Siderische Geburt - Peter Godzik
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Die Unmöglichkeit individueller Erklärungen zeigt sich besonders deutlich beim Gedächtnis,<br />
das noch immer als eine Art Speicher gedeutet wird. Hier versagen alle Theorien kläglich.<br />
Dass wir Gedächtnis haben, ist der tragische Ausdruck unserer höchsten Einengung in den<br />
flüchtigen Gegenwartsmoment. Wir sind getrennt von der göttlichen, allumfassenden Gesamtschau,<br />
und Erinnerung ist nur ein erstes dämmerndes Wiedererwachen, ist der Beginn<br />
des erneuten seraphischen Lebens und Einbeziehung alles dessen, was außer der Gegenwartsenge<br />
liegt. Kein Vermögen, vergangene Gegenwart wieder gegenwärtig zu machen,<br />
sondern das Durchbrechen aller Gegenwärtigkeit in seraphischer All-Schau. Das Gedächtnis<br />
ist die Grundlage des Selbstbewusstseins. Sobald das Ich sich weiß, beginnt es sich aus seiner<br />
Starre zu entheben, Selbstbewusstsein ist beginnende Ich-Lösung. Aber weiß ich mich<br />
selbst? Nimmermehr! Das Höhere kann nicht in das Niedere eingehen. Das Wissen kann das<br />
Transzendente nicht erfassen. Also kann ich auch meine eigene höhere Wirklichkeit nicht mit<br />
meinem weltlichen Ich, nicht mit dem niederen Bewusstsein erfahren, sondern einzig im<br />
Kreißen der siderischen <strong>Geburt</strong> in mir. Ich weiß mich nicht, das ist eine urgewaltige Tatsache,<br />
die uns erst in Fleisch und Blut übergehen muss, wenn es anders kommen soll; und überwältigend,<br />
betäubend über alle Maßen ist das Erleben des Selbst in seiner Göttlichkeit. Das Ich,<br />
an das wir uns so angstvoll klammern, das der Sinn aller heutigen Kultur ist und das<br />
dräuendste Not uns entreißen wird, es ist nur der winzigste Teil unseres Selbsts, nichts als<br />
die unterste Grenze seliger Unendlichkeit, ich bin nur eine Woge in meinem Ozean. Mein<br />
ganzes Selbst ruht in seiner Himmelshöhe und seiner Wurzeltiefe in Gott, wenn auch sein<br />
weltlicher Leib in ewiger Erneuerung pulsiert. Mein Selbst ragt durch das Ganze des Kreisens,<br />
es keimt äonenlang in den Naturtiefen und zwingt alle Natur, sich an ihm zu gestalten, es<br />
wandert durch die erdrückende Fülle des weltlichen Erlebens und gießt sich in Vollendung<br />
durch alle Himmelshöhen, bis der Ring sich schließt in der Gottheit überseligem Schwingen.<br />
Erst mit der Gottheit ist das Selbst ein Ganzes. Ohne jede Göttlichkeit könnte ein Ich nicht<br />
den kleinsten Augenblick bestehen. Jedes Selbst hat seinen Bereich von der tiefsten Erstarrung<br />
bis zur heißesten Belebung, und sein Selbst erleben heißt Ganzheit des göttlichen Kreisens<br />
erleben, Erleben aber heißt in Größerem aufgehen. Das Ich kann nicht leben, wenn es<br />
nicht in Größerem aufgeht, in seiner eigenen Göttlichkeit. Nicht meine Dinglichkeit, meine<br />
Göttlichkeit strebe ich an. Nicht in Seyns- und Fraßsetzung, sondern in der ekstatischen Setzung<br />
des gesamten Kreisens will das Selbst wurzeln.<br />
Wie eine Geige gespielt werden, wie ein Same gesät werden will, so will das Ich sich immer<br />
brausender zur Gottheit erweitern in seraphischer Wanderung, um sich übervoll in berauschtem<br />
Schwang hinausdrängender Liebe wieder in die Tiefen zu werfen. Was wohl soll<br />
das kleine Ich als Selbstzweck, was eine Kultur, die dieses Ich konservieren will in närrischunmöglichem<br />
Mühen? Es kann schlechterdings keine größere Lächerlichkeit geben wie das<br />
Ich als Selbstzweck. Im gesamten Kreisen ist nichts, das weniger Selbstzweck wäre, als der<br />
Mensch; ja dass wir so gar nicht Selbstzweck sind, sondern gestaltend und erlösend uns<br />
durch alles Kreisen ergießen sollen, ist ja gerade unser göttliches Leben, das uns über die<br />
Tierheit hebt, ja, nur hierdurch sind wir überhaupt Lebende und nicht dinglich mechanisch<br />
Geführte. Nicht ich bin, sondern ich gotte ist meine stärkste Sicherheit. Eine volkstümliche<br />
Redewendung meint etwas sehr tief Überpersönliches, wenn sie sagt: „Hab‘ Dich nicht“. Der<br />
Mensch kann nicht sein eigener Besitz sein, ohne dem Tode zu verfallen, der Mensch kann<br />
nicht die Aufgabe des Menschen sein. Das Menschentum gehört der Göttlichkeit, es ist der<br />
Brennstoff für das Feuer der Gottheit. Ich selbst bin mir nur geliehen, nicht meine Enge, sondern<br />
alle Weltenweiten sind meine überpersönliche, wonnige Aufgabe. So wenig ist das rein<br />
Persönliche Selbstzweck, dass es nur ein göttliches Gelächter sein kann, und ausnahmslos ist<br />
jeder Einzelmensch ein willkommenes Ziel für erlösenden Humor. Wer in der Enge des welt-