1 Peter Godzik, Ratzeburger Predigten Inhaltsverzeichnis 1997 ...
1 Peter Godzik, Ratzeburger Predigten Inhaltsverzeichnis 1997 ...
1 Peter Godzik, Ratzeburger Predigten Inhaltsverzeichnis 1997 ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
lichkeit menschlichen Lebens, aber er versucht auf eine liebevolle und feine Weise,<br />
uns aus dem Dunkel herauszuführen ins Licht.<br />
Da ist von Leiden die Rede, von Sünde und Betrug, von Schmährede und Drohung,<br />
von Wundsein und Irrtum. Aber das alles wird nicht genüsslich ausgebreitet, wie das<br />
heute die modernen Medien tun, die uns täglich mit schrecklichen Nachrichten überschütten,<br />
sondern das wird eingeordnet und gehalten von einem liebevollen Leben,<br />
das durch die Dunkelheiten und Abgründe des Lebens schreitet, darin aber nicht verloren<br />
geht.<br />
Christus wird uns als Vorbild vor Augen gestellt: einer, der gelitten hat und nicht andere<br />
leiden machte; einer, der keine Sünde tat, sondern den hässlichen Graben der<br />
Gottferne zu überwinden suchte; einer, der nicht betrügerisch daherredete, sondern<br />
liebevoll die Wahrheit sprach; einer, der nicht wider schmähte, als er geschmäht<br />
wurde; nicht drohte, als er litt; der nicht rachsüchtig wurde wegen des erlittenen Unrechts,<br />
sondern seine Sache Gott anheim stellte, damit er recht richte; der lieber alles<br />
auf sich nahm und sich selber nicht schonte, damit andere frei und unbefangen leben<br />
könnten. Ein verwundeter Heiler, ein guter Hirte für verirrte Schafe, ein wahrer Bischof<br />
unserer Seelen.<br />
Es klingt beinahe poetisch wie ein Gedicht, was hier über Christus gesagt wird. Ein<br />
altes Gedicht in einer ungewöhnlichen Sprache, mit einem Rhythmus, der nicht in<br />
diese moderne Welt passt. Wer will sich schon so jemanden zum Vorbild nehmen,<br />
wenn er doch Becker, Schumacher & Co. haben könnte, den schrillen Guildo Horn<br />
oder den perfekten Michael Jackson?<br />
Sie können sich die Größe der Verlegenheit kaum vorstellen, liebe Gemeinde, wenn<br />
wir Pastoren versuchen, im Konfirmandenunterricht den Jugendlichen Jesus von Nazareth<br />
als beachtliches Vorbild auch für ein modernes Leben vorzustellen. Spätestens<br />
bei dem Jesus-Wort „wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte<br />
ihm auch noch die andere hin“ ernten wir nur noch mitleidiges Lächeln. Das soll realistisch<br />
sein? Damit sollen wir unser Leben bestehen in dieser kalten, berechnenden<br />
Welt?<br />
Und dann sind wir um Erklärungen verlegen und retten uns in die noch unbegreifliche<br />
Wahrheit, dass sie vielleicht später einmal entdecken würden, wie vorbildhaft dieses<br />
Leben wirklich gewesen ist. Aber wie alt muss man werden, wie viele Lebenserfahrungen<br />
gesammelt haben, um zu begreifen, dass Christus wirklich für uns gelitten hat<br />
und uns ein Vorbild hinterlassen hat, dass wir ihm nachfolgen sollen in seinen Fußstapfen?<br />
Von Dorothee Sölle stammt die wichtige Erkenntnis, dass wir Jesus von Nazareth<br />
ruhig mit allen möglichen Größen dieser Welt vergleichen können – „er hält das aus“,<br />
sagt sie und fügt hinzu: „am besten, du vergleichst ihn mit dir“.<br />
Damit sind wir wieder beim eigentlichen Thema des heutigen Sonntags. Es geht nicht<br />
nur darum, uns ein Vorbild vor Augen zu halten, das wir eine Zeitlang betrachten und<br />
uns dann mehr oder weniger verlegen und achselzuckend abwenden, sondern darum,<br />
dieses Bild so tief uns einzuprägen, dass wir selber verwandelt werden und seinen<br />
Spuren folgen können. Um „Ein-Bildung“ geht es – im wahrsten Sinne des Wortes,<br />
um Identifikation und Übernahme desselben, damit wir werden, wie er war.<br />
Jesus selbst ist diesen Weg auch gegangen. Er hat ja das neue Leben nicht erfunden,<br />
sondern er ist einfach nur gehorsam gewesen. Er hatte gehört, was im Wort<br />
Gottes geschrieben und gesagt war von dem Knecht Gottes, von dem Menschensohn,<br />
der seinem Willen entspricht. Und er hat es nicht nur als ein Vorbild weit weg<br />
von sich stehen lassen, sondern er hat es sich „ein-gebildet“, in die eigene Existenz<br />
übernommen und gelebt, was da geschrieben stand: „Heute ist dieses Wort der<br />
Schrift erfüllt vor euren Ohren“.<br />
22