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen statt.<br />
Daraus folgt für alle Staatsorgane die Pflicht zur parteipolitischen Neutralität. Aus diesem<br />
Grunde ist es den Staatsorganen verwehrt, im Vorfeld von Wahlen in amtlicher Funktion offen<br />
oder verdeckt für eine bestimmte Partei einzutreten. Allerdings sind die Staatsorgane<br />
befugt, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Die Öffentlichkeitsarbeit findet aber dort ihre<br />
Grenze, wo die unzulässige Wahlwerbung beginnt. Ob die Grenze überschritten ist, hängt<br />
von den Umständen des Einzelfalls ab. Abgrenzungskriterien sind insbesondere Inhalt, Aufmachung,<br />
Anlass und Adressatenkreis der Publikation. Besonders enge Grenzen gelten für<br />
regierungsamtliche Veröffentlichungen, die – wie im vorliegenden Fall – im nahen Umfeld<br />
einer Wahl erfolgen. Diese sind nur zulässig wenn, …“<br />
II. Republik<br />
1. Rechtliche Herleitung<br />
Die Staatsform der Republik wird durch Art. 20 Abs. 1 GG durch den Staatsnamen<br />
(„Bundesrepublik“) festgelegt und in Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG bestätigt<br />
(„republikanischen … Rechtsstaates“).<br />
2. Definition<br />
Da bereits das Demokratieprinzip verlangt, dass alle Staatsgewalt vom Volke<br />
ausgeht (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), bezieht sich die Staatsform Republik nur auf<br />
die Person des Staatsoberhaupts und hat daher praktisch nur Bedeutung in<br />
Abgrenzung zur Monarchie. In der Bundesrepublik Deutschland darf das<br />
Staatsoberhaupt daher nicht aufgrund von familien- oder erbrechtlichen Umständen<br />
oder auf Lebenszeit in sein Amt gelangen.<br />
Unzulässig wäre daher z.B. eine unbefristete Amtszeit des Bundespräsidenten (vgl.<br />
Art. 54 Abs. 2 GG).<br />
RÜ 4/2012<br />
Demokratische Willensbildung<br />
Weitere Ausprägungen des Demokratieprinzips<br />
Rechtliche Herleitung<br />
Definition<br />
Subsumtion<br />
263
264<br />
RÜ 4/2012<br />
Gegenbegriff ist der Willkürstaat, etwa in<br />
faschistischen oder kommunistischen Diktaturen.<br />
III. Rechtsstaatsprinzip<br />
1. Rechtliche Herleitung<br />
Repetitorium<br />
Die weitaus größte Bedeutung in der Klausur haben die Ausprägungen des<br />
Rechtsstaatsprinzips. Obwohl dieses Prinzips in Art. 20 GG nicht ausdrücklich<br />
erwähnt wird, ist allgemein anerkannt, dass es zu den grundlegenden <strong>Staatsstrukturprinzipien</strong><br />
zählt. Vorausgesetzt wird das Rechtsstaatsprinzip z.B. in<br />
Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG („rechtsstaatlichen … Grundsätzen“) und Art. 28 Abs. 1<br />
S. 1 GG („Rechtsstaates“). Die wichtigsten Ausprägungen finden sich in Art. 1<br />
Abs. 3 GG (Bindung an die Grundrechte), in Art. 20 Abs. 2 S. 2, 3. Fall GG (Gewaltenteilung)<br />
und Art. 20 Abs. 3 GG (Bindung an Recht und Gesetz).<br />
2. Definition<br />
Rechtsstaat ist ein Staat, dessen Ziel die Gewährleistung von Freiheit und Gerechtigkeit<br />
im staatlichen und staatlich beeinflussbaren Bereich ist und dessen<br />
Machtausübung durch Recht und Gesetz geregelt und begrenzt wird. Im<br />
Rechtsstaat ist das Recht primärer Ordnungsfaktor (Primat des Rechts).<br />
a) Gewaltenteilung (Funktionentrennung)<br />
Rechtsgrundlage des Gewaltenteilungsprinzips ist Art. 20 Abs. 2 S. 2, 3. Fall GG.<br />
Danach wird die Staatsgewalt vom Volk durch besondere Organe „der Gesetzgebung,<br />
der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ ausgeübt.<br />
Der Gedanke der Gewaltenteilung geht zurück auf den englischen Rechtsphilosophen<br />
Locke (1632–1704) und wurde später von dem französischen Staatstheoretiker Montesquieu<br />
(1689–1755) fortentwickelt.<br />
Grundlegend für die Gewaltenteilungslehre ist die Unterscheidung zwischen<br />
drei materiellen Staatsfunktionen: Legislative (Gesetzgebung), Exekutive<br />
(Verwaltung), Judikative (Rechtsprechung). Durch wechselseitige Begrenzung<br />
und Kontrolle der Machtausübung („checks and balances“) wird verhindert,<br />
dass eine der drei Funktionen eine übergeordnete Stellung erlangt.<br />
Die Regierung ist vom Vertrauen des Parlaments abhängig (Art. 63, 67, 68 GG). Verwaltung<br />
und Rechtsprechung sind an die vom Parlament erlassenen Gesetze gebunden<br />
(Art. 20 Abs. 3 GG). Die Gerichte kontrollieren die Verfassungsmäßigkeit der vom Parlament<br />
erlassenen Gesetze und die Rechtmäßigkeit einzelner Exekutivakte (Art. 92, 93,<br />
19 Abs. 4 GG) u.v.m.<br />
Ausfluss der Gewaltenteilung ist auch die sog. Inkompatibilität (auch personelle<br />
Gewaltenteilung). Niemand darf zwei Ämter innehaben, die sich gegenseitig<br />
kontrollieren oder hemmen sollen.<br />
Vgl. beispielhaft Art. 55 Abs. 1 GG (Bundespräsident), Art. 66 GG (Regierungsmitglieder),<br />
Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG (Richter des BVerfG), Art. 137 GG (Beamte).<br />
Durchbrechungen des Gewaltenteilungsprinzips sind zulässig, wenn ein besonderer<br />
sachlicher Grund besteht (vgl. z.B. Art. 80 Abs. 1 GG, wonach die Exekutive<br />
Rechtsverordnungen als Gesetze im materiellen Sinne erlassen darf).<br />
Unzulässig ist in jedem Fall ein Eingriff in den Kernbereich einer anderen Gewalt,<br />
auch darf eine Gewalt kein deutliches Übergewicht gegenüber den anderen<br />
Gewalten erhalten.<br />
b) Bindung an Recht und Gesetz<br />
Die Legislative ist an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden (Art. 20<br />
Abs. 3, 1. Halbs. GG), d.h. Gesetze müssen verfassungsgemäß sein. Exekutive<br />
und Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3,<br />
2. Halbs. GG). Die Legislative kann die beiden anderen Gewalten daher durch<br />
Gesetze binden. Die Gesetzesbindung bezieht sich auf das Grundgesetz (insbesondere<br />
die Grundrechte, Art. 1 Abs. 3 GG) und alle sonstigen einfachrechtlichen<br />
Normen des Bundes- und Landesrechts.
Repetitorium<br />
Der Grundsatz der Gesetzesbindung wird durch zwei Grundsätze konkretisiert:<br />
� Nach dem Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes darf keine staatliche Maßnahme<br />
gegen Rechtsnormen verstoßen („kein Handeln gegen Gesetz“).<br />
� Nach dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes ist eine hoheitliche<br />
Maßnahme grundsätzlich nur zulässig, wenn das Handeln in einer Rechtsnorm<br />
gestattet ist („kein Handeln ohne Gesetz“).<br />
Der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes gilt allerdings nicht für die gesamte Staatstätigkeit,<br />
sondern nur für den Bürger belastende Maßnahmen und wesentliche Entscheidungen<br />
(Wesentlichkeitstheorie). Wesentlich in diesem Sinne sind vor allem Maßnahmen,<br />
die den Grundrechtsbereich tangieren, sowie Angelegenheiten, die erhebliche<br />
Auswirkungen für die Allgemeinheit haben (z.B. friedliche Nutzung der Atomkraft).<br />
c) Bindung an Grundrechte<br />
Ein weiteres bedeutsames Element des Rechtsstaatsprinzips ist das Bestehen<br />
von Grundrechten des Bürgers, die das staatliche Handeln begrenzen (Art. 1<br />
Abs. 3 GG) und dem Bürger eine gesicherte Freiheitssphäre einräumen. Deshalb<br />
kann sich aus Grundrechten auch eine Schutzpflicht des Staates gegenüber<br />
Eingriffen Dritter ergeben.<br />
d) Effektiver Rechtsschutz<br />
Im Rechtsstaat muss die Gesetzesbindung vom Bürger durchgesetzt werden<br />
können. Deshalb gehört die Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes<br />
gegenüber Hoheitsakten (Art. 19 Abs. 4 GG) ebenso zum Rechtsstaatsprinzip<br />
wie die Existenz von Justizgrundrechten (Art. 101, 103, 104 GG). Auch im Verhältnis<br />
der Bürger untereinander muss ausreichender Rechtsschutz durch<br />
staatliche Gerichte gewährleistet sein.<br />
e) Bestimmtheit<br />
Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips ist der Bestimmtheitsgrundsatz. Gesetze<br />
können ihre Funktion, das Verhalten des Bürgers zu steuern, nur erfüllen,<br />
wenn sie hinreichend bestimmt sind (Grundsatz der Normenklarheit). Dasselbe<br />
gilt für sonstige hoheitliche Maßnahmen (z.B. für Verwaltungsakte, § 37<br />
Abs. 1 VwVfG). Der Bürger muss wissen, was von ihm verlangt wird und nicht<br />
Gefahr laufen, sich anzustrengen und trotzdem seine Pflichten nicht oder<br />
nicht ausreichend zu erfüllen. Der Grad der Bestimmtheit lässt sich allerdings<br />
nicht abstrakt festlegen, sondern hängt von den Umständen des Einzelfalls ab.<br />
Ausreichend ist, dass sich der Inhalt der staatlichen Maßnahme durch Auslegung<br />
ermitteln lässt.<br />
f) Verhältnismäßigkeit<br />
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird (zumindest auch) aus dem<br />
Rechtsstaatsprinzip abgeleitet. Danach muss jede (belastende) staatliche Maßnahme<br />
zur Verfolgung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen<br />
sein.<br />
� Geeignet ist die Maßnahme, wenn mit ihrer Hilfe der gewünschte Erfolg<br />
zumindest gefördert werden kann (er muss also nicht unbedingt erreicht<br />
werden).<br />
Bei Gesetzen billigt das BVerfG der Legislative einen Prognosespielraum zu. Zu prüfen<br />
ist nur, ob das Gesetz zum erstrebten Zweck „objektiv untauglich“ oder „schlechthin<br />
ungeeignet“ sei. Die Verwaltung ist demgegenüber an die gesetzlichen Vorgaben<br />
gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG), ohne dass ihr ein solcher Spielraum zusteht.<br />
� Erforderlich ist eine Maßnahme nur, wenn zur Verfolgung des Zwecks kein<br />
anderes gleich wirksames, aber den Bürger weniger belastendes Mittel zur<br />
Verfügung steht.<br />
RÜ 4/2012<br />
Besondere Ausprägungen des Bestimmtheitsgrundsatzes<br />
finden sich in Art. 80<br />
Abs. 1 S. 2 GG (für Rechtsverordnungen)<br />
und Art. 103 Abs. 2 GG (für Strafgesetze).<br />
Im Grundrechtsbereich ergibt sich der<br />
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in<br />
erster Linie aus dem betroffenen Grundrecht<br />
selbst.<br />
265
266<br />
RÜ 4/2012<br />
Repetitorium<br />
Ein Versammlungsverbot (§ 15 Abs. 1 VersG) ist z.B. nicht erforderlich, wenn Auflagen<br />
zur Abwehr der Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausreichen.<br />
� Angemessen ist die Maßnahme nur, wenn sie nicht zu Nachteilen führt,<br />
die erkennbar außer Verhältnis zum angestrebten Erfolg stehen.<br />
Hierbei hat i.d.R. eine umfassende Abwägung der betroffenen Rechte bzw. Rechtsgüter<br />
zu erfolgen. Unangemessen ist die Maßnahme nur, wenn der herbeigeführte<br />
Nachteil deutlich größer ist als der Vorteil der Maßnahme („erkennbar“).<br />
Vertrauensschutz g) Vertrauensschutz<br />
Ein weiteres Element des Rechtsstaats ist der Grundsatz des Vertrauensschutzes.<br />
Er schränkt insbesondere die Rücknahme von Verwaltungsakten (§§ 48,<br />
49 VwVfG) und die Rückwirkung von Gesetzen ein. Bei rückwirkenden Gesetzen<br />
wird gemeinhin zwischen echter und unechter Rückwirkung unterschieden:<br />
Rückwirkende Strafgesetze sind nach<br />
Art. 103 Abs. 2 GG generell unzulässig.<br />
Rechtliche Herleitung<br />
Definition<br />
Subsumtion<br />
� Echte Rückwirkung liegt vor, wenn ein Gesetz nachträglich in abgeschlossene,<br />
der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift, wenn also die<br />
Rechtsfolgen für einen vor der Verkündung liegenden Zeitpunkt eintreten<br />
sollen (deshalb teilweise auch als Rückbewirkung von Rechtsfolgen bezeichnet).<br />
� Unechte Rückwirkung entfaltet eine Rechtsnorm, wenn sie auf gegenwärtige,<br />
noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt, damit<br />
aber zugleich eine Rechtsposition nachträglich entwertet (auch tatbestandliche<br />
Rückanknüpfung).<br />
Die echte Rückwirkung ist grundsätzlich unzulässig. Sie ist nur ausnahmsweise<br />
zulässig, wenn das Vertrauen des Bürgers nicht schutzwürdig ist, z.B.<br />
weil der Bürger mit einer Regelung rechnen musste, die alte Rechtslage unklar<br />
und verworren war, eine nichtige Vorschrift durch eine wirksame Norm ersetzt<br />
wird oder aus zwingenden Gründen des Gemeinwohls.<br />
Prüfungsansatz bei der echten Rückwirkung ist nach h.M. unmittelbar das Rechtsstaatsprinzip.<br />
Ein Gesetz mit unzulässiger echter Rückwirkung verstößt daher gegen<br />
Art. 20 Abs. 3 GG.<br />
Die unechte Rückwirkung ist dagegen grundsätzlich zulässig. Sie ist nur ausnahmsweise<br />
unzulässig, wenn aufgrund einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung<br />
das Vertrauensinteresse des Bürgers das öffentliche Interesse<br />
überwiegt.<br />
Trotz der Herleitung des Rückwirkungsverbotes aus dem Rechtsstaatsprinzip wird heute<br />
die unechte Rückwirkung eher als ein Problem der Angemessenheit im Rahmen der<br />
Grundrechtsprüfung verstanden (vgl. Altevers RÜ 2010, 742 ff.).<br />
h) Weitere Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips sind u.a.<br />
� das Verbot von Einzelfallgesetzen (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG für Grundrechtseingriffe,<br />
im Übrigen Art. 19 Abs. 4 GG bei Formenmissbrauch),<br />
� Unabhängigkeit der Gerichte und Richter (Art. 92, 97 GG),<br />
� Gebot eines fairen Gerichtsverfahrens (Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG).<br />
3. Formulierungsbeispiel<br />
„Das Gesetz könnte gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Dieses Prinzip ist in Art. 20 GG<br />
zwar nicht ausdrücklich erwähnt, seine verfassungsrechtliche Geltung wird aber in verschiedenen<br />
Vorschriften vorausgesetzt (z.B. Art. 23 Abs. 1 S. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) und ist<br />
deshalb allgemein anerkannt. Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips ist u.a. das Gebot des<br />
Vertrauensschutzes, aus dem sich Einschränkungen für rückwirkende Gesetze ergeben.<br />
Vorliegend soll das Gesetz rückwirkend zum Jahresbeginn in Kraft treten. Darin könnte eine<br />
unzulässige echte Rückwirkung liegen. Dies setzt voraus, dass die Rechtsfolgen der Norm<br />
vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung gelten sollen. Vorliegend ergibt sich, dass …“
IV. Sozialstaatsprinzip<br />
1. Rechtliche Herleitung<br />
Repetitorium<br />
Die Geltung des Sozialstaatsprinzips folgt aus Art. 20 Abs. 1 GG („sozialer Bundesstaat“),<br />
aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG („sozialen … Grundsätzen“) sowie aus<br />
Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG („sozialen Rechtsstaates“). Spezielle Ausprägungen finden<br />
sich in Art. 3 Abs. 3 S. 2 (Behinderte), Art. 6 Abs. 4 (Mutterschutz), Art. 9 Abs. 3<br />
S. 1 (Streikrecht) sowie Art. 14 Abs. 2 GG (Sozialbindung des Eigentums).<br />
2. Definition<br />
Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat zur Herstellung und Erhaltung<br />
sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit.<br />
� Soziale Gerechtigkeit verlangt die Herstellung tatsächlicher Chancengleichheit<br />
sowie Schutz der Schwachen vor den Starken.<br />
Gleichberechtigung (Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG), Schutz der Behinderten (Art. 3 Abs. 3 S. 2<br />
GG), soziales Arbeits- und Mietrecht, Gewährung von Prozesskostenhilfe.<br />
� Soziale Sicherheit bedeutet Schaffung und Erhaltung von Einrichtungen,<br />
die für den Fall des Fehlens eigener Daseinsreserven in Krisen die notwendige<br />
Daseinshilfe gewähren.<br />
Schaffung von Sozialversicherungssystemen, Gewährung von Sozialhilfe.<br />
Da die Schaffung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit gesetzlicher Regelungen<br />
bedarf, richtet sich das Sozialstaatsprinzip in erster Linie an den Gesetzgeber.<br />
Für Verwaltung und Gerichte erlangt das Sozialstaatsprinzip Bedeutung<br />
vor allem bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, für die<br />
Verwaltung auch bei Ermessensentscheidungen. Nur in eng umgrenzten Einzelfällen<br />
kann das Sozialstaatsprinzip (zusammen mit Grundrechten) unmittelbar<br />
Ansprüche des Bürgers begründen.<br />
3. Formulierungsbeispiel<br />
„Die Vorschriften des SGB II könnten den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen<br />
Existenzminimums verletzen. Dieser Anspruch ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m.<br />
dem Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG, der dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, jedem<br />
ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Hiervon umfasst werden …“ (vgl.<br />
näher BVerfG RÜ 2010, 250, 251).<br />
V. Bundesstaatsprinzip<br />
1. Rechtliche Herleitung<br />
Die Geltung des Bundesstaatsprinzips ergibt sich aus der in Art. 20 Abs. 1 GG<br />
getroffenen ausdrücklichen Feststellung, dass die Bundesrepublik ein Bundesstaat<br />
ist, ferner aus den zahlreichen Vorschriften, die vom Vorhandensein<br />
der Länder ausgehen (z.B. Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG: „in den Ländern“), insbesondere<br />
indem Zuständigkeiten auf Bund und Länder verteilt werden (vgl. Art. 30,<br />
70 ff., 83 ff., 92 ff., 104 a ff. GG).<br />
2. Definition<br />
Bundesstaat ist ein Gesamtstaat, bei dem die Ausübung der Staatsgewalt auf<br />
einen Zentralstaat (Bund) und mehre Gliedstaaten (Länder) aufgeteilt ist. Beim<br />
Bundesstaat haben sowohl der Bund als auch die Länder Staatsqualität.<br />
Beim Einheitsstaat hat nur der Zentralstaat Staatsqualität, nicht dagegen die einzelnen<br />
Untergliederungen, die ihre Befugnisse lediglich vom Zentralstaat ableiten. Beim<br />
Staatenbund übt der Gesamtstaat Staatsgewalt nur nach außen hin aus, während<br />
seine Anordnungen nach innen der Umsetzung der einzelnen Gliedstaaten bedürfen.<br />
Beim Bundesstaat übt der Bund dagegen sowohl nach außen als auch nach innen unmittelbar<br />
Staatsgewalt aus.<br />
RÜ 4/2012<br />
Anders der liberale Rechtsstaat, der lediglich<br />
für rechtliche Chancengleichheit<br />
sorgt.<br />
267
Rechtliche Herleitung<br />
Definition<br />
Subsumtion<br />
268<br />
RÜ 4/2012<br />
Repetitorium<br />
a) Einschränkungen der Eigenstaatlichkeit<br />
Die Staatlichkeit der Länder unterliegt jedoch Einschränkungen:<br />
� Die Länderverfassungen müssen den Grundsätzen des republikanischen,<br />
demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes<br />
entsprechen (Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG). Gefordert wird hierbei jedoch keine<br />
Gleichförmigkeit, sondern nur ein „Mindestmaß an Homogenität“.<br />
� Die Länder haben grundsätzlich keine Befugnisse nach außen (vgl. Art. 24<br />
Abs. 1 a und Art. 32 Abs. 3 GG, wonach völkerrechtliche Verträge nur mit<br />
Zustimmung der Bundesregierung zulässig sind).<br />
� Dem Bund stehen Aufsichtsbefugnisse und Einwirkungsrechte gegenüber<br />
den Ländern zu (z.B. Art. 37, Art. 84 Abs. 3, Art. 85 Abs. 3 GG. Umgekehrt<br />
bestehen Einwirkungsmöglichkeiten der Länder auf den Bund, insbesondere<br />
durch den Bundesrat (Art. 50 GG).<br />
b) Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern<br />
Die Zuweisung staatlicher Aufgaben erfolgt im Grundgesetz<br />
� entweder hinsichtlich konkret bezeichneter Aufgaben,<br />
z.B. für auswärtige Angelegenheiten (Art. 32 Abs. 1 GG), für die Einrichtung der Behörden<br />
und das Verwaltungsverfahren (Art. 84 Abs. 1 GG),<br />
� oder durch Generalklauseln für bestimmte Aufgabenbereiche.<br />
Art. 70 GG für die Gesetzgebung, Art. 83 GG für die Ausführung von Bundesgesetzen,<br />
Art. 92 für die Rechtsprechung.<br />
Auffangtatbestand ist Art. 30 GG, wonach die Ausübung der staatlichen Befugnisse<br />
und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben Sache der Länder ist, soweit<br />
das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt.<br />
c) Aufgrund der bundesstaatlichen Ordnung gibt es Bundesrecht und Landesrecht.<br />
Formal sind beide Rechtsordnungen streng getrennt. Allerdings bestimmt<br />
Art. 31 GG: „Bundesrecht bricht Landesrecht.“<br />
Eine RechtsVO des Bundes verdrängt deshalb eine entgegenstehende Regelung in der<br />
Landesverfassung.<br />
d) Bundestreue<br />
Eine wichtige Ausprägung des Bundesstaatsprinzips ist der Grundsatz der<br />
Bundestreue (auch Gebot zu bundesfreundlichem Verhalten). Die Bundestreue<br />
begründet zwar keine selbstständigen Rechte und Pflichten, konkretisiert<br />
jedoch das bestehende Rechtsverhältnis zwischen Bund und Ländern. Aus der<br />
Bundestreue folgt insbesondere eine Pflicht zu gegenseitiger Rücksichtnahme<br />
ebenso wie Nebenpflichten zur Information, Abstimmung und Zusammenarbeit.<br />
Vor allem dürfen Kompetenzen nicht missbräuchlich oder treuwidrig<br />
ausgeübt werden.<br />
3. Formulierungsbeispiel<br />
„Die Weigerung des Landes L, gegen die Stadt S kommunalaufsichtliche Maßnahmen zu ergreifen,<br />
könnte gegen den aus dem Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) folgenden<br />
Grundsatz der Bundestreue verstoßen. Dieser gewohnheitsrechtlich anerkannte Grundsatz<br />
verpflichtet den Bund und die Länder, dem Wesen des Bundesstaates entsprechend zusammenzuwirken<br />
und zu seiner Festigung und zur Wahrung der Belange der Beteiligten beizutragen.<br />
Überschreiten Kommunen ihre Verbandskompetenz durch Eingriffe in Bundeszuständigkeiten<br />
sind die Länder deshalb zu kommunalaufsichtlichem Einschreiten verpflichtet.<br />
Hier hat der Rat der Stadt S beschlossen, dass … Damit hat der Rat unzulässigerweise<br />
Bundeskompetenzen in Anspruch genommen. …“<br />
Horst Wüstenbecker
Zivilrecht<br />
1. Aus welcher Anspruchsgrundlage<br />
kann der Besteller eines Werks Schadensersatz<br />
verlangen, wenn der Unternehmer<br />
Sachen bei der Herstellung<br />
des Werkes beschädigt hat?<br />
2. Umfasst der Pflichtenkreis eines<br />
Beförderungsvertrags mit einem reinen<br />
Eisenbahnverkehrsunternehmen<br />
auch den sicheren Ab- und Zugang<br />
zu den Bahnsteigen?<br />
3. Gehört der Ausbau einer mangelhaften<br />
Sache zu der vom Verkäufer<br />
geschuldeten Nachlieferung?<br />
4. Hat der Käufer einen unmittelbaren<br />
Anspruch auf Ersatz der Ausbaukosten<br />
einer mangelhaften Sache?<br />
5. Kann der Verkäufer nach der gesetzlichen<br />
Regelung die Nachlieferung<br />
wegen unverhältnismäßiger<br />
Kosten gemäß § 439 Abs. 3 S. 1 BGB<br />
verweigern, wenn die Nachbesserung<br />
unmöglich ist?<br />
6. Wie kann das Verweigerungsrecht<br />
des Verkäufers aus § 439 Abs. 3 S. 1<br />
BGB bei Unmöglichkeit der Nachbesserung<br />
richtlinienkonform ausgestaltet<br />
werden?<br />
7. Benennen Sie die Voraussetzungen<br />
eines Gesamtschuldverhältnisses<br />
i.S.v. § 421 BGB!<br />
8. Was ist ein Verbotsgesetz i.S.v.<br />
§ 134 BGB?<br />
Check<br />
1. Beschädigt der Unternehmer bei der Herstellung des Werks Sachen des Bestellers,<br />
führt dies allein nicht dazu, dass das Werk mangelhaft ist. Ansprüche<br />
aus § 634 Nr. 4 BGB scheiden dann aus. Die Beschädigung der Sachen des Bestellers<br />
ist die Verletzung einer Schutzpflicht, die zu den Rücksichtnahmepflichten<br />
i.S.d. § 241 Abs. 2 BGB gehört. Anspruchsgrundlage für die Verletzung<br />
von Rücksichtnahmepflichten ist § 280 Abs. 1 BGB. (RÜ 4/2012, S. 206)<br />
2. Ja. Schutzpflichten entsteht vor allem dann, wenn die Vertragsparteien dem<br />
anderen Teil im Rahmen des Vertrags eine gesteigerte Einwirkung auf ihre Belange<br />
gestatten und daher in einem höheren Maß als sonst auf die Wahrung<br />
und den Schutz ihrer Rechtsgüter durch den anderen Teil vertrauen oder zu<br />
vertrauen gezwungen sind. Bei einer Bahnfahrt ist die Benutzung des Bahnhofs<br />
zwingen erforderlich und geschieht nicht nur bei Gelegenheit der Bahnfahrt.<br />
Demnach umfassen die Schutzpflichten des Beförderungsvertrags auch<br />
die Sicherheit der Bahnhofsanlagen. (RÜ 4/2012, S. 209)<br />
3. Rein begrifflich ist es zumindest fraglich, ob der Ausbau der mangelhaften<br />
Sache zur Nachlieferung gehört, weil er sich auf eine andere Sache bezieht als<br />
die nachgelieferte. § 439 Abs. 1 BGB ist jedoch richtlinienkonform so auszulegen,<br />
dass die Nachlieferung auch den Ausbau und Abtransport der zuerst<br />
gelieferten mangelhaften Sache umfasst. Der Verkäufer ist zum Ausbau verpflichtet,<br />
aber auch berechtigt. Der Ausbau gehört zu seinem „Recht auf zweite<br />
Andienung“. § 439 Abs. 1 BGB soll dem Verkäufer die Möglichkeit geben,<br />
die Nacherfüllung selbst vorzunehmen. (RÜ 4/2012, S. 212)<br />
4. Ein Anspruch auf Ersatz der Ausbaukosten kann sich aus § 439 Abs. 2 BGB<br />
ergeben. Es besteht aber kein Wahlrecht des Käufers in der Weise, dass er<br />
wahlweise den tatsächlichen Ausbau als Nachlieferung oder Erstattung der<br />
Ausbaukosten verlangen könnte. (RÜ 4/2012, S. 212 f.)<br />
5. Nach dem Wortlaut des Gesetzes kann der Verkäufer die Nachlieferung<br />
auch dann wegen unverhältnismäßiger Kosten verweigern, wenn die Nachbesserung<br />
unmöglich ist. Aus § 439 Abs. 3 S. 3 BGB und § 440 Abs. 1 BGB ergibt<br />
sich eindeutig, dass nach der Konzeption des Gesetzes beide Formen der<br />
Nacherfüllung wegen Unverhältnismäßigkeit verweigert werden können.<br />
(RÜ 4/2012, S. 213 ff.)<br />
6. Da eine Einschränkung des Verweigerungsrechts vom Wortlaut des Gesetzes<br />
nicht gedeckt ist, ist eine richtlinienkonforme teleologische Reduktion des<br />
§ 439 Abs. 3 BGB erforderlich. Die dafür notwendige Regelungslücke ergibt<br />
sich daraus, dass der deutsche Gesetzgeber eine richtlinienkonforme Regelung<br />
schaffen wollte, dieses Ziel aber für den Fall der unverhältnismäßig kostenintensiven<br />
Nachlieferung bei gleichzeitiger Unmöglichkeit der Nachbesserung<br />
nicht erreicht hat. Der BGH schließt die Regelungslücke durch teleologische<br />
Reduktion in der Weise, dass sich in diesen Fällen das Verweigerungsrecht<br />
des Verkäufers darauf beschränkt, den Käufer auf einen angemessenen<br />
Kostenerstattungsanspruch zu verweisen. (RÜ 4/2012, S. 214 ff.)<br />
7. Ein Gesamtschuldverhältnis nach § 421 BGB besteht dann, wenn mehrere<br />
Schuldner (1) eine Leistung (2) in der Weise schulden, dass jeder die ganze<br />
Leistung zu bewirken verpflichtet (3), der Gläubiger aber die Leistung nur einmal<br />
zu fordern berechtigt ist (4). Darüber hinaus bilden nur gleichstufige Verpflichtungen<br />
eine Gesamtschuld (5). (RÜ 4/2012, S. 219 f.)<br />
8. Verbotsgesetze sind Gesetze i.S.v. Art. 2 EGBGB – also nicht nur Gesetze im<br />
formellen Sinn, sondern auch Rechtsverordnungen und Gewohnheitsrecht –,<br />
die eine nach unserer Rechtsordnung grundsätzlich mögliche rechtsgeschäft-<br />
269
9. In welchen Fallkonstellationen ist<br />
die Einziehung erfüllungshalber abgetretenerSchadensersatzforderungen<br />
durch ein Mietwagenunternehmen<br />
nach dem BGH gemäß § 5 Abs. 1<br />
RDG erlaubt?<br />
10. Wie sind nach h.M. die Vorgaben<br />
des AGG im Kündigungsschutzrecht<br />
zu berücksichtigen?<br />
11. Was ist der Unterschied zwischen<br />
einer verhaltensbedingten und einer<br />
personenbedingten Kündigung?<br />
12. Welche Umstände sind im Rahmen<br />
der Interessenabwägung bei<br />
einer verhaltensbedingten Kündigung<br />
zu berücksichtigen?<br />
270<br />
Check<br />
liche Regelung wegen ihres Inhalts oder wegen der Umstände ihres Zustandekommens<br />
untersagen. (RÜ 4/2012, S. 222)<br />
9. Nach Auffassung des BGH gehört der Einzug abgetretener Schadensersatzforderungen<br />
jedenfalls dann als Nebenleistung zum Berufsbild eines Mietwagenunternehmers<br />
und ist daher gemäß § 5 Abs. 1 RDG erlaubt, wenn die<br />
Forderung dem Grunde nach unbestritten ist und es lediglich Streit über deren<br />
Höhe gibt. In einem solchen Fall ist die Rechtsdienstleistung – die Einziehung<br />
der eigenen Vergütungsansprüche gegenüber einem Dritten – besonders<br />
eng mit der eigentlichen, den Vergütungsanspruch auslösenden Haupttätigkeit<br />
verbunden. (RÜ 4/2012, S. 223 f.)<br />
10. Die Benachteiligungsverbote des AGG sind nach h.M. bei der Auslegung<br />
der unbestimmten Rechtsbegriffe des allgemeinen und des besonderen Kündigungsschutzes<br />
(z.B. soziale Rechtfertigung i.S.d. § 1 KSchG; wichtiger Grund<br />
i.S.d. § 626 BGB) zu berücksichtigen. Dadurch wird verhindert, dass ein zweigleisiger<br />
Kündigungsschutz besteht – zum einen über das AGG, zum anderen<br />
über die Kündigungsschutzregelungen. (RÜ 4/2012, S. 226 f.)<br />
11. Eine Kündigung ist verhaltensbedingt, wenn der Arbeitnehmer eine Vertragspflicht<br />
– i.d.R. schuldhaft – erheblich verletzt hat. Eine Kündigung ist personenbedingt,<br />
wenn der Arbeitnehmer aufgrund mangelnder persönlicher<br />
Eignung oder seiner persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften nicht mehr<br />
in der Lage ist, künftig seine arbeitsvertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen.<br />
Daher liegt der Unterschied in der Steuerbarkeit der Umstände seitens des Arbeitnehmers.<br />
Ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund liegt vor, wenn der<br />
Arbeitnehmer nicht will, ein personenbedingter dagegen, wenn der Arbeitnehmer<br />
nicht kann. (RÜ 4/2012, S. 227)<br />
12. Aufseiten des Arbeitgebers sind bei der Abwägung u.a. die Erheblichkeit<br />
der Pflichtverletzung, das Verschulden des Arbeitnehmers, die durch die<br />
Pflichtverletzung verursachte Betriebsstörung und die Beharrlichkeit der Pflichtverletzung<br />
zu berücksichtigen. Demgegenüber kommt es aufseiten des Arbeitnehmers<br />
auf sein früheres Verhalten, ein etwaiges Mitverschulden des Arbeitgebers<br />
sowie das Lebensalter und die Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers<br />
an. (RÜ 4/2012, S. 229 f.)
Strafrecht<br />
1. Unter welchen Voraussetzungen<br />
kommt bei der Prüfung eines strafbefreienden<br />
Rücktritts nach § 24 StGB<br />
eine (mehrfache) Korrektur des Rücktrittshorizonts<br />
in Betracht?<br />
2. Erliegt der Rechtspfleger einem<br />
Irrtum i.S.d. § 263 Abs. 1 StGB, wenn<br />
er einen Mahnbescheid über eine<br />
nur behauptete, tatsächlich aber<br />
nicht vorliegende Forderung erlässt?<br />
3. Können Tagebuchaufzeichnungen<br />
in einem Strafprozess als belastendes<br />
Beweismittel verwertet werden?<br />
4. Sind diese Grundsätze auf nicht<br />
öffentlich geführte Selbstgespräche<br />
übertragbar?<br />
5. Kann eine Notwehrprovokation<br />
gemäß § 229 oder § 222 StGB strafbar<br />
sein, auch wenn sie die Gebotenheit<br />
der Notwehr nicht ausschließt?<br />
6. Was versteht man im Strafrecht<br />
unter einem „anderen gefährlichen<br />
Werkzeug“?<br />
Check<br />
1. Die Abgrenzung zwischen unbeendetem und beendetem Versuch richtet<br />
sich nach dem Vorstellungsbild des Täters nach Abschluss der letzten von ihm<br />
vorgenommenen Ausführungshandlung, dem sog. Rücktrittshorizont. Wechselt<br />
das Vorstellungsbild des Täters nach Abschluss der letzten Tathandlung in<br />
engstem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang – nach der Rechtsprechung<br />
etwa 10 Minuten – mehrfach, so kommt auch eine mehrfache Korrektur<br />
des Rücktrittshorizontes sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Täters<br />
in Betracht. (RÜ 4/2012, S. 232 f.)<br />
2. Nach der Rechtsprechung geht der Rechtspfleger aufgrund der prozessualen<br />
Wahrheitspflicht zumindest von der Richtigkeit der behaupteten Forderung<br />
aus, unterliegt also einem Irrtum. Teile der Literatur meinen demgegenüber,<br />
dass allein die fehlende Überzeugung von der Unwahrheit einen Irrtum<br />
nicht zu begründen vermag. (RÜ 4/2012, S. 235 f.)<br />
3. Tagebücher mit Äußerungen aus dem Kernbereich persönlicher Lebensgestaltung<br />
sind unverwertbar. Dies folgt aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.<br />
Andere Tagebuchaufzeichnungen können verwertet werden, wenn eine Abwägung<br />
des Individualinteresses und des Aufklärungsinteresses dies gebieten.<br />
Zulässig ist die Verwertung von intimen Aufzeichnungen, die in einem unmittelbaren<br />
Bezug zur konkreten schweren Straftat steht, z.B. wenn mit der Tat<br />
geprahlt wird. (RÜ 4/2012, S. 237 f.)<br />
4. Der BGH verneint eine Übertragbarkeit der Grundsätze zu Tagebüchern auf<br />
Selbstgespräche. Diese Form der „Selbstkommunikation“ ist dem Kernbereich<br />
persönlicher Lebensgestaltung zugeordnet. Auf den Inhalt der Gedankenäußerung<br />
kommt es nicht an. Sie ist nie verwertbar. (RÜ 4/2012, S. 238 f.)<br />
5. Nach bisheriger Rechtsprechung kann eine fahrlässige Provokation der Notwehr<br />
gemäß §§ 222, 229 StGB strafbar sein. Ist die Provokation jedoch weder<br />
fahrlässig noch sonst sozialethisch zu missbilligen, scheitert eine Strafbarkeit<br />
am Fehlen einer Sorgfaltspflichtverletzung. Nach einem Teil der Literatur<br />
scheidet auch in diesem Fall eine Strafbarkeit aus, weil der provozierte Angreifer<br />
sich eigenverantwortlich selbst gefährde und deshalb die objektive Zurechnung<br />
zwischen der Provokationshandlung und der durch die Verteidigung<br />
verursachten Verletzung ausgeschlossen sei. (RÜ 4/2012, S. 240 f.)<br />
6. Bei den § 224 Abs. 1 Nr. 2 und § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB kommt es darauf an,<br />
ob der Gegenstand nach seiner Beschaffenheit und der Art seiner konkreten<br />
Verwendung geeignet ist, erhebliche Verletzungen zu verursachen. Im Übrigen<br />
wird, soweit lediglich das Beisichführen vorausgesetzt wird, ein Rückgriff<br />
auf die vorgenannten Kriterien für nicht möglich gehalten. Die Auslegung ist<br />
jedoch umstritten. Überwiegend wird für eine einschränkende Auslegung auf<br />
abstrakt-objektive Kriterien für einen Vergleich mit dem Waffenbegriff abgestellt,<br />
nach a.A. auf eine konkret-objektive Betrachtung. Andere wollen auf<br />
konkret-subjektive Kriterien oder abstrakt-subjektive Maßstäbe, also die generell<br />
bzw. im Einzelfall beabsichtigte Verwendung, abstellen.<br />
(RÜ 4/2012, S. 242)<br />
271
Öffentliches Recht<br />
1. Wieso hat der Bürger keinen Anspruch<br />
auf Entscheidung über die<br />
Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten?<br />
2. Ist der Gesetzgeber berechtigt,<br />
Verhaltensweisen, die Risken für die<br />
eigene Gesundheit begründen, zu<br />
verbieten?<br />
3. Was ist Rechtsgrundlage für die<br />
Zuteilung bzw. Änderung einer Hausnummer?<br />
4. Unter welchen Voraussetzungen<br />
kann der Anlieger ein Abwehrrecht<br />
gegen die Änderung einer Hausnummer<br />
geltend machen?<br />
6. Welcher Rechtsweg ist bei polizeilichen<br />
Ingewahrsamnahmen eröffnet?<br />
7. Nennen Sie die wichtigsten Ausprägungen<br />
des Rechtsstaatsprinzips!<br />
272<br />
Check<br />
1. Die Vorschriften der Anlage 6 zur GO BT sind bloßes Parlamentsinnenrecht<br />
und begründen kein Antragsrecht für Dritte. Auch aus Art. 46 Abs. 2 GG lässt<br />
sich ein solcher Anspruch nicht herleiten. Die Vorschrift schützt die Arbeitsund<br />
Funktionsfähigkeit des Parlaments und begründet kein subjektives Recht<br />
des Bürgers. Auch aus Art. 3 Abs. 1 GG lässt sich grundsätzlich kein originärer<br />
Leistungsanspruch herleiten. Ebenso erfolgt die Durchsetzung des staatlichen<br />
Strafanspruchs (Art. 20 Abs. 3 GG) nur im Interesse der Allgemeinheit, nicht im<br />
Interesse eines Einzelnen. (RÜ 4/2012, S. 245 ff.)<br />
2. Ein entsprechendes Verbot greift in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG<br />
ein. Dieser ist gegenständlich nicht beschränkt, er umfasst jedes menschliche<br />
Verhalten ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht ihm für die Persönlichkeitsentfaltung<br />
zukommt. Auch ein Verhalten, das Risiken für die eigene Gesundheit<br />
oder gar deren Beschädigung in Kauf nimmt, ist daher vom Grundrecht<br />
der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützt. Entsprechende Verbote sind<br />
allerdings im Rahmen der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung gerechtfertigt,<br />
wenn der Gesetzgeber ein legitimes Ziel verfolgt und die Regelung<br />
geeignet, erforderlich und angemessen ist. (RÜ 4/2012, S. 250 f.)<br />
3. § 126 Abs. 3 BauGB begründet nur die Verpflichtung zur Anbringung einer<br />
Hausnummer, setzt aber eine nach anderen Vorschriften erfolgte behördliche<br />
Zuteilungsentscheidung voraus. Teilweise finden sich im Landesrecht spezielle<br />
Rechtsgrundlagen (z.B. Art. 52 Abs. 2 BayStrWG, § 20 Abs. 2 HWG), im Übrigen<br />
ist Ermächtigungsgrundlage die ordnungsrechtliche Generalklausel. Da die<br />
Zuteilung einer Hausnummer eine rein ordnungsrechtliche Aufgabe ist und<br />
dem Betroffenen keine begünstigende Rechtsposition vermittelt wird, finden<br />
auf die Änderung der Hausnummer die Vorschriften über den Widerruf begünstigender<br />
Verwaltungsakte (§ 49 Abs. 2 VwVfG) keine Anwendung.<br />
(RÜ 4/2012, S. 253 ff.)<br />
4. Aufgrund der ordnungsrechtlichen Funktion der Zuteilung einer Hausnummer<br />
kommt ihr weder im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 GG noch Art. 2 Abs. 1<br />
GG eine drittschützende Funktion zu. Anders als bei der Straßenumbenennung,<br />
bei der überwiegend ein Anspruch des Anliegers auf ermessensfehlerfreie<br />
Entscheidung unter Einbeziehung seiner Belange bejaht wird, steht bei<br />
der Vergabe von Hausnummern der ordnungsrechtliche Gesichtspunkt so<br />
sehr im Vordergrund steht, dass die Interessen der Anlieger eindeutig zurücktreten<br />
und ein Abwehrrecht grds. nicht besteht (RÜ 4/2012, S. 254)<br />
6. Für die Überprüfung der Zulässigkeit und der Fortdauer der Ingewahrsamnahme<br />
ist in allen Ländern die Zuständigkeit des Amtsgerichts im Verfahren<br />
nach §§ 415 ff. FamFG begründet. Dies gilt in einigen Ländern ausdrücklich<br />
auch für erledigte Maßnahmen (z.B. Art. 18 Abs. 3 PAG Bay, § 31 Abs. 3 ASOG<br />
Bln). In den übrigen Ländern wird die Sonderzuweisung bei erledigten Freiheitsentziehungen<br />
zum Teil analog angewendet, andere bejahen hierfür den Verwaltungsrechtsweg<br />
nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Auch bei Maßnahmen während<br />
des Gewahrsams (hinsichtlich dessen Art und Weise) wird teilweise aufgrund der<br />
Sachnähe die Sonderzuweisung analog angewendet, während die Gegenansicht<br />
den Verwaltungsrechtsweg bejaht.<br />
(RÜ 4/2012, S. 257)<br />
7. Die wichtigsten Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzip sind: die Gewaltenteilung<br />
(Art. 20 Abs. 2 S. 2, 3. Fall GG), die Rechts- und Gesetzesbindung (Art. 20<br />
Abs. 3 GG), die Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG), effektiver Rechtsschutz<br />
(Art. 19 Abs. 4 GG), die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit staatlicher<br />
Maßnahmen, das Vertrauensschutzprinzip, die Unabhängigkeit der Gerichte und<br />
Richter (Art. 92, 97 GG), ein faires Gerichtsverfahren u.a.m. (RÜ 4/2012, S. 261 ff.)
Herleitung<br />
� Art. 20 Abs. 1 GG:<br />
„demokratischer … Bundesstaat“<br />
� Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG:<br />
„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“<br />
� Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG:<br />
„demokratischen … Grundsätzen“<br />
� Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG:<br />
„demokratischen … Rechtsstaates“<br />
Ausprägungen<br />
� Träger der Staatsgewalt ist das Volk<br />
(Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG)<br />
� Ausübung der Staatsgewalt<br />
� Wahlen<br />
– allgemein, unmittelbar, frei, gleich, geheim<br />
(Art. 38 Abs. 1 S. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG)<br />
– periodisch (Herrschaft auf Zeit)<br />
� Abstimmungen<br />
– auf Bundesebene nur, soweit im GG vorgesehen<br />
– auf Landesebene Volksbefragung, Volksbegehren,<br />
Volksentscheid zulässig<br />
� durch besondere Organe der Gesetzgebung, der<br />
vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung<br />
(repräsentative Demokratie)<br />
– ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu<br />
den Staatsorganen<br />
– Gesetzesbindung und Bindung der Regierung an<br />
Weisungen des Parlaments<br />
� Demokratische Willensbildung<br />
� Mehrheitsprinzip mit Minderheitenschutz<br />
� vom Volk zu den Staatsorganen<br />
(„von unten nach oben“)<br />
– Pflicht des Staates und seiner Organe zur parteipolitischen<br />
Neutralität: keine Wahlwerbung durch<br />
Staatsorgane, aber Öffentlichkeitsarbeit zulässig<br />
– Staatsfreiheit der Parteien: keine vollständige oder<br />
verdeckte Parteienfinanzierung durch den Staat<br />
� Mehrparteiensystem mit legaler Opposition<br />
� Demokratische Grundrechte<br />
(u.a. Art. 5 Abs. 1, 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 GG)<br />
<strong>Staatsstrukturprinzipien</strong><br />
Demokratie Rechtsstaat Bundesstaat<br />
Herleitung<br />
� Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG:<br />
„rechtsstaatlichen … Grundsätzen“<br />
� Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG:<br />
„Rechtsstaates“<br />
� Art. 20 Abs. 2 S. 2, 3. Fall GG:<br />
Gewaltenteilung<br />
� Art. 20 Abs. 3 GG:<br />
Bindung an Recht und Gesetz<br />
Ausprägungen<br />
� Gewaltenteilung<br />
� nach Funktionen: Legislative, Exekutive, Judikative<br />
� wechselseitige Begrenzung und Kontrolle der<br />
Machtausübung („checks and balances“)<br />
� Inkompatibilität<br />
� Durchbrechungen zulässig bei besonderem sachlichem<br />
Grund, aber kein Eingriff in den Kernbereich<br />
� Rechtsbindung<br />
� Legislative: verfassungsmäßige Ordnung<br />
� Exekutive und Judikative: Gesetz und Recht<br />
– Vorrang des Gesetzes: kein Handeln gegen Gesetz<br />
– Vorbehalt des Gesetzes: kein Handeln ohne Gesetz<br />
� Bindung an Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG)<br />
� Effektiver Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4, 101, 103, 104 GG)<br />
� Bestimmtheit, insbes. Grundsatz der Normenklarheit<br />
� Verhältnismäßigkeit<br />
(geeignet, erforderlich und angemessen)<br />
� Vertrauensschutz<br />
� echte Rückwirkung grundsätzlich unzulässig, nur<br />
zulässig, wenn Vertrauen des Bürgers ausnahmsweise<br />
nicht schutzwürdig<br />
� unechte Rückwirkung grundsätzlich zulässig, ausnahmsweise<br />
unzulässig, wenn Vertrauensinteresse<br />
überwiegt<br />
� Verbot von Einzelfallgesetzen<br />
(Art. 19 Abs. 1 S. 1, 19 Abs. 4 GG)<br />
� Unabhängigkeit der Gerichte und Richter<br />
(Art. 92, 97 GG)<br />
� Faires Gerichtsverfahren<br />
(Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG)<br />
Herleitung<br />
� Art. 20 Abs. 1 GG:<br />
„Bundesstaat“<br />
� Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG:<br />
„föderativen Grundsätzen“<br />
� Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG:<br />
„ … in den Ländern“<br />
� Zuständigkeitsverteilung auf Bund und Länder in<br />
Art. 30, 70 ff., 83 ff., 92 ff., 104 a ff. GG<br />
Ausprägungen<br />
� Aufteilung in Zentralstaat (Bund) und Gliedstaaten<br />
(Länder)<br />
� Einschränkungen der Eigenstaatlichkeit der Länder<br />
� Homogenitätsprinzip (Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG)<br />
� grundsätzlich keine Landesbefugnisse nach außen<br />
� Aufsichtsbefugnisse und Einwirkungsrechte des<br />
Bundes (insbes. Art. 37, 84 ff. GG)<br />
� Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern<br />
� für konkrete Aufgaben<br />
(z.B. Art. 32 Abs. 1, Art. 84 Abs. 1 GG)<br />
� für bestimmte Aufgabenbereiche<br />
– Gesetzgebung, Art. 70 ff. GG<br />
– Verwaltung, Art. 83 ff. GG<br />
– Rechtsprechung, Art. 92 ff. GG<br />
– Finanzwesen, Art. 104 a ff. GG<br />
� Auffangtatbestand, Art. 30 GG<br />
� Einwirkungsmöglichkeiten der Länder auf den<br />
Bund, insbes. durch den Bundesrat (Art. 50 GG)<br />
� Gesetzgebung (Art. 77 Abs. 2 ff. GG)<br />
� Verwaltung (z.B. Art. 84 Abs. 2, 85 Abs. 2 GG)<br />
� Europäische Union (Art. 23, 52 Abs. 3a GG)<br />
� Bundesrecht bricht Landesrecht (Art. 31 GG)<br />
� Bundestreue<br />
(Gebot zu bundesfreundlichem Verhalten)<br />
� keine selbstständigen Rechte und Pflichten<br />
� gegenseitige Rücksichtnahme und Nebenpflichten<br />
(Information, Abstimmung, Zusammenarbeit)<br />
Sozialstaat<br />
Herleitung<br />
� Art. 20 Abs. 1 GG:<br />
„sozialer Bundesstaat“<br />
� Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG:<br />
„sozialen … Grundsätzen“<br />
� Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG:<br />
„sozialen Rechtsstaates“<br />
Ausprägungen<br />
� Schaffung und Erhaltung sozialer Gerechtigkeit<br />
� Herstellung tatsächlicher Chancengleichheit<br />
� Schutz der Schwachen vor den Starken<br />
� Schaffung und Erhaltung sozialer Sicherheit<br />
� Einrichtungen zur Daseinshilfe in Notsituationen<br />
� Anspruch auf menschenwürdiges Existenzminimum<br />
(i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG)<br />
Republik<br />
Herleitung<br />
� Art. 20 Abs. 1 GG:<br />
„Bundesrepublik Deutschland“<br />
� Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG:<br />
„republikanischen … Rechtsstaates“<br />
Ausprägungen<br />
Staatsoberhaupt<br />
� nicht aufgrund familien- oder erbrechtlicher Umstände<br />
� nicht auf Lebenszeit