Siderische Geburt - Peter Godzik
Siderische Geburt - Peter Godzik
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vermag. Nun ist aber Göttlichkeit in uns noch so keimhaft, der Keim fühlt noch einzig die<br />
finsteren Schollen der Erde und scheut das neue Licht; es haftet das ängstliche Auge an den<br />
tastbaren Klötzchen, die Wirklichkeit bedeuten sollen, aber doch nur Grenze sind. Sie sehen<br />
nur die Mosaiksteinchen; das Bild aber und der Geist, die die Klötzchen zusammenführten, ja<br />
durch die sie erst entstanden, scheinen neblige Hirngespinste. Bewegung kleinster Teilchen,<br />
aber kein Ganzes, Masse, aber nicht leichte, Zappelstoff, das ist die Welt. Noch nicht aber ist<br />
„Welt“ das Mysterium unnennbarer Höhen und Tiefen und göttlicher Seligkeiten. Der Wald,<br />
ein bloßer Begriff dem niederen Wissen, ist mehr als der tastbare Baum; durch den Wald<br />
allein kann der Baum erst sein. Magen, Niere, Lunge leben nur, weil sie in der Einheit<br />
Mensch zusammengenommen sind, und wären gar nicht einzeln. Diese untastbare Einheit<br />
Mensch, die mehr ist als die bloße Summe der Organe, müssen wir nun deutlich erleben.<br />
Und dieses Überwunder, dass alles zueinander gestimmt ist, dass Harmonie alle Dinge liebend<br />
verbindet und aufeinander einrichtet, ist das nicht mehr als jene Hirngespinste von<br />
Kraft und Stoff-Klötzchen, die wir diesem lebendigen Zueinander andichten? Es scheint uns<br />
so etwa jenes Lebendige, das die Stoffe chemisch verbindet und trennt und das so wenig<br />
greifbar sein soll, viel deutlicher und wertvoller als der stoffliche oder energetische Hintergrund,<br />
der in reines Nichts zerrinnt, je mehr wir ihn anpacken wollen. Es fehlt uns auch noch<br />
ein helles Erleben von dem, das über den Stoffen, Kräften und Greifbarkeiten das Richtunggebende<br />
ausmacht, das, was verbindet, lenkt, verschmelzen macht und Streit setzt, und das<br />
einzig als lebende Wirklichkeit gewertet werden darf. Selbst im alltäglichsten Leben sind<br />
nicht die Tastbarkeiten, sondern allein dies schicksalsvoll Übermaterielle wirksam, vorzüglich<br />
bei jedem Höherorganisierten. Aber auch im Physiologischen, bei Tieren, Pflanzen begreift<br />
man immer deutlicher, dass das Allerkonkreteste das ist, was ganz ungreifbar unwiderstehlich<br />
über den toten Teilchen waltet, über dem Dinghaften ersten Grades, dies Feine zweiten<br />
Grades, dies Tat tvam asi, „was dieses Feine ist, dessen Wesens ist dieses Weltall, das ist das<br />
Reale, das ist die Seele, das bist Du, o Shvetaketu!“ (Vedanta). Und ist dies Feine nicht mächtiger<br />
als der grobe Druck und Stoß, die in der Nähe verhallen, als harte Masse, die völlig in<br />
sich ruht, während das feine Licht alle Unendlichkeiten durcheilt und ungreifbare Liebe<br />
übergewaltig die Welten treibt.<br />
Es lohnt nicht, am Materialismus so sehr seine Unsinnigkeit aufzuweisen, als vielmehr, dass<br />
er die niedrigste und gemeinste aller Betrachtungsarten, dass er stumpfeste Blindheit und<br />
Vertiertheit ist. Ist es denn möglich, dass wir auch beim allerersten Erwachen noch glauben<br />
können: der Leib, das bin ich. Dieser Leib, der, sobald wir ihn verlassen, stinkende Verwesung<br />
ist, diese Organe, die ohne uns zusammenhanglose Vielheit sind, dieser Haufen Stoff,<br />
der sich ohne jede Ahnung einer Einheit in wenigen Jahren völlig erneuert. Wie könnten wir<br />
so untergehen in unserem Werkzeug, als wenn der Maler der Sklave seines Pinsels wäre, wie<br />
könnten wir uns so unterwerfen unter das, was bloß die Sprache unserer Seele ist, und erlernten<br />
nie die höheren Sprachen. Dies ist Pleroma, dass wir aus stofflicher Versunkenheit<br />
zum Erleben des Lebens kommen und uns lebend vom Tode erlösen. Freilich werden wir<br />
noch einen weiten Weg zu durchlaufen haben und erkennen, dass alles, was wir eben sagten,<br />
auch Anwendung finden muss auf den individuellen Geist. Auch Seele, auch Geistigkeit<br />
wird noch immer mit dem stofflichen Sehen erschaut und über den niederen Gehirnverstand<br />
hinweg zu schreiten in siderischer <strong>Geburt</strong> über alle Sterne, dieser letzte Schritt bleibt uns<br />
noch zu tun. Auch wird sich uns erst noch in allen Tiefen enthüllen müssen, wie es sein kann,<br />
dass gerade das, was leerster Schein ist, uns als härteste Wirklichkeit bedrängt, und dass die<br />
göttliche Wirklichkeit uns wie ferne Täuschung fast ewig unerreichbar zu fliehen scheint.<br />
Und hier werden wir an die Wurzel der Welt rühren, an dieses letzte Welträtsel: cur deus<br />
homo? Warum wurde Gott Mensch?