1 Peter Godzik, Ratzeburger Predigten Inhaltsverzeichnis 1997 ...
1 Peter Godzik, Ratzeburger Predigten Inhaltsverzeichnis 1997 ... 1 Peter Godzik, Ratzeburger Predigten Inhaltsverzeichnis 1997 ...
durch Trauern wird das Herz gebessert“, heißt eine tiefe Weisheit beim Prediger Salomo. Wir haben uns das nicht freiwillig ausgesucht, aber wir sind dahin geführt worden, es anzunehmen und daran nach dem Maß unserer Kräfte zu wachsen. Wievielen anderen Menschen auf der Welt sind noch unvergleichlich viel mehr Schmerzen auferlegt worden und sie haben auch unter Zittern und Zagen lernen müssen, diese Last in Stärke zu verwandeln – gehalten und getragen von einem Gott, der in die Tiefen dieser Abgründe mitgeht und aushält. Jetzt, am Beginn der Passionszeit, ist es gut, sich daran zu erinnern, dass wir bei allem Schmerz auch aus Leiden lernen können, dass bewusst angenommenes Leid wie eine Tür zu neuer Erfahrung ist. Es gibt dazu ein Gedicht von André Gide, das heißt „Leben unter dem Leid“: Ich glaube, dass die Krankheiten Schlüssel sind, die uns gewisse Tore öffnen können. Ich glaube, es gibt gewisse Tore, die einzig die Krankheit öffnen kann. Es gibt jedenfalls einen Gesundheitszustand, der uns nicht erlaubt, alles zu verstehen. Vielleicht verschließt uns die Krankheit einige Wahrheiten; ebenso verschließt uns die Gesundheit andere oder führt uns davon weg, so dass wir uns nicht mehr darum kümmern. Ich habe unter denen, die sich einer unerschütterten Gesundheit erfreuen, noch keinen getroffen, der nicht nach irgendeiner Seite hin ein bisschen beschränkt gewesen wäre, wie solche, die nie gereist sind; und ich erinnere mich, dass Charles-Louis Philippe die Krankheiten sehr schön „die Reisen der Armen“ nannte. Ich glaube, dass Paulus hier etwas Ähnliches gemeint hat, wenn er schreibt: „Trübsal bringt Geduld, Geduld aber bringt Bewährung, Bewährung aber bringt Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden.“ Es ist ein langer Weg, es ist eine lange Reise, bis wir ankommen bei dieser Erfahrung. Es geht nicht so schnell. Aber es ist uns etwas Großes versprochen am Ende: Liebe, die ausgegossen ist in unser Herz, Friede mit Gott, Teilhabe an seiner Herrlichkeit. Und so, finde ich, ist Paulus am Ende gar nicht so fremd. Sondern ein Führer und Leiter in die Tiefe unserer Seele, dort, wo Gott in uns allen einen Platz hat. Amen. 10.04.1998: Karfreitag 2. Korinther 5,19-21 Der heutige Karfreitag enthält eine wichtige Botschaft: Lasst euch versöhnen mit Gott. Das Kreuz, das uns immer wieder begegnet in den Kirchen, in manchen Wohnungen und Häusern und das Menschen als Zeichen ihres Glaubens tragen – es lädt ein: Lasst euch versöhnen mit Gott. Jede Predigt und jede Feier des Abendmahls – sie bieten das gleiche an: Lasst euch versöhnen mit Gott. 16
Versöhnung – was geschieht da eigentlich? Da wird Trennendes weggeräumt, da kann man sich wieder in die Augen sehen, da wird der Blick freundlich, da fängt Neues an, oft ein ganz neuer Lebensabschnitt, da wächst wieder Vertrauen und Freundschaft. Menschen brauchen Versöhnung wie das tägliche Brot. Wenn in einer Partnerschaft Versöhnung nicht immer wieder neu gelingt, dann wachsen Hass und Bitterkeit. Ohne Versöhnung verzerrt sich das Bild vom anderen Menschen in uns. Wenn Versöhnung unter Völkern nicht gelingt, dann schwillt die Angst bis zur Gewalt und zum Krieg. Jeder von uns kann Weltgegenden nennen, in denen es für die Menschen nur dann besser werden kann, wenn man sich miteinander versöhnt. Damit das normale Leben wieder gedeiht und die Stacheldrähte verschwinden können. Jeder von uns kennt auch die Feindschaften aus der unmittelbaren Nähe, die das Leben vergiften und keine Freude mehr aufkommen lassen. Wer schon einmal versucht hat, die Partner in einer zerstrittenen Ehe miteinander zu versöhnen, der weiß: das ist Schwerstarbeit. Wer meinte, zwei zerstrittene Parteien in einem Rechtsstreit wieder neu zusammenbringen zu können, der macht die Erfahrung, dass Herzen härter sein können als ausgetrockneter Boden. Man braucht aber gar nicht bloß an andere zu denken; man muss nur einmal versuchen, um der Versöhnung willen eigene Verletzungen und Bitterkeiten zu überwinden; dann weiß man, wie viel das kostet. Zu den großen Irrtümern unserer gemeinschaftsvergessenen Zeit gehört es ja zu meinen, man brauche das Unangenehme in der Vergangenheit nur rasch zu verdrängen, dann könne man unbehelligt weiterleben. Die Medien verkünden uns, man müsste alles verstehen und tolerieren, damit jeder den Spaß haben kann, den er will. Dieselben Medien werfen sich überall zu Richtern auf, besonders wenn es um Prominente geht. Moralische Entrüstung ist wohlfeil, und sie zerstört mit groben Schlagzeilen die Lebensperspektiven vieler. Das öffentliche Klima bei uns wird also bestimmt durch billige Selbstvergebung auf der einen Seite und Unversöhnlichkeit auf der anderen. Aber glücklicherweise ist das eben doch nur die Oberfläche. Unzählige Menschen bei uns arbeiten täglich an einem Klima wirklicher Versöhnung. Versöhnung geschieht in Familien, an Arbeitsplätzen, in Gruppen und auch mit den Fremden unter uns und den Fremdartigen, die so schwer zu verstehen sind. Versöhnung kostet Mühe und Einsatz, den viele gerne leisten. Wir alle leben von der Versöhnung, und es gibt sie auch wirklich, Gott sei Dank. Aber wenn nicht alles täuscht, dann nimmt in unserer menschlichen Gemeinschaft die Versöhnungskraft langsam, aber stetig ab. Deshalb wird es Zeit, danach zu fragen, aus welchen Quellen die Kraft der Versöhnung sprudelt und wie sie unter uns erneuert werden kann. Heute am Karfreitag soll vor allem deutlich werden, welche Kraft von der Versöhnung mit Gott ausgeht. Es gibt gewiss unter uns Menschen viele Quellen der Versöhnung, z.B. innige Beziehungen unter Menschen wie z.B. zwischen Partnern oder Eltern und Kindern. Auch das Grundgefühl der Solidarität vor allem in Notzeiten, das immer noch nicht abgestorben ist, ist so eine wichtige Quelle. Aber menschliches Vermögen kommt auch manchmal an Grenzen. Deshalb noch einmal die Einladung: Lasst euch versöhnen mit Gott. Gott, so sagt der Apostel Paulus, hat Christus zu uns Menschen gesandt, um uns Versöhnung anzubieten. Dazu ist Christus am Kreuz gestorben, dass wir das Wort von der Versöhnung hören – deutlich und mit dem Herzen hören. Immer wieder wird nun gefragt: War das Leiden und Sterben am Kreuz denn überhaupt nötig? Das ist eine eher vorwitzige Frage, auf die es leider viele vorschnelle 17
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durch Trauern wird das Herz gebessert“, heißt eine tiefe Weisheit beim Prediger Salomo.<br />
Wir haben uns das nicht freiwillig ausgesucht, aber wir sind dahin geführt worden,<br />
es anzunehmen und daran nach dem Maß unserer Kräfte zu wachsen. Wievielen<br />
anderen Menschen auf der Welt sind noch unvergleichlich viel mehr Schmerzen<br />
auferlegt worden und sie haben auch unter Zittern und Zagen lernen müssen, diese<br />
Last in Stärke zu verwandeln – gehalten und getragen von einem Gott, der in die Tiefen<br />
dieser Abgründe mitgeht und aushält.<br />
Jetzt, am Beginn der Passionszeit, ist es gut, sich daran zu erinnern, dass wir bei<br />
allem Schmerz auch aus Leiden lernen können, dass bewusst angenommenes Leid<br />
wie eine Tür zu neuer Erfahrung ist. Es gibt dazu ein Gedicht von André Gide, das<br />
heißt „Leben unter dem Leid“:<br />
Ich glaube, dass die Krankheiten Schlüssel sind,<br />
die uns gewisse Tore öffnen können.<br />
Ich glaube, es gibt gewisse Tore,<br />
die einzig die Krankheit öffnen kann.<br />
Es gibt jedenfalls einen Gesundheitszustand,<br />
der uns nicht erlaubt, alles zu verstehen.<br />
Vielleicht verschließt uns die Krankheit<br />
einige Wahrheiten;<br />
ebenso verschließt uns<br />
die Gesundheit andere oder führt<br />
uns davon weg, so dass wir uns<br />
nicht mehr darum kümmern.<br />
Ich habe unter denen,<br />
die sich einer unerschütterten<br />
Gesundheit erfreuen, noch keinen<br />
getroffen, der nicht nach irgendeiner<br />
Seite hin ein bisschen beschränkt<br />
gewesen wäre, wie solche,<br />
die nie gereist sind;<br />
und ich erinnere mich,<br />
dass Charles-Louis Philippe<br />
die Krankheiten sehr schön<br />
„die Reisen der Armen“ nannte.<br />
Ich glaube, dass Paulus hier etwas Ähnliches gemeint hat, wenn er schreibt: „Trübsal<br />
bringt Geduld, Geduld aber bringt Bewährung, Bewährung aber bringt Hoffnung,<br />
Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden.“<br />
Es ist ein langer Weg, es ist eine lange Reise, bis wir ankommen bei dieser Erfahrung.<br />
Es geht nicht so schnell. Aber es ist uns etwas Großes versprochen am Ende:<br />
Liebe, die ausgegossen ist in unser Herz, Friede mit Gott, Teilhabe an seiner Herrlichkeit.<br />
Und so, finde ich, ist Paulus am Ende gar nicht so fremd. Sondern ein Führer und<br />
Leiter in die Tiefe unserer Seele, dort, wo Gott in uns allen einen Platz hat. Amen.<br />
10.04.1998: Karfreitag<br />
2. Korinther 5,19-21<br />
Der heutige Karfreitag enthält eine wichtige Botschaft: Lasst euch versöhnen mit<br />
Gott. Das Kreuz, das uns immer wieder begegnet in den Kirchen, in manchen Wohnungen<br />
und Häusern und das Menschen als Zeichen ihres Glaubens tragen – es lädt<br />
ein: Lasst euch versöhnen mit Gott. Jede Predigt und jede Feier des Abendmahls –<br />
sie bieten das gleiche an: Lasst euch versöhnen mit Gott.<br />
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