Fortschrittskonzepte und Fortschrittsmessung in ...
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Institut für Produktion <strong>und</strong> Industrielles Informationsmanagement<br />
Universität Duisburg-Essen, Campus Essen<br />
Univ.-Prof. Dr. Stephan Zelewski<br />
Stephan Zelewski <strong>und</strong> Naciye Akca (Hrsg.)<br />
<strong>Fortschrittskonzepte</strong> <strong>und</strong> <strong>Fortschrittsmessung</strong><br />
<strong>in</strong> Betriebswirtschaftslehre <strong>und</strong><br />
Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />
Tagungsband zur wissenschaftlichen Fachtagung<br />
der Wissenschaftlichen Kommission Wissenschaftstheorie<br />
im Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft (VHB) e.V.<br />
am 22. <strong>und</strong> 23. September 2005<br />
im Kompetenzzentrum für Kommunikation <strong>und</strong> Information<br />
(ComIn) Essen<br />
Essen 2005<br />
ISBN: 3-9809798-4-9<br />
© Alle Rechte vorbehalten.
<strong>Fortschrittskonzepte</strong> <strong>und</strong> <strong>Fortschrittsmessung</strong><br />
<strong>in</strong> Betriebswirtschaftslehre <strong>und</strong> Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />
Erkenntnisfortschritt <strong>in</strong> der Controll<strong>in</strong>gforschung<br />
durch Integration verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse?<br />
Dr. Bernhard Hirsch<br />
1-38<br />
Beziehungen zwischen behavioristischer <strong>und</strong><br />
konstruktionsorientierter Forschung <strong>in</strong> der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />
Univ.-Prof. Dr. Jörg Becker / Dipl.-Wirt.-Inf. Daniel Pfeiffer<br />
39-57<br />
Konvergenz oder Divergenz der<br />
<strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung?<br />
Dr. Markus Gmür<br />
Die Relevanz von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren bei der<br />
Beurteilung der Forschungsleistung im Hochschulbereich<br />
Univ.-Prof. Dr. Harald Dyckhoff / Dipl.-Kff. Sylvia Rassenhövel<br />
Stylised Facts als Konzept zur Messung <strong>und</strong><br />
Bewertung wissenschaftlichen Fortschritts<br />
Dipl.-Kfm. Bernd-Oliver He<strong>in</strong>e / Dr. Matthias Meyer /<br />
Dipl.-Phys. Oliver Strangfeld<br />
58-84<br />
85-118<br />
119-138<br />
Erkenntnisfortschritt <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre<br />
– E<strong>in</strong> methodologisches Konzept zur Herleitung<br />
von Muster-Hypothesen –<br />
Univ.-Prof. Dr. Ute Schmiel<br />
139-164<br />
Funktionen <strong>und</strong> Ziele wissenschaftlichen Fortschritts<br />
aus Strukturationstheoretischer Perspektive<br />
Dipl.-Kfm. Stephan Cappallo<br />
165-202<br />
Theoretischer Fortschritt – e<strong>in</strong>e Analyse<br />
aus der Perspektive des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />
Univ.-Prof. Dr. Stephan Zelewski<br />
203-261
Erkenntnisfortschritt <strong>in</strong> der Controll<strong>in</strong>gforschung<br />
durch Integration verhaltenswissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse?<br />
Bernhard Hirsch<br />
WHU Otto Beisheim Hochschule<br />
Lehrstuhl für Controll<strong>in</strong>g & Telekommunikation<br />
Stiftungslehrstuhl der Deutschen Telekom AG<br />
Burgplatz 2, D-56179 Vallendar<br />
Tel.: ++49/261/6509-476<br />
Fax: ++49/261/6509-479<br />
Mail: bhirsch@whu.edu<br />
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie durch die Integration verhaltenswissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ökonomisch f<strong>und</strong>ierte Controll<strong>in</strong>g-Konzeption<br />
Erkenntnisfortschritt erzielt werden kann. Es werden zum e<strong>in</strong>en Kriterien def<strong>in</strong>iert, wie<br />
e<strong>in</strong>e solche Integration methodologisch reflektiert zu erfolgen hat. Zum anderen werden<br />
fünf Integrationsvorschläge auf ihre Zweckmäßigkeit <strong>in</strong> Bezug auf die Berücksichtigung<br />
kognitiver Begrenzungen <strong>in</strong> der Interaktionsbeziehung Controller – Manager<br />
diskutiert. Die Methode der abnehmenden Abstraktion von L<strong>in</strong>denberg stellt sich als am<br />
besten geeignetes Verfahren dar.<br />
1<br />
1
1 Die Notwendigkeit wissenschaftlichen Fortschritts <strong>in</strong> der Controll<strong>in</strong>gforschung<br />
Die Notwendigkeit, wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt zu erzielen, 1 ist <strong>in</strong> besonderem<br />
Maße für solche Teildiszipl<strong>in</strong>en der Betriebswirtschaftslehre e<strong>in</strong>e Herausforderung,<br />
die zwar e<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Anspruch erheben, sich jedoch noch nicht auf<br />
e<strong>in</strong> gesichertes Vorgehen e<strong>in</strong>igen konnten, wie dieser Erkenntnisfortschritt bezogen auf<br />
e<strong>in</strong> spezifisches Untersuchungsobjekt bestmöglich erreicht werden kann. E<strong>in</strong>e solche<br />
Teildiszipl<strong>in</strong> stellt das Controll<strong>in</strong>g dar. 2 Bisher existierende Konzeptionen des Controll<strong>in</strong>gs<br />
verwenden zwar <strong>in</strong> der Regel die Ökonomie als theoretische Basis 3 , e<strong>in</strong>en spezifischen<br />
eigenen Kern haben sie jedoch nicht. 4 So stellt stellvertretend für viele Brockhoff<br />
fest, dass das Controll<strong>in</strong>g bisher wenig an Gr<strong>und</strong>lagenforschung aufzuweisen habe. 5<br />
Schneider hat se<strong>in</strong>en Vorwurf, das Controll<strong>in</strong>g habe das ihm Eigene zwischen „Supermann“<br />
<strong>und</strong> Buchhalter noch nicht gef<strong>und</strong>en, 6 <strong>in</strong> jüngster Zeit nochmals bekräftigt. 7<br />
E<strong>in</strong> Ausweg aus dieser Orientierungslosigkeit könnte e<strong>in</strong>e stärkere Fokussierung der<br />
Controll<strong>in</strong>gforschung auf verhaltensorientierte Aspekte von Akteuren liefern, die über<br />
1 Vgl. zum Erkenntnisfortschritt der Erfahrungswissenschaften Chmielewicz (1994), S. 129 ff.;<br />
Popper (1998), S. 198 ff. Chmielewicz (1994), S. 129 ff., weist auf das Dreiecksproblem der Ziele<br />
Neuheit, Wahrheit <strong>und</strong> Informationsgehalt h<strong>in</strong>. Popper (1998), S. 198, nimmt an, dass es „Ziel der<br />
empirischen Wissenschaft ist, befriedigende Erklärungen zu f<strong>in</strong>den für alles, was uns e<strong>in</strong>er Erklärung<br />
zu bedürfen sche<strong>in</strong>t.“ E<strong>in</strong> solches Ziel ist für den Controll<strong>in</strong>gkontext, der e<strong>in</strong>en sehr starken Bezug<br />
zur empirischen Realität aufweist, von besonderer Bedeutung. Jedoch hat das F<strong>in</strong>den von Erklärungen<br />
methodologisch reflektiert zu erfolgen. Vgl. dazu Abschnitt 4 dieses Beitrags.<br />
2 Vgl. als Überblick über die Diskussion Weber/Hirsch (2002) <strong>und</strong> Scherm/Pietsch (2004).<br />
3 Vgl. vor allem die prom<strong>in</strong>enten Konzeptionen von Horváth (2001); Küpper (2001); Ewert (2002);<br />
Weber (2004).<br />
4 Vgl. Kappler (2002), S. 161.<br />
5 Darunter versteht er die Suche nach e<strong>in</strong>em gr<strong>und</strong>sätzlichen, über den E<strong>in</strong>zelfall h<strong>in</strong>ausgehenden Verständnis<br />
des Objekts der Forschung, die nicht anwendungsorientiert zu erfolgen hat. Als Beispiel<br />
nennt Brockhoff Arbeiten, die dem gr<strong>und</strong>sätzlichen Verständnis von controll<strong>in</strong>grelevanten Prozessen<br />
dienen. Vgl. Brockhoff (2002), S. 451 ff.<br />
6 Vgl. Schneider (1991), S. 765, der die Frage stellt: Wozu greifen e<strong>in</strong>zelne Controller nach e<strong>in</strong>er derartigen<br />
Selbstbeweihräucherung zum Supermann, wenn sie <strong>in</strong>nerlich überzeugt s<strong>in</strong>d, Controller können<br />
etwas Nützliches <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Unternehmenshierarchie leisten?“<br />
7 Vgl. Schneider (2005), <strong>in</strong>sbes. S. 68 f. Überzeugende Beiträge zur Theorie des Controll<strong>in</strong>gs habe er,<br />
so Schneider, im Sammelband von Scherm/Pietsch (2004) nicht erkannt.<br />
2<br />
2
die ‚klassischen’ Verhaltensannahmen des homo oeconomicus bewusst h<strong>in</strong>ausgehen. 8<br />
So stellen Gaulhofer <strong>und</strong> Karlowitsch fest, dass die Bemühungen von Wissenschaftlern,<br />
dem Controll<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e theoretisch begründete Funktion <strong>und</strong> Konzeption zugr<strong>und</strong>e zu legen,<br />
von e<strong>in</strong>er „zu e<strong>in</strong>seitigen (...) Betonung der sachbezogenen Aspekte des Controll<strong>in</strong>g[s]<br />
gegenüber se<strong>in</strong>en verhaltensbezogenen Aspekten“ 9 geprägt s<strong>in</strong>d.<br />
Im deutschsprachigen Raum wird die systematische Berücksichtigung verhaltensorientierter<br />
Erkenntnisse <strong>in</strong> der Forschung zum Controll<strong>in</strong>g zwar immer wieder gefordert, 10<br />
bisher aber nur kaum umgesetzt. 11 So f<strong>in</strong>den sich nur wenige Arbeiten, die sich mit der<br />
Perspektive e<strong>in</strong>es verhaltenswissenschaftlich f<strong>und</strong>ierten Controll<strong>in</strong>gs ause<strong>in</strong>andersetzen.<br />
12 Wenn überhaupt e<strong>in</strong>e verhaltensorientierte Perspektive e<strong>in</strong>genommen wird, dann<br />
stehen weniger konzeptionelle Überlegungen im Fokus, sondern vor allem konkrete<br />
Handlungsempfehlungen für praktische Probleme, z.B. Gestaltung des Controll<strong>in</strong>gsystems<br />
e<strong>in</strong>er Behörde. 13<br />
Die bisher unzureichende Entwicklung e<strong>in</strong>er Controll<strong>in</strong>gtheorie im deutschsprachigen<br />
Raum legt es deswegen nahe, Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften stärker als<br />
bisher für die Erklärung controll<strong>in</strong>grelevanter Phänomene zu nutzen. 14 Wenn es gel<strong>in</strong>gt,<br />
durch die Heranziehung von Erkenntnissen aus der Psychologie, der Behavioral<br />
Account<strong>in</strong>g- <strong>und</strong> der Behavioral Economics-Forschung (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es höheren Er-<br />
8 Im Bereich des Rechnungswesens <strong>und</strong> Controll<strong>in</strong>gs, <strong>in</strong> dem Entscheidungen im Fokus stehen, eignet<br />
sich vor allem die Betrachtung von Konzepten <strong>und</strong> Erkenntnissen aus der Kognitionspsychologie,<br />
die untersucht, wie Menschen denken, <strong>und</strong> der Sozialpsychologie, die den E<strong>in</strong>fluss der Umwelt auf<br />
menschliches Denken <strong>und</strong> Verhalten untersucht. Vgl. dazu Koonce/Mercer (2005), S. 5.<br />
9 Gaulhofer (1989), S. 144. Das Zitat f<strong>in</strong>det sich wieder bei Karlowitsch (1997), S. 1.<br />
10 Vgl. Holzer/Lück (1978); Gaulhofer (1989).<br />
11 Vgl. Gaulhofer (1989), S. 148 ff.; Horváth (2001), S. 839 ff.; Littkemann (2004), S. 23. Im Gegensatz<br />
zu Deutschland gilt die Forschung zum Behavioral Account<strong>in</strong>g <strong>in</strong> den angelsächsischen Ländern<br />
seit langem als etabliert. Darunter lässt sich die Nutzung der Erkenntnisse <strong>und</strong> Konzepte der<br />
Verhaltenswissenschaften für Fragestellungen im Account<strong>in</strong>g verstehen. Vgl. zur Def<strong>in</strong>ition <strong>und</strong> für<br />
e<strong>in</strong>en Überblick zum Forschungsstand des Behavioral Account<strong>in</strong>g z.B. Birnberg/Shields (1989),<br />
Shields (1997), (2002); zum Begriff erstmalig Bruns/DeCoster (1969), S. v.<br />
12 Vgl. z.B. Holzer/Lück (1978); Höller (1978); Wielpütz (1996); Karlowitsch (1997); Bramsemann et<br />
al. (2004). Letztere kommen jedoch über e<strong>in</strong>e Typologisierung von Forschungsrichtungen nicht<br />
h<strong>in</strong>aus.<br />
13 Vgl. z.B. Hoffjan (1998), der e<strong>in</strong>e verhaltensorientierte Controll<strong>in</strong>gkonzeption für die B<strong>und</strong>esanstalt<br />
für Arbeit entwickelt; oder Wielpütz (1996), <strong>in</strong>sbes. S. 193 ff.<br />
14 Diese Forderung nach e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>beziehung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse <strong>in</strong> die Theorie<br />
<strong>und</strong> Praxis des Account<strong>in</strong>g hat Macharz<strong>in</strong>a bereits 1973 erhoben. Vgl. dazu Macharz<strong>in</strong>a (1973), S. 3<br />
ff.<br />
3<br />
3
kenntnisgew<strong>in</strong>ns 15 ) bessere Erklärungsansätze für Fragestellungen im Rahmen der<br />
Tätigkeit von Controllern zu entwickeln, besteht die Chance e<strong>in</strong>er verbesserten theoretischen<br />
F<strong>und</strong>ierung der Controll<strong>in</strong>gfunktion. Ob e<strong>in</strong> solches Vorgehen zweckmäßig ist,<br />
<strong>und</strong> welche Anforderungen an e<strong>in</strong>e verhaltensorientierte Controll<strong>in</strong>gkonzeption zu stellen<br />
s<strong>in</strong>d, damit mit ihr wissenschaftlicher Fortschritt generiert werden kann, ist Thema<br />
dieses Beitrags.<br />
Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Nach der Formulierung der Problemstellung <strong>in</strong> Abschnitt<br />
1 werden empirisch gestützte Argumente aufgeführt, die die Notwendigkeit der<br />
Berücksichtigung kognitiver Fähigkeiten von Managern als Aufgabe von Controllern<br />
aufzeigen. (Abschnitt 2). Aus dieser Notwendigkeit werden Anforderungen an die Integration<br />
verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ökonomisch f<strong>und</strong>ierte Controll<strong>in</strong>g-Konzeption<br />
abgeleitet (Abschnitt 3). Darauf aufbauend gilt es nach e<strong>in</strong>em geeigneten<br />
Integrationsverfahren zu suchen, das e<strong>in</strong>e methodisch reflektierte Erweiterung<br />
der Annahmen der ökonomischen Theorie ermöglicht. E<strong>in</strong>schlägige Vorschläge dazu<br />
werden <strong>in</strong> Abschnitt 4 beschrieben <strong>und</strong> <strong>in</strong> Abschnitt 5 <strong>in</strong> Bezug auf ihre Geeignetheit<br />
für typische Problemstellungen des Controll<strong>in</strong>gs bewertet. Abschnitt 6 fasst die Ergebnisse<br />
zusammen <strong>und</strong> zeigt den weiteren Forschungsbedarf auf.<br />
2 Controlleraufgaben <strong>und</strong> die Bedeutung kognitiver Begrenzungen von Managern<br />
Die Controll<strong>in</strong>g-Konzeption, die verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse am prom<strong>in</strong>entesten<br />
berücksichtigt, ist der Rationalitätssicherungsansatz von Weber <strong>und</strong> Schäffer.<br />
16 Weber <strong>und</strong> Schäffer verwenden e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>duktiven Zugang, um das Wesen <strong>und</strong> die<br />
Funktion des Controll<strong>in</strong>gs zu begründen. 17 Sie leiten aus der empirischen Beobachtung<br />
von Controllertätigkeiten typische Aufgaben von Controllern ab. Daraus entwickeln sie<br />
e<strong>in</strong> Verständnis von Controll<strong>in</strong>g.<br />
Die Aufgaben von Controllern stehen <strong>in</strong> der Regel <strong>in</strong> Bezug zur Unternehmensplanung,<br />
zur Bereitstellung führungsrelevanter Informationen <strong>und</strong> weisen e<strong>in</strong>e Nähe zum Management<br />
auf. 18 Diese Nähe von Controllern zum Management, <strong>in</strong>sbesondere die Inter-<br />
15 Vgl. zum Erkenntnisgew<strong>in</strong>n Abschnitt 4 dieses Beitrags.<br />
16 Dies ist das Ergebnis der Analyse von Bramsemann et al. (2004).<br />
17 Vgl. Weber (2004), S. 7; Schäffer (2002). Der Beitrag von Weber stellt die aktuellste Beschreibung<br />
des Rationalitätssicherungsansatzes dar, der von Weber <strong>und</strong> Schäffer entwickelt wurde. Vgl. dazu<br />
auch gr<strong>und</strong>legend Weber/Schäffer (1999).<br />
18 Vgl. Weber (2004), S. 31 ff.; Schäffer (2002), S. 102 ff.<br />
4<br />
4
aktion von Managern <strong>und</strong> Controllern, lasse sich durch e<strong>in</strong>e Beschreibung der typischen<br />
Eigenschaften von Managern <strong>und</strong> Conrollern konkretisieren. Eigenschaften von Akteuren<br />
unterteilt Weber <strong>in</strong> (a) Fähigkeiten von Menschen <strong>und</strong> deren (b) Bereitschaft, diese<br />
auch e<strong>in</strong>zusetzen (Motivation). 19<br />
Ad (a): Im Rahmen e<strong>in</strong>er Fokussierung auf die Fähigkeiten von Akteuren im Interaktionszusammenhang<br />
Manager – Controller weist Weber auf das für die Erfüllung von<br />
Managementaufgaben erforderliche Fachwissen von Managern <strong>und</strong> Controllern h<strong>in</strong>. Er<br />
betont auch die Bedeutung psycho-sozialer Eigenschaften, die Führungskräfte besitzen<br />
sollten, um erfolgreich zu se<strong>in</strong>. 20 In der Realität besitzen Manager häufig ke<strong>in</strong>e ausgeprägte<br />
betriebswirtschaftliche Spezialisierung. Controller könnten dagegen diese Fachkompetenz<br />
nachweisen. In Bezug auf persönliche E<strong>in</strong>stellungen würden Manager eher<br />
<strong>in</strong>tuitiv, emotional <strong>und</strong> oberflächlich agieren, während Controller als analytisch, nüchtern<br />
<strong>und</strong> klar begründend gelten. 21<br />
Ad (b): Auch <strong>in</strong> Bezug auf ihre Bereitschaft, ihre Fähigkeiten e<strong>in</strong>zusetzen (Motivation),<br />
würden sich Manager <strong>und</strong> Controller unterscheiden. So weise nicht nur die Pr<strong>in</strong>zipal-<br />
Agenten-Theorie auf Opportunismusgefahren h<strong>in</strong>, auch <strong>in</strong> der empirischen Beobachtung<br />
seien Probleme, dass sich Manager voll <strong>und</strong> ganz für die Unternehmensziele e<strong>in</strong>setzen,<br />
festzustellen. Dagegen könne den Controllern „eher positive Aussagen [zugeschrieben<br />
werden,] <strong>in</strong> denen auf <strong>in</strong>tr<strong>in</strong>sische Motivation <strong>und</strong> typisches „Schiedsrichterethos“<br />
(Neutralität sowie Unbestechlichkeit) verwiesen wird.“ 22<br />
Aus den Unterschieden <strong>in</strong> den Eigenschaften von Managern <strong>und</strong> Controllern leiten Weber<br />
<strong>und</strong> Schäffer typische Controlleraufgaben ab. 23 Diese ließen sich e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> führungsunterstützende<br />
Tätigkeiten (i.e.S.), andererseits <strong>in</strong> rationalitätssichernde Tätigkeiten<br />
unterteilen. Führungsunterstützende Tätigkeiten i.e.S. beschreibt Weber als „Tätigkeiten,<br />
die der Manager für die Lösung e<strong>in</strong>es Führungsproblems an den Controller übergibt,<br />
bevor er selbst zu e<strong>in</strong>em Urteil kommt.“ 24 Durch die Delegation dieser Tätigkeiten<br />
durch den Manager an den Controller kann sich der Manager entlasten <strong>und</strong> die Kompe-<br />
19 Vgl. Weber (2004), S. 33 f.<br />
20 Weber (2004), S. 34 f., nimmt dabei Bezug auf Staehle (1999), S. 331 ff.<br />
21 Vgl. Weber (2004), S. 37 f. Dieser weist darauf h<strong>in</strong>, dass die empirische Untersuchung von Weber et<br />
al. (2000), S. 20 f., die E<strong>in</strong>schätzungen unterstützen würde.<br />
22 Weber (2004), S. 38.<br />
23 Vgl. Weber (2004), S. 43 ff.; Schäffer (2002), S. 101 ff.<br />
24 Weber (2004), S. 43.<br />
5<br />
5
tenzen des Controllers nutzen, die dieser <strong>in</strong> höherem Maße besitzt als er selbst (Ergänzungsaufgabe<br />
des Controllers). Rationalitätssichernde Aufgaben s<strong>in</strong>d Aufgaben, die der<br />
Controller wahrnimmt, nachdem sich der Manager bereits e<strong>in</strong> Urteil gebildet hat: „Er<br />
wird vom Manager beauftragt, diese Lösung herauszufordern (Ergänzung) oder hat<br />
diese – im Auftrag hierarchisch höher stehender Manager – zu verh<strong>in</strong>dern (Begrenzung).“<br />
25 Die Rationalitätssicherung ist für Weber die orig<strong>in</strong>äre Controlleraufgabe. Diese<br />
stelle „e<strong>in</strong>e Kernaufgabe der Controller (...) [dar], die quasi „quer“ zu den traditionell<br />
unterschiedlichen Informations-, Planungs- <strong>und</strong> Kontrollaufgaben der Controller<br />
liegt.“ 26<br />
Verfolge man den <strong>in</strong>duktiven Weg weiter, so lasse sich aus der Rationalitätssicherungsaufgabe<br />
der Controller auch die Controll<strong>in</strong>gfunktion bestimmen: Weil sich bisher ke<strong>in</strong>e<br />
Führungsfunktion mit der Frage beschäftige, wie die Rationalität e<strong>in</strong>zelner Manager<br />
oder der Führungsfunktion <strong>in</strong>sgesamt gesichert werden soll, liege es nahe, Controll<strong>in</strong>g<br />
als Rationalitätssicherung der Führung als „orig<strong>in</strong>äre[n] Inhalt <strong>und</strong> Kern des Controll<strong>in</strong>g“<br />
27 anzusehen. Die spezifische Fragestellung des Controll<strong>in</strong>gs liege dar<strong>in</strong>, „[e]<strong>in</strong>en<br />
„zweiten Blick“ auf gef<strong>und</strong>ene Lösungen zu werfen, Fehler <strong>und</strong> andere Rationalitätsdefizite<br />
schon vor ihrem Wirksamwerden zu vermeiden (...) Ihr Spezifikum liegt <strong>in</strong> der<br />
Beantwortung der Frage, wie man Rationalitätsdefizite erkennt <strong>und</strong> wie man sie verm<strong>in</strong>dern<br />
oder beseitigen kann.“ 28<br />
Weil es sich bei Weber (2004) um e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>führungslehrbuch zum Controll<strong>in</strong>g handelt,<br />
werden methodologische Anforderungen an die Integration verhaltenswissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ökonomisch f<strong>und</strong>ierte Controll<strong>in</strong>g-Konzeption nicht thematisiert. 29<br />
In Weber (2004) - <strong>und</strong> auch <strong>in</strong> Schäffer (2002) - bleibt unklar, wie Fähigkeitsdefizite<br />
von Akteuren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em erweiterten ökonomischen Ansatz konkret <strong>in</strong>tegriert werden<br />
können, welche Annahmen der ökonomischen Theorie <strong>in</strong> welchem Untersuchungskontext<br />
bestehen bleiben, welche wann aufgelöst bzw. erweitert werden sollen. Für die<br />
<strong>in</strong> diesem Beitrag zu klärende Frage, wie Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>e ökonomisch basierte Controll<strong>in</strong>gkonzeption <strong>in</strong>tegriert werden können, leisten auch<br />
25 Weber (2004), S. 43 f.<br />
26 Weber (2004), S. 45.<br />
27 Weber (2004), S. 48. Unter Rationalität versteht Weber die „herrschende Me<strong>in</strong>ung von Fachleuten<br />
h<strong>in</strong>sichtlich e<strong>in</strong>er bestimmten Zweck-Mittel-Situation“ (Weber (2004), S. 51; im Orig<strong>in</strong>al kursiv).<br />
28 Weber (2004), S. 48.<br />
29 Darauf geht auch Schäffer (2002) nicht e<strong>in</strong>.<br />
6<br />
6
die weiteren Arbeiten von Weber <strong>und</strong> Schäffer nur wenig konkrete Hilfestellung.<br />
Gel<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung der Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ökonomisch<br />
f<strong>und</strong>ierte Controll<strong>in</strong>g-Konzeption, so ist e<strong>in</strong> Erkenntnisfortschritt im S<strong>in</strong>ne realitätsnäherer<br />
Erklärungen von kognitiven Manager-Begrenzungen zu erwarten. Daraus<br />
können theoretisch f<strong>und</strong>ierte Gestaltungsempfehlungen für Controller als Rationalitätssicherer<br />
der Manager abgeleitet werden. Es ist somit im Folgenden zu überlegen, ob <strong>und</strong><br />
wie e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e auf kognitive<br />
Begrenzungen der Manager Rücksicht nehmende Controll<strong>in</strong>gkonzeption erfolgen kann.<br />
3 Der Bedarf e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse <strong>in</strong> die<br />
Controll<strong>in</strong>g-Forschung<br />
Die Hauptl<strong>in</strong>ie der Kritik an der Verwendung der (neoklassischen) ökonomischen Theorie<br />
verläuft so, dass dieser zwar e<strong>in</strong>e hohe Effizienz bei der Erklärung von Hauptaspekten<br />
sozialer Probleme e<strong>in</strong>geräumt wird <strong>und</strong> sich daraus tragfähige Prognosen <strong>und</strong> Gestaltungsempfehlungen<br />
entwickeln lassen. 30 Die Erklärungskraft 31 der ökonomischen<br />
Methode stoße, so die Kritik, jedoch dann an Grenzen, wenn diese reale Phänomene<br />
außerhalb des Marktgeschehens nicht mehr ausreichend erklären kann. E<strong>in</strong>e solche Realitätsferne<br />
ökonomischer Modelle komme häufig dann zum Vorsche<strong>in</strong>, wenn die Prozesse<br />
der Urteilsbildung <strong>und</strong> Entscheidungsf<strong>in</strong>dung von Individuen <strong>in</strong> hohem Maße relevant<br />
für die Erklärung des Verhaltens der Akteure s<strong>in</strong>d. Während die Beschreibung<br />
<strong>und</strong> Erklärung solcher Prozesse <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Probleme als Markenzeichen<br />
der Psychologie gilt, bleibt die ökonomische Theorie „frequently silent regard<strong>in</strong>g<br />
the process <strong>und</strong>erly<strong>in</strong>g judgments and decisions.“ 32 Sie modelliert den Entscheider<br />
als e<strong>in</strong>en „’<strong>in</strong>tuitiven Statistiker’, der die verschiedenen Entscheidungsalternativen<br />
sorgsam [nach Kosten-Nutzen-Aspekten; d. Verf.] abwägt <strong>und</strong> se<strong>in</strong> ganzes verfügbares<br />
Vorwissen nach den Gesetzen der Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitstheorie <strong>und</strong> Logik auf das Entscheidungsproblem<br />
anwendet.“ 33<br />
Die Psychologie hat e<strong>in</strong>e Reihe von Theorien <strong>und</strong> Techniken entwickelt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e große<br />
30 Hauptaspekte s<strong>in</strong>d solche Aspekte, „ohne die man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Analyse des Phänomens nicht zu e<strong>in</strong>er<br />
adäquaten Problemlösung kommt.“ (L<strong>in</strong>denberg, 1991, S. 34). Dies br<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e bewusste Vernachlässigung<br />
von Nebeneffekten mit sich. Vgl. dazu auch Knight (1921), S. 4.<br />
31 Vgl. dazu ausführlich Abschnitt 4.1 dieses Beitrags.<br />
32 Koonce/Mercer (2005), S. 4. Zum Spannungsfeld zwischen Realitätsnähe e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> Ableitbarkeit<br />
<strong>und</strong> Erklärungseffizienz ökonomischer Theorie vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 39 f.<br />
33 Fischer et al. (2004), Sp. 240.<br />
7<br />
7
Zahl empirischer Belege gesammelt, um den Prozess der Entscheidungsf<strong>in</strong>dung zu untersuchen.<br />
Dieser werde von der klassischen ökonomischen Theorie nicht problematisiert.<br />
34 Zahlreiche Studien zeigen, dass sich Individuen <strong>in</strong> sorgfältig konstruierten Experimenten<br />
häufig so verhalten, dass ihr Verhalten mit den Annahmen des homo oeconomicus<br />
nicht konsistent sei. 35 Schoemaker kommt zu dem Ergebnis, dass „at the <strong>in</strong>dividual<br />
level most of the empirical evidence is difficult to reconcile with the pr<strong>in</strong>ciple of<br />
expected utility maximation“ 36 . Kahneman <strong>und</strong> Tversky leiten aus ihren experimentell<br />
geprägten Forschungsergebnissen e<strong>in</strong> systematisches Fehlverhalten von Individuen gegenüber<br />
den Annahmen der Rational Choice-Theorie ab: „[O]ur research shows (…)<br />
that the axioms of rational choice are often violated consistently by sophisticated as well<br />
as naive respondents, and that the violations are often large and highly persistent.” 37<br />
Befürworter der neoklassischen Theorie argumentieren dagegen, die Rational Choice-<br />
Theorie sei nicht zu ersetzen. Sie erlaube es, e<strong>in</strong> klares <strong>und</strong> verständliches Modell mit<br />
klaren <strong>und</strong> überprüfbaren Implikationen zu verwenden. Dies sei auch dann s<strong>in</strong>nvoll,<br />
wenn e<strong>in</strong>ige dieser Implikationen durch experimentelle Beweise widerlegt s<strong>in</strong>d. Die<br />
Schärfe der ökonomischen Analyse dürfe auch aufgr<strong>und</strong> von Fehlern <strong>in</strong> der Rationalitätsannahme<br />
nicht aufgegeben werden. Das Festhalten an der Rational Choice-Theorie<br />
sei immer noch besser, als die strenge Orientierungskraft e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en deduktiven<br />
Folgerns für e<strong>in</strong>e Überfülle realitätsnäherer, aber auch komplexerer <strong>und</strong> wenig allgeme<strong>in</strong>erer<br />
Theorien e<strong>in</strong>es spezifischen Phänomens e<strong>in</strong>zutauschen. 38<br />
Für die Möglichkeit der Integration psychologischer Erkenntnisse <strong>in</strong> die ökonomische<br />
Theorie ist diese Kontroverse von hoher Bedeutung. Denn e<strong>in</strong>erseits wäre der Erkenntnisgew<strong>in</strong>n<br />
e<strong>in</strong>er Anwendung ökonomischer Modelle auf verschiedene Nicht-Marktbereiche<br />
sehr begrenzt, wenn die Modellannahmen nicht realistischer würden. Aber wenn<br />
andererseits bei dem Versuch, die Modellannahmen realistischer zu gestalten, die Vorteile<br />
der ökonomischen Modellbildung völlig verloren g<strong>in</strong>gen, dann s<strong>in</strong>d Zweifel an der<br />
34 Das führende Forschungsdesign stellten die experimentellen Studien von Tversky <strong>und</strong> Kahneman<br />
über kognitive Anomalien dar: „circumstances <strong>in</strong> which <strong>in</strong>dividuals exhibit surpris<strong>in</strong>g departures<br />
form rationality.“ (McFadden (1999), S. 79).<br />
35 Vgl. McFadden (1999), S. 79.<br />
36 Schoemaker (1982), S. 530. Frey erweitert die E<strong>in</strong>schätzung Schoemakers auch auf Feldstudien.<br />
Vgl. Frey (1988), S. 186.<br />
37 Tversky (1977), S. 210.<br />
38 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 734.<br />
8<br />
8
Nützlichkeit angebracht, auf e<strong>in</strong>e str<strong>in</strong>gente ökonomische Analyse zu verzichten. 39<br />
McFadden sieht die Antwort auf die Frage, <strong>in</strong>wieweit kognitive Anomalien <strong>in</strong> den Annahmen<br />
der ökonomischen Theorie e<strong>in</strong>e Rolle spielen (sollen), <strong>in</strong> Abhängigkeit von<br />
dem Ausmaß, „how rationality fails.“ So sei es möglich, dass das Standardmodell der<br />
ökonomischen Theorie unter bestimmten Umständen gut funktioniere. Es sei auch denkbar,<br />
dass sich Akteure <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Punkten des Entscheidungsprozesses konform zur<br />
Rationalitätsannahme verhielten, <strong>in</strong> anderen aber nicht. In e<strong>in</strong>em solchen Fall wäre das<br />
Verhalten zwar <strong>in</strong>konsistent zu den klassischen Rationalitätsannahmen, aber es würden<br />
F<strong>und</strong>amente existieren, die e<strong>in</strong>e Basis für e<strong>in</strong>e ökonomische Analyse darstellten. 40<br />
Betrachte man jedoch die experimentellen Studien zur Kognition der letzten 25 Jahre,<br />
so steche hervor, dass Menschen dar<strong>in</strong> versagten, Informationen adäquat - im S<strong>in</strong>ne der<br />
neoklassischen Rationalitätsannahmen - zu verarbeiten. 41 McFadden schließt daraus,<br />
dass die Rationalität <strong>in</strong> der Wahrnehmung bei menschlichen Akteuren ausbleibe. Dieses<br />
Ausbleiben sei systematisch, nachhaltig, überall vorhanden <strong>und</strong> trete <strong>in</strong> hohem Maße<br />
auf. 42<br />
McFadden leitet aus den empirischen Beweisen zu Anomalien Handlungsempfehlungen<br />
für die Theoriebildung ab: Die Herausforderung liege dar<strong>in</strong>, die Annahmen des homo<br />
oeconomicus <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>es mehr psychologisch geprägten Ansatzes weiter zu entwickeln.<br />
Diejenigen Erkenntnisse der Verhaltensforschung, die die krassesten Mängel<br />
der klassischen Annahmen korrigieren, sollten <strong>in</strong> der Theoriebildung berücksichtigt<br />
werden. Die konkrete Lösung dieser Aufgabe sei zwar schwierig, aber nicht unmöglich.<br />
Der Vorschlag McFaddens, die ökonomische Theorie weiterh<strong>in</strong> als ‚Basistheorie’ zu<br />
verwenden, die es um psychologische Erkenntnisse zu erweitern gilt, ersche<strong>in</strong>t auch für<br />
Controll<strong>in</strong>gfragestellungen zweckmäßig. Dort geht es nicht nur darum, Motivationsprobleme<br />
von Managern zu modellieren. Vielmehr werden Erkenntnisse gesucht, die es erlauben,<br />
die (kognitiven) Beschränkungen von Akteuren (Managern) angemessen be-<br />
39 Vgl. ähnlich L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 734.<br />
40 Vgl. McFadden (1999), S. 84.<br />
41 Vgl. McFadden (1999), S. 96, <strong>und</strong> die Meta-Studie von Camerer/Hogarth (1999), die 74 anreizbezogene<br />
Studien untersuchten. Camerer/Hogarth kamen zu der Schlussfolgerung, dass irrationales<br />
Verhalten auch dann bestehen bleibt, wenn es starke Anreize gibt, sich rational zu verhalten.<br />
42 Vgl. McFadden (1999), S. 96 f. Vgl. ähnlich Eichenberger (1992), S. 26: „In Anbetracht der erwähnten<br />
Verzerrungen würde es kaum erstaunen, wenn die <strong>in</strong>dividuellen Erwartungen nicht so rational<br />
wären wie <strong>in</strong> der Ökonomik häufig angenommen wird. Tatsächlich f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> der Literatur<br />
zunehmend Evidenz, die zeigt, dass die Erwartungen kaum vollständig rational s<strong>in</strong>d.“<br />
9<br />
9
schreiben <strong>und</strong> erklären zu können.<br />
4 Verfahren e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
ökonomisch f<strong>und</strong>ierte Controll<strong>in</strong>gkonzeption<br />
4.1 Adäquanzkriterien der E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />
Somit gilt es, die ökonomische Theorie um e<strong>in</strong>e kognitive Dimension zu erweitern. Es ist<br />
jedoch darauf zu achten, dass dies methodisch reflektiert geschieht, um sich nicht der<br />
Kritik der Oberflächlichkeit <strong>und</strong> Unsensibilität ausgesetzt zu sehen. 43 Wird das Verhältnis<br />
unterschiedlicher Modelle zue<strong>in</strong>ander bei der Theoriebildung <strong>und</strong> -anwendung nicht<br />
sorgfältig bedacht, entsteht leicht die Gefahr e<strong>in</strong>es eklektischen Vorgehens. 44 Deswegen<br />
hält Schneider e<strong>in</strong>e Integration verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse nur dann für<br />
methodisch zweckmäßig, wenn diese nicht e<strong>in</strong>fach „abgeschrieben“, sondern mittels zu<br />
entwickelnder Übernahmekriterien geprüft, <strong>in</strong> Bezug auf die Geeignetheit der Methode<br />
kritisch h<strong>in</strong>terfragt <strong>und</strong> <strong>in</strong> die Sprache wirtschaftstheoretischer Modelle „übersetzt“ werden.<br />
45<br />
Will man sowohl die Fähigkeiten der Manager als auch deren Motivationsprobleme<br />
adäquat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Controll<strong>in</strong>g-Konzeption berücksichtigen, s<strong>in</strong>d somit Adäquanzkriterien<br />
der Erweiterung der ökonomischen Basis zu def<strong>in</strong>ieren. Adäquat ist e<strong>in</strong>e solche Erweiterung<br />
dann, wenn die erweiterte Theorie (a) zu e<strong>in</strong>er Zunahme an Erklärungskraft<br />
führt, (b) methodologische Oberflächlichkeiten <strong>und</strong> Unsensibilitäten, die sich häufig <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em eklektischen Vorgehen wieder f<strong>in</strong>den, 46 jedoch vermieden werden.<br />
Ad (a): E<strong>in</strong> höheres Maß an Erklärungskraft hat e<strong>in</strong>e (erweiterte) Theorie immer dann,<br />
wenn sie zu e<strong>in</strong>em Erkenntnisfortschritt beiträgt. Dieser entsteht immer dann, wenn die<br />
(erweiterte) Theorie neue, im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er höheren Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit oder e<strong>in</strong>es höheren<br />
Informationsgehalts bessere Erklärungen für bestimmte Problemstellungen zu geben<br />
vermag. 47 Damit impliziert ist die Idee e<strong>in</strong>er größeren Realitätsnähe von Theorien, also<br />
43 Heide (2001), S. 230 f., sieht den Beitrag von Müller als anschauliches Beispiel an, „wie e<strong>in</strong>seitig<br />
<strong>und</strong> oberflächlich bei der Gegenüberstellung der beiden Forschungsrichtungen vorgegangen werden<br />
kann.“ Vgl. dazu Müller (1995) <strong>und</strong> die Stellungnahmen von Bamberg/Trost (1995); Elschen (1995);<br />
Kossbiel (1995); Spremann (1995).<br />
44 Vgl. Osterloh/Grand (1995), S. 18.<br />
45 Vgl. Schneider (1983); Schneider (1987); ähnlich Heide (2001), S. 60.<br />
46 Vgl. Osterloh/Grand (1995), S. 18.<br />
47 Vgl. Chmielewicz (1994), S. 129 ff; Popper (1983), S. 139 ff.<br />
10<br />
10
der Wunsch, dass sich mit Hilfe von Theorien bestimmte (typische) empirische<br />
Phänomene möglichst wirklichkeitsnah erklären lassen. 48<br />
Ad (b): Gerade <strong>in</strong> sozialwissenschaftlichen Fragestellungen, die von e<strong>in</strong>er hohen Komplexität<br />
gekennzeichnet s<strong>in</strong>d, 49 ist die Orientierung theoretischer Erklärungen an der<br />
praktischen Realität jedoch mit e<strong>in</strong>em Trade-off verb<strong>und</strong>en. Je realitiätsnaher die theoretischen<br />
Erklärungen empirischer Phänomene s<strong>in</strong>d, desto komplexer (mit mehr Annahmen<br />
ausgestattet) s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Regel die zu verwendenden Theorien. 50 Da jedoch auch<br />
Forscher kognitiven Beschränkungen unterliegen, 51 ist darauf zu achten, dass die (erweiterten)<br />
Theorien den Anforderungen der Systematizität <strong>und</strong> der E<strong>in</strong>fachheit unterliegen:<br />
Nur wenn Theorien e<strong>in</strong>e systematische, d.h. <strong>in</strong> Zusammenhänge e<strong>in</strong>ordnende,<br />
<strong>und</strong> möglichst e<strong>in</strong>fache Erklärung der zu beobachtenden Phänomene erlauben, können<br />
die Erklärungen von anderen Forschern nachvollzogen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er konzeptionellen <strong>und</strong><br />
empirischen Kritik unterzogen werden. 52 Gerade die kritische Ause<strong>in</strong>andersetzung <strong>und</strong><br />
Überprüfung von Hypothesen stellt für Popper e<strong>in</strong>e zentrale Voraussetzung für die Erlangung<br />
von Erkenntnisfortschritt dar: „We can learn from our mistakes.“ 53<br />
Um e<strong>in</strong> im S<strong>in</strong>ne der eben formulierten Annahmen angemessenes Verfahren zu f<strong>in</strong>den,<br />
das e<strong>in</strong>e Integration verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse <strong>in</strong> die ökonomische<br />
Analyse ermöglicht, s<strong>in</strong>d methodologische Unterschiede zwischen der Ökonomie <strong>und</strong><br />
Psychologie zu berücksichtigen. So betont L<strong>in</strong>denberg, dass sich die Ökonomie im<br />
Gegensatz zur Psychologie mit sozialen Phänomenen, also mit der Interaktion mehrerer<br />
Akteure, beschäftige. 54 Das <strong>in</strong> der Ökonomie verwendete Verhaltensmodell müsse deswegen<br />
vor allem <strong>in</strong> der Lage se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e theoretische Orientierung für Analysen <strong>in</strong> (sehr)<br />
48 Vgl. Tietzel (1985), S. 88.<br />
49 Vgl. Suchanek (1994), S. 37 ff., der die Komplexitätsunterschiede sozialwissenschaftlicher Fragestellungen<br />
im Vergleich zu naturwissenschaftlichen Fragestellungen herausarbeitet.<br />
50 Vgl. Z<strong>in</strong>tl (1989), S. 57 ff; Suchanek (1994), S. 55, der darauf h<strong>in</strong>weist, dass die “E<strong>in</strong>arbeitung all<br />
der verschiedenen Faktoren, die sozialwissenschaftliche Probleme mit sich br<strong>in</strong>gen, (…) zu<br />
unüberschaubar komplexen Theorien führen [würde], die sich dem Verständnis - <strong>und</strong> damit auch<br />
rationaler Kritik - entziehen würden.“<br />
51 Vgl. zur Systematizität Popper (1983), S. 139 ff.; Suchanek (1994), S. 56; zur E<strong>in</strong>fachheit Homann<br />
(1988), S. 112.<br />
52 Die Anforderung der Strukturiertheit gilt auch für naturwissenschaftliche Fragestellungen. Sie wird<br />
bereits von Popper gefordert. Die E<strong>in</strong>fachheit wird von diesem dagegen vernachlässigt. Vgl. dazu<br />
Suchanek (1994), S. 49.<br />
53 Popper (1969), S. 7.<br />
54 Das gleiche wie für die Ökonomie gelte für die Soziologie. Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 728 f.<br />
11<br />
11
komplizierten Kontexten zu geben. 55<br />
Im Folgenden werden fünf verschiedene Vorgehensweisen vorgestellt, die die aktuelle<br />
Diskussion zur Integration von Erklärungsansätzen aus unterschiedlichen Diszipl<strong>in</strong>en<br />
prägen. Die s<strong>in</strong>d (1) der ökonomische Imperialismus, (2) die Psychologisierung der Rationalitätsannahmen,<br />
(3) das Sequenzverfahren, (4) der Paralleldiskurs <strong>und</strong> (5) die Methode<br />
der abnehmenden Abstraktion. 56 Sie werden <strong>in</strong> Kapitel 5 auf ihre Geeignetheit zur<br />
Integration überprüft.<br />
4.2 Der ökonomische Imperialismus als mögliche Integrationsstrategie<br />
Die häufig als Imperialismus bezeichnete Forschungsstrategie geht von der Dom<strong>in</strong>anz<br />
e<strong>in</strong>er Diszipl<strong>in</strong> zur Erklärung sämtlicher relevanter Fragestellungen aus. Das im Kontext<br />
dieser Arbeit besonders hervorzuhebende Beispiel ist der vom Nobelpreisträger für<br />
Wirtschaftswissenschaften Becker geprägte, auf der Annahme e<strong>in</strong>es nutzenmaximierenden<br />
Akteurs beruhende ökonomische Imperialismus 57 . Becker wendet den ökonomischen<br />
Ansatz 58 nicht nur auf klassische wirtschaftswissenschaftliche Fragestellungen an,<br />
sondern untersucht Bereiche, die zuvor von anderen Diszipl<strong>in</strong>en bearbeitet wurden. Als<br />
Beispiele lassen sich Themen wie der Umfang <strong>und</strong> Determ<strong>in</strong>anten von Diskrim<strong>in</strong>ierung,<br />
Krim<strong>in</strong>alität <strong>und</strong> Strafe, Heiratsverhalten <strong>und</strong> Geburtenraten, Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge,<br />
Investitionen <strong>in</strong> Bildung etc. anführen. 59 Aus diesem Gr<strong>und</strong> wird Becker auch als „ökonomischer<br />
Imperialist“ bezeichnet. Das spezifische der Ökonomie liegt für Becker <strong>in</strong><br />
ihrem Ansatz: „[W]as die Ökonomie als Diszipl<strong>in</strong> von anderen Diszipl<strong>in</strong>en <strong>in</strong> den<br />
Sozialwissenschaften hauptsächlich unterscheidet, ist nicht ihr Gegenstand sondern ihr<br />
Ansatz. (...) Ich b<strong>in</strong> der Auffassung, daß die besondere Stärke des ökonomischen Ansatzes<br />
dar<strong>in</strong> liegt, daß er e<strong>in</strong>e breite Skala menschlichen Verhaltens <strong>in</strong>tegrativ erfassen<br />
55 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 728.<br />
56 Diese Systematisierung basiert auf den Ausführungen von Osterloh/Grand (1995), S. 12ff., die drei<br />
der genannten Strategien aufführen, <strong>und</strong> auf Homann (2002a), S. 71 ff., der zu den hier beschriebenen<br />
Strategien noch e<strong>in</strong>e Reihe weiterer aufführt, die hier aufgr<strong>und</strong> ihrer spezifischen Problemorientierung<br />
nicht behandelt werden, so z.B. das Verfahren der Typologie von Frey, der nach unterschiedlichen<br />
Typen von Akteuren (eigennützig, gut- oder bösartig) unterscheidet; siehe dazu Frey<br />
(1990), S. 6. Dieses Vorgehen ersche<strong>in</strong>t für die Problemstellung dieser Arbeit bereits auf den ersten<br />
Blick als wenig geeignet, da sich weder Manager noch Controller als e<strong>in</strong>deutig gut- oder bösartig<br />
klassifizieren lassen.<br />
57 Vgl. Becker (1982a), (1993); Osterloh/Grand (1995), S. 12, <strong>und</strong> Homann (2002a), S. 70.<br />
58 Die drei wesentlichen Elemente des ökonomischen Ansatzes bilden dabei die Annahmen der ökonomischen<br />
Theoriebildung: (1) Nutzenmaximierendes Verhalten, (2) stabile Präferenzen <strong>und</strong> (3) die<br />
Existenz von Marktgleichgewichten. Vgl. dazu Eichenberger (1992), S. 1 ff.<br />
12<br />
12
kann.“ 60<br />
Der Ansatz erhebt somit den Anspruch, auf die verschiedensten Lebensbereiche <strong>und</strong><br />
damit auf sämtliche soziale Phänomene anwendbar zu se<strong>in</strong> <strong>und</strong> Handlungserklärungen<br />
zu liefern, die den Analysen anderer Diszipl<strong>in</strong>en überlegen s<strong>in</strong>d. Der ökonomische Imperialismus<br />
steht damit <strong>in</strong> Konkurrenz zu anderen imperialistischen E<strong>in</strong>zelwissenschaften.<br />
Der ökonomische Ansatz bietet nach der Auffassung Beckers „e<strong>in</strong>en wertvollen,<br />
e<strong>in</strong>heitlichen Bezugsrahmen für das Verständnis allen menschlichen Verhaltens“. 61 E<strong>in</strong>e<br />
eigentliche Integration psychologischer Annahmen f<strong>in</strong>det bewusst nicht statt: „Wer das<br />
Verhalten e<strong>in</strong>es bestimmten Individuums im E<strong>in</strong>zelfall erklären oder voraussagen will,<br />
fragt <strong>in</strong> der Regel tunlichst nicht den Ökonomen, sondern den Psychologen, den Erzieher,<br />
die Fre<strong>und</strong>e; auch Biographie <strong>und</strong> Weltanschauung geben wichtige Aufschlüsse.“ 62<br />
Becker nimmt somit e<strong>in</strong>e Priorisierung der ökonomischen Methode vor. Erkenntnisse<br />
der Psychologie werden für die Erklärung von Interaktionskontexten bewusst (weitgehend)<br />
ignoriert.<br />
4.3 Die Psychologisierung der Verhaltensannahmen als mögliche<br />
Integrationsstrategie<br />
Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Simon räumt wie die neoklassische<br />
Theorie zwar e<strong>in</strong>, dass fast alles menschliche Verhalten „a large rational component“<br />
besitzt. Jedoch schränkt er die Rationalitätsannahme auf e<strong>in</strong>e Rationalität im alltäglichen<br />
S<strong>in</strong>ne („agreeable to reason: not absurd, preposterous, extravagang, follish, fanciful,<br />
or the like; <strong>in</strong>telligent, sensible“) e<strong>in</strong> <strong>und</strong> versteht sie nicht im S<strong>in</strong>ne der von Ökonomen<br />
postulierten Nutzenmaximierung. 63 Simon kritisiert das ökonomische Rationalitätskonstrukt<br />
dah<strong>in</strong>gehend, dass die (kognitiven) Prozesse, die e<strong>in</strong>e Voraussetzung für<br />
rationale Entscheidungen darstellen, <strong>in</strong> der neoklassischen ökonomischen Theorie nicht<br />
beachtet werden. Diese würde die kognitive Dimension menschlichen Handelns weitgehend<br />
ausblenden. 64<br />
59 Vgl. Becker (1982b); Meyer (2005), S. 7.<br />
60 Becker (1982a), S. 3.<br />
61 Becker (1982a), S. 15.<br />
62 Homann (2002c), S. 125.<br />
63 Vgl. Simon (1978), S. 2.<br />
64 Vgl. ähnlich Meyer/He<strong>in</strong>e (2005), S. 14 f.<br />
13<br />
13
Das Rationalitätsverständnis der neoklassischen Theorie 65 , das Simon als “global rationality”<br />
66 bezeichnet, werde den Anforderungen e<strong>in</strong>er komplexen Welt nicht gerecht:<br />
„The simple notion of maximiz<strong>in</strong>g utility or profit could not be applied <strong>in</strong> situations<br />
where the optimum action depended on uncerta<strong>in</strong> environmental events, or upon the<br />
action of other rational agents (for example, imperfect competition).“ 67 Die Verwendung<br />
des globalen Rationalitätskonstrukts sei zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>fachen <strong>und</strong> statischen Situationen<br />
unproblematisch. Die moderne Welt sei jedoch durch Komplexität gekennzeichnet:<br />
“Complexity is deep <strong>in</strong> the nature of th<strong>in</strong>gs, and discover<strong>in</strong>g tolerable approximation<br />
procedures and heuristics that permit huge spaces to be searched very selectively lies at<br />
the heart of <strong>in</strong>telligence, whether human or artificial.” 68 Somit werden die beschränkten<br />
kognitiven Fähigkeiten von Akteuren für den Erfolg von Entscheidungen höchst relevant.<br />
Die kognitiven Fähigkeiten von Menschen zur Verarbeitung von Informationen<br />
stellen den entscheidenden Engpass dar. E<strong>in</strong>e Vernachlässigung des Informationsverarbeitungs-<br />
<strong>und</strong> Entscheidungsprozesses der Akteure führe potenziell zu falschen Schlüssen.<br />
69 E<strong>in</strong>e Rationalitätstheorie, die dies nicht ausreichend <strong>in</strong> Betracht ziehe, ist für Simon<br />
nicht nur unvollständig, sondern könne Anwender ernsthaft <strong>in</strong> die Irre führen, <strong>in</strong>dem<br />
sie Sche<strong>in</strong>lösungen für ökonomische Fragen anbietet, die ke<strong>in</strong>e praktische Bedeutung<br />
aufweisen. 70<br />
Dem Konzept der globalen Rationalität stellt Simon das Konzept der bo<strong>und</strong>ed rationality<br />
entgegen, das mit dem Wissen über menschliches Entscheidungsverhalten <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang<br />
stehe. Das Konzept unterstellt weiterh<strong>in</strong>, dass Entscheider eigene Ziele verfolgen.<br />
Die Entscheider unterliegen aber auch e<strong>in</strong>er Reihe von technischen <strong>und</strong> kognitiven Beschränkungen:<br />
Sie müssen nach den vorhandenen Entscheidungsalternativen erst suchen.<br />
Sie besitzen unvollständiges <strong>und</strong> ungenaues Wissen über die Konsequenzen ihrer<br />
Handlungen. Sie wählen diejenigen Handlungen aus, die sie zufrieden stellen (satisfic<strong>in</strong>g).<br />
71<br />
Die Annahme der beschränkten Rationalität führe <strong>in</strong> vielen Fällen zu unterschiedlichen<br />
65 Vgl. Simon (1997), S. 17.<br />
66 Simon (1978), S. 9.<br />
67 Simon (1978), S. 9.<br />
68 Simon (1978), S. 12.<br />
69 Vgl. Simon (1978), S. 14.<br />
70 Vgl. Simon (1978), S. 12.<br />
71 Vgl. Simon (1997), S. 17 f. Vgl. zum Satisfic<strong>in</strong>g auch Homann (2002a), S. 71.<br />
14<br />
14
Schlussfolgerungen, dies sei anders bei der Annahme der globalen Rationalität. Dies sei<br />
darauf zurückzuführen, dass unter der Annahme der globalen Rationalität die Eigenschaften<br />
des Entscheiders, die nicht durch die Nutzenfunktion ausgedrückt werden,<br />
ke<strong>in</strong>e Rolle spielten. Theorien, die e<strong>in</strong> Verstehen menschlicher Denkprozesse ermöglichen,<br />
seien im Rahmen e<strong>in</strong>er klassischen ökonomischen Analyse nicht erforderlich.<br />
Deswegen sei es auch nicht erforderlich, psychologische Theorien zu verwenden. 72<br />
Nehme man jedoch e<strong>in</strong>e beschränkte Rationalität der Entscheider an, ergebe sich die<br />
Notwendigkeit der Heranziehung soziologischer <strong>und</strong> psychologischer Theorien, um das<br />
Verhalten des Entscheiders vorhersagen zu können. 73 Der Psychologie wird dabei sowohl<br />
e<strong>in</strong>e methodologische (theoriebildende) Funktion als auch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Funktion<br />
(Bereitstellung von Forschungsergebnissen) e<strong>in</strong>geräumt. 74 Daneben könnten Theorien<br />
aus der künstlichen Intelligenz- <strong>und</strong> Informationsverarbeitungsforschung dazu beitragen,<br />
die Komplexität der menschlichen Informationsverarbeitung ansatzweise zu erklären.<br />
75<br />
Die Notwendigkeit der Heranziehung psychologischer Theorien für die Beschreibung<br />
des menschlichen Entscheidungsverhaltens untermauert Simon durch e<strong>in</strong>e weitere Spezifikation<br />
des Rationalitätsbegriffs. Er unterscheidet auch zwischen substantieller <strong>und</strong><br />
prozessualer Rationalität. Die substantielle Rationalität beschäftige sich mit der Frage,<br />
welche Handlung zur Nutzenmaximierung führe. Dabei werde e<strong>in</strong>e gegebene Situation<br />
vorausgesetzt. Diese werde analysiert, nicht der Entscheider selbst. Deswegen handle es<br />
sich bei der substantiellen Rationalität um e<strong>in</strong>e Theorie der Entscheidungsumwelt (<strong>und</strong><br />
der Nutzenfunktionen), aber nicht um e<strong>in</strong>e Theorie der Entscheider. Die prozessuale<br />
Rationalität beschäftige sich dagegen mit der Frage, wie der Entscheider Alternativen<br />
generiert <strong>und</strong> diese mite<strong>in</strong>ander vergleicht. Simon def<strong>in</strong>iert die prozessuale Rationalität<br />
als „effectiveness, <strong>in</strong> light of human cognitive powers and limitations, of the procedures<br />
used to choose actions“ 76 . Sie beruhe notwendigerweise auf e<strong>in</strong>er Theorie der menschli-<br />
72 Als Ausnahme nennt Simon psychologische Theorien, die die Erwartungen <strong>und</strong> Bedürfnisse von<br />
Akteuren aufzeigen.<br />
73 Erkenntnisse der Soziologie könnten, so Simon, dazu beitragen abzuschätzen, welche Informationen<br />
zum Entscheidungszeitpunkt im Gedächtnis des Entscheiders verfügbar s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> welche Bedürfnisse<br />
er wahrsche<strong>in</strong>lich haben könnte. Psychologische Erkenntnisse könnten aufzeigen, wie die Entscheidung<br />
dargestellt wird <strong>und</strong> wie elaboriert die Berechnungen s<strong>in</strong>d, die der Entscheider durchführen<br />
kann, um se<strong>in</strong>e Entscheidung zu treffen. Vgl. Simon (1997), S. 18.<br />
74 Vgl. Simon (1997), S. 98.<br />
75 Vgl. Simon (1978), S. 12.<br />
76 Simon (1978), S. 9.<br />
15<br />
15
chen Kognition. 77<br />
Die substantielle Rationalität sei eng mit der globalen Rationalität verb<strong>und</strong>en, während<br />
es e<strong>in</strong>e enge Verb<strong>in</strong>dung zwischen der beschränkten <strong>und</strong> der prozessualen Rationalität<br />
gebe. Weil Menschen nur beschränkte Kapazitäten <strong>in</strong> ihrem Wissen <strong>und</strong> <strong>in</strong> ihren „Rechenfähigkeiten“<br />
haben, gelte es, den Entscheidungsprozess genauer zu betrachten. Die<br />
globale Rationalität sei dagegen substantiell, sie gebe Antwort auf die gegenwärtigen<br />
objektiv feststellbaren Merkmale der Entscheidungssituation. Aber sie ist nur dann anwendbar,<br />
wenn die Situation ausreichend e<strong>in</strong>fach ist, so dass menschliche Entscheider<br />
die objektive Lösung wahrnehmen können. In komplizierteren Situationen, wie sie<br />
meistens <strong>in</strong> der Praxis auftreten, verlange die beschränkte menschliche Rationalität, dass<br />
die Entscheidungsprozesse verstanden werden, um das Verhalten der Entscheider vorhersagen<br />
zu können. Somit ist e<strong>in</strong>e Theorie der beschränkten Rationalität notwendigerweise<br />
e<strong>in</strong>e Theorie der prozessualen Rationalität. 78<br />
Bei der Bildung der Theorie der prozessualen Rationalität könnten, wie bereits erwähnt,<br />
Elemente aus den Nachbardiszipl<strong>in</strong>en wie der Kognitionspsychologie oder der Forschung<br />
zur künstlichen Intelligenz entliehen werden. Aber es bliebe noch e<strong>in</strong>e enorme<br />
Aufgabe bestehen, den Forschungsstand zu erweitern <strong>und</strong> für spezifische ökonomische<br />
Probleme anzupassen. 79 Dies müsse vor allem durch e<strong>in</strong>e Verstärkung der empirischen<br />
Arbeit geschehen: „The pr<strong>in</strong>cipal conclusion is that (…) [it] requires build<strong>in</strong>g an<br />
adequate, empirically based, theory of bo<strong>und</strong>ed rationality, that is, of procedural rationality,<br />
and apply<strong>in</strong>g the theory systematically to phenomena at both micro and macro<br />
levels.” 80<br />
Simon betont somit die Notwendigkeit der Heranziehung psychologischer Theorien <strong>und</strong><br />
Erkenntnisse für die Erklärung menschlichen Entscheidungsverhaltens. Im Gegensatz<br />
zu Becker betont er das Primat der Psychologie, wenn es um die Erklärung des Entscheidungsverhaltens<br />
von Akteuren geht. Wie die psychologischen Erkenntnisse speziell<br />
für ökonomische Probleme genutzt werden können, müsse durch empirische Forschung<br />
eruiert werden.<br />
77 Vgl. Simon (1997), S. 18.<br />
78 Vgl. Simon (1997), S. 18 f.<br />
79 Vgl. Simon (1978), S. 15.<br />
80 Simon (1997), S. 63.<br />
16<br />
16
4.4 Das Sequenzverfahren als mögliche Integrationsstrategie<br />
Frey spricht dem Menschen die Fähigkeit zu, rational zu handeln. Im Gegensatz zur<br />
klassischen Theorie geht er jedoch nicht von e<strong>in</strong>er Menge von Entscheidungsalternativen<br />
aus, die dem Entscheider vorgegeben ist <strong>und</strong> aus denen er die für ihn vorteilhafteste<br />
auswählt. Stattdessen betrachtet er die Entscheidung als e<strong>in</strong>en zweiphasigen Prozess.<br />
In der ersten „<strong>und</strong> entscheidend wichtigen Phase werden die für das Individuum<br />
persönlich relevanten (...) Alternativen betrachtet, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nachfolgenden Phase wird<br />
die Wahl zwischen diesen Alternativen getroffen.“ 81<br />
Die <strong>in</strong> Experimenten beobachteten Anomalien – Frey def<strong>in</strong>iert sie als Paradoxien – erklärt<br />
er durch e<strong>in</strong>e Unterscheidung e<strong>in</strong>es objektiven <strong>und</strong> e<strong>in</strong>es ipsativen Möglichkeitsraumes.<br />
Der ipsative Möglichkeitsraum wird def<strong>in</strong>iert als Möglichkeitsraum, den Individuen<br />
als „für sich selbst relevant“ ansehen. 82 Der Unterschied zwischen dem ipsativen<br />
<strong>und</strong> dem objektiven Möglichkeitsraum sei nicht auf Faktoren wie die beschränkte Information<br />
oder mangelnde Intelligenz der Entscheider zurückzuführen. Diese Faktoren seien<br />
verantwortlich für den Unterschied zwischen dem objektiven <strong>und</strong> dem subjektiven<br />
Möglichkeitsraum. Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Entscheidungstheorie bekannt. Der objektive <strong>und</strong> der<br />
ipsative Möglichkeitsraum unterschieden sich <strong>in</strong> vier Punkten: Während der objektive<br />
Möglichkeitsraum symmetrisch, marg<strong>in</strong>al <strong>und</strong> transpersonal sei <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Wahl zwischen<br />
Alternativen entsprechend der Erwartungsnutzentheorie zulasse, sei der ipsative<br />
Möglichkeitsraum absolut, asymmetrisch, persönlich <strong>und</strong> von e<strong>in</strong>er beschränkten Kontrolle<br />
der Alternativen geprägt. Absolut bedeute, so Frey, dass Akteure Alternativen entweder<br />
vollständig oder gar nicht <strong>in</strong> Erwägung ziehen <strong>und</strong> nicht, wie im objektiven Möglichkeitsraum,<br />
kle<strong>in</strong>e Veränderungen <strong>in</strong> den Alternativen mit (marg<strong>in</strong>alen) Kosten-/<br />
Nutzenabschätzungen bewerten würden. Asymmetrisch charakterisiere die fehlende<br />
Möglichkeit, „Alternativen, die <strong>in</strong> den ipsativen Raum e<strong>in</strong>gegangen s<strong>in</strong>d, (...) [zu] entfernen.“<br />
83 Persönlich bedeute, dass Alternativen aus der Perspektive e<strong>in</strong>es bestimmten<br />
Individuums betrachtet würden, die von Empfehlungen oder Handlungen Außenstehender<br />
<strong>in</strong> vielen Fällen abweichen dürften. Während im objektiven Möglichkeitsraum e<strong>in</strong>e<br />
Wahl zwischen Alternativen möglich sei, sei dies im ipsativen Möglichkeitsraum oft<br />
nicht möglich, weil autonome Prozesse, die sich auf die Kontrollmöglichkeit übergeord-<br />
81 Frey (1988), S. 182.<br />
82 Frey (1988), S. 183. Vgl. auch Frey (1989), S. 230 ff..<br />
83 Frey (1988), S. 183.<br />
17<br />
17
neter Instanzen zurückführen lassen, e<strong>in</strong>e solche Entscheidung verh<strong>in</strong>derten. 84<br />
Der ipsative Möglichkeitsraum werde, so Frey, durch e<strong>in</strong>e große Zahl verschiedener<br />
Faktoren def<strong>in</strong>iert. Wichtig seien <strong>in</strong> diesem Kontext Traditionen <strong>und</strong> Ideologien, persönliche<br />
Erfahrungen, Fram<strong>in</strong>g-Effekte, vor allem aber psychologische Prozesse. 85 Die<br />
im ipsativen Möglichkeitsraum stattf<strong>in</strong>dende Alternativengenerierung sei deswegen mit<br />
den Methoden der Psychologie zu erklären <strong>und</strong> zu beschreiben, während die <strong>in</strong> der<br />
zweiten Phase erfolgende Entscheidung zwischen den Alternativen dem Modell ökonomischen<br />
Verhaltens folgen soll. 86<br />
Damit nimmt Frey e<strong>in</strong>e objektspezifische Aufteilung der Anwendung der ökonomischen<br />
Methode <strong>und</strong> der Psychologie vor. Während die Psychologie für die Phase der Alternativengenerierung<br />
zuständig ist, sei die Ökonomie für die Phase der eigentlichen Entscheidung<br />
heranzuziehen.<br />
4.5 Der Paralleldiskurs als mögliche Integrationsstrategie<br />
Der von Homann vorgeschlagene Paralleldiskurs stellt e<strong>in</strong>e weitere <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre<br />
Vorgehensweise dar. 87 Der homo oeconomicus gilt <strong>in</strong> diesem Kontext nicht als gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
überlegenes Forschungsmodell, sondern vielmehr als Analysekonstrukt, das für<br />
bestimmte ökonomische Problemstellungen besonders zweckmäßig sei. Die theoretische<br />
Integration 88 mehrerer Diszipl<strong>in</strong>en zur Beantwortung <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer Fragestellungen<br />
kann nach der Strategie des Paralleldiskurses nur durch e<strong>in</strong>e separate Modellbetrachtung<br />
aus Sicht der verschiedenen E<strong>in</strong>zelwissenschaften <strong>und</strong> die anschließende Übersetzung<br />
ihrer Ergebnisse <strong>in</strong> die Sprache der jeweils anderen Diszipl<strong>in</strong> erfolgen.<br />
Homann illustriert das Vorgehen des Paralleldiskurses am Beispiel des Diskurses zwischen<br />
der Ethik <strong>und</strong> der Ökonomie. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie Moral, die<br />
empirisch im Handeln von Managern beobachtbar ist, <strong>in</strong> der Theoriebildung der Ökonomie,<br />
Wirtschaftsethik <strong>und</strong> Ethik verarbeitet wird. 89 Dabei geht Homann gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
davon aus, dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er komplexen Welt e<strong>in</strong>e funktionale Ausdifferenzierung <strong>und</strong> damit<br />
84 Vgl. Frey (1988), S. 183 f.<br />
85 Vgl. Frey (1988), S. 185.<br />
86 Vgl. Frey (1988), S. 187 ff.; Frey (1990), S. 181 ff. Auch Vanberg (1988) <strong>und</strong> Kliemt (1991)<br />
schränken die Anwendung des homo oeconomicus e<strong>in</strong>. Vgl. dazu auch Homann (2002a), S. 72.<br />
87 Vgl. Homann (2002a), S. 84 ff.<br />
88 Vgl. Suchanek (1994), S.1 ff. <strong>und</strong> 29 ff.<br />
89 Vgl. Homann (2002b), S. 45.<br />
18<br />
18
Arbeitsteilung der wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong>en die Fähigkeit e<strong>in</strong>er Gesellschaft zur<br />
Bearbeitung von komplexen Fragestellungen erhöht. 90 Als Konsequenz dieser Entwicklung<br />
sieht Homann die „Verselbständigung der gesellschaftlichen Subsysteme <strong>und</strong> der<br />
zugehörigen E<strong>in</strong>zelwissenschaften. Es verselbständigen sich Fragestellungen, Methoden<br />
<strong>und</strong> Vorschläge, Resultate.“ 91 So wäre die Psychologie für andere Fragestellungen zuständig<br />
als die Ökonomie. Die Diszipl<strong>in</strong>en würden sich unterschiedlicher Forschungsmethoden<br />
bedienen <strong>und</strong> zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.<br />
E<strong>in</strong>e solche Arbeitsteilung könne zu Konflikten zwischen den verselbständigten E<strong>in</strong>zelwissenschaften<br />
führen. Als klassisches Beispiel nennt Homann den Konflikt zwischen<br />
Ethos <strong>und</strong> Gew<strong>in</strong>nstreben: Sowohl der Ethik als auch der Ökonomie weist Homann e<strong>in</strong>en<br />
Erklärungs- <strong>und</strong> Gestaltungsauftrag zu. Die Ethik dürfte dem Ethos e<strong>in</strong>e höhere<br />
Priorität geben, die Ökonomie dem Gew<strong>in</strong>nstreben. Homann <strong>in</strong>terpretiert deswegen<br />
Ethik <strong>und</strong> Ökonomie „als zwei Diskurse e<strong>in</strong> <strong>und</strong> derselben Problematik menschlicher<br />
Interaktionen (...), als zwei Diskurse also, die jeweils verschieden ansetzen, verschiedene<br />
Methoden <strong>und</strong> verschiedene Klassen von Argumenten benutzen, die jedoch im Pr<strong>in</strong>zip,<br />
d.h. vom Gegenstandsbereich her, als deckungsgleich angenommen werden müssen.“<br />
92<br />
Weil die beiden Diskurse andere Schwerpunkte haben, andere Begriffe benutzen, ihre<br />
Bestandteile anders ordnen <strong>und</strong> auch unterschiedliche Methoden benutzen, könne Interdiszipl<strong>in</strong>arität<br />
nicht dadurch erzeugt werden, dass die <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Diskursen behandelten<br />
Gesichtspunkte, Motive <strong>und</strong> Handlungen der Akteure addiert werden, z.B. <strong>in</strong>dem<br />
zusätzliche Präferenzen <strong>in</strong> die ökonomische Nutzenfunktion e<strong>in</strong>gefügt werden. 93 Vielmehr<br />
müsse man bei der Durchführung des Paralleldiskurses „streng darauf achten,<br />
nicht unkontrolliert von dem e<strong>in</strong>en <strong>in</strong> den anderen zu spr<strong>in</strong>gen, etwa um Argumentationslücken<br />
des e<strong>in</strong>en mit Hilfe von Versatzstücken aus dem anderen Diskurs zu überbrücken.“<br />
94 Dies sei methodisch unzuverlässig, weil dadurch die Erträge e<strong>in</strong>er streng<br />
ökonomischen Analyse verloren gehen. Natürlich würde e<strong>in</strong> solches Vorgehen auch<br />
theoretische Verluste implizieren. So könnten <strong>in</strong> Bezug auf das Verhältnis von Ethik<br />
<strong>und</strong> Ökonomie Phänomene wie menschliche Würde, Humanität, Pflicht <strong>und</strong> die Unbe-<br />
90 Vgl. Homann (2002b), S. 52.<br />
91 Homann (2002b), S. 52.<br />
92 Homann (2002b), S. 52 f.<br />
93 Homann (2002b), S. 53.<br />
94 Homann (2002b), S. 53.<br />
19<br />
19
d<strong>in</strong>gtheit des moralischen Gefühls ke<strong>in</strong>en unmittelbaren E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> die Ökonomie<br />
f<strong>in</strong>den, wenn sie nicht <strong>in</strong> deren Paradigma übersetzt werden können. 95<br />
Die Gr<strong>und</strong>idee des Paralleldiskurses bestehe dar<strong>in</strong>, „die Gew<strong>in</strong>ne aus der theoretischen<br />
Ausdifferenzierung zu realisieren, <strong>in</strong>dem die positive ökonomische Forschung methodisch<br />
sauber vorangetrieben wird, <strong>und</strong> die drohenden Verluste dadurch zu vermeiden,<br />
dass man ökonomische Analysen – selbstverständlich unter anderem Arrangement <strong>und</strong><br />
Weglassen vieler Details – bei Bedarf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en ethischen Diskurs (zurück-)übersetzt.<br />
Übersetzen <strong>und</strong> Rückübersetzen s<strong>in</strong>d für diese Konzeption zentral.“ 96<br />
Homann sieht theoretische Gew<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Rekonstruktion ethischer Überlegungen <strong>in</strong><br />
ökonomischen Kategorien unter anderem dar<strong>in</strong>, dass moralische Normen bei unstrittigen<br />
Wertvorstellungen als „pragmatische Kurzfassungen ökonomischer Kalkulationen“<br />
<strong>in</strong>terpretiert werden können. Weil moralische E<strong>in</strong>stellungen <strong>und</strong> Tugenden häufig<br />
e<strong>in</strong>e zuverlässige Befolgung der Normen ermöglichen, können Transaktionskosten gesenkt<br />
werden. 97 Für Homann stellen Ethik <strong>und</strong> Ökonomie die zwei Seiten e<strong>in</strong>er Medaille<br />
dar, die jedoch unterschiedlich geprägt s<strong>in</strong>d. Nur durch e<strong>in</strong>e Rekonstruktion ethischer<br />
Überlegungen <strong>in</strong> der Ökonomie <strong>und</strong> umgekehrt lasse sich der „methodisch heillose Weg<br />
vermeiden, die ‚Integration’ als Zusammenklauben von Versatzstücken aus verschiedenen<br />
Diszipl<strong>in</strong>en <strong>und</strong> als Mix verschiedener Bestandteile zu verstehen.“ 98 Die Integration<br />
habe methodisch sauber zu erfolgen, sie bedürfe e<strong>in</strong>es theoretischen Rahmens <strong>und</strong><br />
e<strong>in</strong>deutiger methodischer Anweisungen. 99 Sollen ethische Erkenntnisse <strong>in</strong> die Ökonomie<br />
übersetzt werden, ist das klassische Rationalmodell als Basismodell zu verwenden.<br />
Dieses könne z.B. durch die Berücksichtigung von Fram<strong>in</strong>geffekten verfe<strong>in</strong>ert werden.<br />
100<br />
Homann warnt somit vor e<strong>in</strong>er unreflektierten Übernahme von Erkenntnissen aus e<strong>in</strong>er<br />
anderen Diszipl<strong>in</strong>. Diese könne nur dann methodisch ‚sauber’ erfolgen, wenn die übernommenen<br />
Erkenntnisse <strong>in</strong> die ‚Logik’ der übernehmenden Theorie übersetzt werden.<br />
95 Vgl. Homann (2002b), S. 53.<br />
96 Homann (2002b), S. 54. Im Orig<strong>in</strong>al teilweise kursiv.<br />
97 Homann (2002b), S. 55.<br />
98 Homann (2002b), S. 56.<br />
99 Homann (2002b), S. 56.<br />
100 Vgl. Homann (2002b), S. 56.<br />
20<br />
20
4.6 Die Methode der abnehmenden Abstraktion als mögliche Integrationsstrategie<br />
L<strong>in</strong>denberg schlägt die Methode der „abnehmenden Abstraktion“ als Integrationsstrategie<br />
vor. 101 Basis se<strong>in</strong>es Konzepts ist die folgende, für die Bildung <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer<br />
Theorien gr<strong>und</strong>legende Unterscheidung: Die Ökonomie (<strong>und</strong> auch die Soziologie) beschäftigten<br />
sich hauptsächlich damit, soziale Systeme zu analysieren: Ihr analytisches<br />
Primat fokussiere auf das Untersuchungsobjekt ‚soziale Systeme’. Um soziale Systeme<br />
<strong>und</strong> verb<strong>und</strong>ene soziale Phänomene zu erklären, verwenden beide Diszipl<strong>in</strong>en Handlungstheorien,<br />
d.h. ihr theoretisches Primat fokussiere auf das Individuum. Die beiden<br />
Primate beziehen sich deswegen auf zwei unterschiedliche Ebenen. In der Ökonomie<br />
gebe es e<strong>in</strong> theoretisches, aber ke<strong>in</strong> analytisches Interesse am Individuum. Die Analyse<br />
des Verhaltens von Individuen sei nur Hilfsmittel, um Erklärungen auf der sozialen<br />
Ebene zu erhalten. In der Psychologie dagegen sei der Anspruch e<strong>in</strong> anderer. Hier fokussierten<br />
sowohl die analytischen als auch die theoretischen Ziele der Forschung auf<br />
das Individuum (Abbildung 1). 102<br />
Primat<br />
Diszipl<strong>in</strong><br />
Psychologie<br />
Ökonomie/Soziologie<br />
Analytisches Primat<br />
Individuum<br />
Soziales System<br />
Theoretisches Primat<br />
Individuum 1 Individuum 2<br />
Abbildung 1: Unterschiedliche Schwerpunkte der Psychologie <strong>und</strong> der<br />
Ökonomie/Soziologie<br />
Quelle (ähnlich): L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 736.<br />
Gehe man davon aus, dass das <strong>in</strong>haltliche Primat <strong>in</strong> beiden Fällen unterschiedlich ist,<br />
würden unterschiedliche Anforderungen an die Individualtheorien der Psychologie auf<br />
der e<strong>in</strong>en Seite <strong>und</strong> an die Sozialtheorien der Ökonomie <strong>und</strong> Soziologie auf der anderen<br />
101 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1990), (1991), (1992). Erste Anfänge f<strong>in</strong>den sich bereits bei Lange (1875) <strong>und</strong><br />
Haller (1950), S. 173.<br />
102 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 52 f.; L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 736.<br />
21<br />
21
Seite gestellt. Es gelte, zwei Arten von Theorien zu unterscheiden, die sich mit Individuen<br />
beschäftigen. Diese werden von L<strong>in</strong>denberg <strong>in</strong>dividual 1 -Theorie <strong>und</strong> <strong>in</strong>dividual 2 -<br />
Theorie genannt. 103<br />
Auf Basis dieser Unterscheidung entwickelt L<strong>in</strong>denberg se<strong>in</strong> Konzept der abnehmenden<br />
Abstraktion. Dabei geht es ihm darum, die E<strong>in</strong>fachheit <strong>und</strong> Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit der<br />
ökonomischen Modellbildung möglichst beizubehalten <strong>und</strong> deren Basisannahmen problemspezifisch<br />
mit Brückenannahmen zu verb<strong>in</strong>den. Durch die methodisch reflektierte<br />
E<strong>in</strong>führung von Brückenannahmen könnten psychologische Erkenntnisse adäquat <strong>in</strong> der<br />
Ökonomie berücksichtigt werden. 104 Dies bedeutet für L<strong>in</strong>denberg, die Voraussetzungen<br />
zu erfüllen, die er an e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividual 2 -Theorie stellt: 105 Sie soll (a) wenige Informationen<br />
über jedes Individuum, auf das sie angewendet wird, benötigen. Sie muss es (b) erlauben,<br />
<strong>in</strong>stitutionelle <strong>und</strong> soziale Strukturbed<strong>in</strong>gungen als das Handeln bestimmende<br />
Zwischenziele <strong>und</strong> Zwänge von Handlungen zu def<strong>in</strong>ieren. Sie muss es (c) ermöglichen,<br />
dass psychologische (<strong>und</strong> dar<strong>in</strong> enthalten physiologische) Theorien ihre Annahmen<br />
bee<strong>in</strong>flussen. Sie muss es (d) ermöglichen, den Grad der Vere<strong>in</strong>fachung explizit auszudrücken.<br />
So muss es möglich se<strong>in</strong>, vere<strong>in</strong>fachte Annahmen derart e<strong>in</strong>zuführen, dass<br />
diese durch komplexere ersetzt werden können, sobald das vorliegende Wissen zunimmt.<br />
Sie muss (e) als Theorie formuliert werden, die menschliches Verhalten im<br />
Aggregat erklären kann.<br />
L<strong>in</strong>denberg nennt Bauste<strong>in</strong>e, die die Methode der abnehmenden Abstraktion kennzeichnen.<br />
Ihm geht es (i) darum, die Abstraktion bewusst als Entproblematisierung realer<br />
Phänomene zu verstehen. Diese Vere<strong>in</strong>fachung sollte nur dann, wenn erforderlich, aufgegeben<br />
werden. Er greift (ii) auf die auch <strong>in</strong> der klassischen Ökonomie zentrale Annahme<br />
e<strong>in</strong>es nutzenmaximierenden <strong>in</strong>dividuellen Akteurs zurück <strong>und</strong> verb<strong>in</strong>det diese<br />
mit Brückenannahmen. Er trifft (iii) Vorentscheidungen zum Akteur <strong>und</strong> zu Messmodellen.<br />
106 Im E<strong>in</strong>zelnen ist darunter folgendes zu verstehen:<br />
ad (i): In Bezug auf die Funktion der Abstraktion greift L<strong>in</strong>denberg auf die im Modellbau<br />
prom<strong>in</strong>ente Maxime „So e<strong>in</strong>fach wie möglich, so komplex wie nötig!“ zurück.<br />
Schwierige Aspekte sollten zuerst e<strong>in</strong>mal entproblematisiert werden: Annahmen s<strong>in</strong>d so<br />
zu wählen, dass für die Ableitung von Vorhersagen möglichst wenige zusätzliche An-<br />
103 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 52 f., L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 736.<br />
104 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 49 ff. Vgl. zur Adäquanz der Integration Abschnitt 4 dieses Beitrags.<br />
105 Vgl. auch zur Begründung der Anforderungen L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 737 ff.<br />
22<br />
22
nahmen gebraucht werden. 107 Durch die Reduktion des Grades der Abstraktion geht<br />
e<strong>in</strong>e schrittweise Problematisierung e<strong>in</strong>her. Diese habe das Ziel, „die Theorie realistischer<br />
zu machen“. 108 Dies erfolgt durch e<strong>in</strong> schrittweises Treffen zusätzlicher Annahmen.<br />
Mit dem H<strong>in</strong>zufügen von Zusatzannahmen gehe jedoch die Gefahr von zunehmender<br />
Komplexität <strong>und</strong> Qualitätsverlusten <strong>in</strong> der Analyse e<strong>in</strong>her: „Je größer die Unsicherheit<br />
über die benötigten Zusatzannahmen, die durch e<strong>in</strong>e Annahme verursacht wird,<br />
desto schlechter ist die Qualität der Problematisierungen.“ 109<br />
Um die Unsicherheit bezüglich der Zusatzannahmen so ger<strong>in</strong>g wie möglich zu halten,<br />
ist, so L<strong>in</strong>denberg, e<strong>in</strong>e Heuristik erforderlich. Dafür habe sich der methodologische Individualismus<br />
bewährt. Die Heuristik dürfe bei zunehmender Problematisierung nicht<br />
verloren gehen. Diesem Anspruch sei dadurch zu begegnen, dass die Handlungstheorie<br />
von den Annahmen getrennt werde, die <strong>in</strong> der abnehmenden Abstraktion geändert werden.<br />
Dies führt zu e<strong>in</strong>er Unterscheidung zwischen e<strong>in</strong>er Kerntheorie (der Handlungstheorie)<br />
<strong>und</strong> den Brückenannahmen, die erforderlich s<strong>in</strong>d, um Prognosen aus dieser<br />
Kerntheorie abzuleiten. 110 E<strong>in</strong>e Handlungstheorie sei umso mehr zur Erklärung von<br />
Phänomenen auf e<strong>in</strong>em kollektiven Niveau geeignet,“ je mehr sie es möglich macht,<br />
daß ihre Brückenannahmen entproblematisiert <strong>und</strong> auch wieder problematisiert werden<br />
können.“ 111 Dies gelte sowohl für strukturelle Brückenannahmen (wie die über Gew<strong>in</strong>nmaximierung),<br />
als auch für kognitive Brückenannahmen, wie z.B. über die Kapazität<br />
der Informationsverarbeitung. Aus diesem Gr<strong>und</strong> müsse es die Handlungstheorie „zulassen,<br />
Brückenannahmen auch mehr oder weniger zu ‚psychologisieren’“ 112 .<br />
ad (ii): Die bewährte Heuristik für die Beschreibung allgeme<strong>in</strong>er Hauptaspekte von<br />
sozialen Situationen stellt auch für L<strong>in</strong>denberg die Annahme des nutzenmaximierenden<br />
<strong>in</strong>dividuellen Akteurs dar. Dieser wird von L<strong>in</strong>denberg als RREEMM (Resourceful,<br />
106 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 49 ff.<br />
107 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 49.<br />
108 L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 49.<br />
109 L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 50.<br />
110 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 51.<br />
111 L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 54.<br />
112 L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 54. Klassische, aus der Psychologie entnommene <strong>in</strong>dividual 1 -Theorien würden<br />
die beschriebenen Anforderungen nicht erfüllen. E<strong>in</strong>e auf die Bedürfnisse der abnehmenden Abstraktion<br />
zugeschnittene <strong>in</strong>dividual 2 -Theorie ließe sich als „das Gerippe e<strong>in</strong>er Theorie zielgerichteten<br />
Handelns, deren Muskeln <strong>und</strong> Fleisch durch Brückenannahmen angesetzt werden“ (ebd.), beschreiben.<br />
23<br />
23
Restricted, Evaluat<strong>in</strong>g, Expect<strong>in</strong>g, Maximiz<strong>in</strong>g Man) bezeichnet. 113 Die Annahme, dass<br />
sich der Akteur ‚resourceful’ verhalte, impliziere, dass dieser aktiv <strong>und</strong> <strong>in</strong>telligent nach<br />
Möglichkeiten, se<strong>in</strong>e Ziele zu verwirklichen, suche. Das ‚restricted’ bedeute, dass der<br />
Akteur aufgr<strong>und</strong> knapper Güter nur beschränkte Wahlmöglichkeiten habe. Durch das<br />
‚evaluat<strong>in</strong>g’ werde deutlich, dass der Akteur frühere, aktuelle <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Zukunft liegende<br />
Zustände <strong>und</strong> Geschehnisse bewerte. Letztere werden von dem Akteur mit e<strong>in</strong>er bestimmten<br />
Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit antizipiert. Der Akteur versuche, aus se<strong>in</strong>en beschränkten<br />
Möglichkeiten das Beste zu machen. Zu jeder der Annahmen müssten Brückenannahmen<br />
getroffen werden, damit die Theorie angewendet werden könne. E<strong>in</strong>e zunehmende<br />
Realitätsnähe der Brückennahmen habe e<strong>in</strong>e zunehmende Anzahl an Zusatzannahmen<br />
<strong>und</strong> eventuell auch e<strong>in</strong>e höhere Unsicherheit über die Zusatzannahmen zur Folge. 114<br />
ad (iii): Als Heuristiken für Brückenannahmen empfiehlt L<strong>in</strong>denberg e<strong>in</strong>e Fokussierung<br />
auf Präferenzen <strong>und</strong> Kognitionen. In Bezug auf kognitive Beschränkungen entstehe<br />
ohne ausgearbeitete Heuristik e<strong>in</strong>e hohe Unsicherheit über Zusatzannahmen. Die Annahmen<br />
der Psychologie könnten nicht e<strong>in</strong>fach übernommen werden, da sonst e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividual<br />
2 -Theorie nur durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividual 1 -Theorie ersetzt werde. Erforderlich sei dagegen<br />
e<strong>in</strong>e Theorie, „die uns angibt, wie wir e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuell 2 -Theorie auch <strong>in</strong> bezug auf<br />
kognitive Restriktionen (d.h. <strong>in</strong> bezug auf die Def<strong>in</strong>ition der Situation) realistischer machen<br />
können.“ 115<br />
4.7 Überblick über die Strategien zur Integration psychologischer Erkenntnisse <strong>in</strong><br />
die ökonomische Theorie<br />
Die folgende Abbildung 2 fasst die fünf Strategien zur Integration psychologischer Erkenntnisse<br />
nochmals zusammen. Ihre Leistungsfähigkeit für die Problemstellung dieser<br />
Arbeit wird im folgenden Abschnitt bewertet.<br />
113 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 55; L<strong>in</strong>denberg (1990), S. 739, mit Verweisen auf Meckl<strong>in</strong>g (1976) <strong>und</strong><br />
L<strong>in</strong>denberg (1983).<br />
114 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 55 f.<br />
115 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 60.<br />
24<br />
24
Konzept <strong>und</strong> Autor Idee Annahmen<br />
Ökonomischer Imperialismus<br />
(G.S. Becker)<br />
Dom<strong>in</strong>anz des ökonomischen<br />
Ansatzes für sozialwissenschaftliche<br />
Fragestellungen<br />
Ke<strong>in</strong>e eigentliche Integration<br />
psychologischer Annahmen<br />
Beibehaltung der Annahmen des<br />
ökonomischen Verhaltensmodells<br />
Psychologisierung der<br />
Verhaltensannahmen<br />
(H. Simon)<br />
Dom<strong>in</strong>anz psychologischer<br />
Annahmen für Beschreibung des<br />
Entscheidungsverhaltens von<br />
Individuen<br />
Fokus auf empirische Analyse, um<br />
Integration zu konkretisieren<br />
Weitgehende Übernahme<br />
psychologischer Annahmen<br />
notwendig <strong>und</strong> s<strong>in</strong>nvoll<br />
Sequenzverfahren<br />
(B.S. Frey)<br />
Paralleldiskurs<br />
(K. Homann)<br />
Zweiteilung des Entscheidungsprozesses<br />
<strong>in</strong> Alternativengenerierung<br />
<strong>und</strong><br />
Entscheidung<br />
Dom<strong>in</strong>anz e<strong>in</strong>er Forschungslogik,<br />
um unreflektiertes Vorgehen zu<br />
vermeiden<br />
Dom<strong>in</strong>anz psychologischer<br />
Annahmen <strong>in</strong> Alternativengenierung<br />
Dom<strong>in</strong>anz ökonomischer<br />
Annahmen <strong>in</strong> Entscheidung<br />
(implizit:) Übersetzung<br />
psychologischer oder ethischer<br />
Annahmen <strong>in</strong> Sprache <strong>und</strong> Logik<br />
der Ökonomie<br />
Methode der abnehmenden<br />
Abstraktion<br />
(S. L<strong>in</strong>denberg)<br />
Unterscheidung analytisches <strong>und</strong><br />
theoretisches Primat der<br />
ökonomischen Forschung<br />
Basis- <strong>und</strong> Brückenannahmen für<br />
schrittweise Erweiterung des<br />
ökonomischen Ansatzes<br />
Ökonomische Annahmen als<br />
Basis<br />
Schrittweise problemspezifische<br />
Erweiterung des RREEMM<br />
Abbildung 2: Strategien zur Integration <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer Erkenntnisse <strong>in</strong> die Ökonomie<br />
5 Problemspezifische Bewertung der Strategien zur E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer<br />
Erkenntnisse <strong>in</strong> die ökonomische Theorie<br />
Die fünf Strategien zur Integration <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer Erkenntnisse <strong>in</strong> die ökonomische<br />
Theorie gilt es im Folgenden im H<strong>in</strong>blick auf die <strong>in</strong> dieser Arbeit anvisierte Problemstellung<br />
auf ihre Adäquanz zu bewerten. Als Adäquanzkriterium soll e<strong>in</strong>erseits gelten,<br />
dass die Integrationstrategien e<strong>in</strong>e Berücksichtigung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse<br />
ermöglichen, die zu e<strong>in</strong>er realistischeren Erklärung empirisch zu beobachtender<br />
Controll<strong>in</strong>g-Phänomene führt. Andererseits soll das auszuwählende Verfahren den<br />
Anforderungen an e<strong>in</strong>e methodologisch reflektierte Theoriebildung genügen. 116 Dabei<br />
116 Vgl. Abschnitt 4 dieses Beitrags.<br />
25<br />
25
ist u.a. darauf zu achten, dass die Vorteile der ökonomischen Analyse (v.a. ihre e<strong>in</strong>fachen,<br />
systematischen Annahmen) als bewährte Theorie so gut es geht weiterh<strong>in</strong> genutzt<br />
werden können.<br />
(1) Imperialismus: Interpretiert man die spezifische Problemstruktur der ökonomischen<br />
Methode als „bestimmt durch zugleich geme<strong>in</strong>same <strong>und</strong> konfligierende Interessen der<br />
Interaktionspartner <strong>und</strong> die daraus folgenden Anreizstrukturen“ 117 <strong>und</strong> leitet man daraus<br />
e<strong>in</strong> Verständnis von Ökonomie als Wissenschaft ab, die sich „mit der Erklärung <strong>und</strong><br />
Gestaltung der Resultate von Interaktionen <strong>in</strong> Dilemmastrukturen“ 118 befasst, ermöglicht<br />
dies zwar gr<strong>und</strong>sätzlich, Sachverhalte nicht nur zu erklären, sondern auch Gestaltungsempfehlungen<br />
zu geben. 119 Um dieses Ziel zu erreichen, s<strong>in</strong>d die strengen ökonomischen<br />
Annahmen konsequent e<strong>in</strong>zuhalten, vor allem diejenigen, dass sich alle beteiligten<br />
Akteure rational verhalten <strong>und</strong> auf stabile Präferenzen zurückgreifen. 120<br />
E<strong>in</strong>e solche Fokussierung impliziert aber auch, dass die ökonomische Methode nur die<br />
aggregierten Resultate bestimmter Interaktionen erklären <strong>und</strong> dafür realistische Gestaltungsempfehlungen<br />
geben kann: „Typischerweise geht es um D<strong>in</strong>ge wie Inflationsrate,<br />
Krim<strong>in</strong>alitätsrate, Scheidungsrate, <strong>und</strong> (...) nicht um das Niveau solcher Raten, sondern<br />
um deren Veränderung <strong>in</strong> Abhängigkeit von Veränderungen <strong>in</strong> den Handlungsbed<strong>in</strong>gungen,<br />
den Restriktionen.“ 121 Die Vielzahl der mit Hilfe der Psychologie identifizierten<br />
Verhaltensanomalien von Individuen kann sie jedoch nicht erklären. E<strong>in</strong><br />
Rückgriff auf die Kosten-Nutzenaspekte e<strong>in</strong>er Situation würde den mentalen Restriktionen<br />
<strong>und</strong> vor allem den Widersprüchen, denen Individuen ausgesetzt s<strong>in</strong>d, zu wenig Aufmerksamkeit<br />
schenken. Gerade letztere hält McFadden jedoch für so bedeutsam, dass es<br />
e<strong>in</strong>er bewussten Integration dieser Phänomene <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Konzept zur Erklärung menschlicher<br />
Entscheidungen bedürfe. 122 Die neoklassische Rationalitätsannahme verschließt<br />
sich somit – auch wenn dies durch e<strong>in</strong>e Integration von Annahmen möglich wäre –<br />
weitgehend der systematischen Thematisierung von „Könnensdefiziten“. In E<strong>in</strong>klang<br />
mit McFadden ersche<strong>in</strong>t der ökonomische Ansatz im S<strong>in</strong>ne Beckers zur Erklärung von<br />
Verhalten von Individuen auf Märkten somit zwar weiterh<strong>in</strong> zweckmäßig. Wenn es um<br />
117 Homann (2002c), S. 118. Hervorhebungen im Orig<strong>in</strong>al getilgt.<br />
118 Homann (2002c), S. 118.<br />
119 Vgl. Homann (2002c), S. 118.<br />
120 Vgl. Becker (1982a), S. 6, der von e<strong>in</strong>er fast „fast tautologischen Art“ spricht.<br />
121 Homann (2002c), S. 119.<br />
122 Vgl. McFadden (1999), S. 74. Staw (1991), S. 815, beschreibt zudem, wie psychologische Prozesse<br />
26<br />
26
das Entscheidungsverhalten von Individuen <strong>in</strong> Organisationen geht, wird die Auflösung<br />
des „Sche<strong>in</strong>werfers“ 123 , mit dem das Verhalten von Individuen erklärt werden soll, zu<br />
wenig präzise <strong>und</strong> somit nicht problemadäquat e<strong>in</strong>gestellt. Deswegen ist der ökonomische<br />
Imperialismus für die <strong>in</strong> dieser Arbeit adressierte Thematik, die auf e<strong>in</strong>e stärkere<br />
Berücksichtigung kognitiver Begrenzungen bei der Analyse des Entscheidungsverhaltens<br />
von Akteuren im Organisationskontext abstellt, nicht geeignet.<br />
(2) Psychologisierung der Rationalitätsannahmen: Simon hat mit der E<strong>in</strong>führung des<br />
Konstrukts der beschränkten Rationalität von Entscheidern e<strong>in</strong>en wesentlichen Beitrag<br />
zur Weiterentwicklung der ökonomischen Theorie geleistet. Die Annahme der beschränkten<br />
Rationalität wird <strong>in</strong>zwischen auch <strong>in</strong> ökonomischen Theorien verwendet. 124<br />
Dennoch ist die Forschung von Simon auch kritisiert worden, vor allem aus methodischen<br />
Gesichtspunkten. E<strong>in</strong>e Hauptkritik gegen das Postulat e<strong>in</strong>er möglichst <strong>in</strong>tensiven<br />
Berücksichtigung psychologischer Aspekte im ökonomischen Ansatz lautet, dass sich<br />
die verhaltenswissenschaftliche Forschung mit anderen Problemen als die Ökonomie<br />
beschäftige. Das bedeute zwar nicht, dass z.B. die Wahrnehmungspsychologie <strong>und</strong> die<br />
E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong> die begrenzte Verarbeitungskapazität von Menschen für die Ökonomie<br />
ke<strong>in</strong>e Bedeutung hätten. So fokussiere auch die Ökonomie auf wahrgenommene <strong>und</strong><br />
verarbeitete Situationen. Doch dies rechtfertige nur e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>strumentelle Verwendung<br />
psychologischer Erkenntnisse im Rahmen e<strong>in</strong>es streng ökonomischen Ansatzes. 125 E<strong>in</strong>e<br />
völlige Infragestellung der klassischen Annahmen als konzeptionelle Gr<strong>und</strong>lage ökonomischer<br />
Forschung <strong>und</strong> das von Simon <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en Anhängern mehr oder weniger<br />
deutlich verfolgte Vorhaben, die Psychologie zur theoretischen Basis ökonomischer<br />
Forschung zu machen, bleibt dagegen jedoch häufig „theoretisch unfruchtbar“. 126 Die<br />
Aufgabe der Annahme der objektiven Rationalität durch die H<strong>in</strong>zunahme psychologischer<br />
Theorien impliziert „die Gefahr des Vorwurfs e<strong>in</strong>es theorielosen Eklektizismus<br />
(...), der positive <strong>und</strong> normative Versatzstücke <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bunten Flickenteppich zusammenwebt“<br />
127 .<br />
Der Vorwurf Homanns wird von L<strong>in</strong>denberg bekräftigt: Dieser räumt zwar e<strong>in</strong>, dass die<br />
nicht nur das Verhalten e<strong>in</strong>zelner Akteure, sondern das gesamter Organisationen bee<strong>in</strong>flussen.<br />
123 Vgl. zur Sche<strong>in</strong>werfertheorie Popper (1998), S. 359 f.<br />
124 Vgl. Homann/Suchanek (2000), S. 416.<br />
125 Vgl. Homann (2002c), S. 121.<br />
126 Homann (2002c), S. 121.<br />
127 Homann (2002c), S. 128.<br />
27<br />
27
Qualität von Erklärungen verbessert werden könnte, wenn Verhaltensanomalien <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Theorie <strong>in</strong>tegriert werden. Doch wenn Verhaltensökonomen vorschlagen, die unrealistische<br />
Nutzentheorie durch e<strong>in</strong>e realistischere psychologische Forschung zu ersetzen, vernachlässigten<br />
sie die Bed<strong>in</strong>gungen für e<strong>in</strong>e theoriegeleitete Forschung. So bräuchten<br />
zahlreiche psychologische Theorien zu viele Informationen, um e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zelnen Akteur<br />
zu beschreiben (z.B. die Lerntheorie). Je mehr Informationen e<strong>in</strong>e Theorie für die Beschreibung<br />
e<strong>in</strong>es Akteurs benötige, desto unwahrsche<strong>in</strong>licher sei es, dass diese für die<br />
Erklärung großer Aggregate genutzt werden könne. 128 Weil die Primate (analytisches<br />
bzw. theoretisches Primat) <strong>in</strong> der Ökonomik auf verschiedenen Ebenen liegen (soziales<br />
System bzw. Individuum), müsse e<strong>in</strong>e Handlungstheorie die simultane Aufmerksamkeit<br />
auf diese beiden Ebenen erlauben. Dies erfordere e<strong>in</strong>en Ansatz, der sich erheblich von<br />
der Psychologie unterscheide. 129<br />
Die Kritik Homanns <strong>und</strong> L<strong>in</strong>denbergs behält auch bei Betrachtung der jüngsten Arbeiten<br />
Simons ihr Gewicht. So äußert sich Simon gar nicht oder nur unklar zur methodologischen<br />
Verb<strong>in</strong>dung zwischen ökonomischen <strong>und</strong> beispielsweise psychologischen<br />
Theorien. Der Anspruch an Theorien, dass diese abstrakt <strong>und</strong> „knapp“ an<br />
Annahmen se<strong>in</strong> müssen, um allgeme<strong>in</strong>gültige Erklärungen von ausreichender Prägnanz<br />
geben zu können, relativiert er <strong>und</strong> verlangt e<strong>in</strong> hohes Maß an Detailliertheit: “If we are<br />
managers, or if we are giv<strong>in</strong>g advice to managers, we need a theory of firms that encompasses<br />
a great deal of detail about their operation. And it must be a theory that describes<br />
realistically, not an “as if” theory. In both its descriptive and its normative aspects, it<br />
must describe, and prescribe for, the decision mak<strong>in</strong>g process of managers with close<br />
attention to the k<strong>in</strong>ds of knowledge that are atta<strong>in</strong>able and the k<strong>in</strong>ds of computations<br />
that can actually be carried out.” 130<br />
Für die Nutzung der Integrationsvorschläge lässt sich somit Folgendes festhalten: Zwar<br />
bietet Simon wichtige Anregungen für e<strong>in</strong>e Fokussierung der ökonomischen Theoriebildung<br />
auf die Begrenzungen menschlicher Kognition, doch es s<strong>in</strong>d von ihm wenige oder<br />
gar ke<strong>in</strong>e methodologischen H<strong>in</strong>weise zu erwarten, wie psychologische Erkenntnisse <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>e ökonomische Theoriebildung reflektiert <strong>in</strong>tegriert werden können. Deswegen ist<br />
das von Simon et al. postulierte Vorgehen im Controll<strong>in</strong>gkontext wenig zweckmäßig.<br />
128 Dies lasse sich auf die e<strong>in</strong>fache Begründung zurückführen, dass die notwendigen Informationen<br />
schwerer beschafft werden könnten.<br />
129 Vgl. L<strong>in</strong>denberg (1991), S. 53 ff., <strong>und</strong> (1990), S. 737 ff.<br />
130 Simon (1997), S. 63.<br />
28<br />
28
(3) Sequenzverfahren: Probleme bei der Anwendung des Sequenzverfahrens entstehen<br />
dadurch, dass die Schnittstellen zwischen den unterschiedlichen Diszipl<strong>in</strong>en nicht e<strong>in</strong>deutig<br />
geklärt s<strong>in</strong>d. So kritisieren Osterloh <strong>und</strong> Grand, dass beim Sequenzverfahren offen<br />
bleibe, „wie die verschiedenen diszipl<strong>in</strong>ären Schwerpunkte methodisch zue<strong>in</strong>ander<br />
stehen.“ 131 Auch Homann steht e<strong>in</strong>em solchen Vorgehen kritisch gegenüber. Nach der<br />
Methodologie des kritischen Rationalismus sei e<strong>in</strong> solches Vorgehen „als zu wenig theoretisch<br />
[zu] qualifizieren.“ 132 Trotz mancher Berührungspunkte werden verschiedene<br />
Forschungslogiken der e<strong>in</strong>zelnen Diszipl<strong>in</strong>en zu wenig reflektiert mite<strong>in</strong>ander vermischt.<br />
Das Sequenzverfahren ersche<strong>in</strong>t für die Problemstellung dieser Arbeit auch deswegen<br />
als wenig geeignet, weil es die phasenübergreifende Verwobenheit der verschiedenen<br />
Erklärungen aus Ökonomie <strong>und</strong> Psychologie 133 – e<strong>in</strong> Entscheidungsprozess lässt sich<br />
nicht <strong>in</strong> separierbare Teilphasen schneiden, die unabhängig vone<strong>in</strong>ander ablaufen – ausblendet.<br />
H<strong>in</strong>zu kommt, dass Verhaltensanomalien sowohl im Rahmen der Alternativengenerierung,<br />
als auch im Rahmen der eigentlichen Entscheidung empirisch festzustellen<br />
s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> Verzicht auf den Erklärungsbeitrag der Verhaltenswissenschaften <strong>in</strong> der Entscheidungsphase,<br />
wie dies von Frey postuliert wird, ersche<strong>in</strong>t daher wenig zweckmäßig.<br />
(4) Paralleldiskurs: Homann weist darauf h<strong>in</strong>, dass sich Moralvorstellungen als Verkürzungen<br />
ökonomischer Kalküle erklären lassen. 134 Überträgt man diese Überlegung auf<br />
das Verhältnis Psychologie-Ökonomie, so lassen sich dabei durchaus Parallelen ableiten:<br />
Anomalien können als „Verkürzungen“ ökonomischer Kalküle rekonstruiert werden.<br />
So kann beispielsweise der <strong>in</strong> der experimentellen Forschung festgestellte Fram<strong>in</strong>geffekt<br />
als kostengünstige Abkürzung der Informationssuche durch menschliche<br />
Akteure <strong>in</strong>terpretiert werden. 135 Fram<strong>in</strong>g kann dazu beitragen, Transaktionskosten bei<br />
Entscheidungen zu sparen. Dadurch können Entscheidungsprozesse verkürzt <strong>und</strong> vere<strong>in</strong>facht<br />
werden.<br />
Im Kontext von Controll<strong>in</strong>gfragestellungen ist e<strong>in</strong>e ökonomische „Rekonstruktion“ des<br />
Fram<strong>in</strong>geffekts jedoch wenig zweckmäßig. So kann e<strong>in</strong>e Orientierung der Manager an<br />
131 Osterloh/Grand (1995), S. 14.<br />
132 Homann (2002b), S. 73.<br />
133 Vgl. dazu im Kontext des Arbeitsverhaltens Jost (2000), S. 73 ff.<br />
134 Homann (1999), S. 7, spricht von e<strong>in</strong>er „Abbreviatur von langen ökonomischen Überlegungen“; vgl.<br />
ähnlich Hirsch (2002), S. 65.<br />
135 Vgl. zum Fram<strong>in</strong>g z.B. Tversky/Kahneman (1981).<br />
29<br />
29
vergangenen Entscheidungen aus deren <strong>in</strong>dividueller Perspektive durchaus s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong><br />
− sie sparen ‚<strong>in</strong>terne’ Suchkosten durch die Reduzierung von Komplexität − jedoch erweist<br />
sich e<strong>in</strong> solches Verhalten im Interaktionskontext Controller − Manager aus Gesamtunternehmens<strong>in</strong>teresse<br />
als unerwünscht: Weil die geframten Entscheidungen e<strong>in</strong>zelner<br />
Manager weitreichende (negative) Konsequenzen <strong>in</strong> Bezug auf die Performance<br />
des Unternehmens haben, wird <strong>in</strong> der Unternehmenspraxis bewusst nach Kontroll- <strong>und</strong><br />
Steuerungsmechanismen gesucht, die das ‚Fehlverhalten’ der Manager reduzieren sollen.<br />
E<strong>in</strong>e <strong>in</strong> e<strong>in</strong> ökonomisches Kalkül übersetzte Plausibilisierung e<strong>in</strong>es solchen Fehlverhaltens<br />
ersche<strong>in</strong>t kontraproduktiv, da die Unternehmen geframte Entscheidungen<br />
vermeiden wollen.<br />
Neben dieser <strong>in</strong>haltlichen Kritik am Paralleldiskurs s<strong>in</strong>d es vor allem methodologische<br />
Überlegungen, die e<strong>in</strong>e Verwendung des Paralleldiskurses zur Entwicklung e<strong>in</strong>er verhaltensorientierten<br />
Controll<strong>in</strong>gtheorie als nur bed<strong>in</strong>gt zweckmäßig ersche<strong>in</strong>en lassen.<br />
Osterloh/Grand konstatieren, dass es sich beim von Homann postulierten Paralleldiskurs<br />
nicht um e<strong>in</strong> gleichberechtigtes Zusammenwirken verschiedener Diszipl<strong>in</strong>en handle.<br />
Zwar gehe es im ersten Schritt um e<strong>in</strong>e konsequente Ausformulierung e<strong>in</strong>zelner Modelle<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em parallelen, vone<strong>in</strong>ander erst e<strong>in</strong>mal unabhängigen Diskurs. Die Crux bestünde<br />
jedoch <strong>in</strong> dem sich anschließenden Versuch der Übersetzung, z.B. von ethischen<br />
oder psychologischen Term<strong>in</strong>i <strong>in</strong> die Sprache der Ökonomik <strong>und</strong> umgekehrt. Wie diese<br />
Übersetzung zu geschehen habe, dafür werde ebenso wenig Hilfestellung gegeben wie<br />
bei der Frage, „wie die verschiedenen diszipl<strong>in</strong>ären Heuristiken bei der Lösung praktischer<br />
Probleme <strong>in</strong>tegriert werden sollen“ 136 .<br />
Die für diesen Beitrag besonders relevante Kritik geht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e etwas andere Richtung:<br />
Zwar ersche<strong>in</strong>t es uns aus Gründen der Arbeitsteilung durchaus vernünftig, Anomalien<br />
im Entscheidungsverhalten von Individuen durch die psychologische Forschung zu<br />
identifizieren. Jedoch ersche<strong>in</strong>t es aus Gründen der Erklärungskraft, die mit e<strong>in</strong>em<br />
erweiterten, realitätsnäheren ökonomischen Modell erzielt werden soll, zweckmäßig,<br />
diese Phänomene für die spezifische Problemstellung (der Zuweisung der<br />
Rationalitätssicherungsaufgabe an Controller) stärker als Homann es vorschlägt <strong>in</strong> das<br />
Forschungsmodell zu <strong>in</strong>tegrieren. Homanns These, „Für die re<strong>in</strong> positive Abschätzung<br />
der aggregierten Folgen menschlichen Handelns <strong>in</strong> (...) universalen asymmetrischen<br />
Interaktionsstrukturen ist der homo oeconomicus das unübertroffene <strong>und</strong> unverzichtbare<br />
136 Osterloh/Grand (1995), S. 13.<br />
30<br />
30
Analyse<strong>in</strong>strument“ 137 , ist deswegen aufgr<strong>und</strong> der hohen systematischen Bedeutung von<br />
Verhaltensanomalien als zu wenig fe<strong>in</strong> <strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>seitig justiert. Weil sich Homann mit<br />
(zu) wenigen, aber dafür klaren Verhaltensannahmen aus der Welt der Ökonomie zufrieden<br />
gibt, verzichtet er e<strong>in</strong>erseits auf konkretere H<strong>in</strong>weise, wie kognitive Begrenzungen<br />
der Akteure <strong>in</strong> die ökonomische Argumentationslogik e<strong>in</strong>gebaut werden können.<br />
Andererseits kann er durch die zum<strong>in</strong>dest implizit vorgenommene problemspezifisch zu<br />
starke Priorisierung der ökonomischen Verhaltensannahmen gegenüber Annahmen der<br />
Psychologie oder Philosophie Erklärungspotentiale, die sich aus e<strong>in</strong>er wirklich <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären<br />
Analyse ergeben, nicht nutzen. E<strong>in</strong>e geschlossene Erklärung komplexer<br />
‚Könnensphänomene’ auf Basis e<strong>in</strong>er reflektierten Verarbeitung beider Theorierichtungen<br />
unterbleibt. Deswegen bleibt Homanns Vorschlag im Kontext dieses Beitrags wenig<br />
fruchtbar.<br />
(5) Methode der abnehmenden Abstraktion: L<strong>in</strong>denberg muss sich aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>es bewussten<br />
Integrationspostulats weder den Vorwurf gefallen lassen, durch die Fokussierung<br />
auf zu enge Verhaltensannahmen (wie beim Imperialismus) relevante Explananda<br />
systematisch auszublenden. Noch besteht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Konzept die Gefahr, dass Schnittstellen<br />
nicht def<strong>in</strong>iert oder Erklärungsmodelle „nebene<strong>in</strong>ander her“ diskutiert werden<br />
(wie beim Sequenzverfahren bzw. Paralleldiskurs). Vielmehr versucht er, den ökonomischen<br />
Erklärungsrahmen <strong>in</strong>takt zu lassen <strong>und</strong> ihn gegebenenfalls durch Erkenntnisse der<br />
Psychologie methodologisch reflektiert zu präzisieren.<br />
Für die Verwendung der Methode der abnehmenden Abstraktion im Rahmen dieser<br />
Arbeit spricht e<strong>in</strong>e Reihe von Argumenten: Durch die Festlegung auf die Ökonomie als<br />
Basistheorie erfolgt e<strong>in</strong>e pragmatische Reduktion der Forschungsperspektive, die e<strong>in</strong>e<br />
hochselektive Forschung ermöglicht. Dabei können die Vorteile der ökonomischen<br />
Methode, die sich aus deren Klarheit <strong>und</strong> E<strong>in</strong>fachheit ergeben, weiterh<strong>in</strong> (so gut wie<br />
möglich) genutzt werden. L<strong>in</strong>denberg hat konkrete Regeln zum Vorgehen der Integration<br />
psychologischer Erkenntnisse <strong>in</strong> das ökonomische Basismodell aufgestellt. Er<br />
schlägt e<strong>in</strong>e schrittweise „Anreicherung“ des ökonomischen Erklärungsmodells mit<br />
psychologischen Annahmen vor. Diese Anreicherung habe sparsam <strong>und</strong> nur dann zu erfolgen,<br />
wenn sie auch <strong>in</strong> Bezug auf das zu erklärende Untersuchungsobjekt notwendig<br />
ersche<strong>in</strong>t. Unreflektiertes eklektisches Vorgehen wird dadurch vermieden. 138 E<strong>in</strong>e<br />
137 Homann (2002a), S. 82. Hervorhebung des Orig<strong>in</strong>als getilgt.<br />
138 Die Vorteile der Methode der abnehmenden Abstraktion betont auch Homann. Vgl. Homann<br />
(2002a), S. 83; Homann (2002c), S. 126: „Selbstverständlich s<strong>in</strong>d entsprechende Erkenntnisse an-<br />
31<br />
31
schrittweise Präzisierung der (kognitiven) Restriktionen von Entscheidern durch die<br />
H<strong>in</strong>zuziehung von Erkenntnissen aus der Psychologie ermöglicht e<strong>in</strong>e ‚fe<strong>in</strong>ere’ Analyse<br />
des Verhaltens von Individuen. Dies trägt der Bedeutung e<strong>in</strong>er realitätsnäheren Berücksichtigung<br />
kognitiver Defizite als Voraussetzung für e<strong>in</strong>e erfolgreiche Steuerung von<br />
Organisationen <strong>in</strong> hohem Maße Rechnung. Der hohe Abstraktionsgrad, auf dem L<strong>in</strong>denberg<br />
Vorschläge zum Integrationsprozess psychologischer Erkenntnisse <strong>in</strong> ökonomische<br />
Modelle macht, ermöglicht e<strong>in</strong>e problemspezifische Erweiterung der ökonomischen<br />
Basistheorie. Beispielsweise gel<strong>in</strong>gt es, Erklärungsmodelle für Problemstellungen im<br />
Controll<strong>in</strong>gkontext, der durch die Besonderheit der Interaktionsbeziehung Manager (als<br />
Entscheider) <strong>und</strong> (Zentral-)Controller (u.a. als Bereitsteller von Informationen <strong>und</strong> beauftragter<br />
‚Kontrolleur’ der Bereiche) geprägt ist, anders zu konkretisieren als Erklärungsmodelle,<br />
die zur Erklärung von Verhaltensanomalien im K<strong>und</strong>enverhalten verwendet<br />
werden.<br />
Es zeigt sich, dass sich von den fünf diskutierten Integrationsstrategien nur der Ansatz<br />
von L<strong>in</strong>denberg als für die Problemstellung am zweckmäßigsten erweist. Dieser Ansatz<br />
versucht im Gegensatz zu den anderen Ansätzen die (situationsspezifisch) ‚richtige Balance’<br />
zwischen den unterschiedlichen Diszipl<strong>in</strong>en Ökonomie <strong>und</strong> Psychologie zu f<strong>in</strong>den.<br />
Gel<strong>in</strong>gt dies, können die Vorteile der beiden Diszipl<strong>in</strong>en produktiv genutzt werden.<br />
6 Zusammenfassung <strong>und</strong> weiterer Forschungsbedarf<br />
Weber <strong>und</strong> Schäffer arbeiten zwar e<strong>in</strong>e hohe konzeptionelle Bedeutung kognitiver Beschränkungen<br />
von Managern als Gr<strong>und</strong> für den Rationalitätssicherungsbedarf der Führung<br />
heraus, doch auch sie geben ke<strong>in</strong>e methodologischen Empfehlungen zur E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />
psychologischer Erkenntnisse <strong>in</strong> die ökonomische Theorie. Gel<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung<br />
der Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e ökonomisch f<strong>und</strong>ierte Controll<strong>in</strong>g-Konzeption,<br />
so ist mit e<strong>in</strong>em Erkenntnisfortschritt im S<strong>in</strong>ne realitätsnäherer Erklärungen<br />
von kognitiven Manager-Begrenzungen zu erwarten. Daraus können Gestaltungsempfehlungen<br />
für Controller als Rationalitätssicherer der Manager abgeleitet werden.<br />
Dies macht die Notwendigkeit der Heranziehung von Integrationsvorschlägen erforderderer<br />
Wissenschaften [<strong>in</strong> der Ökonomik, d.Verf.] zu berücksichtigen, aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
strengen ökonomischen Forschungsansatz, <strong>in</strong> dem sie dann den Restriktionen zugeschlagen werden<br />
müssen. Erkenntnisse anderer Wissenschaften werden gemäß der „Methode der abnehmenden Abstraktion“<br />
verwendet, aber im Rahmen e<strong>in</strong>es ökonomischen Problemaufrisses.“<br />
32<br />
32
lich. Mit dem ökonomischen Imperialismus, der Psychologisierung der Rationalitätsannahmen,<br />
dem Sequenzverfahren, dem Paralleldiskurs <strong>und</strong> der Methode der abnehmenden<br />
Abstraktion werden <strong>in</strong> der Literatur fünf Integrationsverfahren angeboten. Der ökonomische<br />
Imperialismus <strong>und</strong> die Psychologisierung der Rationalitätsannahmen s<strong>in</strong>d<br />
deswegen abzulehnen, weil sie für Fragestellungen, <strong>in</strong> denen kognitive Begrenzungen<br />
von Akteuren im Interaktionskontext e<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielen, e<strong>in</strong>e zu e<strong>in</strong>seitige Betonung<br />
e<strong>in</strong>er Forschungsdiszipl<strong>in</strong> postulieren. Die im Sequenzverfahren vorgeschlagene<br />
Zweiteilung e<strong>in</strong>es Entscheidungsprozesses <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Alternativengenerierung <strong>und</strong> <strong>in</strong> die<br />
eigentliche Entscheidung <strong>und</strong> die sich anschließende phasenweise Zuweisung der Verwendung<br />
unterschiedlicher Diszipl<strong>in</strong>en ist mit Abgrenzungsproblemen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Kritik<br />
an der Wissenschaftlichkeit dieses Vorgehens verb<strong>und</strong>en. Als ebenso wenig geeignet<br />
hat sich der Paralleldiskurs erwiesen, der e<strong>in</strong>e Übersetzung psychologischer Erkenntnisse<br />
<strong>in</strong> die ökonomische Theoriewelt fordert. Dadurch können die kognitiven Begrenzungen<br />
von Akteuren nicht mit der nötigen Prom<strong>in</strong>enz erklärt werden.<br />
Die Methode der abnehmenden Abstraktion, die von dem Soziologen L<strong>in</strong>denberg vorgeschlagen<br />
wird, erweist sich für die Problemstellung dieser Arbeit am zweckmäßigsten.<br />
Durch die schrittweise Heranziehung von Brückenannahmen wird es möglich,<br />
Fragestellungen, die sich durch e<strong>in</strong> unterschiedliches Ausmaß an kognitiven Beschränkungen<br />
von Managern auszeichnen, theoretisch reflektiert zu bearbeiten. E<strong>in</strong>e Konkretisierung<br />
dieser Anwendung sollte Gegenstand weiterer Forschungsbemühungen se<strong>in</strong>.<br />
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38<br />
38
Beziehungen zwischen behavioristischer <strong>und</strong><br />
konstruktionsorientierter Forschung <strong>in</strong> der<br />
Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />
Jörg Becker<br />
European Research Center for Information Systems (ERCIS)<br />
Westfälische Wilhelms-Universität Münster<br />
Daniel Pfeiffer<br />
European Research Center for Information Systems (ERCIS)<br />
Westfälische Wilhelms-Universität Münster<br />
Abstract<br />
Ausgangspunkt dieses Beitrags bildet die Frage, welche Auswirkungen die Übernahme der<br />
Unterscheidung zwischen dem behavioristischen <strong>und</strong> dem konstruktionsorientierten<br />
Paradigma nach Hevner et al. für die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik hat. Als Implikationen dieses<br />
Schrittes können zwei Alternativen identifiziert werden: die Beschränkung des<br />
wissenschaftlichen Anspruchs der Diszipl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>erseits oder aber e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche<br />
Neuausrichtung des Fachs andererseits. Dieses Ergebnis motiviert zu e<strong>in</strong>er kritischen Analyse<br />
der behavioristisch / konstruktionsorientiert Dichotomie. Diese Untersuchung wird auf<br />
Gr<strong>und</strong>lage des strukturalistischen Theorieverständnisses durchgeführt. Als Konsequenz ergibt<br />
sich, die strenge Unterscheidung zwischen den beiden Forschungsansätzen aufzugeben. Auf<br />
der Gr<strong>und</strong>lage dieses Ergebnisses wird e<strong>in</strong>e modifizierte Darstellung der beiden Forschungskonzeptionen<br />
entwickelt.<br />
Schlüsselworte: konstruktionsorientiertes <strong>und</strong> behavioristisches Paradigma, Strukturalismus<br />
39
E<strong>in</strong>leitung<br />
Die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik hat <strong>in</strong> den 35 Jahren ihres Bestehens gewaltige <strong>in</strong>formationstechnische<br />
Veränderungen <strong>in</strong> Unternehmen <strong>und</strong> der Verwaltung wissenschaftlich begleitet<br />
<strong>und</strong> mitgeprägt. Bed<strong>in</strong>gt durch die zu bewältigenden Aufgaben hat die Diszipl<strong>in</strong> das Profil<br />
e<strong>in</strong>er praxisorientierten Wissenschaft gewonnen, die sich durch e<strong>in</strong>e große forschungsmethodische<br />
Vielfalt <strong>und</strong> den Reichtum an praktisch verwertbaren Forschungsresultaten<br />
auszeichnet. Der Bedarf an neuen Erkenntnissen, Methoden <strong>und</strong> Werkzeugen seitens der<br />
Wirtschaft machten es jedoch mitunter erforderlich, die theoretische Absicherung der<br />
Forschungsergebnisse zugunsten ihres zügigen praktischen E<strong>in</strong>satzes zurückzustellen (vgl.<br />
Frank (2002), S. 6). Als Reaktion auf diese Entwicklung wurde <strong>in</strong> den letzten 10 Jahren<br />
immer wieder der Versuch unternommen, die gewonnenen Erkenntnisse der<br />
Wirtschafts<strong>in</strong>formatik zu ordnen <strong>und</strong> <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es theoretischen Kerns zu verdichten (vgl.<br />
Greiffenberg (2003); Patig (2001); Zelewski (2003)).<br />
E<strong>in</strong> <strong>in</strong> der wissenschaftlichen Diskussion viel beachteter Vorschlag <strong>in</strong> diesem Kontext stammt<br />
aus dem Bereich der Information Systems Forschung, der Schwesterdiszipl<strong>in</strong> der<br />
Wirtschafts<strong>in</strong>formatik im <strong>in</strong>ternationalen Umfeld. Hevner et al. (2004) entwerfen <strong>in</strong> Ihrem<br />
Artikel e<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Bezugsrahmen zur Untergliederung der Information Systems<br />
Diszipl<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en behavioristischen (Behavioral Science) <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en konstruktionsorientierten<br />
(Design Science) Zweig. Die Aufgabe der behavioristischen Forschung, deren Wurzeln im<br />
naturwissenschaftlichen Bereich liegen, sehen Hevner et al. <strong>in</strong> der Bildung <strong>und</strong> Überprüfung<br />
von Theorien über IT-Artefakte (vgl. March; Smith (1995)). Die Suche <strong>und</strong> empirische<br />
Absicherung von Hypothesen, welche die organisatorischen <strong>und</strong> zwischenmenschlichen<br />
Phänomene der Entwicklung von Informationssystemen erklären oder vorhersagen, s<strong>in</strong>d<br />
Gegenstand dieses Paradigmas. Ziel der behavioristischen Forschung ist die Wahrheitsf<strong>in</strong>dung<br />
anhand der empirischen Angemessenheit von Theorien. Das konstruktionsorientierte<br />
Paradigma orientiert sich h<strong>in</strong>gegen am Vorgehen der Ingenieurwissenschaften <strong>und</strong> hat die<br />
Konstruktion sowie die Bewertung von IT-Artefakten zum Gegenstand. Die IT-Artefakte<br />
umfassen Produkte, die im Kontext der Anlyse, des Entwurfs <strong>und</strong> der Implementierung von<br />
Informationssystemen entstehen bzw. zum E<strong>in</strong>satz kommen. Zu den IT-Artefakten rechnen<br />
Hevner et al. Sprachen, Methoden, Modelle sowie Implementierungen. Tabelle 1 beschreibt<br />
diese IT-Artefakte näher. Ziel der konstruktionsorientierten Forschung ist es, für die<br />
Wissenschaft bzw. die Praxis nützliche IT-Artefakte zu schaffen.<br />
40
Sprache<br />
Methode<br />
Modell<br />
Implementierung<br />
Vokabular sowie Regelmenge zur Beschreibung e<strong>in</strong>er Domäne<br />
Planmäßiges Vorgehen zur Erfüllung e<strong>in</strong>er bestimmten Aufgabe<br />
Repräsentation e<strong>in</strong>es Ausschnitts e<strong>in</strong>er Domäne auf Gr<strong>und</strong>lage<br />
e<strong>in</strong>er Sprache<br />
Realisierung e<strong>in</strong>es IT-Artefakts <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Anwendungsumgebung<br />
Tabelle 1: IT-Artefakte nach Hevner et al. (2004)<br />
Das behavioristische <strong>und</strong> das konstruktionsorientierte Paradigma werden als zwei verschiedene,<br />
jedoch komplementäre Phasen der Information Systems Forschung <strong>in</strong>terpretiert<br />
(vgl. Hevner; March (2003), S. 111). Beide Phasen werden mit unterschiedlichen Forschertypen<br />
personell besetzt, die über verschiedenartige Qualifikationen verfügen. Während die<br />
konstruktionsorientierte Forschung IT-Artefakte erstellt, bildet die behavioristische Forschung<br />
Theorien über diese Artefakte <strong>und</strong> versucht den Wahrheitsgehalt dieser Theorien zu überprüfen.<br />
Theorien, die sich als empirisch angemessen erwiesen haben, dienen wiederum den<br />
konstruktionsorientierten Forschern, um neue IT-Artefakte anzufertigen. Tabelle 2 fasst die<br />
Merkmale der behavioristischen <strong>und</strong> der konstruktionsorientierten Forschung zusammen.<br />
Behavioristische<br />
Forschung<br />
Forschungsfrage Wie <strong>und</strong> wieso? Wie gut?<br />
Forschungsergebnis Theorien IT-Artefakte<br />
Forschungsaktivitäten • Theoriebildung<br />
• Theorieüberprüfung<br />
Forschungsziel Wahrheit Nützlichkeit<br />
Konstruktionsorientierte<br />
Forschung<br />
• Konstuktion von Artefakten<br />
• Artefaktbewertung<br />
Tabelle 2: Behavioristische <strong>und</strong> konstruktionsorientierte Forschung nach Hevner et al. (2004)<br />
Empirische Analysen der Publikationen im Bereich der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik zeigen, dass die<br />
Diszipl<strong>in</strong> bislang maßgeblich dem konstruktionsorientierten Paradigma zuzuordnen ist (vgl.<br />
Chen; Hirschheim (2004), S. 210ff; Frank (1997), S. 24; Roithmayr; Ka<strong>in</strong>z (1994), S. 178ff.).<br />
E<strong>in</strong>e Beschränkung des Forschungsgegenstandes der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik gemäß dem<br />
konstruktionsorientierten Paradigma hätte die folgenden Konsequenzen:<br />
1. Die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik wäre nicht <strong>in</strong> der Lage eigene Theorien zu entwickeln. Der<br />
Begriff „Theorie“ ist nicht Bestandteil des konstruktionsorientierten Forschungsansatzes.<br />
Aufgabe des konstruktionsorientierten Forschers ist es IT-Artefakte zu<br />
entwickeln, nicht jedoch Theorien über diese zu bilden.<br />
41
2. Die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik könnte ke<strong>in</strong>en eigenen, sie von anderen Diszipl<strong>in</strong>en<br />
differenzierenden Theoriekern herausbilden. Gemäß des komplementären Charakters<br />
der zwei Paradigmen nach Hevner et al. könnte die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik, wenn<br />
überhaupt, die Konstruktion von IT-Artefakten nur auf Basis von Theorien<br />
angrenzender Forschungsgebiete wissenschaftlich begründen. Sie könnte sich von<br />
anderen Diszipl<strong>in</strong>en daher nicht durch e<strong>in</strong>en orig<strong>in</strong>ären Theoriekern abgrenzen,<br />
sondern nur durch Ihren Betrachtungsgegenstand, welcher durch den Fokus auf<br />
Informations- <strong>und</strong> Kommunikationssysteme <strong>in</strong> Wirtschaft <strong>und</strong> Verwaltung<br />
charakterisiert ist.<br />
3. Die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik würde auf e<strong>in</strong>en Ausbildungsstudiengang reduziert werden.<br />
Das Fehlen e<strong>in</strong>es orig<strong>in</strong>ären Theoriekerns sowie das nicht vorhandene Bestreben e<strong>in</strong>en<br />
solchen zu entwickeln, würde die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik gemäß der meisten Wissenschaftsbegriffe<br />
nicht als Wissenschaft qualifizieren (vgl. Balzer (1997), S. 11ff.;<br />
Carnap (1932), S. 432ff.). Die durch die Diszipl<strong>in</strong> erreichte Durchdr<strong>in</strong>gung deutscher<br />
Hochschulen <strong>und</strong> Universitäten würde sie zwar als Studiengang nicht gegenstandlos<br />
machen gleichwohl aber auf ihren Ausbildungsaspekt reduzieren.<br />
Alternativ wäre es möglich, die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik sowohl dem behavioristischen als auch<br />
dem konstruktionsorientierten Paradigma zuzurechnen. Dies hätte die folgenden Konsequenzen:<br />
1. Die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik müsste sich deutlich stärker als bislang an der angloamerikanischen<br />
Information Systems Forschung orientierten <strong>und</strong> deren positivistisch<br />
geprägten, quantitativen Forschungsansatz <strong>in</strong>tegrieren. In der angloamerikanischen<br />
Information Systems Forschung machen quantitative Verfahren e<strong>in</strong>en signifikanten<br />
Teil der wissenschaftlichen Arbeit bezüglich des behavioristischen Paradigmas aus<br />
(vgl. Galliers; Land (1987), S. 900; M<strong>in</strong>gers (2001), S. 240, Orlikowski; Baroudi<br />
(1991), S. 7). Die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik ist primär durch den konstruktionsorientierten<br />
Ansatz geprägt. E<strong>in</strong>e Verschiebung des Forschungsschwerpunkts der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />
würde die <strong>in</strong>haltliche Neuausrichtung von Lehrplänen, Konferenzen <strong>und</strong><br />
Zeitschriften im deutschsprachigen Raum notwendig machen <strong>und</strong> die wissenschaftliche<br />
Positionierung der Diszipl<strong>in</strong> nachhaltig bee<strong>in</strong>flussen 1 .<br />
1 Zu beurteilen, ob e<strong>in</strong>e Verlagerung des thematischen <strong>und</strong> methodischen Schwerpunkts des Faches s<strong>in</strong>nvoll<br />
ersche<strong>in</strong>t, ist nicht Gegenstand dieses Beitrags. Hier wird nur gefragt ob dies für die Diszipl<strong>in</strong> notwendig ist, um<br />
e<strong>in</strong>en eigenen Theoriekern herausbilden zu können.<br />
42
2. E<strong>in</strong> starker Fokus auf behavioristische Forschungsaspekte würde die Gefahr des<br />
Verlustes des Praxisbezugs implizieren. In der Information Systems Forschung wird<br />
der rigorose E<strong>in</strong>satz statistischer Methoden unter Vernachlässigung der<br />
Anwendbarkeit des Forschungsresultats bereits seit längerem kritisch reflektiert (vgl.<br />
Lee (1999)). E<strong>in</strong>e Übernahme des behavioristischen Paradigma <strong>in</strong> die<br />
Wirtschafts<strong>in</strong>formatik müsste daher mit der Förderung des praktischen Bezugs der<br />
Forschungsergebnisse durch e<strong>in</strong>en situationsadäquaten E<strong>in</strong>satz qualitativer <strong>und</strong><br />
quantitativer Forschungsmethoden e<strong>in</strong>hergehen.<br />
Sowohl die Beschränkung auf das konstruktionsorientierte Paradigma, wie auch die<br />
Integration beider Forschungsansätze <strong>in</strong> die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik haben nachhaltige Folgen<br />
für das wissenschaftliche Selbstverständnis des Fachs. Während die erste Alternative e<strong>in</strong>e<br />
Beschränkung des wissenschaftlichen Anspruchs der Diszipl<strong>in</strong> impliziert, hat die zweite<br />
Alternative e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Neuausrichtung der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik zur Folge. Die Konsequenzen<br />
dieser beiden Alternativen dienen als Ausgangspunkt für e<strong>in</strong>e kritische wissenschaftstheoretische<br />
Prüfung der Dichotomie zwischen behavioristischer <strong>und</strong> konstruktionsorientierter<br />
Forschung.<br />
Im weiteren Verlauf dieses Beitrags wird wie folgt vorgegangen: Im nächsten Abschnitt<br />
erfolgt e<strong>in</strong>e genaue Untersuchung der Interdependenzen zwischen dem behavioristischen <strong>und</strong><br />
dem konstruktionsorientierten Paradigma anhand des Theoriebegriffs. Es wird exemplarisch<br />
anhand e<strong>in</strong>es konzeptionellen Modells gezeigt, dass die Behauptung e<strong>in</strong>er Dichotomie<br />
zwischen beiden Paradigmen nicht aufrechtzuerhalten ist. Im dritten Abschnitt dieses Beitrags<br />
wird daher e<strong>in</strong>e alternative Interpretation der Unterscheidung zwischen behavioristischer <strong>und</strong><br />
konstruktionsorientierter Forschung <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es Rollenkonzepts entwickelt, die nicht zu<br />
den zuvor kritisierten Widersprüchen führt. Dieser Beitrag schließt mit e<strong>in</strong>er<br />
Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Ausblick auf weiteren<br />
Forschungsbedarf.<br />
IT-Artefakte <strong>und</strong> Theorien<br />
Im letzten Abschnitt wurde bereits beschrieben, dass es sich bei dem behavioristischen (BP)<br />
<strong>und</strong> dem konstruktionsorientierten Paradigma (KP) nach Hevner et al. um zwei von e<strong>in</strong>ander<br />
verschiedene, komplementäre Ansätze der Information Systems (IS) Forschung handelt. In<br />
extensionaler Schreibweise lässt sich dies wie folgt darstellen:<br />
(A1)<br />
BP ∩ KP =<br />
∅<br />
43
(A2)<br />
BP ∪ KP =<br />
IS<br />
Forschungsergebnis des konstruktionsorientierten Paradigma s<strong>in</strong>d IT-Artefakte. Das behavioristische<br />
Paradigma beschäftigt sich h<strong>in</strong>gegen mit Theorien. Formal kann man dies wie<br />
folgt ausdrücken:<br />
(A3)<br />
T ⊂<br />
P<br />
(A4)<br />
A ⊂ KP<br />
Inhaltliche Überlegungen haben im letzten Abschnitt zu der Folgerung geführt, dass es sich<br />
bei Theorien (T) sowie Artefakten (A) gemäß Hevner et al. um disjunkte Mengen handeln<br />
muss. Formal ausgedrückt heißt dies:<br />
(A5)<br />
A ∩ T<br />
= ∅<br />
Wäre (A5) falsch, würde gelten: ∃ x ∈ A : x ∈T<br />
. Aus (A3) <strong>und</strong> (A4) würde folgen:<br />
∃ x ∈ KP : x ∈ BP . Dies wiederum wäre e<strong>in</strong> Verstoß gegen (A1). Die Aussage (A1) gilt also<br />
genau dann, wenn Behauptung (A5) korrekt ist.<br />
Um zu widerlegen, dass BP <strong>und</strong> KP zwei disjunkte Forschungsansätze darstellen, reicht es aus<br />
zu zeigen, dass e<strong>in</strong> Artefakt x existiert, welches gleichzeitig den Charakter e<strong>in</strong>er Theorie<br />
besitzt.<br />
Die IT-Artefakte Sprachen, Modelle <strong>und</strong> Implementierungen, wie sie im konstruktionsorientierten<br />
Paradigma benannt werden, s<strong>in</strong>d wohl def<strong>in</strong>ierte Begriffe <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Wirtschafts<strong>in</strong>formatik <strong>und</strong> der Information Systems Diszipl<strong>in</strong> (vgl. Becker et al. (2001), S.<br />
8f.; Shanks; Tansley; Weber (2003), S. 85; Stachowiak (1973), S. 322f.; Wand et al. (1995),<br />
S. 286). Über ihre gr<strong>und</strong>sätzliche Bedeutung <strong>und</strong> Verwendung besteht e<strong>in</strong> breiter Konsens.<br />
Der Begriff Methode ist <strong>in</strong> der wissenschaftlichen Diskussion stärker umkämpft, wobei auch<br />
hier e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Gr<strong>und</strong>verständnis darüber herrscht, dass es sich bei e<strong>in</strong>er Methode um<br />
e<strong>in</strong> planmäßiges Vorgehen zur Erreichung von bestimmen Zielen handelt (vgl. Chroust<br />
(1992), S. 50; Wand; Weber (2002), S. 364). Man kann davon ausgehen, dass sich Hevner<br />
et al. mit ihrer Verwendung des Begriffs IT-Artefakt auf dieses allgeme<strong>in</strong>e Verständnis<br />
<strong>in</strong>nerhalb der Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft beziehen. Wäre dies nicht der Fall, so würde es sich<br />
bei dem Vorschlag von Hevner et al. um e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> normatives Konstrukt handeln, ohne Bezug<br />
zur Forschungspraxis. Bei der <strong>in</strong>haltlichen Prüfung des Begriffs «IT-Artefakt», «Sprache»,<br />
«Methode», «Modell», «Implementierung» wird aus diesem Gr<strong>und</strong> auf die e<strong>in</strong>schlägige<br />
Literatur zurückgegriffen.<br />
44
Der Begriff «Theorie», aus dem behavioristischen Paradigma, ist im Kontext der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />
sowie der Information Systems Diszipl<strong>in</strong> weniger stark belegt (vgl. Metacalfe<br />
(2004)). Hevner et al. verstehen unter e<strong>in</strong>er Theorie e<strong>in</strong>e auf Pr<strong>in</strong>zipien beruhende Erklärung<br />
für Phänomene (vgl. Hevner et al. (2004), S. 80). Diese Def<strong>in</strong>ition ist im Vergleich zu den<br />
Theoriekonzeptionen aus dem Bereich der Wissenschaftstheorie nur wenig ausgearbeitet. Um<br />
dem Vorwurf e<strong>in</strong>er Fehldeutung des Theoriebegriffs bei Hevner et al. zu begegnen, werden<br />
daher für die Analyse des Gebrauchs des Begriffs «Theorie» zwei Fälle unterschieden:<br />
(F1)<br />
(F2)<br />
E<strong>in</strong>erseits wird geprüft, ob die Aussage (A1) hält, wenn Hevner et al. den<br />
Theoriebegriff eigens für das behavioristische Paradigma def<strong>in</strong>ieren, also <strong>in</strong> normativer<br />
Weise nutzen.<br />
Andererseits wird untersucht, was bezüglich der Richtigkeit von Aussage (A1)<br />
folgt, wenn Hevner et al. den Theoriebegriff nur referenziell verwenden <strong>und</strong> sich<br />
<strong>in</strong> Ihren Überlegungen auf e<strong>in</strong> wissenschaftstheoretisch etabliertes Theorieverständnis<br />
beziehen. Für e<strong>in</strong> derartiges Theorieverständnis wird im Rahmen dieses<br />
Beitrags auf den Strukturalismus zurückgegriffen.<br />
Um den ersten Weg (F1) zu beschreiten ist es erforderlich, die Theoriekonzeption von Hevner<br />
et al. e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlichen Prüfung zu unterziehen. Der Theoriebegriff von Hevner et al. enthält<br />
zwei konstituierende Elemente. E<strong>in</strong>erseits ist e<strong>in</strong>e Theorie e<strong>in</strong>e Erklärung für etwas.<br />
Andererseits beruht die Theorie auf Pr<strong>in</strong>zipien. Um (A1) zu widerlegen gilt es nun e<strong>in</strong> IT-<br />
Artefakt zu f<strong>in</strong>den, für welches sich diese beiden Aussagen ebenfalls als zutreffend erweisen.<br />
Modelle können unter anderem <strong>in</strong> Beschreibungs- <strong>und</strong> Erklärungsmodelle unterteilt werden<br />
(vgl. Strahr<strong>in</strong>ger (1996), S. 21ff). Erklärungsmodelle, die auf Beschreibungsmodellen aufbauen,<br />
dienen dazu, generalisierte Aussagen über die beschriebenen realen Sachverhalte zu<br />
liefern. In e<strong>in</strong>em Reorganisationsprojekt könnte es sich dabei beispielsweise um e<strong>in</strong><br />
Wirtschaftlichkeitskalkül handeln, was auf Gr<strong>und</strong>lage e<strong>in</strong>es Geschäftsprozessmodells anwendbar<br />
ist <strong>und</strong> erklärt, wieso die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es bestimmten Anwendungssystems zu<br />
Effizienzsteigerungen führen wird. E<strong>in</strong>e solche Modellierung wird im Allgeme<strong>in</strong>en methodisch<br />
unterstützt durchgeführt <strong>und</strong> basiert auf Pr<strong>in</strong>zipien, wie dem der Abstraktion oder der<br />
Strukturierung (vgl. Balzert (1998), S. 558ff). Daher erfüllt e<strong>in</strong> auf Basis von Pr<strong>in</strong>zipien<br />
erstelltes Erklärungsmodell die Anforderungen an e<strong>in</strong>e Theorie nach Hevner et al. E<strong>in</strong> solches<br />
Modell bzw. e<strong>in</strong>e derartige Theorie ist daher sowohl dem konstruktionsorientierten als auch<br />
dem behavioristischen Paradigma zuzuordnen.<br />
45
Falls Hevner et al. ihren Theoriebegriff also <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em normativen S<strong>in</strong>ne gebrauchen, so ist die<br />
Gr<strong>und</strong>annahme der Disjunktheit der beiden Paradigmen (A1) nicht haltbar. Mit dem zweiten<br />
Fall (F2), also der Referenzierung e<strong>in</strong>es etablierten Theorieverständnisses, beschäftigt sich der<br />
nächste Abschnitt.<br />
Konzeptionelle Modelle <strong>und</strong> Theorien<br />
In diesem Abschnitt werden zunächst die Gr<strong>und</strong>konzepte des Strukturalismus vorgestellt, der<br />
exemplarisch als e<strong>in</strong> verbreiteter wissenschaftstheoretischer Ansatz beschrieben wird.<br />
Anschließend wird der Versuch unternommen, e<strong>in</strong> konzeptionelles Modell aus strukturalistischer<br />
Sicht als Theorie zu rekonstruieren.<br />
Die wissenschaftstheoretische Konzeption des Strukturalismus<br />
Die wissenschaftstheoretische Konzeption des Strukturalismus entstand im Jahr 1971 mit<br />
John Sneeds Buch „Logical Structure of Mathematical Physics“ (vgl. Sneed (1971)). Seither<br />
hat sich der Strukturalismus mit mehr als 700 Publikationen zu e<strong>in</strong>em gut etablierten <strong>und</strong> breit<br />
e<strong>in</strong>gesetzten Ansatz zur Beschreibung von Theorien entwickelt (für e<strong>in</strong>e detaillierte<br />
Bibliographie vgl. Diederich; Ibara; Mormann (1989); Diederich; Ibara; Mormann (1994)).<br />
Im Rahmen dieses Beitrags können nur e<strong>in</strong>ige Gr<strong>und</strong>konzepte des Strukturalismus vorgestellt<br />
werden. Die Darstellungen stützen sich hauptsächlich auf Balzer; Moul<strong>in</strong>es; Sneed (1987).<br />
Der Strukturalismus nutzt e<strong>in</strong>e spezifische Menge an Konstrukten um die <strong>in</strong>nere Struktur der<br />
Wissenschaft abzubilden. Wissenschaft wird dabei als e<strong>in</strong> komplexes Netzwerk aus<br />
vone<strong>in</strong>ander abhängigen Theorien betrachtet. Als e<strong>in</strong>fachste Form e<strong>in</strong>er Theorie wird das<br />
Theorieelement angesehen. E<strong>in</strong> Theorieelement T setzt sich aus e<strong>in</strong>em Theoriekern K <strong>und</strong> den<br />
<strong>in</strong>tendierten Anwendungen I der Theorie zusammen ( T = K( T ), I(<br />
T ) ). Die <strong>in</strong>tendierten<br />
Anwendungen beschreiben den empirisch relevanten Realweltausschnitt, auf den der<br />
Theoriekern zutreffen soll. Der Theoriekern ist wiederum aus der Menge der potentiellen<br />
Modelle 2 M p (T) der Theorie, aus der Menge der Modelle M(T) der Theorie, aus der Menge der<br />
partiell potentiellen Modelle M pp (T) der Theorie sowie dem globalen L<strong>in</strong>k GL(T) der Theorie<br />
2 Der Begriff „Modell“ bezieht sich im Rahmen des Strukturalismus auf den semantischen Modellbegriff (vgl.<br />
Moul<strong>in</strong>es (2002), S. 1). Dieser ist vom Begriff des konzeptionellen Modells zu unterscheiden, wie er <strong>in</strong> der<br />
Wirtschafts<strong>in</strong>formatik verwendet wird. Gemäß der noch folgenden Ausführungen kann e<strong>in</strong> semantisches Modell<br />
als Interpretation (Belegung) e<strong>in</strong>es konzeptionellen Modells aufgefasst werden.<br />
46
zusammengesetzt 3 ( K( T ) = M ( T ), M ( T ), M ( T ), GL(<br />
T ) ). Tabelle 3 erläutert die Bestandteile<br />
des Theoriekerns näher.<br />
p<br />
pp<br />
M p (T)<br />
M(T)<br />
M pp (T)<br />
GL(T)<br />
Die Menge der potentiellen Modelle e<strong>in</strong>er Theorie beschreibt diejenigen<br />
Phänomene, für die es plausibel ersche<strong>in</strong>t zu fragen, ob die Theorie auf sie<br />
pr<strong>in</strong>zipiell zutreffen kann. Die potentiellen Modelle müssen somit ausschließlich<br />
den term<strong>in</strong>ologischen Apparat e<strong>in</strong>er Theorie erfüllen. Man kann die potentiellen<br />
Modelle daher auch als formale Charakterisierung der begrifflichen<br />
Rahmenbed<strong>in</strong>gungen der Theorie auffassen.<br />
Die Menge der Modelle e<strong>in</strong>er Theorie charakterisiert diejenigen Phänomene, auf<br />
welche die Theorie wirklich zutrifft. Die Modelle e<strong>in</strong>er Theorie müssen sowohl<br />
deren term<strong>in</strong>ologischen Apparat als auch deren gesetzartigen Aussagen erfüllen.<br />
Die Menge der partiell potentiellen Modelle e<strong>in</strong>er Theorie geht aus der Menge<br />
der potentiellen Modelle hervor, <strong>in</strong>dem die T-theoretischen Konstrukte aus dem<br />
term<strong>in</strong>ologischen Apparat der Theorie entfernt werden. T-theoretischen<br />
Konstrukte e<strong>in</strong>er Theorie s<strong>in</strong>d genau die Größen oder Funktionen, deren Werte<br />
sich nicht bestimmen lassen, ohne auf die Theorie T selbst zurückzugreifen.<br />
Der globale L<strong>in</strong>k beschreibt diejenige Teilmenge der potentiellen Modelle<br />
( L( T ) ⊆ M<br />
p<br />
( T ) ), die alle <strong>in</strong>tertheoretischen L<strong>in</strong>ks e<strong>in</strong>er Theorie erfüllt. E<strong>in</strong><br />
<strong>in</strong>tertheoretischer L<strong>in</strong>k stellt e<strong>in</strong>e Beziehung zwischen den term<strong>in</strong>ologischen<br />
Apparaten zweier Theorien her. Die <strong>in</strong>tertheoretischen L<strong>in</strong>ks erklären, aus<br />
welcher anderen Theorie die T-nicht-theoretischen Konstrukte e<strong>in</strong>er Theorie T<br />
stammen. Durch <strong>in</strong>tertheoretische L<strong>in</strong>ks ist es möglich, Beziehungen zwischen<br />
Theorien <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es semantischen Netzwerks aufzubauen.<br />
Tabelle 3: Bestandteile e<strong>in</strong>es Theoriekerns<br />
Strukturalistische Rekonstruktion e<strong>in</strong>es konzeptionellen Modells<br />
Gr<strong>und</strong>lage der strukturalistischen Rekonstruktion bildet das konzeptionelle Modell, welches<br />
<strong>in</strong> Abbildung 1 dargestellt ist. Dieses Modell ist <strong>in</strong> der Sprache des Entity Relationsship<br />
Modells (ERM) formuliert <strong>und</strong> repräsentiert die Beziehung zwischen e<strong>in</strong>er Person <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er<br />
Adresse auf e<strong>in</strong>em deutschen Hotelmeldebogen. Das Modell gibt an, dass e<strong>in</strong>er Person<br />
höchstens e<strong>in</strong>e Adresse zugeordnet werden kann, während e<strong>in</strong>e Adresse zu m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er<br />
Person gehören muss.<br />
Abbildung 1: Konzeptionelles Modell zum Hotelmeldebogen<br />
3 Auf die Betrachtung von Constra<strong>in</strong>ts <strong>und</strong> e<strong>in</strong>es Approximations-Apparats wird im Rahmen dieses Beitrags<br />
verzichtet.<br />
47
Im Strukturalismus werden Theorien durch <strong>in</strong>formelle mengentheoretische Prädikate<br />
axiomatisiert. E<strong>in</strong> <strong>in</strong>formelles mengentheoretisches Prädikat bildet e<strong>in</strong>e logische Konjunktion<br />
von Axiomen (vgl. Stegmüller (1973), S. 39f.). Diese Axiome dürfen sowohl durch formelle<br />
als auch durch <strong>in</strong>formelle sprachliche Mittel beschrieben se<strong>in</strong>.<br />
Die Rekonstruktion des konzeptionellen Modells zum Hotelmeldebogen (HMB) beg<strong>in</strong>nt mit<br />
der Beschreibung der potentiellen Modelle, welche die begrifflichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
von HMB erfüllen. Die Menge der potentiellen Modelle von HMB lässt sich wie folgt<br />
darstellen:<br />
M p (HMB): x ist e<strong>in</strong> potentielles Modell des Hotelmeldebogenmodells ( x ∈ M (HMB)<br />
) genau<br />
dann, wenn es e<strong>in</strong> P, A <strong>und</strong> z gibt, sodass gilt:<br />
(1) x = P,<br />
A,<br />
z ;<br />
(2) P ist e<strong>in</strong>e endliche Menge;<br />
(3) A ist e<strong>in</strong>e endliche Menge;<br />
(4) z ist e<strong>in</strong>e Relation mit: z ⊆ P × A.<br />
Die beabsichtigte Interpretation dieses mengentheoretischen Prädikats lautet: P ist e<strong>in</strong>e<br />
Menge von Personen, A ist e<strong>in</strong>e Menge von Adressen, z ist e<strong>in</strong>e Relation die angibt, welche<br />
Adresse e<strong>in</strong>er Person zugeordnet ist.<br />
Um zu den Modellen von HMB zu gelangen, wird die Menge der potentiellen Modelle<br />
e<strong>in</strong>geschränkt ( M ( HMB)<br />
⊆ M ( HMB)<br />
), <strong>in</strong> dem man zusätzlich zu den term<strong>in</strong>ologischen<br />
p<br />
Axiomen weitere (gesetzgebende) Aussagen ergänzt. Die Menge der Modelle von HMB kann<br />
<strong>in</strong> Anlehnung an Fettke; Loos (2005) folgendermaßen dargstellt werden:<br />
M(HMB): x ist e<strong>in</strong> Modell des Hotelmeldebogenmodells ( x M (HMB)<br />
) genau dann, wenn<br />
es e<strong>in</strong> P, A <strong>und</strong> z gibt, so dass gilt:<br />
(1) x = P,<br />
A,<br />
z ;<br />
(2) x ∈ M (HMB)<br />
;<br />
p<br />
(3) ∀ p ∈ P ( ∃!<br />
a ∈ A : ( p,<br />
a)<br />
∈ z) ∨ ( ¬∃a<br />
∈ A : ( p,<br />
a)<br />
∈ z)<br />
: ;<br />
(4) ∀ a ∈ A : ∃p<br />
∈ P : ( p,<br />
a)<br />
∈ z .<br />
p<br />
48
Axiom (3) gibt an, dass e<strong>in</strong>er Person höchstens e<strong>in</strong>e Adresse zugeordnet werden darf. Axiom<br />
(4) bestimmt, dass jede Adresse m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er Person zugeordnet se<strong>in</strong> muss. Diese beiden<br />
Axiome bilden <strong>in</strong> konjunktiver Verknüpfung das F<strong>und</strong>amentalgesetz von HMB <strong>und</strong><br />
repräsentieren damit gleichzeitig den nomothetischen (gesetzgebenden) Anspruch des<br />
konzeptionellen Modells HMB.<br />
Vor der Rekonstruktion der partiell potentiellen Modelle von HMB muss der theoretische<br />
Status von P, A sowie z geklärt werden. Dies ist erforderlich, da sich M pp (HMB) durch<br />
Elim<strong>in</strong>ation der HMB-theoretischen Konstrukte aus M p (HMB) ergibt. Dazu wird zunächst<br />
angenommen, dass P, A <strong>und</strong> z HMB-theoretisch s<strong>in</strong>d mit dem Ziel, e<strong>in</strong>en Widerspruch<br />
herbeizuführen. Wären P, A <strong>und</strong> z HMB-theoretisch, so würde das konzeptionelle Modell<br />
HMB die Bedeutung der Begriffe «Person», «Adresse» sowie der (universellen) semantischen<br />
Relation «ist zugeordnet» <strong>in</strong> solipsistischer Weise festsetzen <strong>und</strong> jeden Bezug zu e<strong>in</strong>em<br />
bestehenden Begriffsverständnis negieren. Folglich würde HMB ke<strong>in</strong>erlei deskriptiven<br />
Anspruch <strong>in</strong> sich tragen, sondern wäre re<strong>in</strong> normativer Natur. Da jedes konzeptionelle Modell<br />
per Def<strong>in</strong>ition e<strong>in</strong> Beschreibungsmodell darstellt, führt e<strong>in</strong>e derartige Interpretation zu e<strong>in</strong>em<br />
offensichtlichen Widerspruch (vgl. Strahr<strong>in</strong>ger (1996), S. 22; Wand et al. (1995), S. 286). Es<br />
wird daher davon ausgegangen, dass sowohl P, A wie auch z HMB-nicht-theoretische<br />
Konstrukte s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> sich für diese Elemente geeignete <strong>in</strong>tertheoretische L<strong>in</strong>ks f<strong>in</strong>den lassen.<br />
Etwas formaler ausgedrückt wird angenommen, dass sich der Wahrheitswert von<br />
p ∈ P ∨ a ∈ A ∨ p, a ∈ z für die Objekte p, a bzw. e<strong>in</strong> Paar von Objekten p, a unabhängig<br />
davon bestimmen lässt, ob bereits e<strong>in</strong>e Anwendung zu HMB vorliegt.<br />
Bevor der globale L<strong>in</strong>k GL(HMB) des konzeptionellen Modells beschrieben werden kann, ist<br />
e<strong>in</strong> kurzer Exkurs erforderlich, <strong>in</strong> dem die strukturalistische Notation der <strong>in</strong>tertheoretischen<br />
L<strong>in</strong>ks beleuchtet wird. E<strong>in</strong> (konkreter) <strong>in</strong>tertheoretischen L<strong>in</strong>k im Strukturalismus verlangt,<br />
dass die beiden mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> Beziehung stehenden Theorien bereits vollständig rekonstruiert<br />
wurden (vgl. Balzer; Moul<strong>in</strong>es; Sneed (1987), S. 61) . Im Fall von konzeptionellen Modellen<br />
erweist sich dieser Umstand als unzweckmäßig, da noch ke<strong>in</strong> Bestand an strukturalistisch<br />
beschriebenen Basistheorien vorliegt. Die strukturalistische Darstellung e<strong>in</strong>es konzeptionellen<br />
Modells würde daher zunächst die Rekonstruktion der verwendeten Fachsprache sowie deren<br />
strukturalistische Explikation erfordern. Da für viele Domänen bereits Vorschläge für e<strong>in</strong>e<br />
Referenzterm<strong>in</strong>ologie unterbreitet wurden, ist e<strong>in</strong>e erneute Explikation der Fachsprache aus<br />
m<strong>in</strong>destens den folgenden beiden Gründen nicht zweckmäßig:<br />
49
1. Ontologien, Fachbegriffs- <strong>und</strong> Referenzmodelle beziehen e<strong>in</strong>en Großteil ihres<br />
Nutzenspotentials aus ihrer Standard setzenden Wirkung. Die Explikation e<strong>in</strong>er, wenn<br />
auch nur syntaktisch veränderten Konzeptionalisierung derselben Domäne, würde<br />
diesem standardisierenden Effekt entgegenwirken.<br />
2. Die Erfassung <strong>und</strong> Beschreibung der Fachsprache e<strong>in</strong>er Anwendungsdomäne <strong>in</strong> Form<br />
e<strong>in</strong>er Ontologie, e<strong>in</strong>es Fachbegriffs- oder Referenzmodells ist e<strong>in</strong> aufwendiger<br />
Vorgang. Aus ökonomischen Gesichtspunkten ersche<strong>in</strong>t es daher angezeigt, auf e<strong>in</strong>e<br />
erneute Rekonstruktion zu der Domänensprache zu verzichten <strong>und</strong> auf e<strong>in</strong>e<br />
vorhandene Konzeptionalisierung zurückzugreifen.<br />
Die <strong>in</strong> der strukturalistischen Notation des <strong>in</strong>tertheoretischen L<strong>in</strong>ks vorhandene Indexierung<br />
der Axiome wird daher durch die Verwendung e<strong>in</strong>es Uniform Resource Identifiers (URI)<br />
ersetzt (vgl. The Internet Society (2005)). Durch diesen Mechanismus können bereits<br />
vorhandene Ontologien durch e<strong>in</strong> strukturalistisch rekonstruiertes konzeptionelles Modell<br />
referenziert werden.<br />
Der globale L<strong>in</strong>k von GL(HMB) hat <strong>in</strong> <strong>in</strong>formeller Schreibweise die folgende Gestalt:<br />
⎧x<br />
= P,<br />
A,<br />
z ∈ M<br />
p<br />
( HMB)<br />
⎪<br />
P referenziert PERS:Person,<br />
GL(<br />
HMB)<br />
= ⎨ A referenziert ADDR:Address,<br />
⎪ z referenziert UMLS:Associated_With.<br />
⎪<br />
⎩<br />
⎫<br />
⎪<br />
⎬<br />
⎪<br />
⎪<br />
⎭<br />
PERS, ADDR <strong>und</strong> UMLS stehen für die <strong>in</strong> Tabelle 4 bezeichneten URIs, die jeweils e<strong>in</strong>e<br />
Ontologie referenzieren.<br />
ADDR<br />
UMLS<br />
http://daml.umbc.edu/ontologies/ittalks/address<br />
http://www.tridedalo.com.br/2003/07/umls/<br />
Tabelle 4: URIs zu Ontologien<br />
Da weder P, A noch z HMB-theoretischer Natur s<strong>in</strong>d, ergeben sich die partiell potentiellen<br />
Modelle von HMB wie folgt:<br />
M pp (HMB): y ist e<strong>in</strong> partiell potentielles Modell des Hotelmeldebogenmodells<br />
( y ∈ M (HMB)) genau dann, wenn e<strong>in</strong> x = P, A,<br />
z ∈ M ( HMB)<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong> y = P,<br />
A,<br />
z<br />
pp<br />
existieren.<br />
p<br />
50
Da nun alle Bestandteile des Theoriekerns von HMB rekonstruiert wurden, kann dessen<br />
Gestalt wie folgt angegeben werden:<br />
K( HMB)<br />
= M ( HMB),<br />
M ( HMB),<br />
M ( HMB),<br />
GL(<br />
HMB)<br />
p<br />
pp<br />
Das konzeptionelle Modell zum Hotelmeldebogen kann somit folgendermaßen als Theorieelement<br />
dargestellt werden werden:<br />
T ( HMB)<br />
= K(<br />
HMB),<br />
I(<br />
HMB)<br />
, wobei die <strong>in</strong>tendierten Anwendungen I(HMB) deutsche<br />
Hotelmeldebögen s<strong>in</strong>d, auf denen Personen mit deren Adresse erfasst werden.<br />
HMB hat empirischen Gehalt, da partiell potentielle Modelle von HMB existieren, die sich<br />
nicht zu e<strong>in</strong>em Modell von HMB ergänzen lassen (vgl. Balzer; Moul<strong>in</strong>es; Sneed (1987),<br />
S. 92). Beispielsweise werden bei der Ummeldung des Hauptwohnsitzes e<strong>in</strong>er Person mehrere<br />
Adressen, nämlich auch alle Nebenwohnsitze, erfasst.<br />
Damit ist die Rekonstruktion von HMB als Theorieelement <strong>und</strong> damit als elementarste Form<br />
e<strong>in</strong>er Theorie im S<strong>in</strong>ne des Strukturalismus abgeschlossen. Gleichzeitig wurde auch für den<br />
Fall (F2) gezeigt, also falls sich Hevner et al. <strong>in</strong> Ihren Ausführungen implizit auf das Theoriekonzept<br />
des Strukturalismus beziehen sollten, dass Annahme (A1) nicht haltbar ist.<br />
Man könnte nun versuchen (A1) zu retten, <strong>in</strong>dem man argumentiert, dass HMB ke<strong>in</strong>e<br />
adäquate Repräsentation des ursprünglichen konzeptionellen Modells darstellt, da HMB<br />
ke<strong>in</strong>en Bezug auf die Modellierungssprache ERM mehr be<strong>in</strong>haltet. Diesem Vorwurf liegt die<br />
Annahme zugr<strong>und</strong>e, dass die verwendete Modellierungssprache die Bedeutung des<br />
konzeptionellen Modells maßgeblich bee<strong>in</strong>flusst (vgl. Pfeiffer; Niehaves (2005)). Dieses<br />
Argument kann entkräftet werden, <strong>in</strong>dem man den term<strong>in</strong>ologischen Apparat von HMB<br />
zusätzlich um Axiome der Form „X ist e<strong>in</strong> Entity-Typ“ oder „X ist e<strong>in</strong> Relationsship-Typ“<br />
ergänzt. Ähnlich wie dies für die Fachsprache hier demonstriert wurde, könnte man auch für<br />
die Modellierungssprache <strong>in</strong>tertheoretische L<strong>in</strong>ks formulieren <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>en Bezug zur<br />
Sprache ERM herstellen.<br />
Es wäre zudem möglich, gegen die Widerlegung von (A1) e<strong>in</strong>zuwenden, dass sich Hevner<br />
et al. im Fall (F2) nicht auf den Strukturalismus beziehen, sondern auf e<strong>in</strong>e<br />
wissenschaftstheoretische Konzeption XY, die per Def<strong>in</strong>ition die Begriffe IT-Artefakt <strong>und</strong><br />
Theorie als disjunkt ansieht. In diesem Fall müsste zunächst der Nachweis erbracht werden,<br />
dass sich e<strong>in</strong>e solche Konzeption XY überhaupt konsistent vertreten lässt. Sie müsste dem<br />
Vorwurf begegnen, dass die Erstellung von Theorien e<strong>in</strong> kreativer Vorgang ist, bei dem sich<br />
51
die Methoden des konstruktiven Paradigma als nützliches Hilfsmittel erweisen (vgl. Hooker<br />
(2004), S. 75). Die Entkräftung dieses Arguments dürfte schwer fallen, da sich diese Kritik<br />
ebenfalls direkt gegen Annahme (A1) richtet, diesmal jedoch nicht auf Ebene der<br />
Forschungsergebnisse (IT-Artefakte, Theorien), sondern auf Ebene der Forschungsmethoden.<br />
Es wurde <strong>in</strong> den letzten beiden Abschnitten gezeigt, dass im Fall (F1) Erklärungsmodelle die<br />
Rolle von Theorien e<strong>in</strong>nehmen können <strong>und</strong> sich im Fall (F2) e<strong>in</strong>e spezielle Klasse der<br />
Beschreibungsmodelle, die konzeptionellen Modelle, als Theorien <strong>in</strong>terpretieren lassen.<br />
Dadurch wurde Annahme (A1) widerlegt die besagt, dass es sich bei dem behavioristischen<br />
<strong>und</strong> dem konstruktionsorientierten Paradigma um zwei disjunkte Forschungsansätze handelt.<br />
Für die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik haben die identifizierten Überlappungen zwischen dem<br />
konstruktionsorientierten <strong>und</strong> dem behavioristischen Paradigma die folgenden Konsequenzen:<br />
1. Für die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik besteht gr<strong>und</strong>sätzlich die Möglichkeit, e<strong>in</strong>en eigenen<br />
Theoriekern herauszubilden. Auch wenn die Forschungsarbeit der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />
hauptsächlich dem konstruktionsorientierten Paradigma zuzurechnen ist, so<br />
ist sie doch <strong>in</strong> der Lage Theorien zu entwickeln. Es besteht die Möglichkeit, dass sich<br />
diese Theorien <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es orig<strong>in</strong>ären Theoriekerns verdichten lassen.<br />
2. Um e<strong>in</strong>en Theoriekern herauszubilden ist es für die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik nicht<br />
zw<strong>in</strong>gend erforderlich, den behavioristischen Forschungsansatz zu <strong>in</strong>tegrieren. Da die<br />
Wirtschafts<strong>in</strong>formatik auch im Rahmen des konstruktionsorientierten Paradigma<br />
Theorien entwickeln kann, ist e<strong>in</strong>e Übernahme von Forschungsmethoden <strong>und</strong><br />
Lehr<strong>in</strong>halten des behavioristischen Paradigma nicht ausschlaggebend, um e<strong>in</strong>en<br />
orig<strong>in</strong>ären Theoriekern zu entwickeln 4 .<br />
Synthese der Forschungsansätze<br />
Es wurde im letzten Abschnitt gezeigt, dass sich die These (A1) von Hevner et al. nicht halten<br />
lässt. Annahme (A1) geht davon aus, dass sich der behavioristische <strong>und</strong> der konstruktionsorientierte<br />
Forschungsansatz zue<strong>in</strong>ander disjunkt verhalten. Es wird daher vorgeschlagen<br />
Annahme (A1) unter Beibehaltung von (A2) wie folgt zu modifizieren:<br />
(A1') ( BP ∩ KP ⊂ BP)<br />
∧ ( BP KP ⊂ KP)<br />
4 Ob es andere Gründe für e<strong>in</strong>e Übernahme von Forschungsmethoden <strong>und</strong> Lehr<strong>in</strong>halten aus der Information<br />
Systems Diszipl<strong>in</strong> gibt, ist nicht Gegenstand dieses Beitrags.<br />
52
These (A1') lässt zwar Überschneidungen zwischen den beiden Forschungsansätzen zu, betont<br />
jedoch auch gleichzeitig die Unterschiede, die zwischen den zwei Konzeptionen bestehen. Die<br />
Widerlegung von These (A1) hat daher nicht zur Konsequenz, dass der behavioristische <strong>und</strong><br />
der konstruktionsorientierte Forschungsansatz zusammenfallen. Die behavioristische Forschungskonzeption<br />
geht primär der Frage nach, wie sich organisatorische <strong>und</strong> zwischenmenschliche<br />
Phänomene r<strong>und</strong> um IT-Artefakte erklären <strong>und</strong> vorhersagen lassen. Gegenstand<br />
des konstruktionsorientierten Forschungsansatzes ist h<strong>in</strong>gegen vorrangig die Entwicklung von<br />
Problem beschreibenden <strong>und</strong> Problem lösenden Artefakten im Rahmen der Informationssystementwicklung.<br />
Die Überlappungen zwischen den beiden Ansätzen lassen sich beispielhaft<br />
wie folgt charakterisieren:<br />
1. Die behavioristische Forschung kann IT-Artefakte nutzen <strong>und</strong> entwickeln, um Aufschluss<br />
über bestimmte organisatorische <strong>und</strong> zwischenmenschliche Phänomene zu<br />
gew<strong>in</strong>nen. Zur Gew<strong>in</strong>nung e<strong>in</strong>er Hypothese über die Ursachen der Veränderung der<br />
K<strong>und</strong>enzufriedenheit vor <strong>und</strong> nach der E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er Customer Relationsship<br />
Management (CRM) Software kann es beispielsweise s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong>, die Schnittstellen<br />
<strong>und</strong> Abläufe zwischen den Unternehmen <strong>und</strong> ihren K<strong>und</strong>en vor <strong>und</strong> nach der<br />
Systeme<strong>in</strong>führung jeweils <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em konzeptionellen Modell festzuhalten.<br />
2. Die konstruktionsorientierte Forschung kann Theorien über <strong>und</strong> für die Informationssystementwicklung<br />
nutzen <strong>und</strong> entwickeln. Es wäre beispielsweise möglich,<br />
Informationssystementwicklungsmethoden um explizite Aussagen anzureichern,<br />
welche die <strong>in</strong>tendierten Anwendungen der Methode festlegen sowie angeben, welcher<br />
konkrete Nutzen durch den E<strong>in</strong>satz der Methode gestiftet wird (vgl. Greiffenberg<br />
(2003)). Die Aussagen dieser „theorieähnlichen Methoden“ könnten schließlich mit<br />
behavioristischen Mitteln bezüglich ihrer empirischen Angemessenheit untersucht<br />
werden.<br />
3. Es können Methoden aus der bevarioristischen Forschung e<strong>in</strong>gesetzt werden, um zu<br />
beurteilen, wie gut e<strong>in</strong> IT-Artefakt e<strong>in</strong>e bestimmte Aufgabe erfüllt. Beispielsweise<br />
könnte man die Ausführungsgeschw<strong>in</strong>digkeit e<strong>in</strong>er bestimmten Software unter unterschiedlichen<br />
E<strong>in</strong>satzszenarien <strong>und</strong> technischen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen empirisch auswerten.<br />
4. Es lassen sich Methoden aus der konstruktionsorientierten Forschung verwenden, um<br />
Theorien über organisatorische <strong>und</strong> zwischenmenschliche Phänomene zu entwickeln.<br />
Beispielsweise könnte die Rekonstruktion der Fachsprache e<strong>in</strong>er Anwendungsdomäne<br />
53
wertvolle H<strong>in</strong>weise dafür liefern, wieso e<strong>in</strong>e IT-Outsourc<strong>in</strong>g Maßnahme gescheitert<br />
ist.<br />
Die identifizierten Überschneidungen zwischen den zwei Forschungsansätzen führen zu<br />
folgenden Modifikationen an den Aussagen (A3) <strong>und</strong> (A4):<br />
(A3')<br />
(A4')<br />
T ∪ A' ⊂ mit A'<br />
⊆ A<br />
A ∪ T' ⊂ KP mit T ' ⊆ T<br />
Die Thesen (A3') <strong>und</strong> (A4') sagen aus, dass IT-Artefakte mit bestimmten E<strong>in</strong>schränkungen<br />
auch im Rahmen der behavioristischen Forschungskonzeption von Interesse s<strong>in</strong>d, ebenso wie<br />
Theorien im Kontext des konstruktionsorientierten Ansatzes als Forschungsergebnisse<br />
Relevanz besitzen. Zwei sehr ähnliche Aussagen ließen sich auch für die<br />
Forschungsmethoden der beiden Ansätze formulieren. Die Konsequenzen von (A1’), (A3’)<br />
<strong>und</strong> (A4’) s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Tabelle 5 dargstellt.<br />
Behavioristische<br />
Forschung<br />
Konstruktionsorientierte<br />
Forschung<br />
Forschungsfrage Wie <strong>und</strong> wieso? Was ist das Problem?<br />
Wie gut ist die Lösung?<br />
Forschungsergebnis<br />
Forschungsaktivitäten<br />
Theorien<br />
IT-Artefakte<br />
Konstruktion<br />
Überprüfung<br />
Forschungsziel Empirische Angemessenheit Nützlichkeit<br />
Tabelle 5: Synthese der Forschungsansätze<br />
Während sich die Forschungsfrage <strong>und</strong> das Forschungsziel der beiden Ansätze klar<br />
unterscheiden, s<strong>in</strong>d die Forschungsergebnisse <strong>und</strong> Forschungsaktivitäten nicht e<strong>in</strong>deutig<br />
vone<strong>in</strong>ander getrennt. Dar<strong>in</strong> kommt der Umstand zum Ausdruck, dass die konstruktionsorientierte<br />
<strong>und</strong> die behavioristische Konzeption zwei eng gekoppelte, <strong>in</strong>terdependente<br />
Ansätze im Forschungskreislauf darstellen, die e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlichen gegenseitigen<br />
Befruchtung bedürfen.<br />
Zusammenfassung<br />
Ausgangspunkt dieses Beitrages bildete die Frage, welche Auswirkungen die Übernahme der<br />
Unterscheidung zwischen behavioristischen <strong>und</strong> konstruktionsorientierten Paradigma für die<br />
Wirtschafts<strong>in</strong>formatik impliziert. Die daraus abgeleiteten Konsequenzen, die e<strong>in</strong>e Be-<br />
54
schränkung des wissenschaftlichen Anspruchs der Diszipl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlichen<br />
Neuausrichtung andererseits be<strong>in</strong>halteten, motivierten zu e<strong>in</strong>er genauen Analyse der<br />
behavioristisch / konstruktionsorientiert Dichotomie. Ergebnis dieser Untersuchung war, dass<br />
diese strenge Unterscheidung <strong>in</strong> der vorliegenden Form nicht aufrechterhalten werden kann<br />
<strong>und</strong> die Kont<strong>in</strong>uität der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik bezüglich Forschungsmethodik <strong>und</strong><br />
Lehr<strong>in</strong>halten nicht zugunsten der Bildung e<strong>in</strong>es orig<strong>in</strong>ären Theoriekerns geopfert werden<br />
muss. Daraus resultierte e<strong>in</strong>e modifizierte Darstellung der beiden Forschungsansätze, die im<br />
letzten Abschnitt entwickelt wurde.<br />
Die Aufgabe der Dichotomie zwischen den zwei Ansätzen, führte im Verlauf dieses Beitrags<br />
zur Transformation der behavioristischen <strong>und</strong> konstruktionsorientierten Forschungskonzeption<br />
von disjunkten Paradigmen zu Rollen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Forschungsprojekt.<br />
Aus dieser Um<strong>in</strong>terpretation folgen zwei Konsequenzen für die praktische Forschungstätigkeit<br />
des Wirtschafts<strong>in</strong>formatikers:<br />
1. Es ist für e<strong>in</strong>en Forscher nicht erforderlich sich dauerhaft zwischen e<strong>in</strong>er der beiden<br />
Konzeptionen zu entscheiden. Vielmehr kann er Forschungsmethoden <strong>und</strong><br />
Forschungsergebnisse pragmatisch nach se<strong>in</strong>em Forschungsziel wählen. Dies führt zu<br />
e<strong>in</strong>em forschungsmethodischen Pluralismus, der die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik auf<br />
fruchtbare Weise um Elemente aus der Information Systems Forschung bereichern<br />
kann.<br />
2. Trotz der für den Forscher gewonnenen Flexibilität ist die orientierungsfördernde<br />
Funktion der beiden Forschungsansätze erhalten geblieben. Möchte man Fragen nach<br />
dem Wie oder dem Wieso e<strong>in</strong>es Phänomens beantworten, so stellen Theorien <strong>und</strong><br />
deren Überprüfung den groben Rahmen der Forschung dar. Geht es h<strong>in</strong>gegen um die<br />
Lösung e<strong>in</strong>es praktisch motivierten Problems, so bildet die Konstruktion von IT-<br />
Artefakten den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Überlegungen.<br />
Die Synthese der beiden Forschungsansätze basiert auf den Interdependenzen, die zwischen<br />
IT-Artefakten <strong>und</strong> Theorien bestehen. Die Natur dieser Beziehungen genau zu explizieren ist<br />
Aufgabe weiterer Forschung. Die Bearbeitung dieser Aufgabe stellt gleichzeitig e<strong>in</strong>en Schritt<br />
<strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>es orig<strong>in</strong>ären Theoriekerns der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik dar.<br />
55
Literatur<br />
Balzer, W.: Die Wissenschaft <strong>und</strong> ihre Methoden. Freiburg 1997.<br />
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57
Markus Gmür<br />
Konvergenz oder Divergenz<br />
der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung?<br />
E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>ternational vergleichende bibliometrische Analyse<br />
Vortrag im Rahmen der Fachtagung der wissenschaftlichen Kommission Wissenschaftstheorie<br />
im Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e.V.<br />
Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, 22.-23.09.2005<br />
Dr. Markus Gmür<br />
European Bus<strong>in</strong>ess School (ebs)<br />
International University Schloß Reichartshausen<br />
Lehrstuhl Organisation <strong>und</strong> Personal<br />
D-65375 Oestrich-W<strong>in</strong>kel<br />
Tel. 06723-69153<br />
e-mail: markus.gmuer@ebs.de<br />
58<br />
0
Zusammenfassung:<br />
Die Frage der Angleichung der deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre an Methoden<br />
<strong>und</strong> Themen der nordamerikanisch geprägten, <strong>in</strong>ternationalen Forschung wird seit den 90er<br />
Jahren auch <strong>in</strong> der Organisationsforschung diskutiert. E<strong>in</strong>e solche auch empirisch nachvollziehbare<br />
Annäherung lässt sich aus der Perspektive verschiedener Theorien <strong>und</strong> Modelle der<br />
Entwicklung von Scientific Communities erklären: Anarchische, altruistische <strong>und</strong> funktionale<br />
Modelle legen eher e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>anderbewegung, ökonomische <strong>und</strong> <strong>in</strong>stitutionalistische<br />
Modelle eher e<strong>in</strong>e Angleichung der deutschsprachigen an die nordamerikanische Community<br />
nahe. E<strong>in</strong>e Zitations- <strong>und</strong> Kozitationsanalyse der Organisationsforschung zu Beg<strong>in</strong>n<br />
<strong>und</strong> Ende der 90er Jahren legt die Vermutung nahe, dass es <strong>in</strong> diesem Zeitraum zwar zu<br />
e<strong>in</strong>er formalen, nicht aber zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlichen Annäherung gekommen ist.<br />
Zielsetzung der Studie<br />
Der vorliegende Beitrag wurde für die Fachtagung der wissenschaftlichen Kommission<br />
Wissenschaftstheorie 2005 unter dem Titel '<strong>Fortschrittskonzepte</strong> <strong>und</strong> <strong>Fortschrittsmessung</strong> <strong>in</strong><br />
Betriebswirtschaftslehre <strong>und</strong> Wirtschafts<strong>in</strong>formatik' verfasst. Er zeigt,<br />
- wie sich Fortschritt <strong>in</strong> der betriebswirtschaftlichen Organisationsforschung <strong>in</strong> der nordamerikanischen<br />
<strong>und</strong> der deutschsprachigen Scientific Community <strong>in</strong> den 90er Jahren<br />
im direkten Vergleich manifestiert hat,<br />
- mit welchen Theorien sich die Entwicklung wissenschaftlicher Diszipl<strong>in</strong>en <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere<br />
die Konvergenz oder Divergenz regionaler Scientific Communities erklären<br />
lassen,<br />
- wie sich die bibliographischen Methoden der Zitations- <strong>und</strong> Kozitationsanalyse anwenden<br />
lassen, um die Entwicklung wissenschaftlicher Diszipl<strong>in</strong>en <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere die<br />
Divergenz <strong>und</strong> Konvergenz regionaler Scientific Communities zu beschreiben.<br />
Der Fortschrittsbegriff selbst wird dabei nicht gesondert thematisiert. Es wird unterstellt,<br />
dass jede Veränderung <strong>in</strong> den <strong>in</strong>haltlichen Schwerpunkten e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Diszipl<strong>in</strong><br />
Ausdruck e<strong>in</strong>es 'Fortschreitens' ist. Dieser allgeme<strong>in</strong>ere Fortschrittsbegriff ist von<br />
e<strong>in</strong>em engeren, naturwissenschaftlich geprägten Begriffsverständnis zu unterscheiden,<br />
wonach Fortschritt das fortlaufende Ersetzen von falschen durch richtige Theorien se<strong>in</strong> soll.<br />
Von e<strong>in</strong>er Stellungnahme zu der Frage, ob die betriebswirtschaftliche Organisationsforschung<br />
überhaupt e<strong>in</strong>e im engeren S<strong>in</strong>ne fortschrittsfähige Diszipl<strong>in</strong> ist, wird abgesehen.<br />
59<br />
1
Organisationsforschung im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich<br />
Zwischen 1975 <strong>und</strong> 1995 beschäftigt sich die Organisationsforschung verstärkt mit der<br />
eigenen Diszipl<strong>in</strong> im <strong>in</strong>ternationalen Vergleich, ohne zu e<strong>in</strong>em abschließenden Ergebnis<br />
gelangt zu se<strong>in</strong>. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob zwischen den e<strong>in</strong>zelnen regionalen<br />
Scientific Communities Geme<strong>in</strong>samkeiten oder Unterschiede überwiegen <strong>und</strong> welchen<br />
E<strong>in</strong>fluss <strong>in</strong>sbesondere die nordamerikanische Forschung auf die übrigen regionalen Communities<br />
hat.<br />
Zu diesem Themenkomplex wurde e<strong>in</strong>e Reihe von Studien veröffentlicht. Sie s<strong>in</strong>d für unsere<br />
Fragestellung nach e<strong>in</strong>er Annäherung der deutschen an die nordamerikanische Forschung<br />
<strong>in</strong>sofern hilfreich, als sie Aufschluss darüber geben, ob sich zum<strong>in</strong>dest auf <strong>in</strong>ternationaler<br />
Ebene e<strong>in</strong>e auf Nordamerika fokussierte Konvergenz der Organisationsforschung abzeichnet:<br />
Dies lässt sich überprüfen, <strong>in</strong>dem man die Ergebnisse der ersten, 1976 veröffentlichten<br />
Studie von Kassem (1976) <strong>und</strong> die der neueren, zwischen 1984 <strong>und</strong> 1995 publizierten Studien<br />
(Whitley 1984; Aldrich 1988; H<strong>in</strong><strong>in</strong>gs 1988; Lammers 1990; Boyacigiller/Adler 1991;<br />
Üsdiken/Pasadeos 1995) e<strong>in</strong>ander gegenüber stellt.<br />
Mitte der 70er Jahre kommt Kassem (1976) zum Ergebnis, dass die Forschung <strong>in</strong> Nordamerika<br />
<strong>und</strong> Europa durch f<strong>und</strong>amentale Unterschiede gekennzeichnet sei. Diese Unterschiede<br />
erstrecken sich gleichermaßen auf den <strong>in</strong>haltlichen Forschungsschwerpunkt, die Methodologie<br />
<strong>und</strong> das Selbstverständnis der Forscher: Während <strong>in</strong> Nordamerika eher die Mikroperspektive<br />
gewählt <strong>und</strong> entsprechend das Verhältnis zwischen Individuum <strong>und</strong> Organisation<br />
thematisiert wurde, bevorzugten europäische Organisationsforscher eher die Makroperspektive<br />
<strong>und</strong> stellten die Beziehung zwischen Organisation <strong>und</strong> Umwelt <strong>in</strong> den Mittelpunkt ihrer<br />
Analysen. Bei der Ableitung von Gestaltungsempfehlungen steht <strong>in</strong> der nordamerikanischen<br />
Organisationsforschung die Suche nach dem 'one best way' im Vordergr<strong>und</strong>, woh<strong>in</strong>gegen <strong>in</strong><br />
Europa stärker situativ argumentiert wird. Schließlich ersche<strong>in</strong>en Kassem die nordamerikanischen<br />
Organisationsforscher deutlich an der Lösung praktischer Organisationsprobleme<br />
<strong>in</strong>teressiert, woh<strong>in</strong>gegen es den europäischen <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie um die Theoriebildung im S<strong>in</strong>n<br />
e<strong>in</strong>er Erklärung des Phänomens Organisation g<strong>in</strong>g.<br />
In den 80er Jahren stellt sich das Bild anders dar: Mehrere Studien konstatieren e<strong>in</strong>e wachsende<br />
Homogenität der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung <strong>und</strong> schreiben dabei der<br />
nordamerikanischen Forschung e<strong>in</strong>e Schlüsselstellung zu. So resümiert Lammers (1990),<br />
dass sich so etwas wie e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationaler 'ma<strong>in</strong>stream' der Organisationsforschung herausgebildet<br />
hat. Aus se<strong>in</strong>er Sicht gründet er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zunehmende Soziologisierung, die wiederum<br />
ihren Ausdruck <strong>in</strong> zwei dom<strong>in</strong>ierenden organisationstheoretischen Erklärungsmodellen<br />
f<strong>in</strong>det: der Organisation als sozio-kulturellem bzw. als politischem System. Dies geht spiegelbildlich<br />
e<strong>in</strong>her mit e<strong>in</strong>em Randdase<strong>in</strong> alternativer Perspektiven, wie beispielsweise der<br />
marxistisch orientierten Richtung (Aldrich 1988). Die treibende Kraft der nordamerikanischen<br />
Organisationsforschung bei dieser Entwicklung belegt auch die Studie von Boyacigil-<br />
60<br />
2
ler/Adler (1991). Demnach haben sich bisher kaum eigenständige nationale Traditionen <strong>in</strong><br />
der Organisationsforschung herausbilden können. Auch Whitley (1984) schließt sich dieser<br />
Beobachtung an <strong>und</strong> relativiert die Dom<strong>in</strong>anz der nordamerikanischen Forschung nur im<br />
H<strong>in</strong>blick auf gesellschaftspolitisch bed<strong>in</strong>gte Sonderaspekte der Organisationsforschung, wie<br />
z.B. die Bedeutung von Arbeitsbeziehungen.<br />
Der Bef<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er nordamerikanisch forcierten Konvergenz der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung<br />
wird allerd<strong>in</strong>gs nicht von allen Studien gestützt: Obwohl er denselben Fokus<br />
wie Aldrich (1988) wählt, nämlich die im Umfeld der von Donaldson (1985) aufgeworfene<br />
Frage, welchen Stellenwert sozialwissenschaftliche Erkenntnisse <strong>in</strong> der Organisationsforschung<br />
haben sollen, stellt H<strong>in</strong><strong>in</strong>gs (1988) nach wie vor erhebliche Unterschiede zwischen<br />
nordamerikanischer <strong>und</strong> europäischer Organisationsforschung fest. Er beklagt e<strong>in</strong>e wachsende<br />
<strong>und</strong> im Zuge der Donaldson-Debatte selbstauferlegte Isolation der nordamerikanischen<br />
Organisationsforschung von den <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie <strong>in</strong> Europa produzierten sozialwissenschaftlichen<br />
theoretischen Anstößen. Ebenfalls ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutigen H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>e Konvergenz<br />
der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung lässt die Studie von Üsdiken/Pasadeos<br />
(1995) zu. Sie gelangen zum Ergebnis, dass die Organisationsforschung neben Phasen der<br />
Konvergenz auch Phasen der Divergenz durchläuft <strong>und</strong> sich zum Zeitpunkt ihrer Studie <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er Phase der Divergenz bef<strong>in</strong>det, obwohl sie diese These aufgr<strong>und</strong> des fehlenden Längsschnittvergleichs<br />
nicht selbst belegen können.<br />
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es ke<strong>in</strong>en Konsens darüber gibt, wie sich die<br />
europäische <strong>und</strong> die nordamerikanische Forschung zue<strong>in</strong>ander verhalten <strong>und</strong> ob sie im<br />
Verlauf ihrer Entwicklung ähnlicher oder unterschiedlicher geworden s<strong>in</strong>d. Im nächsten<br />
Schritt soll nun die Entwicklung der deutschsprachigen Forschung näher betrachtet werden.<br />
Entwicklungsl<strong>in</strong>ien der deutschen Organisationsforschung<br />
Die ersten deutschsprachigen Publikationen zu Fragen der Unternehmensorganisation<br />
f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> den 70er Jahren des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>genieurwissenschaftlich<br />
dom<strong>in</strong>iert. Obwohl ab 1900 zunehmend auch kaufmännische Organisationsfragen erörtert<br />
werden, ist, ähnlich wie <strong>in</strong> den USA im Umfeld des Taylorismus (Taylor 1911), bis <strong>in</strong> die<br />
30er Jahre e<strong>in</strong> re<strong>in</strong> technisches Gr<strong>und</strong>verständnis <strong>in</strong> der praxisorientierten Organisationslehre<br />
vorherrschend. Davon unabhängig entwickelt sich die Organisationslehre als akademische<br />
Diszipl<strong>in</strong> wie die Allgeme<strong>in</strong>e Betriebswirtschaftslehre aus e<strong>in</strong>em Nebene<strong>in</strong>ander philosophisch-idealistischer<br />
<strong>und</strong> nationalökonomischer Wurzeln.<br />
Im Gegensatz zur US-amerikanischen Managementlehre seit den Harvard-Hawthorne-<br />
Studien <strong>in</strong> den 30er Jahren grenzte sich die betriebswirtschaftliche Organisationslehre auch<br />
gegenüber e<strong>in</strong>er tendenziell gesellschaftskritischen sozialwissenschaftlichen Industrie- <strong>und</strong><br />
Organisationsforschung ab. Die Betriebswirtschaftslehre <strong>in</strong> Deutschland def<strong>in</strong>iert sich<br />
überwiegend als ökonomische Diszipl<strong>in</strong>. In ihr nimmt die Organisationslehre als theorie-<br />
61<br />
3
gestützte Forschungsdiszipl<strong>in</strong> so lange nur e<strong>in</strong>e Randposition e<strong>in</strong>, bis die Ökonomie <strong>in</strong> den<br />
80er Jahren die Wende von der Neoklassik zur Institutionenökonomie (Williamson 1975;<br />
1985) vollzieht. Aufgr<strong>und</strong> der bestehenden Theorielücke wendet sich jedoch die Organisationsforschung<br />
seit den 70er Jahren zunehmend der soziologischen Organisationsforschung<br />
aus dem angelsächsischen Raum zu <strong>und</strong> begründet die verhaltenswissenschaftliche Richtung<br />
<strong>in</strong>nerhalb der Betriebswirtschaftslehre (Staehle 1988). Die 90er Jahre s<strong>in</strong>d schließlich<br />
durch e<strong>in</strong>e zunehmend offen ausgetragene Ause<strong>in</strong>andersetzung um die angemessene Theorief<strong>und</strong>ierung<br />
der betriebswirtschaftlichen Organisationsforschung gekennzeichnet, die bis<br />
zum heutigen Zeitpunkt noch anhält (Weibler 1996; Weibler/Wald 2004). Damit e<strong>in</strong>her geht<br />
auch die <strong>in</strong>ternationale Öffnung, die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vermehrten <strong>in</strong>ternationalen Austausch<br />
von Forschern, ihrer zunehmenden Verpflichtung zu <strong>in</strong>ternationalen Publikationen <strong>in</strong> englischsprachigen<br />
Tagungen, Fachzeitschriften <strong>und</strong> Curricula <strong>in</strong> der Ausbildung niederschlägt.<br />
Dennoch kann von erheblichen Unterschieden ausgegangen werden, die vor allem darauf<br />
zurückzuführen s<strong>in</strong>d, dass sich die Betriebswirtschaftslehre <strong>in</strong> Deutschland über e<strong>in</strong>en<br />
langen Zeitraum h<strong>in</strong>weg eigenständig, d.h. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigenen Sprache mit anerkannten wissenschaftlichen<br />
Zeitschriften <strong>und</strong> Tagungen entwickelt hat.<br />
Die Erklärung der Konvergenz wissenschaftlicher Diszipl<strong>in</strong>en<br />
In der Wissenschaftssoziologie haben sich bislang vier Modelle herausgebildet, mit denen<br />
die Entwicklung von Scientific Communities erklären lassen: e<strong>in</strong> anarchisches, e<strong>in</strong> ökonomisches,<br />
e<strong>in</strong> altruistisches <strong>und</strong> e<strong>in</strong> funktionales Modell der Scientific Community. Alle diese<br />
Modelle gehen von e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit der Community aus; es lassen sich aber auch Schlussfolgerungen<br />
für die Frage ableiten, unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen es zu e<strong>in</strong>er Annäherung von<br />
zwei benachbarten Communities kommen kann <strong>und</strong> ob vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Annäherung<br />
der deutschen <strong>und</strong> nordamerikanischen Organisationsforschung zu erwarten ist. In<br />
diesem Beitrag werden sie durch e<strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutionalistisches Modell erweitert, das besonders<br />
<strong>in</strong>teressant ersche<strong>in</strong>t, die Koevolution verschiedener Communities e<strong>in</strong>er Diszipl<strong>in</strong> zu beschreiben<br />
<strong>und</strong> erklären.<br />
Anarchisches<br />
Modell<br />
Altruistisches<br />
Modell<br />
Funktionales<br />
Modell<br />
Ökonomisches<br />
Modell<br />
Institutionales<br />
Modell<br />
Klassische Hauptvertreter Lakatos Hagström Merton Storer DiMaggio/Powell<br />
Wesentliche<br />
Entwicklungsanstöße<br />
Erkenntnis<br />
Anerkennung<br />
<strong>und</strong> kollektive<br />
Identitätsbildung<br />
Effizienz des<br />
Wissenschaftsbetriebs<br />
Gesellschaftliche<br />
Anerkennung<br />
Zwang<br />
Normierung<br />
Mimese<br />
Prognose zur Entwicklung<br />
regionaler Communities <strong>in</strong><br />
der Organisationsforschung<br />
ke<strong>in</strong>e<br />
Annäherung<br />
ke<strong>in</strong>e<br />
Annäherung<br />
ke<strong>in</strong>e<br />
Annäherung<br />
<strong>in</strong>haltliche <strong>und</strong><br />
methodische<br />
Annäherung<br />
<strong>in</strong>haltliche <strong>und</strong><br />
methodische<br />
Annäherung<br />
Tab. 1: Modelle wissenschaftlicher Entwicklung<br />
62<br />
4
Das Anarchische Modell des kritischen Rationalismus (Lakatos 1971) geht davon aus, dass<br />
sich e<strong>in</strong>e Community aus unabhängigen <strong>und</strong> rational handelnden E<strong>in</strong>zelwissenschaftlern zusammensetzt,<br />
deren <strong>in</strong>dividuelle Zielsetzung dar<strong>in</strong> besteht, wissenschaftliche Probleme zu<br />
lösen. E<strong>in</strong>e Kontaktaufnahme f<strong>in</strong>det dann statt, wenn der e<strong>in</strong>zelne Forscher glaubt, se<strong>in</strong>e<br />
Probleme leichter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kooperation mit anderen Forschern lösen zu können. Das treibende<br />
Motiv der Wissenschaft <strong>und</strong> ihrer Kooperationsformen ist <strong>in</strong> diesem Modell die Suche<br />
nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, dass die Mitglieder <strong>in</strong>nerhalb<br />
oder zwischen wissenschaftlichen Communities sich wahrnehmen <strong>und</strong> ane<strong>in</strong>ander orientieren,<br />
hängt demnach vor allem von der Vielfalt der Problemstellungen ab, mit denen sich die<br />
Mitglieder ause<strong>in</strong>andersetzen, <strong>und</strong> dem Aufwand, der zu ihrer Lösung notwendig ist:<br />
- Je größer die Vielfalt der Problemstellungen ist, um so ger<strong>in</strong>ger ist die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit,<br />
dass der e<strong>in</strong>zelne Forscher andere Forscher f<strong>in</strong>det, die an derselben Frage<br />
arbeiten.<br />
- Je höher der Aufwand ist, der zur Problemlösung notwendig ist, um so höher ist die<br />
Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit, dass der e<strong>in</strong>zelne Forscher es für vorteilhaft ansieht, mit anderen<br />
Forschern zusammenzuarbeiten bzw. sich an ihren Standards zu orientieren.<br />
Die Organisationsforschung ist durch e<strong>in</strong>e lange Tradition konkurrierender oder isolierter<br />
Paradigmen gekennzeichnet (Burrell/Morgan 1979; Astley/Van de Ven 1983), die dem<br />
e<strong>in</strong>zelnen Forscher große Freiheiten <strong>in</strong> der Wahl se<strong>in</strong>es theoretischen Bezugsrahmens lässt.<br />
Im Gegensatz zu weiten Bereichen naturwissenschaftlicher oder technischer Forschung gibt<br />
es auch ke<strong>in</strong>e konsensfähigen Erkenntnisziele, an denen sich das Ausmaß wissenschaftlichen<br />
Fortschritts bestimmen ließe, auch wenn immer wieder Versuche unternommen<br />
wurden, Standards für e<strong>in</strong>e fortschrittsfähige Organisationsforschung durchzusetzen<br />
(Donaldson 1985, Reed 1985, Pfeffer 1993). Auch die zweite Bed<strong>in</strong>gung ist im Fall der<br />
Organisationsforschung kaum gegeben. Die Vielfalt der Untersuchungsgegenstände wird<br />
durch e<strong>in</strong>e Vielfalt <strong>in</strong> den Untersuchungsmethoden begleitet. Im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen<br />
Forschung haben sich die Instrumente organisationswissenschaftlicher Studien<br />
<strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten kaum verändert <strong>und</strong> die zunehmende Komplexität von Methoden<br />
der Datenauswertung wurde durch die Kapazitäten der elektronischen Datenverarbeitung<br />
stets mehr als kompensiert. Somit ist es aus der Perspektive des anarchischen Modells unwahrsche<strong>in</strong>lich,<br />
dass es <strong>in</strong> der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung zu e<strong>in</strong>er Konvergenz<br />
zwischen verschiedenen Scientific Communities kommt.<br />
Im Altruistischen Modell gründet e<strong>in</strong>e Scientific Community auf dem wechselseitigen "giftgiv<strong>in</strong>g"<br />
der beteiligten Wissenschaftler (Hagström 1965). Die wechselseitigen Geschenke<br />
bestehen dabei <strong>in</strong> den Kollegen zugänglich gemachten Erkenntnissen. H<strong>in</strong>ter diesem Verhalten<br />
steht der Wunsch, e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same wissenschaftliche Identität herzustellen bzw. zu<br />
bewahren. Hagström geht davon aus, dass sich unter den Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er staatlichen oder<br />
donativen F<strong>in</strong>anzierung wissenschaftlicher Forschung <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em relativ ger<strong>in</strong>gen Wettbe-<br />
63<br />
5
werbsdruck um knappe Ressourcen e<strong>in</strong> solches Austauschpr<strong>in</strong>zip gegenüber dem <strong>in</strong>dividuellen<br />
Streben nach persönlichem Erfolg durchzusetzen vermag. Die Motivation zu wissenschaftlicher<br />
Forschung <strong>und</strong> Veröffentlichung ihrer Ergebnisse resultiert daraus, Anerkennung<br />
<strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er überschaubaren Geme<strong>in</strong>schaft von Forscherkollegen zu erlangen.<br />
Wenn verschiedene Communities vone<strong>in</strong>ander getrennt s<strong>in</strong>d, weil sie beispielsweise mit<br />
unterschiedlichen Methoden arbeiten oder <strong>in</strong> verschiedenen Sprachen kommunizieren, fehlt<br />
der Anstoß zum Austausch über die Grenzen der e<strong>in</strong>zelnen Communities h<strong>in</strong>weg. Wo die<br />
Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>same Identität besteht, verstärkt sie sich. Mit dem Wachstum<br />
e<strong>in</strong>er Community kann es allerd<strong>in</strong>gs zu e<strong>in</strong>er Spaltung kommen, weil mit zunehmender<br />
Größe <strong>und</strong> Komplexität die gegenseitige Versicherung über die geme<strong>in</strong>same Identität<br />
schwieriger wird. Für die Organisationsforschung treffen diese Bed<strong>in</strong>gungen ebenso zu wie<br />
e<strong>in</strong> relativ ger<strong>in</strong>ger Wettbewerbsdruck, da diese Forschungsdiszipl<strong>in</strong> nur beschränkt fortschrittsfähig<br />
im naturwissenschaftlichen S<strong>in</strong>n <strong>und</strong> eher durch periodische Moden <strong>und</strong><br />
Mythen geprägt ist. Daraus ergibt sich für unsere Forschungsfrage ebenfalls die Prognose,<br />
dass es zu ke<strong>in</strong>er Annäherung der deutschen <strong>und</strong> der nordamerikanischen Organisationsforschung<br />
kommt.<br />
Die 'arbeitsteilige Produktion' von Wissen steht im Mittelpunkt des Funktionalen Modells<br />
der Scientific Community (Merton 1973). Angesichts e<strong>in</strong>es immer stärker wachsenden Wissenschaftsbetriebs<br />
hebt es auf die vorherrschenden Arbeitsprozeduren als soziale Klammer<br />
ab. Die Effizienz dieser <strong>in</strong>ternen Prozesse zu steigern, ist die wesentliche Triebfeder wissenschaftlichen<br />
Arbeitens. Demnach setzen sich <strong>in</strong> fortschrittsfähigen Diszipl<strong>in</strong>en effizientere<br />
gegenüber weniger effizienten Methoden durch. Fehlt dagegen e<strong>in</strong> konsensfähiges Effizienzkriterium,<br />
kann sich e<strong>in</strong>e Vielfalt der Methoden <strong>und</strong> Fragestellungen erhalten. In der<br />
wirtschafts- <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Forschung s<strong>in</strong>d als Methoden vor allem Konstrukte<br />
<strong>und</strong> Theorien anzusehen, welche die Forschertätigkeit lenken. E<strong>in</strong> Effizienzkriterium<br />
wäre demnach die Bewährung oder Widerlegung dieser Theorien – <strong>und</strong> das <strong>in</strong>sbesondere im<br />
direkten Wettbewerb der verschiedenen Schulen. Das wird vor allem dadurch verh<strong>in</strong>dert,<br />
dass die vorherrschenden Theorien nicht falsifikationsfähig angelegt s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> ihre eigenen<br />
Effizienzkriterien def<strong>in</strong>iert haben. Der Multiparadigmenansatz (Morgan 1986) <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Organisationsforschung legt zudem nahe, eher von e<strong>in</strong>er gegenseitigen Ergänzung der Erklärungsleistungen<br />
verschiedener Theorien als von e<strong>in</strong>er direkten Konkurrenz zwischen<br />
ihnen auszugehen, wie das die multiparadigmatische Studie von Hassard (1991) e<strong>in</strong>drucksvoll<br />
zeigt. Ansatzpunkte für e<strong>in</strong>e effizienzsteigernde Bere<strong>in</strong>igung von Methoden fehlen auf<br />
der <strong>in</strong>ternationalen Ebene, wenn sie nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er nationalen Community<br />
möglich s<strong>in</strong>d. Für die Organisationsforschung gibt es deshalb wenig Anlass für e<strong>in</strong>e<br />
<strong>in</strong>ternationale Standardisierung <strong>und</strong> Annäherung.<br />
Im Ökonomischen Modell wird die Scientific Community wie e<strong>in</strong> Warenmarkt behandelt:<br />
Es geht <strong>in</strong> der Tat um den Austausch des sozialen 'Gutes' gesellschaftlicher Anerkennung<br />
64<br />
6
(Storer 1966). Das wissenschaftliche 'Handeln' ist nicht auf Erkenntnisfortschritt ausgerichtet,<br />
sondern auf die Err<strong>in</strong>gung dieses Gutes als Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e Verbesserung der eigenen<br />
Position <strong>in</strong> weiteren Tauschprozessen. Die Wahl e<strong>in</strong>es bestimmten Paradigmas oder e<strong>in</strong>er<br />
Forschungsrichtung stellt für den e<strong>in</strong>zelnen Wissenschaftler e<strong>in</strong>e Investitionsentscheidung<br />
dar. Sich e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>flussreichen Richtung anzuschließen, reduziert das persönliche Risiko, die<br />
angestrebte Anerkennung nicht zu erlangen. Etablierte Forschungsrichtungen tendieren<br />
dazu, weiter zu wachsen, weil sie nachrückenden Forschern günstige Produktionsbed<strong>in</strong>gungen<br />
verschaffen, solange sich noch aussichtsreiche Forschungsgebiete <strong>in</strong>nerhalb der Grenzen<br />
der Richtung eröffnen, die aufmerksamkeitserzeugende Ergebnisse versprechen.<br />
Erschöpft sich die Ausbeute neuer Erkenntnisse <strong>in</strong>nerhalb der Forschungsrichtung, so<br />
kommt es zum Abbröckeln, was dar<strong>in</strong> besteht, dass ke<strong>in</strong>e neuen Forscher mehr e<strong>in</strong>treten<br />
<strong>und</strong> die verbleibenden etablierten Forscher abtreten (Stephan 1996; Franck/Jungwirth 2001).<br />
Es ersche<strong>in</strong>t also plausibel, dass es vor allem dann zu e<strong>in</strong>er Annäherung zwischen zwei<br />
regionalen Communities kommt, wenn e<strong>in</strong>e von beiden besonders attraktive Perspektiven<br />
für Nachwuchsforscher verspricht, die E<strong>in</strong>trittsbarrieren niedrig s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e rasche<br />
Abfolge von Paradigmen <strong>und</strong> Theorien e<strong>in</strong>e schleichende Erschöpfung der Perspektiven<br />
<strong>in</strong>nerhalb der attraktiven Community verh<strong>in</strong>dert. Es ist davon auszugehen, dass die<br />
nordamerikanische Organisationsforschung solche günstigen Bed<strong>in</strong>gungen bietet. Die Anerkennung<br />
für Beiträge im nordamerikanischen Diskurs wächst zunehmend gegenüber solchen<br />
<strong>in</strong> der eigenen, deutschsprachigen Community. So s<strong>in</strong>d auch die E<strong>in</strong>trittsbarrieren <strong>in</strong><br />
den englischsprachigen Diskurs s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den letzten Jahren zunehmend gefallen, <strong>in</strong>dem die<br />
Zahl von Kongressen <strong>und</strong> Fachzeitschriften, die zu englischsprachigen Beiträgen e<strong>in</strong>laden,<br />
seit e<strong>in</strong>iger Zeit stetig anwächst. Das ökonomische Modell lässt deshalb durchaus e<strong>in</strong>e Annäherung<br />
der deutschsprachigen an die nordamerikanische Forschung erwarten.<br />
Aus der Perspektive des <strong>in</strong>stitutionalistischen Modells lautet die zentrale Frage: Unter welchen<br />
Bed<strong>in</strong>gungen kommt es zu Isomorphie der Organisationsstrukturen regionaler Scientific<br />
Communities <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Forschungsdiszipl<strong>in</strong>?<br />
Die <strong>in</strong>stitutionalistische Theorie (Meyer/Rowan 1977; DiMaggio/Powell 1983) hat sich im<br />
Laufe der 90er Jahre zu e<strong>in</strong>er der e<strong>in</strong>flussreichsten Theorien der Organisationsforschung<br />
entwickelt, wie die zunehmenden Zitationsanteile <strong>in</strong> den führenden Journals zeigt (Gmür<br />
2003: 39). Auf die Frage der organisationalen Entwicklung von Scientific Communities<br />
wurde diese Theorie bislang noch nicht angewandt. Wie aber im Folgenden gezeigt wird,<br />
bietet sich e<strong>in</strong> Institutionelles Modell der Scientific Community besonders dafür an, um zu<br />
Erkenntnissen über die Beziehungen zwischen verschiedenen Communities zu gelangen.<br />
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen <strong>in</strong> diesem Modell Fragen der E<strong>in</strong>bettung von<br />
Organisationen als Medium <strong>in</strong>stitutioneller Arrangements <strong>in</strong> ihr <strong>in</strong>stitutionelles Umfeld. In<br />
gewisser Weise wird also die Blickrichtung des Institutionalismus umgekehrt, <strong>in</strong>dem nicht<br />
mehr die Bedeutung bestimmter Institutionen für deren Umwelt thematisiert wird, sondern<br />
die externe Bed<strong>in</strong>gtheit eben dieser Institutionen.<br />
65<br />
7
Im Mittelpunkt e<strong>in</strong>er neo<strong>in</strong>stitutionalistischen Erklärung steht die regionale Scientific Community<br />
e<strong>in</strong>er Diszipl<strong>in</strong>, hier der Organisationsforschung, als Institution <strong>und</strong> die <strong>in</strong>ternationale<br />
Organisationsforschung selbst als deren <strong>in</strong>stitutionelles Umfeld. Der Begriff der<br />
Institution steht für Regeln <strong>und</strong> Praktiken, welche die Entscheidungen <strong>und</strong> das Verhalten<br />
der Mitglieder dauerhaft leiten. Die Scientific Community ist e<strong>in</strong> Personenverband, der an<br />
e<strong>in</strong>em abgrenzbaren wissenschaftlichen Projekt aktiv beteiligten <strong>und</strong> mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong>teragierenden<br />
Wissenschaftler (Bühl 1974), welche die geme<strong>in</strong>samen Praktiken <strong>und</strong> Regeln anwenden.<br />
Im Fall der vorliegenden Untersuchung fiel die Entscheidung für e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche<br />
<strong>und</strong> regionale Def<strong>in</strong>ition der Scientific Community: Von e<strong>in</strong>er deutschen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er nordamerikanischen<br />
organisationswissenschaftlichen Community zu sprechen, ist nicht nur angesichts<br />
der Ausgangsfrage der Untersuchung notwendig, sondern wird auch durch die<br />
Beobachtung gerechtfertigt, dass im Fall der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung e<strong>in</strong>e,<br />
verglichen mit anderen Diszipl<strong>in</strong>en, starke Regionalisierung festzustellen ist. Sie zeigt sich<br />
daran, dass beispielsweise im Fall der deutschen <strong>und</strong> nordamerikanischen Organisationsforschung<br />
weitgehend überschneidungsfreie Wissenschaftlerverbände, Publikationssprachen<br />
<strong>und</strong> -organe vorliegen<br />
Das <strong>in</strong>stitutionelle Modell geht davon aus, dass e<strong>in</strong>e Institution die <strong>in</strong> ihrem <strong>in</strong>stitutionellen<br />
Umfeld herrschenden 'Mythen' (Meyer/Rowan 1977) widerspiegelt <strong>und</strong> nicht professionelle<br />
Anforderungen. Solche Anforderungen wären beispielsweise die Nutzung besonders bewährter<br />
Theorien <strong>und</strong> empirischer Forschungsmethoden. Deshalb ist der wichtigste<br />
Bezugspunkt für das Verhalten e<strong>in</strong>er Scientific Community nicht die Produktion neuen wissenschaftlichen<br />
Wissens, sondern die Legitimation im <strong>in</strong>stitutionellen Feld durch Übernahme<br />
der dort <strong>in</strong>stitutionalisierten Regeln – d.h. <strong>in</strong> diesem Fall: allgeme<strong>in</strong> akzeptierte<br />
Vorstellungen über wissenschaftlich s<strong>in</strong>nvolle Themen <strong>und</strong> Methoden. Folge dieser Adaption<br />
der wissenschaftlichen Konventionen ihres <strong>in</strong>stitutionellen Feldes ist die wechselseitige<br />
Annäherung der regionalen Scientific Communities <strong>und</strong> damit die wachsende Isomorphie<br />
der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung, was verwendete Sprachen, Publikationsorgane,<br />
Arbeitsweisen <strong>und</strong> Prioritäten <strong>in</strong> der Themenwahl betrifft.<br />
An dieser Stelle lassen sich die ursprünglich nur empiristisch formulierten Annahmen über<br />
die Entwicklung der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er ersten <strong>in</strong>stitutionalistischen<br />
Hypothese auch theoretisch fassen: Das Streben nach Legitimation im <strong>in</strong>stitutionellen<br />
Feld läßt die e<strong>in</strong>zelnen regionalen organisationswissenschaftlichen Scientific Communities<br />
dort herrschende Themen <strong>und</strong> Methoden übernehmen, was gleichbedeutend mit e<strong>in</strong>er<br />
wachsenden Isomorphie der <strong>in</strong>ternationalen Organisationsforschung ist.<br />
Pr<strong>in</strong>zipiell kommen Imitation, Normung <strong>und</strong> Zwang als Auslöser isomorphischer Effekte <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>stitutionellen Feld <strong>in</strong> Frage (DiMaggio/Powell 1983), d.h. die Übernahme mit<br />
besonders hoher Legitimation versehener Verhaltensmuster e<strong>in</strong>er anderen Institution (=<br />
Imitation), die Anerkennung bestimmter professioneller Standards <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>stitutionellen<br />
Feld (= Normung) bzw. die Unterwerfung unter dort kodifizierte Regeln (= Zwang). Im Fall<br />
der Organisationsforschung dürfte <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Imitation stattf<strong>in</strong>den: Angesichts der<br />
66<br />
8
paradigmatischen Gr<strong>und</strong>satzdiskussionen der letzten Jahre könnte die Kopie der Forschung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen wenigen Scientific Communities e<strong>in</strong>e Strategie se<strong>in</strong>, die Unsicherheit über den<br />
Status der eigenen Diszipl<strong>in</strong> zu verr<strong>in</strong>gern. Zwang könnte <strong>in</strong>sofern als Auslöser wirken, als<br />
die kritischen Ressourcen <strong>in</strong> der Organisationsforschung, nämlich Publikationsforen, an<br />
Stellenwert gew<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> gleichzeitig e<strong>in</strong>e Zentralisierung erfahren. Allerd<strong>in</strong>gs haben<br />
Zitations<strong>in</strong>dizes <strong>und</strong> Peer-Review-Verfahren als Manifestationen dieser Entwicklung <strong>in</strong> den<br />
e<strong>in</strong>zelnen Scientific Communities noch e<strong>in</strong>en sehr unterschiedlichen Stellenwert. Normierung<br />
als letzter möglicher Isomorphieauslöser dürfte angesichts der nach wie vor ger<strong>in</strong>gen<br />
professionellen Vernetzung der Organisationsforschung dagegen von eher nachgeordneter<br />
Bedeutung se<strong>in</strong>.<br />
Imitation <strong>und</strong> Zwang als wahrsche<strong>in</strong>liche Isomorphieauslöser werden im Fall der Organisationsforschung<br />
also dazu führen, dass die <strong>in</strong>ternationale Isomorphie e<strong>in</strong>seitig, d.h. auf e<strong>in</strong>e<br />
führende Scientific Community ausgerichtet auftritt: Nicht nur die lange Tradition <strong>und</strong> das<br />
hohe Ansehen, sondern auch die Tatsache, dass sie die Heimat der wesentlichen <strong>in</strong>ternationalen<br />
Fachjournale ist, sprechen daher für e<strong>in</strong>e Dom<strong>in</strong>anz der nordamerikanischen Organisationsforschung.<br />
Diese Annäherung der übrigen Scientific Communities an die nordamerikanische<br />
dürfte allerd<strong>in</strong>gs erst zeitlich verzögert auftreten, da <strong>in</strong> der Regel zwischen dem<br />
Auftreten, der Wahrnehmung <strong>und</strong> der Rezeption e<strong>in</strong>es wissenschaftlichen Trends mehrere<br />
Jahre liegen, die der Literaturverarbeitung, Umsetzung <strong>in</strong> Forschungsarbeit <strong>und</strong> Texterstellung<br />
gewidmet s<strong>in</strong>d. Aufgr<strong>und</strong> des notwendigen Rezeptionsaufwands erfolgt die Angleichung<br />
der übrigen Scientific Communities an die nordamerikanische mit mehrjähriger Verzögerung.<br />
Untersuchungsmethodik<br />
Gr<strong>und</strong>lage der empirischen Studie s<strong>in</strong>d Zitationsdaten von Veröffentlichungen wissenschaftlichen<br />
Zeitschriften im Zeitraum von 1990 bis 1999. Die Daten werden mit der bibliographischen<br />
Methode der Kozitationsanalyse untersucht. Mit dieser Methode lässt sich die<br />
Struktur wissenschaftlicher Diszipl<strong>in</strong>en analysieren <strong>und</strong> abbilden. E<strong>in</strong>e Kozitation von zwei<br />
Veröffentlichungen oder Autoren liegt vor, wenn sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er weiteren Veröffentlichung<br />
geme<strong>in</strong>sam zitiert werden, d.h. im selben Literaturverzeichnis genannt s<strong>in</strong>d. Die Kozitationsanalyse<br />
beruht auf zwei gr<strong>und</strong>legenden Annahmen:<br />
- Das Zitat ist e<strong>in</strong> geeigneter Indikator für wissenschaftliche Kommunikation (Small<br />
1978) <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>e Gr<strong>und</strong>lage zur Identifizierung von '<strong>in</strong>visible colleges'. Mit<br />
diesem Begriff werden Netzwerke von Forschern bezeichnet, die <strong>in</strong> ihren Publikationen<br />
aufe<strong>in</strong>ander Bezug zu nehmen, ohne formal organisatorisch mite<strong>in</strong>ander verb<strong>und</strong>en<br />
zu se<strong>in</strong> (Crane 1972; Lievrouw 1989). Die Zitationshäufigkeit ist e<strong>in</strong> valides <strong>und</strong><br />
reliables Maß für die Bedeutung, die der zitierten Quelle – gleichgültig ob zustimmend<br />
oder kritisierend – zugesprochen wird.<br />
67<br />
9
- Die Kozitation zweier Autoren oder Publikationen ist e<strong>in</strong> geeigneter Indikator für die<br />
Messung ihrer <strong>in</strong>haltlichen Nachbarschaft. Die Kozitationshäufigkeit ist e<strong>in</strong> valides<br />
<strong>und</strong> reliables Maß zur Beantwortung der Frage, welche Autoren oder Publikationen <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er engen Beziehung zue<strong>in</strong>ander stehen bzw. ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltlichen Bezüge aufweisen<br />
(Small 1978; White/Griffith 1981).<br />
Der Schwerpunkt kozitationsanalytischer Forschung liegt traditionell <strong>in</strong> den Naturwissenschaften,<br />
jedoch liegen <strong>in</strong>zwischen auch für verschiedene sozialwissenschaftliche Diszipl<strong>in</strong>en<br />
Studien vor. Obwohl die vorliegenden Studien ähnliche Ziele verfolgen, ist die Methodenvielfalt<br />
noch beträchtlich. Je nachdem, wie die e<strong>in</strong>zelnen Kozitationsbeziehungen gewichtet<br />
<strong>und</strong> nach welchem Verfahren sie zu Clustern zusammengefügt werden, zeigen sich<br />
unterschiedliche Ergebnisse, wie die wenigen bislang vorliegenden Studien zur Methodenevaluation<br />
zeigen (Small/Sweeney 1984; Gmür 2003).<br />
Zur Organisationsforschung liegen bislang zwei Studien vor: Culnan et al. (1990) untersuchten<br />
die Kozitationsstrukturen zwischen 52 gezielt ausgewählten nordamerikanischen<br />
Organisationsforschern <strong>und</strong> ermittelten faktoranalytisch zwei etwa gleich stark besetzte<br />
Hauptrichtungen: Auf den ersten Faktor, den die Autoren als Makroansatz bezeichneten,<br />
luden 22 Autoren mit e<strong>in</strong>er strukturorientierten Ausrichtung, auf den zweiten Faktor, den<br />
Mikroansatz, weitere 21 Autoren mit e<strong>in</strong>em überwiegend organisationspsychologischen<br />
H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>. Üsdiken/Pasadeos (1995) untersuchten nordamerikanische <strong>und</strong> europäische<br />
Kozitationsstrukturen auf der Basis aller Veröffentlichungen der "Adm<strong>in</strong>istrative Science<br />
Quarterly" bzw. der "Organization Studies" im Zeitraum von 1990 bis 1992. Sie stellen für<br />
die nordamerikanische Forschung e<strong>in</strong>e Dom<strong>in</strong>anz der populationsökologischen Forschung<br />
fest, während sich für das breiter ausgerichtete europäische Journal mehrere, aber <strong>in</strong> sich<br />
locker gekoppelte Theoriecluster zeigen. Ihre Cluster ermitteln sie nicht faktoranalytisch,<br />
sondern <strong>in</strong>dem sie die Anzahl der Kozitationsbeziehungen auf diejenigen mit den absolut<br />
höchsten Werten beschränken. Diese Vorgehensweise ist vor allem dazu geeignet, den<br />
konzeptionellen Kern e<strong>in</strong>er Forschungsrichtung herauszuarbeiten, während die Differenzierungen<br />
<strong>in</strong>nerhalb dieser Richtung verborgen bleiben (Gmür 2003: 45).<br />
Zur Analyse der Konvergenz zwischen der deutschen <strong>und</strong> der nordamerikanischen Organisationsforschung<br />
wurden mehrere zitations- <strong>und</strong> kozitationsanalytische Indikatoren gebildet:<br />
a) Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>in</strong> den Rangreihen der meistzitierten Publikationen: Für beide Communities<br />
<strong>und</strong> Zeitperioden wurden die jeweils 10 meistzitierten Publikationen ermittelt<br />
<strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Liste zusammengeführt. Für jede der <strong>in</strong>sgesamt 40 Quellen wurde<br />
die relative Zitationshäufigkeit (gemessen an der Anzahl der ausgewerteten Artikel) <strong>in</strong><br />
allen vier Gruppen ermittelt. Als Distanzmaß wurde der Pearson Korrelationskoeffizient<br />
gewählt. Bei hoher Ähnlichkeit erreicht der Koeffizient e<strong>in</strong>en positiven Wert, der gegen<br />
1 strebt. E<strong>in</strong> Koeffizient um den Nullpunkt steht für e<strong>in</strong>e mittlere Ähnlichkeit, während<br />
e<strong>in</strong> hoher negativer Koeffzient e<strong>in</strong>e m<strong>in</strong>imale Ähnlichkeit repräsentiert. Dem gewählten<br />
68 10
Indikator liegt die Annahme zugr<strong>und</strong>e, dass sich zwei Communities <strong>in</strong> dem Maße<br />
ane<strong>in</strong>ander annähern, wie sie ihrer Forschung dieselben Quellen zugr<strong>und</strong>e legen. Da die<br />
deutschsprachige Literatur aufgr<strong>und</strong> der e<strong>in</strong>seitig wirksamen Sprachbarriere <strong>in</strong> der<br />
nordamerikanischen Forschung fast überhaupt nicht rezipiert wird, steht hier die Frage<br />
im Mittelpunkt, ob sich der Anteil englischsprachiger Quellen <strong>in</strong> der deutschen<br />
Organisationsforschung erhöht hat <strong>und</strong> <strong>in</strong> welchem Maße deutsche Forscher sich an denjenigen<br />
Publikationen orientieren, die auch <strong>in</strong> der nordamerikanischen Forschung am<br />
e<strong>in</strong>flussreichsten s<strong>in</strong>d.<br />
b) Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>in</strong> den Rangreihen der meistzitierten Journals: Für beide Communities<br />
<strong>und</strong> Zeitperioden wurden die jeweils 10 Journals ermittelt, <strong>in</strong> denen die meisten der<br />
zitierten Publikationen veröffentlicht wurden, <strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Liste zusammengeführt.<br />
Für jedes der 40 Journals wurde die relative Zitationshäufigkeit (gemessen an der<br />
Anzahl der ausgewerteten Artikel) <strong>in</strong> allen vier Gruppen ermittelt. Als Distanzmaß<br />
wurde hier ebenfalls der Pearson Korrelationskoeffizient gewählt. Auch diesem Indikator<br />
liegt die Annahme zugr<strong>und</strong>e, dass sich e<strong>in</strong>e Konvergenz dar<strong>in</strong> zeigt, dass zwei<br />
Communities auf dieselben Fachzeitschriften zurückgreifen. Im vorliegenden Fall geht<br />
es um die Frage, ob deutsche Forscher sich zunehmend auf Artikel <strong>in</strong> englischsprachigen<br />
Journals beziehen.<br />
c) Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>in</strong> den theoretischen Schwerpunkten: Für beide Communities <strong>und</strong><br />
Zeitperioden wurde e<strong>in</strong> Kozitationsnetzwerk erstellt, das zeigt, welche Publikationen<br />
nicht nur am häufigsten zitiert, sondern aufgr<strong>und</strong> ihrer Kozitation mit anderen Publikationen<br />
e<strong>in</strong>e zentrale Stellung <strong>in</strong>nerhalb der Community e<strong>in</strong>nehmen. Außerdem wurden<br />
für jede der vier Artikelgruppen die e<strong>in</strong>flussreichsten Schulen identifiziert <strong>und</strong> mite<strong>in</strong>ander<br />
verglichen.<br />
Datensatz<br />
Die Untersuchung von Üsdiken <strong>und</strong> Pasadeos, <strong>in</strong> der die Zitationsstrukturen der "Adm<strong>in</strong>istrative<br />
Science Quarterly" (ASQ) als Indikator für die nordamerikanische Organisationsforschung<br />
gewählt wurde, bildet auch den Ausgangspunkt für die vorliegende Studie, wurde<br />
jedoch erweitert:<br />
- Der Untersuchungszeitraum besteht aus zwei Zeitperioden Anfang <strong>und</strong> Ende der 90er<br />
Jahre, um Veränderungen <strong>in</strong> den Differenzen zwischen den beiden Communities messen<br />
zu können. Die ausgewerteten Veröffentlichungen stammen aus den Zeiträumen<br />
1990-92 <strong>und</strong> 1997-99.<br />
- Die Struktur der nordamerikanischen Organisationsforschung wurde auf Basis von<br />
Veröffentlichungen der "Adm<strong>in</strong>istrative Science Quarterly" (ASQ) <strong>und</strong> der "Academy<br />
of Management Review" (AMR) untersucht. Beide Journals nehmen <strong>in</strong>nerhalb der<br />
managementorientierten Organisationsforschung ähnlich führende Positionen e<strong>in</strong>, wei-<br />
69 11
sen aber unterschiedliche Theorieschwerpunkte auf. So zeigt sich beispielsweise, dass<br />
die Dom<strong>in</strong>anz der populationsökologischen Forschung Anfang der 90er Jahre spezifisch<br />
für die ASQ galt <strong>und</strong> dort auch mit e<strong>in</strong>er starken Präsenz evolutionstheoretischer<br />
Forscher im Herausgeber-Board e<strong>in</strong>her g<strong>in</strong>g, wodurch die Repräsentativität der ASQ<br />
für die nordamerikanische Organisationsforschung <strong>in</strong> Frage gestellt ist. Die AMR wurde<br />
auch aus Gründen der Vergleichbarkeit gewählt, weil sie als nicht-empirisches Journal<br />
die konzeptionell orientierte Organisationsforschung repräsentiert, die <strong>in</strong> der deutschen<br />
Community traditionell e<strong>in</strong>e starke Rolle spielt 1 .<br />
Für den nordamerikanischen Datensatz wurden alle Artikel der ASQ <strong>und</strong> AMR ausgewählt,<br />
die im SSCI unter den Kategorien "Article", "Note" oder "Review" erfasst s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> deren<br />
Verfasser zum Zeitpunkt der Veröffentlichung <strong>in</strong> Nordamerika tätig s<strong>in</strong>d. Ausgeklammert<br />
blieben die Sonderausgaben mit explizitem Themenschwerpunkten <strong>und</strong> besonderer Herausgeberschaft.<br />
Da nicht der gesamte Zeitraum, sondern nur e<strong>in</strong>zelne Dreijahreszeiträume<br />
ausgewertet wurden, könnte die Häufung mehrerer Artikel zu e<strong>in</strong>em spezifischen Thema zu<br />
e<strong>in</strong>er Verzerrung der relativen Gewichte der Schulen <strong>in</strong>nerhalb der Community führen.<br />
Diese Vorgehensweise entspricht zudem derjenigen von Üsdiken/Pasadeos (1995). Für die<br />
Kozitationsanalyse wurden alle Quellen mit e<strong>in</strong>er Autorennennung erfasst.<br />
Adm<strong>in</strong>istrative Science<br />
Quarterly (ASQ)<br />
Academy of Management<br />
Review (AMR)<br />
Anzahl<br />
Artikel<br />
1990 - 1992 1997 - 1999<br />
Ø Quellen<br />
pro Artikel<br />
Anzahl<br />
Artikel<br />
Ø Quellen<br />
pro Artikel<br />
49 57,0 56 79,4<br />
74 80,4 67 87,2<br />
Gesamt 123 70,3 123 83,6<br />
Tab. 2: Datensatz Nordamerika<br />
Im Gegensatz zum nordamerikanischen Raum existiert <strong>in</strong> den 90er Jahren <strong>in</strong> Deutschland<br />
ke<strong>in</strong>e Zeitschrift mit e<strong>in</strong>em Peer-Review-Verfahren, das auf die Organisationsforschung<br />
spezialisiert ist. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zu organisationstheoretischen Fragen<br />
verteilen sich auf e<strong>in</strong>e Reihe von betriebswirtschaftlichen, soziologischen <strong>und</strong> psychologischen<br />
Journals. Um e<strong>in</strong>e Vergleichbarkeit zu erreichen, wurde der Kreis der Fachzeitschriften<br />
auf alle <strong>in</strong> Deutschland ersche<strong>in</strong>enden betriebswirtschaftlichen Periodika e<strong>in</strong>gegrenzt. Es<br />
handelt sich dabei um vier allgeme<strong>in</strong>e betriebswirtschaftliche Zeitschriften, die alle vor<br />
1950 gegründet wurden, sowie die "Zeitschrift für Personalforschung" <strong>und</strong> die "Managementforschung",<br />
die beide erst um 1990 entstanden s<strong>in</strong>d, aber e<strong>in</strong>e zentrale Rolle für die<br />
Organisationsforschung spielen.<br />
Da aber nur e<strong>in</strong> Bruchteil der Artikel der Organisationsforschung zuzuordnen s<strong>in</strong>d, wurde<br />
e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Auswahl vorgenommen. Dies erwies sich als schwierig, da allgeme<strong>in</strong><br />
70 12
akzeptierte Abgrenzungskriterien zwischen der Organisationslehre <strong>und</strong> anderen betriebswirtschaftlichen<br />
Diszipl<strong>in</strong>en fehlen. Die Auswahl erfolgte deshalb durch den Autor <strong>und</strong><br />
e<strong>in</strong>en weiteren Organisationsforscher, die im ersten Schritt e<strong>in</strong>e Liste von Schlüsselbegriffen<br />
entwarfen <strong>und</strong> anschließend unabhängig vone<strong>in</strong>ander e<strong>in</strong>e Auswahl nach folgenden<br />
Kriterien vornahmen.<br />
• Aus Journals mit Schlüsselwort-Index wurden diejenigen Artikel ausgewählt, die mit<br />
dem Begriff "Organisation" oder e<strong>in</strong>em anderen <strong>in</strong>stitutionellen Organisationsbegriff<br />
(Netzwerk, Kultur oder Gruppe) verschlagwortet s<strong>in</strong>d.<br />
• Zusätzlich dazu wurden <strong>in</strong> sämtlichen Zeitschriften diejenigen Artikel ausgewählt, <strong>in</strong><br />
deren Titel das Wort "Organisation", "organisatorisch" oder e<strong>in</strong> <strong>in</strong>stitutioneller Organisationsbegriff<br />
enthalten ist.<br />
Wo die beiden Forscher zu e<strong>in</strong>er unterschiedlichen Entscheidung für oder gegen e<strong>in</strong>en<br />
Artikel gelangten oder Unklarheit über nachträglich zu berücksichtigenden Schlüsselbegriffe<br />
entstand, wurde nach Diskussion e<strong>in</strong>e abschließende Entscheidung gefällt.<br />
E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Artikel wurde ausgeschieden, weil se<strong>in</strong>e Verfasser englischsprachig <strong>und</strong> an<br />
e<strong>in</strong>er britischen Universität tätig s<strong>in</strong>d. Wie Tabelle 3 zeigt, ist die Zahl der Veröffentlichungen<br />
zur Organisationsforschung <strong>in</strong> wissenschaftlichen Journals beschränkt, konnte aber<br />
nicht erhöht werden, ohne die <strong>in</strong>haltliche Vergleichbarkeit mit dem nordamerikanischen<br />
Datensatz zu gefährden.<br />
Anzahl<br />
Artikel<br />
1990 - 1992 1997 - 1999<br />
Ø Quellen<br />
pro Artikel<br />
Anzahl<br />
Artikel<br />
Ø Quellen<br />
pro Artikel<br />
Die Betriebswirtschaft 13 39,2 15 53,3<br />
Zeitschrift für<br />
Betriebswirtschaft<br />
Zeitschrift für betriebswirtschaftliche<br />
Forschung<br />
Betriebswirtschaftliche<br />
Forschung <strong>und</strong> Praxis<br />
Zeitschrift für<br />
Personalforschung<br />
5 22,4 12 29,8<br />
3 30,3 4 45,8<br />
3 14,7 1 21,0<br />
3 33,0 5 49,6<br />
Managementforschung 11 90,1 6 82,3<br />
Gesamt 38 48,9 43 48,0<br />
Tab. 3: Datensatz Deutschland/Österreich/Schweiz<br />
71 13
Ergebnisse<br />
Tabelle 4 zeigt jeweils die zehn meistzitierten Publikationen für die regionalen Communities<br />
<strong>und</strong> die beiden Untersuchungszeiträume. Es erstaunt wohl nicht, dass die zehn meistzitierten<br />
Quellen <strong>in</strong> den nordamerikanischen Journals ausschließlich auch von amerikanischen<br />
Forschern stammen. Dagegen bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> der deutschen Rangreihe fünf bzw.<br />
drei deutschsprachige Quellen. Ger<strong>in</strong>ger ist hier auch der Anteil von Zeitschriftenartikeln,<br />
obwohl auch die englischsprachige Organisationsforschung im Vergleich etwa mit der<br />
Market<strong>in</strong>g- oder Account<strong>in</strong>gforschung (Roth/Gmür 2003; Meyer et al. 2005) noch als<br />
'Buchwissenschaft' bezeichnet werden kann, <strong>in</strong> der zitationsanalytisch Monographien e<strong>in</strong>e<br />
wichtige Stellung e<strong>in</strong>nehmen.<br />
Nordamerika<br />
Deutschland<br />
1990 - 1992<br />
1997 - 1999<br />
Thompson (1967) Organization <strong>in</strong> Action 26%<br />
Pfeffer/Salancik (1978) External Control 24%<br />
Hannan/Freeman (1977) <strong>in</strong> AJS 17%<br />
DiMaggio/Powell (1983) <strong>in</strong> ASR 16%<br />
Porter (1980) Competitive Strategy 16%<br />
March/Simon (1958) Organisations 15%<br />
Williamson (1975) Markets and Hierarchies 14%<br />
Meyer/Rowan (1977) <strong>in</strong> AJS 14%<br />
Weick (1979) Social Psychology of Organiz<strong>in</strong>g 13%<br />
Hannan/Freeman (1989) Organizational Ecology12%<br />
DiMaggio/Powell (1983) <strong>in</strong> ASR 25%<br />
Pfeffer/Salancik (1978) External Control 25%<br />
Meyer/Rowan (1977) <strong>in</strong> AJS 21%<br />
Thompson (1967) Organization <strong>in</strong> Action 19%<br />
Nelson/W<strong>in</strong>ter (1982) Evolutionary Theory 17%<br />
Granovetter (1985) Economic Action 16%<br />
Weick (1979) Social Psychology of Organiz<strong>in</strong>g 16%<br />
March/Simon (1958) Organisations 15%<br />
Cyert/March (1963) Behavioral Theory 15%<br />
Barney (1991) <strong>in</strong> JoM 14%<br />
Morgan (1986) Images of Organization 18%<br />
Staehle (1988) Management 18%<br />
Ouchi (1980) <strong>in</strong> ASQ 16%<br />
Williamson (1985) Economic Institutions 16%<br />
Chandler (1962) Strategy and Structure 13%<br />
Cyert/March (1963) Behavioral Theory 13%<br />
Peters/Waterman (1972) Search of Excellence 13%<br />
Probst (1987) Selbstorganisation 13%<br />
Williamson (1975) Markets and Hierarchies 13%<br />
Kieser/Kubicek (1976) Organisation 12%<br />
Kieser/Kubicek (1976) Organisation 26%<br />
March/Simon (1958) Organisations 19%<br />
Sydow (1992) Strategische Netzwerke 19%<br />
Williamson (1985) Economic Institutions 19%<br />
Picot et al. (1996) Grenzenlose Unternehmung 16%<br />
Luhmann (1980) Soziale Systeme 14%<br />
Pfeffer/Salancik (1978) External Control 14%<br />
Picot (1982) <strong>in</strong> DBW 14%<br />
Thompson (1967) Organization <strong>in</strong> Action 14%<br />
Burns/Stalker (1961) Management of Innovation12%<br />
Tab. 4: Die e<strong>in</strong>flussreichsten Basispublikationen (%-Werte geben an, wie groß der Anteil<br />
der analysierten Artikel ist, <strong>in</strong> denen die betreffende Quelle zitiert wird).<br />
Die Hälfte der meistzitierten Quellen Anfang der 90er Jahre s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Nordamerika auch Ende<br />
der 90er Jahre noch unter den ersten zu f<strong>in</strong>den, gleichgültig, ob man von den 10 oder 50<br />
meistzitierten Quellen ausgeht. In der deutschsprachigen Organisationsforschung s<strong>in</strong>d es<br />
h<strong>in</strong>gegen nur knapp e<strong>in</strong> Viertel, was andeutet, dass es <strong>in</strong> der nordamerikanischen Forschung<br />
e<strong>in</strong>e größere Konstanz <strong>in</strong> den dom<strong>in</strong>ierenden Theorien <strong>und</strong> Fragestellungen gibt. Abbildung<br />
1 fasst die vergleichenden Betrachtungen zusammen. Demnach zeigt die nordamerikanische<br />
Forschung, gemessen an den Ähnlichkeiten <strong>in</strong> den meistzitierten Quellen, e<strong>in</strong>e hohe Kont<strong>in</strong>uität.<br />
Alle übrigen Abstandsmaße zeigen e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Ähnlichkeit, was sich <strong>in</strong> den negativen<br />
Korrelationskoeffizienten ausdrückt.<br />
72 14
Nordamerika<br />
1990-92<br />
-.02<br />
Deutschland<br />
1990-92<br />
+ .79 -.01<br />
-.02 -.24<br />
Nordamerika<br />
1997-99<br />
-.15<br />
Deutschland<br />
1997-99<br />
Abb. 1: Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>in</strong> der Nutzung der e<strong>in</strong>flussreichsten Basispublikationen<br />
Die Unterschiede zwischen der deutschsprachigen <strong>und</strong> der nordamerikanischen Organisationsforschung<br />
bleiben im Zeitverlauf bestehen, ja sie sche<strong>in</strong>en sich sogar noch leicht von -<br />
.02 auf -.15 zu verstärken. Da die ger<strong>in</strong>gste Ähnlichkeit (-.24) zwischen der nordamerikanischen<br />
Forschung Anfang der 90er <strong>und</strong> der deutschsprachigen Forschung Ende der 90er<br />
Jahre besteht, gibt es auch ke<strong>in</strong>e Anhaltspunkte dafür, dass es zu e<strong>in</strong>er Übernahme nordamerikanischer<br />
Schwerpunkte <strong>in</strong> der deutschsprachigen Forschung gekommen wäre.<br />
In Tabelle 5 <strong>und</strong> Abbildung 2 s<strong>in</strong>d die entsprechenden Ergebnisse der Auswertung für die<br />
zitierten Journals dargestellt.<br />
Nordamerika<br />
Deutschland<br />
1990 - 1992<br />
1997 - 1999<br />
Adm<strong>in</strong>istrative Science Quarterly 4,9<br />
Academy of Management Review 3,1<br />
Academy of Management Journal 2,6<br />
Journal of Applied Psychology 1,6<br />
American Sociological Review 1,4<br />
American Journal of Sociology 1,2<br />
Strategic Management Journal 1,1<br />
Organizational Behavior and Decision Processes 1,0<br />
Journal of Personality and Social Psychology ,9<br />
Harvard Bus<strong>in</strong>ess Review ,8<br />
Adm<strong>in</strong>istrative Science Quarterly 6,1<br />
Academy of Management Review 4,1<br />
Academy of Management Journal 4,0<br />
Strategic Management Journal 3,2<br />
American Journal of Sociology 1,8<br />
American Sociological Review 1,8<br />
Organization Science 1,4<br />
Journal of Applied Psychology ,9<br />
Harvard Bus<strong>in</strong>ess Review ,9<br />
Journal of Personality and Social Psychology ,8<br />
Adm<strong>in</strong>istrative Science Quarterly 1,1<br />
Zeitschrift für Betriebswirtschaft 1,1<br />
Academy of Management Review ,8<br />
Die Betriebswirtschaft ,8<br />
Zeitschrift Führung <strong>und</strong> Organisation ,8<br />
Harvard Bus<strong>in</strong>ess Review ,7<br />
Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung ,7<br />
Strategic Management Journal ,7<br />
American Journal of Sociology ,4<br />
Academy of Management Journal ,4<br />
Adm<strong>in</strong>istrative Science Quarterly 1,2<br />
Academy of Management Review 1,1<br />
Zeitschrift für Betriebswirtschaft ,7<br />
Strategic Management Journal ,7<br />
Academy of Management Journal ,6<br />
Die Betriebswirtschaft ,6<br />
Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung ,5<br />
Harvard Bus<strong>in</strong>ess Review ,4<br />
Management Science ,4<br />
Journal of Management Studies ,3<br />
Tab. 5: Die meistzitierten Journals (Die Werte geben an, wie groß die durchschnittliche Zahl der<br />
zitierten Artikel aus dem jeweiligen Journal pro analysiertem Artikel ist)<br />
73 15
Während –wie zu erwarten – die beiden meistzitierten Journals <strong>in</strong> Nordamerika die ASQ<br />
<strong>und</strong> AMR s<strong>in</strong>d, aus denen auch die analysierten Artikel stammten, wird die Entscheidung<br />
für diese beiden Zeitschriften dadurch bestätigt, dass sie auch für die deutschsprachigen<br />
Forscher die beiden wichtigsten englischsprachigen Journals s<strong>in</strong>d.<br />
Die Abstandsmaße <strong>in</strong> Abbildung 2 zeigen für die zitierten Journals e<strong>in</strong> deutlich anderes<br />
Bild, als es sich für die meistzitierten Publikationen abgezeichnet hat. Dass sämtliche Koeffizienten<br />
höher s<strong>in</strong>d, ist nicht überraschend, weil er sich aus der hier gewählten Analysemethode<br />
ergibt: Die Zahl der potenziell zitationsfähigen Monographien <strong>und</strong> Artikel ist um<br />
e<strong>in</strong> Vielfaches höher als die Zahl der Fachzeitschriften; deshalb kommt es statistisch auch<br />
zu deutlich weniger Verschiebungen. Dessen ungeachtet fallen e<strong>in</strong>ige Besonderheiten auf:<br />
- Die Journalnutzung hat sich <strong>in</strong> Nordamerika im Zeitverlauf kaum verändert. Dagegen<br />
deuten sich im Fall der deutschen Forschung trotz des hohen Koeffizienten bereits<br />
Veränderungen an.<br />
- Es kommt im Zeitverlauf zu e<strong>in</strong>er Annäherung der Journalnutzung, die sich an der<br />
Ende der 90er Jahre deutlich höheren Ähnlichkeit zwischen der nordamerikanischen<br />
<strong>und</strong> der deutschsprachigen Organisationsforschung ablesen lässt (von +.26 zu +.68).<br />
Dass e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Annäherung der deutschen an die nordamerikanische Forschung<br />
vorliegt, ist daran zu erkennen, dass der Diagonalpfeil von 'Nordamerika 1990-92' zu<br />
'Deutschland 1997-99' e<strong>in</strong>en höheren Koeffizienten aufweist als der Pfeil für den<br />
direkten Vergleich 1990-92, während die Koeffizienten der Pfeile von den beiden<br />
nordamerikanischen Kohorten zu 'Deutschland 1990-92' nahezu gleich s<strong>in</strong>d (+.26 <strong>und</strong><br />
+.30).<br />
Nordamerika<br />
1990-92<br />
+ .26<br />
Deutschland<br />
1990-92<br />
+ .92<br />
Nordamerika<br />
1997-99<br />
+ .58<br />
+ .30<br />
+ .68<br />
+ .80<br />
Deutschland<br />
1997-99<br />
Abb. 2: Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>in</strong> der Nutzung der e<strong>in</strong>flussreichsten Fachzeitschriften<br />
Dieser Bef<strong>und</strong> wird durch e<strong>in</strong>e Zeitschriftenanalyse gestützt, <strong>in</strong> der ebenfalls e<strong>in</strong>e im Zeitverlauf<br />
zunehmende Nutzung englischsprachiger Journals festgestellt wurde. Sie entspricht<br />
auch weitgehend den nordamerikanischen Zitationsmustern, <strong>in</strong>dem sie sich zum e<strong>in</strong>en auf<br />
verhaltenswissenschaftlich orientierte Managementjournals (beispielsweise ASQ, AMR <strong>und</strong><br />
74 16
AMJ), zum anderen auf die führenden soziologischen Zeitschriften (AJS <strong>und</strong> ASR) richtet,<br />
während ökonomische Zeitschriften noch e<strong>in</strong> relativ ger<strong>in</strong>ges Gewicht haben (Gmür 2002).<br />
Die Ergebnisse der Kozitationsanalyse zeigen die folgenden Abbildungen 3 bis 6. Anfang<br />
der 90er Jahre zeigt sich, wie das schon Üsdiken/Pasadeos (1995) konstatieren, e<strong>in</strong>e dom<strong>in</strong>ante<br />
Stellung für drei Forschungsrichtungen:<br />
- die Populationsökologie um die Veröffentlichungen von Hannan <strong>und</strong> Freeman <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung<br />
mit den beiden e<strong>in</strong>flussreichsten Monographien der Kont<strong>in</strong>genztheorie von<br />
Thompson <strong>und</strong> Lawrence/Lorsch.<br />
- der Neo<strong>in</strong>stitutionalismus um die beiden Autorenpaare Meyer/Rowan <strong>und</strong> DiMaggio/<br />
Powell sowie Scott <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit der Ressourcenabhängigkeitstheorie von Pfeffer/Salancik.<br />
- die ökonomische Organisationstheorie um Williamson, Fama, Jensen <strong>und</strong> Meckl<strong>in</strong>g.<br />
Sie gliedert sich <strong>in</strong> die Transaktionskostentheorie <strong>und</strong> den Pr<strong>in</strong>zipal-Agenten-Ansatz.<br />
Williamson<br />
Ouchi<br />
1985<br />
1980<br />
Williamson<br />
1975<br />
Granovetter<br />
Alchian/Demsetz<br />
1985<br />
1972<br />
Jensen/Meckl<strong>in</strong>g<br />
1976<br />
Fama<br />
Berle/Means<br />
1980<br />
1932<br />
Scott<br />
1987<br />
Me yer/Scott<br />
1983<br />
DiMaggio/Powell<br />
1983<br />
Fama/Jensen<br />
Jensen/Ruback<br />
Herman<br />
1983<br />
1983<br />
1981<br />
CoCit > 0,5<br />
CoCit > 0,4<br />
CoCit > 0,3<br />
Meyer/Rowan<br />
1977<br />
Pfeffer/Salancik<br />
1978<br />
Kozitationsnetzwerk<br />
Nordamerika 1990-1992<br />
(123 Artikel)<br />
Lawrence/Lorsch<br />
1967<br />
Thompson<br />
1967<br />
Aldrich<br />
1979<br />
S<strong>in</strong>gh et al.<br />
Hannan/Freeman<br />
Carroll/Delacroix<br />
1986a<br />
Barnett/Carroll<br />
1977<br />
1982<br />
1987<br />
Tuma/Hannan<br />
St<strong>in</strong>chcombe<br />
1984<br />
1965<br />
Hannan/Freeman<br />
Freeman/Hannan<br />
1989<br />
1983<br />
Delacroix et al.<br />
1989<br />
McKelve y<br />
Hannan/Freeman<br />
S<strong>in</strong>gh et al.<br />
1982<br />
1984<br />
1986b<br />
Child<br />
1972<br />
Abb. 3: Kozitationsnetzwerk Nordamerika 1990-92<br />
Ende der 90er Jahre zeigt sich bei der hier gewählten Vorgehensweise e<strong>in</strong> nur <strong>in</strong> Details verändertes<br />
Bild: Die Populationsökologie ist immer noch als eigenständiges Cluster um die<br />
Veröffentlichungen von Hannan <strong>und</strong> Freeman erkennbar. Die Bedeutung, gemessen an der<br />
Zitationshäufigkeit, hat sich aber etwas zugunsten des Neo<strong>in</strong>stitutionalismus verschoben,<br />
der immer noch durch die zentralen Veröffentlichungen von Meyer/Rowan <strong>und</strong> DiMaggio/<br />
Powell geprägt ist, aber über die Arbeiten von Palmer et al., Mizruchi <strong>und</strong> Haunschild mit<br />
der ökonomischen Netzwerk- <strong>und</strong> Institutionenforschung (Williamson, Granovetter, R<strong>in</strong>g/<br />
Van de Ven, Gulati) verknüpft ist.<br />
75 17
Kozitationsnetzwerk<br />
Wernerfeldt<br />
Cohen/Lev<strong>in</strong>thal<br />
1984 Dierickx/Cool<br />
Nordamerika 1997-1999<br />
Glaser/Strauss<br />
1990<br />
1989<br />
Barney/Ouchi<br />
(123 Artikel)<br />
1967<br />
1986<br />
Nelson/W<strong>in</strong>ter<br />
Barney<br />
1982<br />
Hannan/Freeman<br />
1991<br />
Porter<br />
Miles/Huberman<br />
1977<br />
Baum<br />
1984<br />
1980<br />
1996<br />
Hannan/Freeman<br />
Granovetter<br />
Burt<br />
Hannan/Carroll<br />
Axelrod<br />
1989<br />
1973<br />
1992<br />
Podolny<br />
1992<br />
1984<br />
Donaldson/Preston<br />
1994<br />
1995<br />
Amburgey et al.<br />
Granovetter<br />
Baum/Oliver<br />
1993<br />
Freeman<br />
1985<br />
Oliver<br />
Powell et al.<br />
1991<br />
Rogers<br />
1984<br />
1990<br />
1996<br />
Jones<br />
1962<br />
St<strong>in</strong>chcombe<br />
1995<br />
Powell/Di Maggio<br />
Hannan/Freeman<br />
Powell<br />
Gulati<br />
1965<br />
1991<br />
1990<br />
1995<br />
Haunschild<br />
1984<br />
Williamson<br />
1993<br />
1985<br />
R<strong>in</strong>g/Van de Ven<br />
Tuma/Hannan<br />
Burns/Whooley<br />
Haveman<br />
1992<br />
1994<br />
Mizruchi<br />
1993<br />
1993<br />
Williamson<br />
1992<br />
1991<br />
Parkhe<br />
Palmer et al.<br />
Me yer/Scott<br />
1993<br />
Useem<br />
Williamson<br />
1993<br />
1983<br />
1984<br />
1975<br />
Burt<br />
Fligste<strong>in</strong><br />
DiMaggio/Powell<br />
Fama/Jensen<br />
1987<br />
1990<br />
1983<br />
Walsh/Seward<br />
1983<br />
Jensen/Meckl<strong>in</strong>g<br />
Galaskiewicz/Wasserman<br />
1990<br />
Eisenhardt<br />
1976<br />
1989<br />
Lorsch/Maciver<br />
DiMaggio/Powell<br />
1989<br />
Mace<br />
1989<br />
1991<br />
1971<br />
Meyer/Rowan<br />
Hambrick/Mason<br />
1977<br />
1984<br />
Westphal/Zajac<br />
Oliver<br />
1994<br />
Wiersema/Bantel<br />
1991<br />
O‘Reilly et al.<br />
Zenger/Lawrence<br />
1992<br />
1989<br />
1989<br />
Berger/Luckmann<br />
1966<br />
Pfeffer/Salancik<br />
1978<br />
CoCit > 0,5<br />
CoCit > 0,4<br />
CoCit > 0,3<br />
Abb. 4: Kozitationsnetzwerk Nordamerika 1997-99<br />
Bezüge bestehen auch zum Pr<strong>in</strong>izipal-Agenten-Ansatz (Fama, Jensen, Mace) <strong>und</strong> von dort<br />
zur organisationalen Demographieforschung (Hambrick, Wiersema, O'Reilly). Schließlich<br />
s<strong>in</strong>d noch e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Cluster zur Stakeholder-Theorie (Donaldson/Preston, Jones) sowie<br />
e<strong>in</strong>e locker verknüpfte Gruppe zum 'Resource Based View' <strong>in</strong>nerhalb der Strategieforschung<br />
(Barney) erkennbar. Das bedeutet, dass sich die Schwerpunkte <strong>in</strong> der nordamerikanischen<br />
Forschung im Verlauf der 90er Jahre zwar ausdifferenziert, aber nicht erheblich verlagert<br />
haben.<br />
Aufgr<strong>und</strong> der ger<strong>in</strong>geren Anzahl auswertbarer Artikel <strong>und</strong> Zitate ist es im Fall der deutschsprachigen<br />
Organisationsforschung schwieriger, e<strong>in</strong> klares Bild über die dom<strong>in</strong>ierenden<br />
Forschungsrichtungen <strong>und</strong> ihre Abgrenzung zu erhalten.<br />
Im Zeitraum 1990-92 lasen sich zwei <strong>in</strong>haltlich konsistente Cluster identifizieren. Das erste<br />
Cluster steht für die ökonomische Organisationstheorie, deren meistzitierten Quellen die<br />
Veröffentlichungen von Williamson <strong>und</strong> Ouchi s<strong>in</strong>d. Neben den sieben englischsprachigen<br />
f<strong>in</strong>den sich hier auch drei deutschsprachige Quellen. Das zweite Cluster wird von der Systemtheorie<br />
gebildet, wobei Probst, Weick <strong>und</strong> Perrow zentrale Positionen e<strong>in</strong>nehmen.<br />
Schließlich ist auch noch e<strong>in</strong> Cluster zum organisationalen Lernen erkennbar (Cyert/March,<br />
Shrivastava, Argyris/Schön, Bateson), das sich aber formal nur schwer abgrenzen lässt. Die<br />
übrigen Quellen weisen ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutigen Zusammenhänge auf.<br />
76 18
Weick<br />
1979<br />
Gutenberg<br />
1951<br />
Luhmann<br />
Probst<br />
1984<br />
1987<br />
Luhmann<br />
1986<br />
Weick<br />
1976<br />
Jarillo<br />
Williamson<br />
1988<br />
1975<br />
Alchian/Demsetz<br />
Ouchi<br />
1972<br />
1980<br />
Coase<br />
1937<br />
Williamson<br />
1985<br />
Kozitationsnetzwerk<br />
Deutschland 1990-1992<br />
(38 Artikel)<br />
Türk<br />
1989<br />
Shrivastava<br />
Scott<br />
1983<br />
Cyert/March<br />
1981<br />
1963<br />
Argyris/Schön<br />
Perrow<br />
1978<br />
1984<br />
Greipel<br />
1988<br />
Bateson<br />
Peters/Waterman<br />
Schreyögg<br />
1972<br />
1982<br />
1984<br />
Staehle<br />
Thompson<br />
1980<br />
1967<br />
Frese<br />
1987<br />
Morgan<br />
Piore/Sabel<br />
1986<br />
1984<br />
Pfeffer/Salancik<br />
Gutenberg<br />
1978<br />
1960<br />
March/Sim on<br />
Grabher<br />
1988<br />
Weber<br />
1958<br />
1921<br />
Bea<br />
Altmann/Sauer<br />
1988<br />
1989<br />
deutsch<br />
englisch<br />
CoCit > 0,5<br />
CoCit > 0,4<br />
CoCit > 0,3<br />
Abb. 5: Kozitationsnetzwerk Deutschland 1990-92<br />
Das Netzwerk für den Zeitraum 1997-99 zeigt wie schon für die nordamerikanische Organisationsforschung<br />
e<strong>in</strong>e Ausdifferenzierung; hier allerd<strong>in</strong>gs verb<strong>und</strong>en mit e<strong>in</strong>er deutlichen<br />
Gewichtsverlagerung.<br />
Kozitationsnetzwerk<br />
Picot/Reichwald<br />
Hauschildt<br />
1994<br />
1993<br />
Luhmann<br />
Deutschland 1997-1999<br />
1988a<br />
Thompson<br />
(43 Artikel)<br />
Luhmann<br />
1967<br />
Wildemann<br />
Womack et al.<br />
Giddens<br />
1997<br />
1980<br />
1990<br />
Pfeffer/Salancik<br />
1984<br />
Weick<br />
1978<br />
Neuberger<br />
1979<br />
Williamson<br />
Maturana<br />
1995<br />
1991<br />
1982<br />
Meyer/Rowan<br />
Drumm<br />
Olson<br />
1977<br />
1996<br />
Arrow<br />
1965<br />
Hall/Saias<br />
1985<br />
1980<br />
Loose/Sydow<br />
Hammer/Champy<br />
March/Olsen<br />
1993<br />
1976<br />
1994<br />
Burns/Stalker<br />
Lawrence/Lorsch<br />
1961<br />
1967<br />
Alchian/Demsetz<br />
Cyert/March<br />
Kieser/Kubicek<br />
1972<br />
1963<br />
Chandler<br />
1976<br />
Laux<br />
Frese<br />
Hayek<br />
1962<br />
1990<br />
1993<br />
1969<br />
Kieser<br />
March/Simon<br />
1993<br />
Miles/Snow<br />
1958<br />
1978<br />
Picot<br />
Hayek<br />
1982<br />
Picot et al.<br />
Gutenberg<br />
Schreyögg<br />
1945<br />
Smith<br />
1996<br />
1951<br />
1984<br />
deutsch<br />
Staehle<br />
1776<br />
Kühl<br />
1991<br />
1994<br />
englisch<br />
Schreyögg<br />
Williamson<br />
Jarillo<br />
Williamson<br />
Sydow<br />
1996<br />
Davidow/Malone<br />
1985<br />
1988<br />
CoCit > 0,5<br />
1975<br />
1992<br />
1992<br />
CoCit > 0,4<br />
CoCit > 0,3<br />
Abb. 6: Kozitationsnetzwerk Deutschland 1997-99<br />
77 19
Als Cluster mit m<strong>in</strong>destens vier vollständig vernetzten Quellen erkennbar s<strong>in</strong>d die Kont<strong>in</strong>genztheorie<br />
(Kieser/Kubicek, Chandler, Miles/Snow <strong>und</strong> Hall/Salas), die Systemtheorie<br />
(Luhmann, Weick, Maturana) <strong>und</strong> die ökonomische Organisationstheorie (Willliamson,<br />
Olson, Arrow <strong>und</strong> Loose/Sydow). Allerd<strong>in</strong>gs ist aber auch hier zu berücksichtigen, dass das<br />
kle<strong>in</strong>e Sample die <strong>in</strong>haltliche Interpretation <strong>und</strong> Abgrenzung der Cluster erschwert.<br />
Zusammenfassend zeigt die Kozitationsanalyse, dass die e<strong>in</strong>zige wesentliche Berührungsfläche<br />
zwischen der nordamerikanischen <strong>und</strong> der deutschsprachigen Organisationsforschung<br />
die ökonomische Organisationstheorie darstellt. Diese zeigt sich über den gesamten Zeitraum<br />
h<strong>in</strong>weg <strong>in</strong> beiden regionalen Communities als ähnlich e<strong>in</strong>flussreich <strong>und</strong> wird auch,<br />
abgesehen von den deutschsprachigen Veröffentlichungen, von denselben Autoren <strong>und</strong> Publikationen<br />
geprägt. Darüber h<strong>in</strong>aus bestehen <strong>in</strong> den 90er Jahren gleichbleibend große Unterschiede:<br />
Populationsökologie <strong>und</strong> Neo<strong>in</strong>stitutionalismus konnten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der deutschsprachigen<br />
Forschung bis Ende der 90er Jahre nicht durchsetzen, <strong>und</strong> die sich wesentlich an den<br />
Arbeiten von Luhmann orientierende Systemtheorie hat <strong>in</strong> den USA ke<strong>in</strong> Pendant.<br />
Wo es Überschneidungen <strong>in</strong> der Zitierung e<strong>in</strong>zelner e<strong>in</strong>flussreicher Publikationen gibt, werden<br />
diese <strong>in</strong> Nordamerika <strong>und</strong> Deutschland teilweise auch unterschiedlich rezipiert, was<br />
sich <strong>in</strong> Kozitationsbeziehungen zu jeweils unterschiedlichen benachbarten Theorien niederschlägt.<br />
Das zeigt <strong>in</strong>sbesondere das Beispiel von Weick (1979).<br />
Die Daten aus der Zitations- <strong>und</strong> der Kozitationsanalyse s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Indikator dafür, dass sich<br />
im untersuchten Zeitraum die <strong>in</strong>haltlichen Schwerpunkte <strong>in</strong> der deutschsprachigen Forschung<br />
rascher verändert haben als <strong>in</strong> der nordamerikanischen Forschung, dass diese Veränderung<br />
aber nicht zu e<strong>in</strong>er Annäherung zwischen den beiden Communities geführt hat.<br />
1990-92<br />
Nordamerika<br />
- Ökonomische Organisationstheorie<br />
- Populationsökologie<br />
- Neo<strong>in</strong>stitutionalismus<br />
Deutschland<br />
- Ökonomische Organisationstheorie<br />
- Systemtheorie<br />
- Organisationale Lerntheorie<br />
1997-99<br />
- Ökonomische Organisationstheorie<br />
- Neo<strong>in</strong>stitutionalismus<br />
- Populationsökologie<br />
- Resource Based View<br />
Tab. 6: Dom<strong>in</strong>ierende Forschungsrichtungen<br />
- Ökonomische Organisationstheorie<br />
- Systemtheorie<br />
- Kont<strong>in</strong>genztheorie<br />
78 20
Abschließende Bewertung <strong>und</strong> Ausblick<br />
Deutschsprachige Organisationsforscher nutzen im Verlauf der 90er Jahre zunehmend dieselben<br />
Journals wie ihre nordamerikanischen Kollegen, aber sie greifen andere Gedanken<br />
auf. So lässt sich e<strong>in</strong> zentrales Ergebnis dieser Studie über die Frage der Annäherung zwischen<br />
der deutschsprachigen <strong>und</strong> der nordamerikanischen Scientific Community <strong>in</strong>nerhalb<br />
der Organisationsforschung zusammenfassen. Die Analyseergebnisse führen mit Blick auf<br />
die e<strong>in</strong>gangs vorgestellten Modelle wissenschaftlicher Entwicklung zu e<strong>in</strong>em mehrdeutigen<br />
Ergebnis.<br />
Nach dem anarchischen, dem altruistischen <strong>und</strong> dem funktionalen Modell wissenschaftlicher<br />
Entwicklung war e<strong>in</strong>e Annäherung im <strong>in</strong>ternationalen Austausch unter den spezifischen<br />
Bed<strong>in</strong>gungen der Organisationsforschung nicht zu erwarten. Sie sche<strong>in</strong>en durch die<br />
vorliegenden Studienergebnisse bestätigt. Zwei der Modelle ließen dagegen e<strong>in</strong>e Annäherung<br />
der beiden regionalen Communities erwarten. Lassen sich Erklärungen f<strong>in</strong>den, warum<br />
sich die Annahmen des ökonomischen <strong>und</strong> des <strong>in</strong>stitutionalistischen Modells durch die vorliegenden<br />
Daten auf den ersten Blick nicht bestätigen ließen?<br />
Obwohl der <strong>in</strong>stitutionalisierte Druck auf die deutschsprachige Organisationsforschung stetig<br />
zunimmt, hat er <strong>in</strong> den 90er Jahren noch nicht dazu geführt, dass es zu e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>haltlichen<br />
Angleichung der Forschung gekommen wäre. Dass es nur zu e<strong>in</strong>er formalen Übernahme<br />
nordamerikanischer Standards gekommen ist, <strong>in</strong>dem vermehrt Veröffentlichungen <strong>in</strong> nordamerikanischen<br />
Zeitschriften rezipiert werden, bestätigt e<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong>gedanken der neo<strong>in</strong>stitutionalistischen<br />
Theorie: In e<strong>in</strong>em organisationalen Feld werden Praktiken übernommen,<br />
soweit sie zur Legitimierung dienen, aber entkoppelt von den Kernprozessen der Leistungserstellung.<br />
Die Forscher <strong>in</strong> der deutschsprachigen Community verfolgen weiter eigenständige<br />
Fragestellungen, aber um ihre Legitimitätsbasis zu sichern, 'schmücken' sie – überspitzt<br />
gesagt – ihre Veröffentlichungen mit Zitaten, welche e<strong>in</strong>e Referenz auf die Ma<strong>in</strong>streamforschung<br />
signalisieren.<br />
Es lassen sich aber auch mögliche Ursachen dafür aufführen, worum sich der offensichtliche<br />
Anpassungsdruck noch nicht so stark auf das ökonomische Kalkül deutschsprachiger<br />
Forscher ausgewirkt hat, dass sich dies <strong>in</strong> den Zitationsstrukturen niedergeschlagen hätte.<br />
E<strong>in</strong>e mögliche Erklärung besteht <strong>in</strong> Wanderungsbewegungen zwischen den regionalen<br />
Communities: Deutschsprachige Forscher, die sich am Ma<strong>in</strong>stream der nordamerikanischen<br />
Forschung orientieren, verlegen entweder ihren Arbeitsort nach Nordamerika, oder sie publizieren<br />
gar nicht mehr <strong>in</strong> deutschsprachigen Zeitschriften. Das hätte langfristig zur Folge,<br />
dass die deutschsprachige Community zwar weiter ihren eigenen Schwerpunkten folgt, aber<br />
personell ausgedünnt wird, weil immer weniger Nachwuchswissenschaftler noch e<strong>in</strong>treten.<br />
E<strong>in</strong>e zweite Ursache könnte im gewählten Zeitraum liegen: Vielleicht reicht e<strong>in</strong> Zeitraum<br />
von r<strong>und</strong> sieben Jahren für die Identifizierung von Anpassungsprozessen nicht aus. E<strong>in</strong>e<br />
Folgestudie könnte hier Klarheit schaffen. Gerade bei der neo<strong>in</strong>stitutionalistischen Richtung<br />
zeigen sich mittlerweile erste Anzeichen e<strong>in</strong>er zunehmenden Verankerung dieses Ansatzes<br />
79 21
<strong>in</strong> der deutschsprachigen Community, was sich beispielsweise daran ersehen lässt, dass <strong>in</strong><br />
diesem Jahr erstmalig e<strong>in</strong>e eigene Tagung zur <strong>in</strong>stitutionalistischen Organisationstheorie an<br />
der Wirtschaftsuniversität Wien durchgeführt wurde.<br />
Wor<strong>in</strong> zeigt sich Fortschritt <strong>in</strong> der betriebswirtschaftlichen Organisationsforschung? Die<br />
Studie liefert Anhaltspunkte dafür, dass sich Fortschritt im <strong>in</strong>ternationalen Wettbewerb der<br />
Forscher <strong>und</strong> Communities über Anpassung vollziehen kann. Diese Anpassung ist e<strong>in</strong>seitig,<br />
wenn es wie gegenwärtig <strong>in</strong> der deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre e<strong>in</strong>en breiten<br />
Konsens darüber gibt, dass die 'andere' Community erfolgreicher ist. Gegenläufig zur (e<strong>in</strong>geschränkten)<br />
Annäherung zwischen den regionalen Communities zeigen die hier dargestellten<br />
Kozitationsnetzwerke e<strong>in</strong>en Trend zur Ausdifferenzierung. Die Dichte der Cluster<br />
nimmt ab. Die Zahl isolierter Gruppen von thematisch verb<strong>und</strong>enen Publikationen jenseits<br />
der zentralen Schwerpunkte nimmt dagegen zu. Ob der hier festgestellte Trend verallgeme<strong>in</strong>erungsfähig<br />
ist, können nur Studien zu nachfolgenden Perioden <strong>und</strong> <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>äre Vergleiche<br />
zeigen.<br />
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84 26
Beitrag zur Fachtagung<br />
<strong>Fortschrittskonzepte</strong> <strong>und</strong> <strong>Fortschrittsmessung</strong> <strong>in</strong><br />
Betriebswirtschaftslehre <strong>und</strong> Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />
vom 22. bis zum 23. September 2005 <strong>in</strong> Essen<br />
Rassenhövel, Sylvia / Dyckhoff, Harald<br />
Die Relevanz von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren bei der Beurteilung<br />
der Forschungsleistung im Hochschulbereich<br />
Dipl.-Kff. Sylvia Rassenhövel<br />
RWTH Aachen<br />
Lehrstuhl für Unternehmenstheorie,<br />
Umweltökonomie <strong>und</strong> Industrielles<br />
Controll<strong>in</strong>g<br />
Templergraben 64<br />
52056 Aachen<br />
Telefon +49 241 80-96573<br />
Fax +49 241 80-92179<br />
rassenhoevel@lut.rwth-aachen.de<br />
Prof. Dr. Harald Dyckhoff<br />
RWTH Aachen<br />
Lehrstuhl für Unternehmenstheorie,<br />
Umweltökonomie <strong>und</strong> Industrielles<br />
Controll<strong>in</strong>g<br />
Templergraben 64<br />
52056 Aachen<br />
Telefon +49 241 80-96176<br />
Fax +49 241 80-92179<br />
lut@lut.rwth-aachen.de<br />
85
2<br />
Die Beurteilung der Leistungen <strong>in</strong> Forschung <strong>und</strong> Lehre gew<strong>in</strong>nt durch die im Rahmen der<br />
aktuellen Bildungsreformen verstärkte Autonomie, den damit verb<strong>und</strong>enen Forderungen nach<br />
Rechenschaftslegung sowie dem <strong>in</strong>tensivierten Wettbewerb im Hochschulbereich zunehmend<br />
an Bedeutung. Zur Schaffung der erforderlichen Leistungstransparenz werden zum e<strong>in</strong>en Peer<br />
Reviews durchgeführt, zum anderen vor allem aber auch Indikatoren erhoben. Diese sollen<br />
e<strong>in</strong> objektives Bild über die Hochschulleistungen geben <strong>und</strong> bilden so vielfach die Basis für<br />
Mittelverteilungen oder die Aufstellung von Rank<strong>in</strong>gs. Im Bereich der Forschung s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem<br />
Zusammenhang <strong>in</strong>sbesondere Drittmittelkennzahlen sehr häufig erfasste Größen. Deren<br />
Aussagemöglichkeiten <strong>und</strong> -grenzen zur Beurteilung der Forschung im Hochschulbereich<br />
werden im Folgenden untersucht.<br />
Zunächst wird kurz auf Forschung <strong>und</strong> Leistung im Allgeme<strong>in</strong>en sowie auf Möglichkeiten zu<br />
deren Beurteilung e<strong>in</strong>gegangen (Abschnitt 1). Anschließend wird die Beurteilung der Forschungsleistung<br />
mittels Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren betrachtet, wobei diese aus produktionstheoretischer<br />
Perspektive analysiert <strong>und</strong> im H<strong>in</strong>blick auf ihre pr<strong>in</strong>zipielle Eignung zur Bewertung<br />
der Forschungseffektivität <strong>und</strong> -effizienz untersucht werden (Abschnitt 2). Auf diesen Gr<strong>und</strong>lagen<br />
basieren die im dritten Abschnitt <strong>in</strong> diesem Kontext durchgeführten Überlegungen zur<br />
Bedeutung der Periodenabgrenzung, die sich zum e<strong>in</strong>en auf <strong>in</strong>dividuelle, zum anderen auf<br />
aggregierte Forschungstätigkeiten beziehen.<br />
1. Beurteilung der Forschungsleistung im Hochschulbereich<br />
Wenn die Forschungsleistung im Hochschulbereich beurteilt werden soll, muss zunächst geklärt<br />
werden, was Forschung bzw. Hochschulforschung ist, was unter dem Begriff Leistung,<br />
<strong>in</strong>sbesondere Forschungsleistung verstanden wird <strong>und</strong> wie diese im Hochschulbereich beurteilt<br />
werden kann.<br />
1.1. Forschung<br />
Auf die erste Frage „Was ist Forschung?“ gibt es ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Antwort. Statt e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen<br />
Def<strong>in</strong>ition f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> der Literatur verschiedene Begriffsklärungen, die häufig<br />
allgeme<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d, die sich zum Teil aber auch auf bestimmte Arten von Forschung beziehen.<br />
E<strong>in</strong>e generelle, für statistische Erhebungen <strong>in</strong>ternational anerkannte Def<strong>in</strong>ition der OECD<br />
bezeichnet beispielsweise Forschung (<strong>und</strong> Entwicklung) als „systematische, schöpferische<br />
Arbeit zur Erweiterung des Kenntnisstandes, e<strong>in</strong>schließlich der Erkenntnisse über den Men-<br />
86
3<br />
schen, die Kultur <strong>und</strong> die Gesellschaft sowie deren Verwendung mit dem Ziel, neue Anwendungsmöglichkeiten<br />
zu f<strong>in</strong>den.“ 1<br />
Um die Tätigkeit der Forschung sowie ihre Bedeutung besser verstehen, außerdem spezielle<br />
Def<strong>in</strong>itionen richtig e<strong>in</strong>ordnen zu können, ist e<strong>in</strong>e Klassifizierung s<strong>in</strong>nvoll. Gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
kann diesbezüglich zwischen e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>stitutionellen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er funktionellen Gliederung unterschieden<br />
werden. Bei erstgenannter stehen die durchführenden bzw. f<strong>in</strong>anzierenden Stellen im<br />
Mittelpunkt der Betrachtung. So geschieht z.B. die wichtigste <strong>in</strong>stitutionelle Aufteilung nach<br />
den fünf Sektoren „Wirtschaft“, „Staat“, „Private Organisationen ohne Erwerbszweck“,<br />
„Hochschulen“ <strong>und</strong> „Ausland“. Die funktionelle Klassifizierung erfolgt dagegen nach den<br />
charakteristischen Merkmalen der Forschung. Differenziert wird hier etwa nach der Art der<br />
Tätigkeit <strong>in</strong> „Gr<strong>und</strong>lagenforschung“, „angewandte Forschung“ <strong>und</strong> „(experimentelle) Entwicklung“<br />
oder nach Wissenschaftsbereichen, wie „Geistes- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften“, Biologie<br />
<strong>und</strong> Mediz<strong>in</strong>“, „Naturwissenschaften“ <strong>und</strong> „Ingenieurwissenschaften“. 2<br />
Im vorliegenden Kontext ist e<strong>in</strong>e Fokussierung auf den Sektor der „Hochschulen“ erforderlich.<br />
E<strong>in</strong>e mögliche Klärung des Begriffs akademischer Forschung liefert das Hochschulrahmengesetz<br />
(HRG), nach dem diese „der Gew<strong>in</strong>nung wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie<br />
der wissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>legung <strong>und</strong> Weiterentwicklung von Lehre <strong>und</strong> Studium“ 3 dient.<br />
Um die verschiedenen Merkmale der Hochschulforschung bei Beurteilungen angemessen<br />
berücksichtigen zu können, soll an dieser Stelle kurz zwischen Gr<strong>und</strong>lagen- <strong>und</strong> Anwendungsforschung<br />
differenziert werden. 4<br />
Gr<strong>und</strong>lagenforschung lässt sich als Produktion neuen öffentlichen (<strong>und</strong> nicht unmittelbar<br />
auf Verwertung ausgerichteten) Wissens über die Welt auffassen; die Produktion neuen (praktisch)<br />
verwertbaren Wissens kann dagegen als angewandte Forschung verstanden werden. 5<br />
Wie aus diesen Def<strong>in</strong>itionen bereits hervorgeht, liegt e<strong>in</strong> wesentlicher Unterschied der beiden<br />
Forschungsarten <strong>in</strong> der Nutzung der gewonnen Erkenntnisse. Während im Allgeme<strong>in</strong>en die<br />
Ergebnisse der Gr<strong>und</strong>lagenforschung nicht kommerziell verwertet, sondern <strong>in</strong> wissenschaftlichen<br />
Fachzeitschriften publiziert oder z.B. auf Fachtagungen verbreitet werden, s<strong>in</strong>d die aus<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
OECD (1982), S. 29.<br />
Vgl. OECD (1982), S. 46 ff., <strong>und</strong> DFG (2003), S. 21.<br />
HRG (2004), § 22 Satz 1.<br />
Da bei der Hochschulforschung Entwicklung e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle spielt, wird sie hier – wie auch häufiger<br />
<strong>in</strong> der Praxis üblich – nicht weiter von der angewandten Forschung abgegrenzt.<br />
Vgl. beispielsweise die Def<strong>in</strong>itionen von (Gr<strong>und</strong>lagen- <strong>und</strong> Anwendungs-)Forschung bei Chalmers (1999),<br />
S. 23, Brockhoff (1999), S. 48, <strong>und</strong> der OECD (1982), S. 70 f.<br />
87
4<br />
der Anwendungsforschung erzielten Resultate häufig geheim zu halten. Letztere richten sich –<br />
anders als diejenigen der Gr<strong>und</strong>lagenforschung – auf spezifische praktische Ziele <strong>und</strong> sollen<br />
nicht selten dem Erwerb von Wettbewerbsvorteilen dienen, welche durch Patente oder Lizenzen<br />
gesichert werden können. Die praktische Verwertbarkeit solcher Ergebnisse ist daher e<strong>in</strong><br />
entscheidender Faktor für den Erfolg der angewandten Forschung. 6<br />
Beiden Forschungstypen geme<strong>in</strong>sam ist die Neuheit des generierten Wissens. In diesem Zusammenhang<br />
besteht jedoch das Problem der Abgrenzung des Wortes „neu“. Im strengen<br />
S<strong>in</strong>ne bezieht es sich auf objektiv neues Wissen, also auf Weltneuheiten; im weniger strengen<br />
S<strong>in</strong>ne fällt auch re<strong>in</strong> subjektiv neues Wissen darunter, also Neuheiten für den jeweiligen Entscheidungsträger.<br />
Wenngleich die Diskussionen hierüber laut Brockhoff im S<strong>in</strong>ne der subjektiven<br />
Neuheit als beendet gelten, 7 soll angemerkt werden, dass zum<strong>in</strong>dest der Veröffentlichungsaspekt<br />
der Gr<strong>und</strong>lagenforschung eher für die objektive Perspektive spricht, da entsprechende<br />
Forschungsergebnisse jedem zugänglich s<strong>in</strong>d bzw. se<strong>in</strong> sollten <strong>und</strong> daher e<strong>in</strong>e mehrfache<br />
Produktion gleichen Wissens vermieden werden kann.<br />
Das Verständnis der Forschung als Produktion neuen Wissens weist auf die Komb<strong>in</strong>ation verschiedener<br />
Produktionsfaktoren im Forschungsprozess h<strong>in</strong>. Dabei handelt es sich um bewusste,<br />
planmäßige, systematische Prozesse, bei denen die menschliche Kreativität von primärer<br />
Bedeutung ist. 8 Zwar basiert Wissensgew<strong>in</strong>nung nicht selten auf Zufällen, doch muss dann <strong>in</strong><br />
der Regel bei den eigentlichen Entdeckungen auf den Zufall <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Inspiration<br />
noch e<strong>in</strong>e strukturierte, oft zeitaufwändige <strong>und</strong> mühsame Untersuchung folgen, wie es<br />
beispielsweise von der Erf<strong>in</strong>dung der Röntgenstrahlen <strong>und</strong> der „Post it“-Notizzettel berichtet<br />
wird. Diese durchdachten Aktivitäten führen allerd<strong>in</strong>gs nicht mit Sicherheit zu neuem Wissen.<br />
Stattdessen s<strong>in</strong>d sie immer mit Ungewissheit verb<strong>und</strong>en, 9 deren Ausprägung bei der Gr<strong>und</strong>lagenforschung<br />
im Vergleich zu derjenigen bei der angewandten Forschung aufgr<strong>und</strong> der fehlenden<br />
bzw. ger<strong>in</strong>geren spezifischen Zielorientierung als stärker vermutet werden kann. 10<br />
In der Praxis ist die hier vorgestellte abstrakte Unterscheidung zwischen den zwei Forschungskategorien<br />
mit Problemen verb<strong>und</strong>en. So können e<strong>in</strong>zelne Forschungsprojekte, wie<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
Vgl. OECD (1982), S. 70, <strong>und</strong> Kommission der Europäischen Geme<strong>in</strong>schaften (2005), S. 8.<br />
Vgl. Brockhoff (1999), S. 48.<br />
Vgl. Brockhoff (1999), S. 49 f.<br />
Vgl. Brockhoff (1999), S. 49.<br />
10 Bezieht man aber z.B. die Zielerreichung auf technische Produktziele, so können laut Brockhoff (1999),<br />
S. 55, „auch <strong>in</strong> der Gr<strong>und</strong>lagenforschung Erfolgswahrsche<strong>in</strong>lichkeiten auftreten, die nicht unter denjenigen<br />
für Entwicklungsprojekte liegen.“<br />
88
5<br />
z.B. e<strong>in</strong>e Studie über die soziökonomischen E<strong>in</strong>flussvariablen von Studierendenleistungen,<br />
sowohl Elemente der Gr<strong>und</strong>lagen- als auch der Anwendungsforschung enthalten. 11<br />
Da im Folgenden (weitgehend) auf e<strong>in</strong>e Differenzierung zwischen beiden Forschungskategorien<br />
verzichtet werden kann, wird – sofern nicht explizit darauf verwiesen ist – vere<strong>in</strong>fachend<br />
zusammenfassend von der „Produktion neuen Wissens“ gesprochen.<br />
1.2. (Forschungs-)Leistung<br />
Auf die zweite im Vorfeld e<strong>in</strong>er Beurteilung der Forschungsleistung zu beantwortende Frage<br />
„Was ist Leistung, <strong>in</strong>sbesondere Forschungsleistung?“ ist ebenfalls ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelne Lösung<br />
zu f<strong>in</strong>den. Der Begriff „Leistung“ hat <strong>in</strong> verschiedenen Wissenschaften unterschiedliche Bedeutungen.<br />
Selbst <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>zelner Fachgebiete existieren mehrere Leistungsverständnisse.<br />
In der Soziologie gibt es z.B. den statischen <strong>und</strong> den dynamischen Leistungsbegriff <strong>und</strong> <strong>in</strong> der<br />
Betriebswirtschaft wird der Term<strong>in</strong>us <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie als Gegenbegriff zu Kosten verwandt.<br />
Daneben gibt es dort beispielsweise potenzial-, prozess- <strong>und</strong> ergebnisorientierte Auffassungen,<br />
die Interpretationen des Begriffs im S<strong>in</strong>ne der Effektivität <strong>und</strong> Effizienz sowie die<br />
Gleichsetzung mit Performance oder Value Added. 12<br />
Aufgr<strong>und</strong> der zahlreichen Bedeutungs- <strong>und</strong> Verwendungsmöglichkeiten ist der Term<strong>in</strong>us<br />
Leistung für den jeweiligen Kontext zu spezifizieren. Zur Beurteilung von Forschung wird er<br />
zwar häufig benutzt, allerd<strong>in</strong>gs existiert (noch) ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Def<strong>in</strong>ition. Theorie <strong>und</strong><br />
Praxis zeigen aber immer wieder deutlich, dass aus betriebswirtschaftlicher Perspektive folgende<br />
Aspekte – alle<strong>in</strong> oder <strong>in</strong> Komb<strong>in</strong>ation – von Bedeutung s<strong>in</strong>d: Effektivität <strong>und</strong> Effizienz,<br />
Qualität <strong>und</strong> Quantität sowie Relevanz. Welche genau betrachtet werden (sollten), ist abhängig<br />
von den jeweiligen Interessenten <strong>und</strong> deren Informationsbedürfnissen. Um diesen allen<br />
gerecht zu se<strong>in</strong>, werden die e<strong>in</strong>zelnen Aspekte hier kurz diskutiert.<br />
Effektivität <strong>und</strong> Effizienz<br />
Effektivität stellt ganz allgeme<strong>in</strong> die zweckbezogene Wirksamkeit e<strong>in</strong>er Handlung dar, das<br />
heißt e<strong>in</strong>e Tätigkeit ist dann effektiv, wenn die erzielten Wirkungen (Effekte) den beabsichtigten<br />
Zwecken entsprechen. Dabei s<strong>in</strong>d Zwecke die aufgr<strong>und</strong> ursprünglicher Handlungsmotive<br />
primär relevanten Ziele, also die Beweggründe des Handelns. 13<br />
11 Vgl. das ähnliche Beispiel <strong>in</strong> OECD (1982), S. 72.<br />
12 Vgl. unter anderem den Überblick über verschiedene Leistungsverständnisse bei Becker (2003), S. 11 ff.<br />
13 Vgl. Dyckhoff/Ahn (2001), S. 112 ff.<br />
89
6<br />
Effizienz wird als wirtschaftliche Wirksamkeit e<strong>in</strong>er Handlung verstanden. Diese ist optimal,<br />
wenn Verschwendung vermieden wird, also ke<strong>in</strong>e Verbesserung der ausgelösten Wirkungen<br />
möglich ist, ohne bei den sek<strong>und</strong>är relevanten Zielen – ger<strong>in</strong>ger Mittele<strong>in</strong>satz, Erzeugung<br />
erwünschter Nebenfolgen <strong>und</strong> M<strong>in</strong>derung unerwünschter Nebenfolgen – e<strong>in</strong>e Verschlechterung<br />
hervorzurufen. 14<br />
E<strong>in</strong>e Forschungstätigkeit ist demnach effektiv, wenn sie den Zweck der Produktion neuen<br />
Wissens erfüllt. Sie ist effizient, wenn e<strong>in</strong> verbesserter Erkenntnisgew<strong>in</strong>n nur mit e<strong>in</strong>em höheren<br />
Ressourcene<strong>in</strong>satz bzw. e<strong>in</strong>er Verschlechterung h<strong>in</strong>sichtlich der Nebenfolgen möglich ist.<br />
Welche Details bei solch e<strong>in</strong>er Effektivitäts- <strong>und</strong> Effizienzbetrachtung der Hochschulforschung<br />
entscheidend se<strong>in</strong> können, ist beispielhaft <strong>in</strong> Abbildung 1 dargestellt.<br />
Primäres Ziel<br />
Sek<strong>und</strong>äre Ziele<br />
Zweck erreichen<br />
Mittel sparsam e<strong>in</strong>setzen<br />
Erwünschte Nebenfolgen<br />
erzeugen<br />
Unerwünschte Nebenfolgen<br />
m<strong>in</strong>dern<br />
Produktion neuen Wissens<br />
Personal<br />
• Wissenschaftliches<br />
Personal<br />
− Professoren<br />
− Sonstiges wissenschaftliches<br />
Personal<br />
• Nichtwiss. Personal<br />
Förderung des wiss.<br />
Nachwuchses<br />
• Promotionen<br />
• Habilitationen<br />
Verbesserung der Lehre<br />
„Büchse der Pandora“<br />
Atomenergie<br />
Gentechnik<br />
Umweltverschmutzung<br />
...<br />
Sachmittel<br />
Förderung der <strong>in</strong>ternationalen<br />
Zusammenarbeit<br />
F<strong>in</strong>anzmittel<br />
• Planmäßige Mittel<br />
• Drittmittel<br />
Abbildung 1: Ziele der Hochschulforschung 15<br />
Qualität <strong>und</strong> Quantität<br />
Qualität ist e<strong>in</strong> vager Begriff, der sich grob mit Beschaffenheit oder Güte umschreiben lässt.<br />
Genauer def<strong>in</strong>iert ihn z.B. die Deutsche Gesellschaft für Qualität e.V. als „Gesamtheit von<br />
14 Vgl. Dyckhoff/Ahn (2001), S. 112 ff.<br />
15 Modifikation der Ziel- <strong>und</strong> Indikatorenstruktur von Dyckhoff et al. (2005), S. 63.<br />
90
7<br />
Merkmalen (<strong>und</strong> Merkmalswerten) e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit bezüglich ihrer Eignung, festgelegte <strong>und</strong><br />
vorausgesetzte Erfordernisse zu erfüllen.“ 16<br />
Dieser Versuch der Begriffsklärung deutet darauf h<strong>in</strong>, dass Qualität immer subjektiv ist, da<br />
die Auswahl der betrachteten Eigenschaften <strong>und</strong> deren geforderter Ausmaße <strong>in</strong>dividuell verschieden<br />
se<strong>in</strong> können. Entsprechend schwierig erweist sich auch die Formulierung allgeme<strong>in</strong>er<br />
Gütekriterien für die Forschung. H<strong>in</strong>zu kommt, dass Forschung, <strong>in</strong>sbesondere Gr<strong>und</strong>lagenforschung,<br />
weitgehend <strong>in</strong>s Unbekannte gerichtet ist – sie dient schließlich der Generierung<br />
neuen Wissens – <strong>und</strong> somit Qualitätsanforderungen nur schwierig zu benennen s<strong>in</strong>d.<br />
Ebenso wird Quantität häufig als wesentlicher Leistungsaspekt angesehen. Diese ist generell,<br />
also auch bei der Produktion neuen Wissens, eng mit der Qualität verb<strong>und</strong>en.<br />
Relevanz<br />
Mit Relevanz ist generell die Bedeutsamkeit e<strong>in</strong>es Aspektes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Zusammenhang<br />
geme<strong>in</strong>t. Vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> der Forschungsbeurteilung kann diese auf die Wichtigkeit<br />
des neu produzierten Wissens für die Gesellschaft – entsprechend der objektiven Neuheit<br />
– 17 oder aber im S<strong>in</strong>ne des subjektiven Neuheitsverständnisses auf die unmittelbar Betroffenen<br />
bezogen werden. Dabei ist zwischen der theoretischen, re<strong>in</strong> wissenschaftlichen Bedeutung<br />
der Forschungsergebnisse <strong>und</strong> deren praktischer Verwertbarkeit zu differenzieren.<br />
1.3. Beurteilung der Forschungsleistung<br />
Nachdem geklärt wurde, was unter Forschung <strong>und</strong> Leistung verstanden wird, ist nun auf die<br />
Frage e<strong>in</strong>zugehen, wie Forschungsleistung im Hochschulbereich beurteilt werden kann.<br />
Gemäß obigen Ausführungen sollte bei e<strong>in</strong>er gesamthaften Beurteilung der Forschung im<br />
Hochschulbereich zum e<strong>in</strong>en dem <strong>in</strong>dividuellen Gegenstand der zu beurteilenden Forschung,<br />
zum anderen der Komplexität <strong>und</strong> Vielfältigkeit des Leistungsbegriffs Rechnung getragen<br />
werden.<br />
Um Forschung überhaupt erfassen <strong>und</strong> von anderen D<strong>in</strong>gen abgrenzen zu können, ist das Erkennen<br />
der <strong>in</strong> Abschnitt 1.1 genannten konstituierenden Merkmale: Öffentlichkeit des Gr<strong>und</strong>lagenwissens<br />
bzw. praktische Verwertbarkeit des angewandten Wissens sowie generell die<br />
Neuheit des entstandenen Wissens, e<strong>in</strong>e wesentliche Voraussetzung. Zur Beurteilung muss<br />
16 DGQ (1995), Nr. 1.5, S. 30.<br />
17 So fordert beispielsweise die Kommission der Europäischen Geme<strong>in</strong>schaften (2005, S. 7) die Relevanz der<br />
Forschung für die Gesellschaft.<br />
91
8<br />
die Forschung <strong>in</strong> Beziehung gesetzt werden zu der Forschung früherer Perioden, festgelegten<br />
Standards oder vergleichbaren Objekten. Dabei sollten stets die unterschiedlichen Ausmaße<br />
von Zufallswirkungen <strong>und</strong> planmäßigem Vorgehen, aber auch die variierende Unsicherheit<br />
der Erf<strong>in</strong>dungsprozesse Berücksichtigung f<strong>in</strong>den. Darüber h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d spezifische Merkmale<br />
der zu beurteilenden E<strong>in</strong>heit zur Unterscheidung heranzuziehen, wie etwa die wirtschaftliche<br />
Lage e<strong>in</strong>es Hochschulstandorts, die unter anderem die Möglichkeiten zur Forschungskooperation<br />
<strong>und</strong> zum Wissenstransfer bee<strong>in</strong>flussen kann, oder z.B. das Alter e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>richtung zwecks<br />
Beachtung eventueller Vorteile traditioneller Hochschulen gegenüber Neugründungen. Da<br />
Forschung von Natur aus sehr heterogen ist, zwischen Gr<strong>und</strong>lagen- <strong>und</strong> Anwendungsforschung<br />
oft nicht klar differenziert werden kann <strong>und</strong> nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> der wachsenden<br />
Spezialisierung <strong>in</strong> der Wissenschaft, erweist sich allerd<strong>in</strong>gs die Sicherstellung e<strong>in</strong>er entsprechenden<br />
Vergleichbarkeit als außerordentlich schwierig. Um <strong>in</strong> der Praxis zum<strong>in</strong>dest den unterschiedlichen<br />
Forschungs<strong>in</strong>halten verschiedener Wissenschaftsbereiche gerecht zu werden,<br />
wird üblicherweise empfohlen, nur fachspezifische Vergleiche durchzuführen.<br />
Um bei Forschungsbewertungen e<strong>in</strong>em im obigen S<strong>in</strong>ne komplexen <strong>und</strong> vielfältigen Leistungsverständnis<br />
gerecht zu werden, müssen die verschiedenen Leistungsaspekte – Effektivität<br />
<strong>und</strong> Effizienz, Qualität <strong>und</strong> Quantität sowie Relevanz – Beachtung f<strong>in</strong>den. Entsprechend<br />
ist zu beurteilen, <strong>in</strong>wieweit neues Wissen produziert <strong>und</strong> ob dabei Verschwendung vermieden<br />
wird, von welcher Güte <strong>und</strong> welchem Ausmaß die gewonnenen Erkenntnisse s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> welche<br />
Relevanz sie für Wissenschaft <strong>und</strong> Praxis haben. Dass solche Leistungse<strong>in</strong>schätzungen subjektiv<br />
s<strong>in</strong>d, wurde bereits an e<strong>in</strong>igen Stellen deutlich, z.B. bei der Thematisierung des Qualitätsbegriffs<br />
im Abschnitt 1.2. Die Subjektivität zeigt sich aber <strong>in</strong>sbesondere auch dann, wenn<br />
die Analyse auf bestimmte Aspekte fokussiert wird. So <strong>in</strong>teressieren sich beispielsweise Forschungsförderer<br />
vorwiegend für die Effizienz <strong>und</strong> Relevanz der Forschung, für Wissenschaftler<br />
zählt dagegen mehr deren Effektivität <strong>und</strong> wissenschaftliche Güte.<br />
Die Beurteilung der Forschungsleistung im Hochschulbereich kann mit Hilfe verschiedener<br />
Methoden erfolgen. Zum e<strong>in</strong>en ist die Erhebung von (mehr oder weniger subjektiven) Expertenurteilen<br />
möglich (Peer Reviews), andererseits können Leistungs<strong>in</strong>dikatoren die Basis e<strong>in</strong>er<br />
Beurteilung se<strong>in</strong>. Die Komb<strong>in</strong>ation beider Verfahren führt schließlich zu e<strong>in</strong>em so genannten<br />
„Informed Peer Review“. 18<br />
18 E<strong>in</strong> solches wird z.B. vom Wissenschaftsrat (2004, S. 43) zur Bewertung der Forschung empfohlen.<br />
92
9<br />
Indikatoren – die im Folgenden ausschließlich betrachtet werden – dienen generell der näherungsweisen<br />
Abbildung bzw. Beurteilung e<strong>in</strong>er als wichtig erachteten, sich aber e<strong>in</strong>er unmittelbaren<br />
Erfassung entziehenden Größe. Sie werden oftmals als Kennzahlen erfasst <strong>und</strong><br />
manchmal zu e<strong>in</strong>em Gesamt<strong>in</strong>dikator (Index) aggregiert. Da Zusammenhänge zwischen den<br />
sicht- bzw. messbaren Indikatoren <strong>und</strong> dem zu erfassenden Indikandum <strong>in</strong> der Regel nur sehr<br />
schwierig festzustellen s<strong>in</strong>d, sollte die Auswahl <strong>und</strong> Komb<strong>in</strong>ation von Indikatoren immer mit<br />
äußerster Sorgfalt erfolgen. Kritisch zu prüfen ist dabei vor allem, ob die Wirklichkeit valide<br />
<strong>und</strong> reliabel reflektiert werden kann. 19<br />
Als Beurteilungsmaße für die Forschungsleistung sollen Indikatoren – wie oben erläutert –<br />
auf deren Effektivität <strong>und</strong> Effizienz, Qualität <strong>und</strong> Quantität bzw. Relevanz h<strong>in</strong>weisen. Abbildung<br />
2 zeigt beispielhaft Leistungs<strong>in</strong>dikatoren auf, die <strong>in</strong> der aktuellen Praxis der nationalen<br />
Forschungsbeurteilung verwendet <strong>und</strong> <strong>in</strong> Rank<strong>in</strong>gs ausgewiesen werden.<br />
CHE<br />
FOCUS<br />
DFG<br />
Drittmittel<br />
Patente<br />
Promotionen<br />
Publikationen<br />
Reputation<br />
Zitationen<br />
Drittmittel<br />
Reputation<br />
Zitationen<br />
Ausländische Geförderte des<br />
Deutschen Akademischen<br />
Austauschdienstes (DAAD)<br />
Drittmittel<br />
Gastwissenschaftler, Preisträger<br />
<strong>und</strong> Stipendiaten der Alexander<br />
vom Humboldt-Stiftung (AvH)<br />
Publikationen<br />
Zitationen<br />
Abbildung 2: Forschungs<strong>in</strong>dikatoren <strong>in</strong> der Praxis 20<br />
Dieser kle<strong>in</strong>e Überblick über die Leistungsbeurteilung der Forschung mittels Indikatoren zeigt<br />
bereits deren unterschiedliche Ausrichtungsmöglichkeiten. So sollen etwa durch das CHE-<br />
Forschungsrank<strong>in</strong>g die Forschungsaktivitäten der Universitäten beleuchtet <strong>und</strong> so genannte<br />
19 Zu Indikatoren vgl. beispielsweise Schnell/Hill/Esser (2005), S. 131 ff.<br />
20 Vgl. das CHE-Forschungsrank<strong>in</strong>g (Berghoff et al., 2005), das FOCUS-Rank<strong>in</strong>g (FOCUS, 2004) <strong>und</strong> das<br />
DFG-Förderrank<strong>in</strong>g (DFG, 2003).<br />
93
10<br />
forschungsstarke Fakultäten hervorgehoben werden, 21 das FOCUS-Rank<strong>in</strong>g versucht – auf<br />
Basis von Forschungs- <strong>und</strong> Lehr<strong>in</strong>dikatoren – die besten deutschen Universitäten zu ermitteln<br />
22 <strong>und</strong> der Schwerpunkt des DFG-Förderrank<strong>in</strong>gs liegt auf Maßgrößen zur Abbildung der<br />
Forschungsförderung. 23 In der Praxis werden die jeweiligen Kennzahlen auf verschiedenen<br />
Hochschulebenen e<strong>in</strong>gesetzt, z.B. national <strong>und</strong> <strong>in</strong>ternational zur Schaffung von Transparenz<br />
<strong>und</strong> zum Erkennen von Forschungseliten, auf Länder- <strong>und</strong> Hochschulebene zur <strong>in</strong>dikatorgestützten<br />
Mittelverteilung sowie zum Controll<strong>in</strong>g <strong>und</strong> <strong>in</strong> Fachbereichen bei der Berufung von<br />
Professoren.<br />
E<strong>in</strong>e genauere Betrachtung der e<strong>in</strong>zelnen Indikatoren zeigt zudem, dass diese <strong>in</strong> den verschiedenen<br />
Rank<strong>in</strong>gs auf vielfältige Arten erhoben, ausgewiesen <strong>und</strong> aggregiert werden. 24<br />
Weiterh<strong>in</strong> ist schon alle<strong>in</strong> an den drei, <strong>in</strong> Abbildung 2 aufgezeigten aktuellen Beispielen zu<br />
erkennen, dass unter anderem Drittmittelkennzahlen – trotz kontroverser Diskussionen über<br />
deren Aussagemöglichkeiten – <strong>in</strong> der Praxis e<strong>in</strong>e große Rolle spielen. Diese spiegelt sich auch<br />
bei Betrachtung anderer <strong>in</strong>dikatorgestützter Forschungsbeurteilungen wider. So verdeutlicht<br />
etwa folgendes Zitat aus dem Controll<strong>in</strong>g-Konzept der RWTH Aachen den hohen Stellenwert<br />
von Drittmittelkennzahlen auf der Hochschulebene: „Aufgr<strong>und</strong> fehlender flächendeckender,<br />
gleichen Standards entsprechender <strong>und</strong> mit vertretbarem Aufwand nutzbarer Zitationsstudien<br />
konzentriert sich das Forschungscontroll<strong>in</strong>g der RWTH Aachen derzeit auf die kont<strong>in</strong>uierliche<br />
<strong>und</strong> systematische Erfassung, Darstellung <strong>und</strong> Interpretation von forschungsrelevanten<br />
Drittmitteldaten.“ 25<br />
In den nächsten Abschnitten wird untersucht, <strong>in</strong>wieweit diese, <strong>in</strong> der Praxis hohe Wertschätzung<br />
von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren auch aus theoretischer Perspektive gerechtfertigt ist. Dabei<br />
stehen <strong>in</strong>sbesondere zeitliche Aspekte im Fokus der Analyse.<br />
2. Beurteilung der Forschungsleistung mittels Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren<br />
Wie bereits erwähnt, werden Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren vielfach <strong>und</strong> <strong>in</strong> unterschiedlicher Form<br />
e<strong>in</strong>gesetzt. Die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten werden nun erläutert <strong>und</strong> auf die-<br />
25<br />
21 Vgl. Berghoff et al. (2005), S. B-1.<br />
22 Vgl. FOCUS (2004), S. 110 ff.<br />
23 Vgl. DFG (2003), S. 18.<br />
24 So werden beispielsweise <strong>in</strong> den genannten Rank<strong>in</strong>gs unterschiedliche Drittmittelkennzahlen erhoben. Das<br />
CHE ermittelt verausgabte Drittmittel (vgl. CHE, 2005, S. B-2), im FOCUS-Rank<strong>in</strong>g werden e<strong>in</strong>geworbene<br />
Drittmittel aufgeführt (vgl. FOCUS, 2004, S. 134) <strong>und</strong> ebenso fließen <strong>in</strong> das DFG-Förderrank<strong>in</strong>g – neben den<br />
verausgabten – vorrangig die bewilligten Gelder e<strong>in</strong> (vgl. DFG, 2003, S. 18 f.).<br />
RWTH Aachen (2004), S. 25.<br />
94
11<br />
ser Gr<strong>und</strong>lage die Beurteilung der Effektivität <strong>und</strong> Effizienz mittels Drittmittelkennzahlen<br />
untersucht.<br />
2.1. Drittmittel(<strong>in</strong>dikatoren) aus produktionstheoretischer Perspektive<br />
Bevor Drittmittel <strong>in</strong> diesem Abschnitt detailliert aus Sicht der Produktionstheorie analysiert<br />
werden, ist e<strong>in</strong>e kurze Klärung des Begriffs erforderlich. Nach § 25 Absatz 2 des Hochschulrahmengesetzes<br />
liegt Drittmittelforschung <strong>in</strong> Hochschulen vor, wenn Forschungsvorhaben<br />
„nicht aus den der Hochschule zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln, sondern aus Mitteln<br />
Dritter f<strong>in</strong>anziert werden“ 26 . Diese zusätzlichen zweckgeb<strong>und</strong>enen Gelder werden von<br />
öffentlichen <strong>und</strong> privaten Stellen wettbewerblich auf Basis bestimmter Kriterien an e<strong>in</strong>zelne<br />
Forscher <strong>und</strong> Forschungsgruppen vergeben. Der Gewährung geht meist e<strong>in</strong> Antrag voraus, der<br />
von Gutachtern geprüft wird. Die Mittelvergabe kann daraufh<strong>in</strong> entweder e<strong>in</strong>malig oder<br />
mehrmalig, dann aber zeitlich befristet erfolgen.<br />
Aus produktionstheoretischer Perspektive können diese Fördergelder unterschiedlich betrachtet<br />
werden. Sie s<strong>in</strong>d dabei verschiedenen Stufen e<strong>in</strong>es um die Wirkungen (Outcome) erweiterten<br />
Produktionsmodells, wie es <strong>in</strong> Abbildung 3 skizziert ist, zuordenbar.<br />
Input<br />
Prozess<br />
Output<br />
Outcome<br />
Abbildung 3:<br />
(Erweitertes) Produktionsmodell<br />
Aus re<strong>in</strong> technischer Perspektive stellen Drittmittel Input der Forschung dar. In dieser H<strong>in</strong>sicht<br />
<strong>in</strong>formieren Drittmittelkennzahlen lediglich über neben der Gr<strong>und</strong>ausstattung zur Verfügung<br />
stehende f<strong>in</strong>anzielle Ressourcen für Personal <strong>und</strong> Sachmittel – also über „zusätzliches“<br />
Forschungspotenzial – sagen aber nichts über die damit (eventuell) verb<strong>und</strong>ene Produktion<br />
neuen Wissens aus. Wenn diese Ausgaben – <strong>in</strong>terpretiert als Forschungs<strong>in</strong>put – daher auch<br />
nicht die Effektivität, Qualität <strong>und</strong> Quantität bzw. Relevanz der damit f<strong>in</strong>anzierten Forschung<br />
26 HRG (2004), § 25 Abs. 1.<br />
95
12<br />
reflektieren können, so sollten sie zum<strong>in</strong>dest gr<strong>und</strong>sätzlich bei Effizienzbetrachtungen berücksichtigt<br />
werden.<br />
Der E<strong>in</strong>satz von Fördergeldern kann auch auf (sichtbare) Forschungsaktivität <strong>und</strong> damit auf<br />
den Prozess der Forschung h<strong>in</strong>weisen. In diesem S<strong>in</strong>ne lässt sich mittels Drittmittelkennzahlen<br />
auf die Qualität <strong>und</strong> Quantität der Tätigkeiten, nicht aber auf die Leistung h<strong>in</strong>sichtlich des<br />
produzierten Wissens als Ergebnis des Forschungsprozesses schließen. Bei solchen Prozessbeurteilungen<br />
wird unterstellt, dass die Gelder s<strong>in</strong>nvoll für die Forschung ausgegeben werden.<br />
Ob sich aber z.B. e<strong>in</strong> Forscher wirklich gedanklich mit e<strong>in</strong>em drittmittelf<strong>in</strong>anzierten Projekt<br />
beschäftigt, wenn er dieses vorgibt, oder ob er sich tatsächlich ganz anderen Forschungsbereichen<br />
widmet, ist wohl kaum kontrollierbar.<br />
Neben der <strong>in</strong>put- <strong>und</strong> prozessorientierten Interpretation von Drittmitteln werden diese auch als<br />
Outcome der Forschung aufgefasst. Dabei liegt der Gedanke zugr<strong>und</strong>e, dass die Drittmittelvergabe<br />
an bereits erfolgte Leistungen anknüpft, worunter allerd<strong>in</strong>gs nicht allgeme<strong>in</strong>e vergangene<br />
Forschungserfolge <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Reputation zu verstehen s<strong>in</strong>d, sondern<br />
konkrete projektbezogene Vorarbeiten, die <strong>in</strong> Form f<strong>und</strong>ierter (Fortsetzungs-)Anträge zum<br />
Ausdruck kommen. Diese werden häufig mit zur Publikation e<strong>in</strong>gereichten Manuskripten<br />
verglichen <strong>und</strong> als Ergebnis der Forschung (Output) <strong>in</strong>terpretiert, dessen Wirkungen sich<br />
schließlich <strong>in</strong> der Zuweisung bzw. Nichtzuweisung von Fördergeldern zeigen. 27 In diesem<br />
S<strong>in</strong>ne bilden Drittmittelmaßgrößen die bewertete Kreativität, also den von den Geldgebern<br />
honorierten Ideenreichtum des jeweiligen Antragstellers ab <strong>und</strong> weisen außerdem auf die Fähigkeit<br />
des Forschers h<strong>in</strong>, selber Potenzial zu schaffen <strong>und</strong> Projekte zu f<strong>in</strong>anzieren.<br />
Drittmittelmaße als Outcome<strong>in</strong>dikatoren können aber nicht – wie es oftmals irrtümlich durch<br />
z.B. Rank<strong>in</strong>gs suggeriert wird – bzw. nur unter bestimmten Annahmen das (eigentliche) Forschungsergebnis<br />
reflektieren. Denn mit der Antragstellung von Fördergeldern wird ke<strong>in</strong> neu<br />
geschaffenes Wissen dokumentiert, sondern nur (e<strong>in</strong>em begrenzten Personenkreis) e<strong>in</strong>e Idee<br />
zur Wissensproduktion vorgestellt. Selbst wenn bereits im Rahmen der Vorarbeiten für die<br />
Erstellung e<strong>in</strong>es Erstantrages neue Erkenntnisse entstanden se<strong>in</strong> sollten oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Fortsetzungsantrag<br />
auf bereits gewonnene Ergebnisse verwiesen wird, so s<strong>in</strong>d diese Anträge <strong>in</strong> der<br />
Regel nicht zur Veröffentlichung <strong>und</strong> auch nicht zur weiteren Verwertung bestimmt. Insofern<br />
stellen Drittmittelanträge ke<strong>in</strong>en konkreten Forschungsoutput dar <strong>und</strong> entsprechend können<br />
27 Vgl. Hornbostel (1997), S. 234. Hier werden allerd<strong>in</strong>gs die Drittmittel selber als Output der Forschung bezeichnet.<br />
96
13<br />
auf Drittmitteln basierende Outcome<strong>in</strong>dikatoren auch nicht zur Beurteilung vergangener Forschungsleistung,<br />
sondern allenfalls zur Prognose zukünftiger Arbeiten e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />
Nur unter Zugr<strong>und</strong>elegung der Tatsache, dass die Vergabe von Fördergeldern an dokumentierte<br />
Forschungskonzepte anknüpft, <strong>und</strong> mit der Annahme, dass geförderte Projekte gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
erfolgreich s<strong>in</strong>d, können Drittmittelkennzahlen als auf das Endergebnis bezogene<br />
Outcomemaßgrößen verwendet werden. Das heißt, Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren stellen allenfalls<br />
dann Maße zur Beurteilung der Forschungsleistung dar, wenn e<strong>in</strong>e hohe Korrelation zwischen<br />
den antragsbezogenen Vorarbeiten, deren Wirkungen <strong>in</strong> der Zuweisung bzw. Nichtzuweisung<br />
von Drittmitteln zum Ausdruck kommen, <strong>und</strong> der eigentlichen, forschungszweckbezogenen<br />
Produktion neuen Wissens unterstellt wird, das heißt der E<strong>in</strong>satz von Fördergeldern<br />
mit hoher Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit zu neuem Wissen führt.<br />
Zur Veranschaulichung dieses – für die Verwendung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren als Outcomemaße<br />
entscheidenden – Zusammenhangs betont Abbildung 4 die Unterscheidung zwischen<br />
der Vor- <strong>und</strong> der Hauptleistung e<strong>in</strong>es drittmittelf<strong>in</strong>anzierten Forschungsprojektes <strong>und</strong> die hier<br />
vere<strong>in</strong>fachend als determ<strong>in</strong>istisch angenommene Beziehung zwischen den für das Projekt<br />
erhaltenen Geldern <strong>und</strong> dem damit produzierten neuen Wissen.<br />
Vorleistungen (Zweck: Antragserstellung)<br />
Input<br />
Drittmittelantrag<br />
Antragserstellung<br />
Drittmittel<br />
Prognose!<br />
Hauptleistungen (Zweck: Produktion neuen Wissens)<br />
Input<br />
Wissensproduktion<br />
neu<br />
produziertes<br />
Wissen<br />
Outcome<br />
Abbildung 4:<br />
Vor- <strong>und</strong> Hauptleistung drittmittelf<strong>in</strong>anzierter Forschung<br />
Wenn von solch e<strong>in</strong>em gr<strong>und</strong>sätzlichen, durch die Höhe der Gelder bestimmten Erfolg der<br />
Drittmittelforschung ausgegangen wird, können die Outcome<strong>in</strong>dikatoren nicht nur zur Beurteilung<br />
der Effektivität, sondern auch der Effizienz, Qualität <strong>und</strong> Quantität sowie Relevanz<br />
herangezogen werden. In die Effizienzbetrachtung fließen die Drittmittel dann <strong>in</strong> zweifacher<br />
97
14<br />
H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>: e<strong>in</strong>erseits s<strong>in</strong>d die e<strong>in</strong>genommenen Gelder als H<strong>in</strong>weis auf den Forschungserfolg,<br />
andererseits aber auch die verausgabten Mittel als Maß für den Ressourcenverbrauch zu<br />
berücksichtigen.<br />
Drittmittel geben H<strong>in</strong>weise auf die Qualität der (geplanten) Forschungsvorhaben, weil sie –<br />
wie oben bereits erwähnt – im Wettbewerb um Forschungse<strong>in</strong>kommen vergeben werden <strong>und</strong><br />
die Bewilligungen Ergebnisse umfangreicher Begutachtungsprozesse darstellen. Die wissenschaftliche<br />
Güte geförderter Forschungsprojekte wird durch die kritischen Würdigungen seitens<br />
der Gutachter aus der Scientific Community bzw. der Wirtschaft sicher gestellt. So werden<br />
nur die als <strong>in</strong>novativ, Erfolg versprechend <strong>und</strong> förderungswürdig beurteilten Projektideen<br />
f<strong>in</strong>anziert.<br />
Die Höhe der Forschungsförderung lässt – zum<strong>in</strong>dest unter der Annahme e<strong>in</strong>es hoch korrelierten<br />
Zusammenhangs zwischen den Drittmitteln e<strong>in</strong>es Projektes <strong>und</strong> der Wissensproduktion<br />
– Aussagen über die Quantität der Forschung zu. Darüber h<strong>in</strong>aus spiegeln solche Outcomekennzahlen<br />
die Relevanz der geplanten Forschung wider, denn schließlich werden nur solche<br />
Vorhaben unterstützt, die für die Gesellschaft im Allgeme<strong>in</strong>en bzw. die Förderer im Speziellen<br />
als bedeutsam e<strong>in</strong>geschätzt werden.<br />
Die hier dargestellten verschiedenen produktionstheoretischen Sichtweisen der Drittmittel<br />
s<strong>in</strong>d Gr<strong>und</strong> für die vielfältige Verwendung entsprechender Indikatoren <strong>in</strong> der Praxis. 28 Die<br />
damit verb<strong>und</strong>enen Konflikte sowie <strong>in</strong>sbesondere die Problematik der Annahme e<strong>in</strong>er hohen<br />
Korrelation zwischen Drittmitteln <strong>und</strong> Forschungserfolg bei der Verwendung der endergebnisorientierten<br />
Outcomemaße sollten bei der Verwendung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren stets<br />
bewusst se<strong>in</strong>. Letztere wird im Folgenden anhand mehrerer Beispiele zur Beurteilung der Forschungseffektivität<br />
<strong>und</strong> -effizienz veranschaulicht.<br />
2.2. Beurteilung der Effektivität <strong>und</strong> Effizienz der Forschung mittels Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren<br />
Die Untersuchung der effektivitäts- <strong>und</strong> effizienzbezogenen Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren erfolgt<br />
durch Gegenüberstellung der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Periode von zwei Forschern (A <strong>und</strong> B) erbrachten<br />
Leistungen. Dabei wird – wie im Abschnitt 1.2 erläutert – Effektivität verstanden<br />
als zweckbezogene Wirksamkeit, wobei der Zweck der Forschung dar<strong>in</strong> liegt, neues Wissen<br />
28 Vgl. etwa die Verwendung von Drittmitteln als Input bei Fandel (2003) <strong>und</strong> als Output bzw. Outcome <strong>in</strong> den<br />
gängigen Rank<strong>in</strong>gs, von z.B. Berghoff et al. (2005), dem FOCUS (2004) <strong>und</strong> der DFG (2003).<br />
98
15<br />
zu produzieren. Effizienz wird als Verhältnis von erreichtem Zweck <strong>und</strong> Mittele<strong>in</strong>satz aufgefasst.<br />
Im Weiteren nicht angesprochene Aspekte, wie z.B. die erwünschten <strong>und</strong> unerwünschten<br />
Nebenfolgen oder <strong>in</strong>stitutionelle Rahmenbed<strong>in</strong>gungen der Forschung, s<strong>in</strong>d als nicht existent<br />
bzw. nicht relevant angenommen.<br />
Zur Leistungsbeurteilung werden folgende zwei Perspektiven herangezogen:<br />
• In Perspektive I s<strong>in</strong>d nur die e<strong>in</strong>gesetzten bzw. verausgabten 29 Drittmittel sichtbar.<br />
Alle sonstigen forschungsbezogenen Aspekte, wie der Prozess <strong>und</strong> das neu produzierte<br />
Wissen, bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er „Black Box“, so dass Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren den e<strong>in</strong>zigen<br />
Anhaltspunkt bei der Forschungsbeurteilung darstellen. Gemäß der („strengen“)<br />
Interpretation der endergebnisorientierten Outcomekennzahlen wird bei dieser Modellbetrachtung<br />
von e<strong>in</strong>em determ<strong>in</strong>istischen Zusammenhang zwischen den Drittmitteln<br />
e<strong>in</strong>es Projekts <strong>und</strong> dessen Erfolg ausgegangen.<br />
• Perspektive II ermöglicht e<strong>in</strong>en Überblick über die gesamte Forschung, <strong>in</strong>sbesondere<br />
auch über das neu produzierte Wissen. Sowohl Effektivität <strong>und</strong> Effizienz als auch<br />
Qualität <strong>und</strong> Quantität sowie die Relevanz der Forschung können direkt gemessen <strong>und</strong><br />
beurteilt werden. Es muss hier also ke<strong>in</strong> gr<strong>und</strong>sätzlicher Erfolg drittmittelf<strong>in</strong>anzierter<br />
Forschung unterstellt werden.<br />
Während folglich Perspektive I lediglich zeigt, was Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren erfassen, wird <strong>in</strong><br />
Perspektive II zusätzlich deutlich, was wirklich <strong>in</strong> der Forschung geschieht bzw. geleistet<br />
wird. Die Vergleichbarkeit der auf diesen unterschiedlichen Gr<strong>und</strong>lagen basierenden Forschungsbeurteilungen<br />
wird nun anhand dreier unterschiedlicher Fälle dargelegt.<br />
Fall 1<br />
Im Fall 1 arbeiten die Forscher A <strong>und</strong> B unter vollständig gleichen Bed<strong>in</strong>gungen. In dem betrachteten<br />
Zeitraum steht ihnen <strong>in</strong>sbesondere dieselbe Drittmittelmenge zur Verfügung, die<br />
komplett <strong>in</strong> die jeweilige Forschung e<strong>in</strong>fließt.<br />
Perspektive I<br />
Wie soeben beschrieben <strong>und</strong> <strong>in</strong> Abbildung 5 dargestellt, ist <strong>in</strong> der Perspektive I lediglich die<br />
Höhe an Fördergeldern sichtbar. Die Urteile über die Leistungen der Forscher A <strong>und</strong> B können<br />
daher nur auf Basis von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren getroffen werden. Unter der Annahme,<br />
29 Im Folgenden wird stets vere<strong>in</strong>fachend angenommen, dass Drittmittele<strong>in</strong>nahmen <strong>und</strong> -ausgaben identisch<br />
s<strong>in</strong>d.<br />
99
16<br />
dass Drittmittel sowohl Input der Forschung darstellen als auch auf deren Zweck h<strong>in</strong>weisen,<br />
lassen sich A <strong>und</strong> B aufgr<strong>und</strong> der übere<strong>in</strong>stimmenden Drittmittelhöhe als gleich effektiv <strong>und</strong><br />
effizient beurteilen. Ihre Leistung ist demnach völlig identisch.<br />
€<br />
Drittmittel<br />
Forscher A<br />
Forscher B<br />
Abbildung 5: Drittmittel der Forscher A <strong>und</strong> B (Fall 1)<br />
Perspektive II<br />
In Perspektive II s<strong>in</strong>d neben der Drittmittelhöhe weitere Informationen über die Wissensproduktion<br />
bekannt, so dass die Zweckerreichung unmittelbar – <strong>und</strong> nicht <strong>in</strong>direkt auf der Basis<br />
von Ersatzgrößen – beurteilt werden kann. Im vorliegenden Fall wird unterstellt, dass die von<br />
A <strong>und</strong> B neu gewonnen Erkenntnisse ke<strong>in</strong>e (wertmäßigen) Unterschiede aufweisen (siehe<br />
Abbildung 6). Da somit alle betrachteten Aspekte identisch s<strong>in</strong>d, können auch ke<strong>in</strong>e Differenzen<br />
<strong>in</strong> der Effektivität <strong>und</strong> Effizienz der Forscher festgestellt werden. A <strong>und</strong> B leisten folglich<br />
das Gleiche.<br />
€<br />
Drittmittel<br />
Wert des<br />
Wissens<br />
Neues Wissen<br />
Forscher A<br />
Forscher B<br />
Forscher A<br />
Forscher B<br />
Abbildung 6: Drittmittel sowie neu produziertes Wissen der Forscher A <strong>und</strong> B (Fall 1)<br />
100
17<br />
E<strong>in</strong>e Gegenüberstellung der Ergebnisse zeigt, dass die Beurteilungen <strong>in</strong> den Perspektiven I<br />
<strong>und</strong> II übere<strong>in</strong>stimmen. Die Verwendung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren ist <strong>in</strong> diesem Fall – der<br />
als Beispiel für e<strong>in</strong>en realen determ<strong>in</strong>istischen Zusammenhang zwischen dem E<strong>in</strong>satz von<br />
Fördergeldern <strong>und</strong> dem Projekterfolg gelten kann – unproblematisch.<br />
Fall 2<br />
Dem zweiten hier dargestellten Fall liegt dieselbe Ausgangssituation wie Fall 1 zugr<strong>und</strong>e: Die<br />
Forscher A <strong>und</strong> B arbeiten unter vollständig gleichen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>und</strong> setzen die ihnen <strong>in</strong><br />
gleicher Höhe zur Verfügung stehenden Drittmittel für Forschungsprojekte e<strong>in</strong>.<br />
Perspektive I<br />
Abbildung 7 zeigt die <strong>in</strong> Perspektive I sichtbare Drittmittelhöhe. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage ergibt<br />
sich – analog zu Fall 1 – e<strong>in</strong>e identische Beurteilung der Leistungen von A <strong>und</strong> B.<br />
€<br />
Drittmittel<br />
Forscher A<br />
Forscher B<br />
Abbildung 7: Drittmittel der Forscher A <strong>und</strong> B (Fall 2)<br />
Perspektive II<br />
Perspektive II offenbart jedoch – im Gegensatz zur Perspektive I – das unterschiedliche Ausmaß<br />
der Wissensproduktion der beiden Forscher. A produziert mit den gleichen Geldern höherwertigeres<br />
Wissen als B, das heißt, se<strong>in</strong>e Erkenntnisse weisen vergleichsweise e<strong>in</strong>e bessere<br />
Qualität <strong>und</strong>/oder größere Quantität auf bzw. s<strong>in</strong>d sie von höherer Relevanz (siehe Abbildung<br />
8). E<strong>in</strong>e auf dem Wert des neu produzierten Wissens basierende Leistungsbeurteilung<br />
verdeutlicht die entsprechend höhere Effektivität der Forschung von A. Da dieser für die Wissensproduktion<br />
den gleichen Input e<strong>in</strong>setzt wie B, kann weiterh<strong>in</strong> auf die effizientere Tätigkeit<br />
von A geschlossen werden.<br />
101
18<br />
€<br />
Drittmittel<br />
Wert des<br />
Wissens<br />
Neues Wissen<br />
Forscher A<br />
Forscher B<br />
Forscher A<br />
Forscher B<br />
Abbildung 8: Drittmittel sowie neu produziertes Wissen der Forscher A <strong>und</strong> B (Fall 2)<br />
Dieser Fall verdeutlicht, dass die alle<strong>in</strong>ige Verwendung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren zu Fehle<strong>in</strong>schätzungen<br />
h<strong>in</strong>sichtlich der Leistung führen kann. Die Maßgrößen weisen nur sche<strong>in</strong>bar<br />
auf die gleiche Effektivität <strong>und</strong> Effizienz der Forschung von A <strong>und</strong> B h<strong>in</strong>. Lediglich wenn <strong>in</strong><br />
Perspektive I, z.B. aufgr<strong>und</strong> unterschiedlicher Herkunft der Drittmittel, für beide Forschungsvorhaben<br />
verschiedene determ<strong>in</strong>istische Zusammenhänge zwischen den Fördergeldern <strong>und</strong><br />
dem neu gewonnenen Wissen bekannt wären, könnte auf die unterschiedlichen Leistungen<br />
von A <strong>und</strong> B geschlossen werden.<br />
Fall 3<br />
Im dritten Fall erhält Forscher A mehr Drittmittel als B. Ansonsten gelten auch hier die gleichen<br />
Forschungsbed<strong>in</strong>gungen.<br />
Perspektive I<br />
Nach der ausschließlichen Betrachtung der Drittmittelhöhe bei Perspektive I wird A effektiver<br />
als B beurteilt. Zudem ergibt sich – sofern die Fördergelder neben den Gr<strong>und</strong>mitteln als Input<br />
berücksichtigt werden – auch e<strong>in</strong>e höhere Effizienz der Forschung von A (siehe Abbildung<br />
9). 30<br />
30 DMA /(GM + DM A ) > DM B /(GM + DM B ), da DM A , DM B <strong>und</strong> GM ≥ 0 <strong>und</strong> DM A > DM B<br />
(DM = Drittmittel, GM = Gr<strong>und</strong>mittel)<br />
102
19<br />
€<br />
Drittmittel<br />
Forscher A<br />
Forscher B<br />
Abbildung 9: Drittmittel der Forscher A <strong>und</strong> B (Fall 3)<br />
Perspektive II<br />
In Perspektive II wird allerd<strong>in</strong>gs deutlich, dass beide Forscher den Zweck der Forschung gleichermaßen<br />
erfüllen, sie also als gleich effektiv e<strong>in</strong>zustufen s<strong>in</strong>d. Da außerdem B e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>geren<br />
Drittmittele<strong>in</strong>satz hat, ist er <strong>in</strong> Relation zu A als effizienter zu beurteilen (siehe<br />
Abbildung 10).<br />
€<br />
Drittmittel<br />
Wert des<br />
Wissens<br />
Neues Wissen<br />
Forscher A<br />
Forscher B<br />
Forscher A<br />
Forscher B<br />
Abbildung 10: Drittmittel sowie neu produziertes Wissen der Forscher A <strong>und</strong> B (Fall 3)<br />
Es kann festgehalten werden, dass im dritten Fall die Beurteilungen auf Basis der verschiedenen<br />
Perspektiven zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen. Während aus der Perspektive<br />
I A effektiver <strong>und</strong> effizienter forscht, besteht dagegen aus der Perspektive II h<strong>in</strong>sichtlich<br />
der Effektivität ke<strong>in</strong> Unterschied zwischen der Forschung von A <strong>und</strong> B, außerdem ist hier B<br />
der effizientere Forscher.<br />
Neben diesen Beurteilungsdifferenzen zwischen den beiden Perspektiven verdeutlicht dieses<br />
Beispiel vor allem auch die gr<strong>und</strong>sätzliche Bedeutung von Effizienzanalysen bei Leistungsvergleichen,<br />
denn durch sie kann e<strong>in</strong>e systematische Benachteiligung von Forschern, die für<br />
103
20<br />
e<strong>in</strong>en bestimmten Output relativ wenig Input benötigen oder die mit e<strong>in</strong>em bestimmten Mittele<strong>in</strong>satz<br />
e<strong>in</strong>en relativ großen Output erzeugen, vermieden werden. 31<br />
Die Beurteilungsergebnisse der drei vorgestellten Fälle s<strong>in</strong>d noch e<strong>in</strong>mal im Überblick der<br />
Tabelle 1 zu entnehmen.<br />
Beurteilungskriterium<br />
Perspektive I<br />
Perspektive II<br />
Fall 1<br />
Fall 2<br />
Fall 3<br />
Effektivität A = B A = B<br />
Effizienz A = B A = B<br />
Effektivität A = B A > B<br />
Effizienz A = B A > B<br />
Effektivität A > B A = B<br />
Effizienz A > B A < B<br />
Legende<br />
= gleich effektiv/effizient<br />
> effektiver/effizienter<br />
< weniger effektiv/effizient<br />
Tabelle 1: Effektivitäts- <strong>und</strong> Effizienzbeurteilung – Vergleich der Forscher A <strong>und</strong> B (Fälle 1 bis 3)<br />
Alle<strong>in</strong> diese kle<strong>in</strong>e Auswahl möglicher Leistungsvergleiche zeigt, dass Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren<br />
nur bed<strong>in</strong>gt Forschungsleistungen reflektieren können. Sie zeigen zwar durchaus den Erfolg<br />
der Forscher bei der E<strong>in</strong>werbung von Mitteln aus dritter Hand auf, e<strong>in</strong>e (alle<strong>in</strong>ige) Betrachtung<br />
dieser Größen kann aber – da Drittmittelkennzahlen nicht unmittelbar den Zweck der<br />
Forschung abbilden – zu falschen Leistungsbeurteilungen, Maßnahmen <strong>und</strong> somit zu unerwünschten<br />
Konsequenzen führen. Idealerweise sollten diese daher auf der direkten Messung<br />
des neu produzierten Wissens basieren. Da aber <strong>in</strong> der Realität das geschaffene Wissen erst<br />
durch z.B. Veröffentlichungen oder praktische Anwendungen nach Abschluss der häufig sehr<br />
langen Forschungszeit sichtbar wird <strong>und</strong> außerdem nicht unmittelbar (quantitativ) erfasst<br />
werden kann, s<strong>in</strong>d Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren <strong>in</strong> der Praxis beurteilungsrelevante Größen, die auf<br />
die Forschungsleistung h<strong>in</strong>weisen sollen. Ihre Validität hängt allerd<strong>in</strong>gs maßgeblich von dem<br />
realen sowie unterstellten Zusammenhang zwischen erfolgreicher Drittmittele<strong>in</strong>werbung <strong>und</strong><br />
der Produktion neuen Wissens ab.<br />
Die Existenz gr<strong>und</strong>sätzlich erfolgreicher Drittmittelprojekte <strong>in</strong> der Realität ist durchaus <strong>in</strong><br />
Frage zu stellen, da Drittmittelvergaben – wie <strong>in</strong> Abschnitt 2.1 erläutert – generell nur auf<br />
Prognosen über zukünftige Forschungsleistungen beruhen. So ist es durchaus möglich, dass<br />
31 Vgl. hierzu Kieser (1998), S. 216.<br />
104
21<br />
e<strong>in</strong> Forscher, der Ideen gut verkauft, diese nicht unbed<strong>in</strong>gt auch gut umsetzen kann. 32 Allerd<strong>in</strong>gs<br />
s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e den Drittmittelprojekten implizit unterstellte Wissensproduktion <strong>und</strong> damit<br />
auch die Verwendung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren aus mehreren Gründen durchaus plausibel.<br />
So sprechen zunächst die bereits im Vorfeld e<strong>in</strong>er Antragsstellung durch die Forscher ausgeübte<br />
qualitative Selbstselektion wie auch die E<strong>in</strong>schätzung seitens der Fachexperten für e<strong>in</strong>e<br />
vergleichsweise höhere Erfolgswahrsche<strong>in</strong>lichkeit drittmittelf<strong>in</strong>anzierter Forschung. Darüber<br />
h<strong>in</strong>aus verfügen die Initiatoren im Vergleich zu anderen Forschungse<strong>in</strong>heiten aufgr<strong>und</strong> der<br />
größeren f<strong>in</strong>anziellen <strong>und</strong> somit auch umfassenderen <strong>und</strong> eventuell höherwertigeren personellen<br />
bzw. materiellen Ausstattung über bessere Produktionsbed<strong>in</strong>gungen, die für den Erfolg der<br />
Wissensproduktion förderlich se<strong>in</strong> können. Schließlich werden nur detailliert planbare, projektförmige<br />
<strong>und</strong> damit zeitlich überschaubare Forschungsvorhaben f<strong>in</strong>anziert. Zwar s<strong>in</strong>d diese<br />
auch mit Unsicherheit behaftet, doch <strong>in</strong> weniger starkem Ausmaß als bei kaum durchdachten<br />
Tätigkeiten. 33 Selbst wenn der geplante Erfolg e<strong>in</strong>es Drittmittelprojektes nicht (vollständig)<br />
erreicht wird <strong>und</strong> z.B. ke<strong>in</strong>e Anwendung des neu gewonnenen Wissens möglich ist, kann für<br />
manche Forschungstätigkeiten die Verwendung e<strong>in</strong>es Drittmittel<strong>in</strong>dikators als Leistungsmaß<br />
durchaus rechtfertigt werden, so etwa bei nicht veröffentlichten Studien, die negative Aussagen<br />
h<strong>in</strong>sichtlich der Wirksamkeit e<strong>in</strong>es Medikaments, Impfstoffs oder Therapieverfahrens<br />
erbr<strong>in</strong>gen. 34<br />
Zusammenfassend soll hervorgehoben werden, dass Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren überhaupt nur<br />
dann für die endergebnisbezogene Forschungsbeurteilung bedeutsam se<strong>in</strong> können, wenn der<br />
Zweck der Forschung nicht sicht- bzw. erfassbar ist <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e hohe Korrelation zwischen der<br />
Drittmittelf<strong>in</strong>anizerung von Forschungsprojekten <strong>und</strong> deren Erfolgen unterstellt werden kann.<br />
Dagegen s<strong>in</strong>d Drittmittelmaßgrößen – ohne Beachtung möglicher Kreativitäts- <strong>und</strong> Selbstf<strong>in</strong>anzierungsaspekte<br />
– pr<strong>in</strong>zipiell irrelevant, wenn es möglich ist, die Erfüllung des Forschungszwecks<br />
direkt zu beurteilen.<br />
32 Vgl. Gillet (1989), S. 28.<br />
33 Vgl. die Überlegungen von Hornbostel (1997), S. 215.<br />
34 Dass hierüber mehr Transparenz geschaffen werden soll, zeigt beispielsweise das mediz<strong>in</strong>ische Fachjournal<br />
„Journal of Negative Results <strong>in</strong> Biomedic<strong>in</strong>e“.<br />
105
22<br />
3. Die Bedeutung der Periodenabgrenzung für die Relevanz von<br />
Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren<br />
Unter Berücksichtigung der zuvor gewonnenen Erkenntnisse wird nun anhand konstruierter,<br />
idealtypischer, drittmittelf<strong>in</strong>anzierter Forschungsprojekte aufgezeigt, wann Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren<br />
überhaupt unter zeitlichen Gesichtspunkten s<strong>in</strong>nvoll e<strong>in</strong>gesetzt werden können. Dabei<br />
wird <strong>in</strong>sbesondere das Problem der Periodenabgrenzung thematisiert.<br />
3.1. Leistungsbeurteilungen e<strong>in</strong>zelner Forscher<br />
Die Überlegungen zu Beurteilungen e<strong>in</strong>zelner Forscher werden veranschaulicht an Beispielen<br />
der Leistungen e<strong>in</strong>es Forschers oder dem Vergleich der Leistungen zweier Forscher, wobei im<br />
Gegensatz zu Abschnitt 2.2 mehrere Perioden betrachtet werden. Folgende Annahmen werden<br />
getroffen:<br />
Die Forschung vollzieht sich <strong>in</strong> Standardprojekten, die sich nahtlos ane<strong>in</strong>ander reihen. E<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>zelnes Projekt dauert <strong>in</strong>sgesamt vier Perioden, wovon <strong>in</strong> der jeweils ersten Vorleistungen<br />
zur Erlangung von Drittmitteln erbracht werden <strong>und</strong> <strong>in</strong> den drei darauf folgenden unter E<strong>in</strong>satz<br />
der erhaltenen Gelder geforscht wird. Pro geförderter Periode steht e<strong>in</strong> Standardbetrag an<br />
Drittmitteln im Wert von vier Drittmittele<strong>in</strong>heiten zur Verfügung. Es wird angenommen, dass<br />
auch die Vorleistungen direkt zur Zweckerreichung beitragen, entsprechend konstant <strong>in</strong> allen<br />
Perioden Wissen generiert wird. Dieses produzierte Wissen zeigt sich jeweils <strong>in</strong> dem ersten<br />
Zeitabschnitt nach Beendigung e<strong>in</strong>es Forschungsprojektes. Es kommt <strong>in</strong> Publikationen gleichen<br />
Umfangs, gleicher Qualität sowie gleicher Relevanz zum Ausdruck 35 <strong>und</strong> ist <strong>in</strong> dieser<br />
Form mess- <strong>und</strong> quantifizierbar. Pro Forschungsperiode ergibt sich e<strong>in</strong>e Publikationse<strong>in</strong>heit,<br />
das heißt <strong>in</strong>sgesamt entsteht durch jedes Projekt e<strong>in</strong>e Veröffentlichung mit e<strong>in</strong>em Wert von<br />
vier E<strong>in</strong>heiten.<br />
Abbildung 11 gibt die im vorliegenden Kontext betrachteten Aspekte e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Forschungsprojektes<br />
vere<strong>in</strong>facht wieder, wobei <strong>in</strong> der unteren Hälfte der Prozess der Forschung<br />
sowie das neu produzierte öffentliche Wissen <strong>und</strong> im oberen Teil die betrachteten Indikatoren<br />
dargestellt s<strong>in</strong>d.<br />
35 Nach der <strong>in</strong> Abschnitt 1.1 aufgeführten Def<strong>in</strong>ition könnte es sich etwa um Gr<strong>und</strong>lagenforschung handeln.<br />
106
23<br />
Drittmittel<br />
Publikation<br />
Forschungsprojekt<br />
Neues<br />
öffentliches<br />
Wissen<br />
Zeit<br />
Abbildung 11:<br />
Drittmittelf<strong>in</strong>anzierte Forschung <strong>und</strong> Forschungs<strong>in</strong>dikatoren<br />
Zur Leistungsbeurteilung wird zunächst die Zweckerreichung e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Forschers (A<br />
oder B) periodengenau über die Anzahl der produzierten Publikationen, die das neu produzierte<br />
Wissen dokumentieren, ermittelt. Abbildung 12 zeigt die sich ergebenden Werte: die<br />
Ergebnisse des ersten Forschungsprojektes werden im fünften Zeitabschnitt veröffentlicht,<br />
weitere Publikationen folgen <strong>in</strong> der neunten <strong>und</strong> dreizehnten sowie nach je weiteren vier Perioden.<br />
Publikationse<strong>in</strong>heiten<br />
pro<br />
Periode<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
4 8 12<br />
Periode<br />
DM-Projekt<br />
Vorleistungen<br />
Publikation <strong>und</strong><br />
Vorleistungen<br />
Abbildung 12:<br />
Forschungsbeurteilung mittels Publikations<strong>in</strong>dikator (periodengenau)<br />
Es ergibt sich, dass der Zweck der Forschung nur <strong>in</strong> jeder vierten Periode erfüllt <strong>und</strong> <strong>in</strong> den<br />
jeweils dazwischen liegenden drei Perioden nichts geleistet wird. Intuitiv sche<strong>in</strong>en diese<br />
Messergebnisse dem beurteilten Forscher nicht gerecht zu werden <strong>und</strong> die Realität nicht angemessen<br />
wiederzugeben. Vor allem die ermittelten Leistungsschwankungen s<strong>in</strong>d dabei kritisch<br />
zu betrachten. Diese beruhen darauf, dass der Forschungszweck streng genommen erst<br />
mit der Veröffentlichung von Ergebnissen erfüllt wird <strong>und</strong> die zugr<strong>und</strong>e liegende – oftmals<br />
107
24<br />
sehr lange – Forschungstätigkeit hier <strong>in</strong> jeweils andere Messperioden fällt. Die „eigentliche“<br />
Leistung wird demnach also genau dann erbracht, wenn ke<strong>in</strong>e Zweckerreichung sichtbar ist.<br />
Im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlichen Forschungsbeurteilung ersche<strong>in</strong>t es s<strong>in</strong>nvoll, Forschungs<strong>in</strong>put<br />
<strong>und</strong> -output zusammen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Messzeitraums zu erfassen. Wird dieser allerd<strong>in</strong>gs zu<br />
groß gewählt, ist e<strong>in</strong>e zeitnahe Leistungsbeurteilung nicht mehr sicherzustellen. Aus diesem<br />
Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> zur Vermeidung der bei kürzeren Zeitfenstern existierenden messbed<strong>in</strong>gten Leistungsschwankungen<br />
werden <strong>in</strong> der Praxis Durchschnittswerte über e<strong>in</strong>en mittleren Zeitraum<br />
von <strong>in</strong> der Regel drei Jahren erhoben (siehe Abbildung 13). 36<br />
Gleitender 3-Periodendurchschnitt<br />
der<br />
Publikationse<strong>in</strong>heiten<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
4 8 12 Periode<br />
DM-Projekt<br />
Vorleistungen<br />
Publikation <strong>und</strong><br />
Vorleistungen<br />
Abbildung 13:<br />
Forschungsbeurteilung mittels Publikations<strong>in</strong>dikator (gleitender Durchschnitt)<br />
Doch auch e<strong>in</strong> solcher (Drei-Perioden-)Durchschnitt ist <strong>in</strong> der hier betrachteten Situation nicht<br />
zufrieden stellend, denn wie zuvor werden trotz der unterstellten konstanten Forschungstätigkeit<br />
Zeitabschnitte ausgemacht, <strong>in</strong> denen sche<strong>in</strong>bar „nichts geleistet wird“, wie z.B. <strong>in</strong> der<br />
achten <strong>und</strong> zwölften Periode.<br />
Bei auf diesem Vorgehen beruhenden Leistungsvergleichen kann es daher zu unstimmigen<br />
Bewertungen kommen, wie der Vergleich zweier Forscher (A <strong>und</strong> B), die beide nach dem<br />
oben beschriebenen Muster das gleiche Wissen produzieren, <strong>in</strong> Abbildung 14 zeigt.<br />
36 Vgl. z.B. Berghoff et al. (2005), S. B-2.<br />
108
25<br />
Gleitender 3-Periodendurchschnitt<br />
der<br />
Publikationse<strong>in</strong>heiten<br />
4<br />
Forscher A<br />
3<br />
2<br />
1<br />
Gleitender 3-Periodendurchschnitt<br />
der<br />
Publikationse<strong>in</strong>heiten<br />
4<br />
4 8 12 16<br />
20<br />
Periode<br />
Forscher B<br />
3<br />
2<br />
1<br />
4 8 12 16<br />
20<br />
Periode<br />
Abbildung 14:<br />
Vergleich der Forschungsleistungen der Forscher A <strong>und</strong> B mittels Publikations<strong>in</strong>dikator<br />
(gleitender Durchschnitt)<br />
Auf Basis der Summe bzw. des Durchschnitts der hier betrachteten Perioden werden A <strong>und</strong> B<br />
– unter Vernachlässigung der Zeitverzögerung <strong>und</strong> des damit verb<strong>und</strong>enen „Neuheitsproblems“<br />
– als gleich leistungsstark beurteilt. Die Erhebung e<strong>in</strong>es Drei-Perioden-Durchschnitts<br />
ergibt jedoch nicht nur Perioden, wie etwa die siebte, <strong>in</strong> denen A <strong>und</strong> B als gleich gut gelten,<br />
sondern auch solche, <strong>in</strong> denen A schlechter (z.B. Periode 8) oder besser (z.B. Periode 10) als<br />
B beurteilt wird.<br />
Das Problem verschärft sich bei Reduzierung der Messfrequenz. 37 Würden im vorgestellten<br />
Fall die Publikationen etwa nur <strong>in</strong> jeder vierten Perioden erhoben, wäre unter Umständen<br />
(hier z.B. bei ausschließlicher Betrachtung des vierten, achten, zwölften <strong>und</strong> sechzehnten Erhebungszeitraums)<br />
für den e<strong>in</strong>en Forscher (A) nie, für den anderen (B) dagegen fast immer<br />
e<strong>in</strong>e Leistung sichtbar.<br />
Insgesamt verdeutlicht das Beispiel das gr<strong>und</strong>sätzliche Periodenabgrenzungsproblem bei der<br />
Leistungsmessung (der Hochschulforschung). E<strong>in</strong> zu kle<strong>in</strong>es Zeitfenster kann zu Fehlbeurteilungen<br />
<strong>und</strong> falschen Entscheidungen führen, damit auch zu nicht gewollten Anreizen (wie<br />
37 In der Praxis werden die Daten häufig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dreijährigen Turnus erhoben (vgl. z.B. Berghoff et al., 2005,<br />
S. B-4, <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit CHE 2005).<br />
109
26<br />
etwa bei der <strong>in</strong>dikatorgestützten Mittelverteilung). Wird dagegen e<strong>in</strong> zu großes Zeitfenster<br />
gewählt, ist e<strong>in</strong>e aktuelle Beurteilung nicht mehr sicherzustellen.<br />
Der zuvor beschriebene <strong>und</strong> hier vere<strong>in</strong>fachend unterstellte determ<strong>in</strong>istische Zusammenhang<br />
zwischen der Drittmittelförderung von Forschung <strong>und</strong> dem neu produzierten Wissen, das <strong>in</strong><br />
Publikationen zum Ausdruck kommt, ermöglicht bei kürzeren Erhebungszeiträumen e<strong>in</strong>e exaktere<br />
bzw. gerechtere Leistungsbeurteilung. Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren können dann nämlich die<br />
Publikationskennzahlen <strong>in</strong> idealer Weise ergänzen, wie das <strong>in</strong> Abbildung 15 fortgeführte Beispiel<br />
zeigt. Hier stehen pro geförderter Periode vier Drittmittele<strong>in</strong>heiten zur Verfügung, die –<br />
wie bereits bei der Vergabe der Fördergelder bekannt – zu <strong>in</strong>sgesamt vier Publikationse<strong>in</strong>heiten<br />
führen.<br />
Publikations- <strong>und</strong><br />
Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />
pro Periode<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
4 8 12<br />
Periode<br />
Abbildung 15:<br />
Forschungsbeurteilung durch Komb<strong>in</strong>ation aus Publikations- <strong>und</strong> Drittmittel<strong>in</strong>dikator<br />
(periodengenau)<br />
Es wird deutlich, dass e<strong>in</strong>e komb<strong>in</strong>ierte Betrachtung der Drittmittel <strong>und</strong> Publikationen zu e<strong>in</strong>er<br />
durchweg konstanten Leistungsbeurteilung führt <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e Höchst- bzw. Nullleistungen<br />
existieren. Somit kann bei e<strong>in</strong>em Vergleich der Leistungen der oben genannten Forscher A<br />
<strong>und</strong> B <strong>in</strong> jeder Periode auf deren <strong>in</strong>sgesamt übere<strong>in</strong>stimmendes Leistungsniveau geschlossen<br />
werden.<br />
E<strong>in</strong>e Durchschnittsbildung über mehrere Perioden ist <strong>in</strong> diesem idealisierten Fall mit konstanter<br />
Forschungstätigkeit bzw. -leistung nicht erforderlich, kann aber z.B. bei auf externen Faktoren<br />
beruhenden Leistungsschwankungen, wie e<strong>in</strong>er zeitweise sehr hohen bzw. ger<strong>in</strong>gen<br />
Lehrbelastung, durchaus s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong>, um sprunghafte Veränderungen der Messwerte <strong>und</strong><br />
eventuell darauf basierende unstetige Verteilungen von Gr<strong>und</strong>mitteln des Staates zu vermeiden.<br />
110
27<br />
Problematisch bei der Betrachtung kle<strong>in</strong>er Zeitfenster bleibt auch bei der komb<strong>in</strong>ierten Drittmittel-<br />
<strong>und</strong> Publikationsanalyse, dass immer nur Teilleistungen verglichen werden können.<br />
Das heißt, Leistungen, die nicht <strong>in</strong> jeder Periode, sondern nur kumuliert bzw. im Durchschnitt<br />
über längere Zeiträume von gleicher Quantität, Qualität <strong>und</strong> Relevanz s<strong>in</strong>d, werden nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />
als solche erkannt. Dies ist wiederum nur bei sehr großen Zeitfenstern möglich. Als<br />
Beispiel kann auf zwei Forscher (A <strong>und</strong> B) h<strong>in</strong>gewiesen werden, die dasselbe Wissen produzieren<br />
<strong>und</strong> von denen der e<strong>in</strong>e konstant, der andere dagegen nur <strong>in</strong>nerhalb weniger, dafür aber<br />
sehr <strong>in</strong>tensiver <strong>und</strong> kreativer Phasen forscht (siehe Abbildung 16).<br />
Publikations- <strong>und</strong><br />
Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />
pro Periode<br />
8<br />
Forscher A<br />
7<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
4 8 12 16<br />
Periode<br />
Publikations- <strong>und</strong><br />
Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />
pro Periode<br />
8<br />
Forscher B<br />
7<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
4 8 12 16<br />
Periode<br />
Abbildung 16:<br />
Beurteilung der Leistungen der Forscher A <strong>und</strong> B mittels Publikations- <strong>und</strong><br />
Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren (periodengenau)<br />
Das sich jeweils bei längerfristiger Betrachtung im (gleitenden 12-Perioden-)Durchschnitt für<br />
beide Forscher ergebende Leistungsbild ist <strong>in</strong> Abbildung 17 wiedergegeben.<br />
111
28<br />
Gleitender<br />
12-Periodendurchschnitt<br />
der Publikations- <strong>und</strong><br />
Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />
3<br />
2<br />
1<br />
4 8 12 16<br />
Periode<br />
Abbildung 17:<br />
Beurteilung der Leistungen der Forscher A <strong>und</strong> B mittels Publikations- <strong>und</strong> Drittmittel<strong>in</strong>dikator<br />
bei großem Zeitfenster (gleitender Durchschnitt)<br />
Es ist zu erkennen, dass bei großen Zeitfenstern für beide Forscher stets dasselbe Leistungsniveau<br />
reflektiert wird. Darüber h<strong>in</strong>aus wird deutlich, dass Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren bei der Betrachtung<br />
längerer Zeiträume h<strong>in</strong>sichtlich der Zweckerreichung red<strong>und</strong>ant s<strong>in</strong>d, weil sich die<br />
Forschungsleistung alle<strong>in</strong> über das Publikationsmaß, also über den unmittelbaren Zweck<strong>in</strong>dikator,<br />
feststellen lässt. Diese Irrelevanz von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren bei großen Zeitfenstern<br />
ersche<strong>in</strong>t auch sofort bei Überlegungen zur Beurteilung der gesamten Forschungsleistung<br />
e<strong>in</strong>es Wissenschaftlers, plausibel. Was am Ende e<strong>in</strong>es Forscherdase<strong>in</strong>s als Leistung zählt, ist<br />
<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie das neu produzierte Wissen, das beispielsweise <strong>in</strong> Publikationen <strong>und</strong> Patenten<br />
zum Ausdruck kommt. Drittmittel stellen dagegen nur f<strong>in</strong>anzielle Ressourcen (Input) der<br />
zugr<strong>und</strong>e liegenden Forschung dar. Sie können dann – wie bereits <strong>in</strong> Abschnitt 1.3 erläutert –<br />
allenfalls auf die Kreativität e<strong>in</strong>es Forschers <strong>und</strong> dessen Fähigkeit, se<strong>in</strong>e Forschungsvorhaben<br />
selber <strong>und</strong> nicht durch staatliche Mittel f<strong>in</strong>anziert zu haben, h<strong>in</strong>weisen.<br />
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren unter der Voraussetzung<br />
e<strong>in</strong>er determ<strong>in</strong>istischen oder zum<strong>in</strong>dest hoch korrelierten Beziehung zwischen der drittmittelf<strong>in</strong>anzierten<br />
Forschung <strong>und</strong> deren Ergebnissen gr<strong>und</strong>sätzlich zur (mittelbaren) Messung der<br />
Zweckerreichung e<strong>in</strong>gesetzt werden können. Allerd<strong>in</strong>gs ist bei kurzen Messzeiträumen ihre<br />
Verwendung nur <strong>in</strong> Ergänzung zu anderen Maßen, <strong>in</strong>sbesondere Publikationskennzahlen<br />
s<strong>in</strong>nvoll. Bei längeren Zeiträumen s<strong>in</strong>d sie dagegen red<strong>und</strong>ant, wenn die Zweckerreichung<br />
direkt über die eben genannten Indikatoren erfasst werden kann – zum<strong>in</strong>dest unter der Annahme,<br />
dass letztere valide <strong>und</strong> reliabel s<strong>in</strong>d.<br />
Wie bereits erläutert, ersche<strong>in</strong>t bei Betrachtung kürzerer Zeiträume e<strong>in</strong>e Glättung der Messwerte<br />
s<strong>in</strong>nvoll, um größere messbed<strong>in</strong>gte Leistungsschwankungen zu umgehen. Neben der<br />
zur Irrelevanz von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren führenden Vergrößerung des Zeitfensters <strong>und</strong> der<br />
Ermittlung e<strong>in</strong>facher Durchschnittswerte gibt es folgende Möglichkeiten dazu:<br />
112
29<br />
Erstens die Anwendung anderer Verfahren der Durchschnittsbildung, wie z.B. das Verfahren<br />
der Exponentiellen Glättung, bei der Vergangenheitswerte mit e<strong>in</strong>em Glättungsfaktor gewichtet<br />
werden, der exponentiell abnimmt, je weiter man <strong>in</strong> die Vergangenheit zurückgeht. Dadurch<br />
werden die jüngeren Vergangenheitswerte stärker bewertet als die vergangenen. Zweitens<br />
könnte es eventuell e<strong>in</strong>en „automatischen“ Ausgleich bei der Betrachtung der Leistungen<br />
mehrerer Forscher, z.B. derjenigen e<strong>in</strong>es Fachbereichs, geben. E<strong>in</strong> solcher wird im folgenden<br />
Abschnitt thematisiert.<br />
3.2. Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren zur Beurteilung der Forschungsleistung von Fachbereichen<br />
Nachdem bisher die Bedeutung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren bei der Beurteilung der Leistungen<br />
e<strong>in</strong>zelner Forscher untersucht wurde, wird nun deren Relevanz für kurze Zeiträume bei der<br />
Ermittlung der Forschungsleistung von Fachbereichen analysiert. Verdeutlicht werden die<br />
pr<strong>in</strong>zipiellen Überlegungen an zwei Beispielen von Fachbereichen, denen jeweils vier Forscher<br />
angehören. Diese produzieren neues Wissen <strong>in</strong> gleich langen drittmittelgeförderten Projekten,<br />
die sich jeweils direkt ane<strong>in</strong>anderreihen. Die <strong>in</strong> Abschnitt 3.1 getroffenen Annahmen<br />
s<strong>in</strong>d auch hier zugr<strong>und</strong>e zu legen.<br />
Fall 1<br />
Im ersten betrachteten Fall forschen alle vier Forscher e<strong>in</strong>es Fachbereichs parallel, das heißt<br />
zunächst leistet jeder erfolgreiche Vorarbeiten zur Erlangung von Drittmitteln, daraufh<strong>in</strong> wird<br />
drei Perioden lang unter E<strong>in</strong>satz der erhaltenen Fördergelder geforscht <strong>und</strong> anschließend wird<br />
das <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> diesen vier Perioden neu produzierte Wissen mittels Publikationen veröffentlicht.<br />
Die Ergebnisse e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividuellen sowie e<strong>in</strong>er fachbereichsumfassenden Leistungsbeurteilung<br />
s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Abbildung 18 dargestellt.<br />
113
30<br />
Publikations- <strong>und</strong><br />
Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />
pro Forscher <strong>und</strong><br />
Periode<br />
1<br />
4 8 12 Periode<br />
1<br />
4 8 12 Periode<br />
1<br />
4 8 12<br />
Periode<br />
1<br />
Publikations- <strong>und</strong><br />
Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />
des Fachbereichs<br />
pro Periode<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
4 8 12<br />
Periode<br />
4 8 12<br />
Periode<br />
Abbildung 18: Forschungsleistung e<strong>in</strong>es Fachbereichs – <strong>in</strong>dividuell <strong>und</strong> aggregiert (Fall 1)<br />
Wie zuvor bei der Betrachtung e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen Forschers ergibt sich, dass Drittmittelkennzahlen<br />
bei der Beurteilung der Forschungsleistung <strong>in</strong>nerhalb kurzer Zeiträume neben den Publikationsmaßen<br />
als unterstützende Indikatoren s<strong>in</strong>nvoll e<strong>in</strong>setzbar s<strong>in</strong>d.<br />
Fall 2<br />
Auch im zweiten Fall forschen die Vier unter den beschriebenen Gegebenheiten, allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong><br />
zeitversetzten Forschungsprojekten, wie Abbildung 19 verdeutlicht.<br />
114
31<br />
Publikations- <strong>und</strong><br />
Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />
pro Forscher <strong>und</strong><br />
Periode<br />
1<br />
4 8 12 Periode<br />
1<br />
4 8 12 Periode<br />
1<br />
4 8 12<br />
Periode<br />
1<br />
Publikations- <strong>und</strong><br />
Drittmittele<strong>in</strong>heiten<br />
des Fachbereichs<br />
pro Periode<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
4 8 12<br />
Periode<br />
4 8 12<br />
Periode<br />
Abbildung 19: Forschungsleistung e<strong>in</strong>es Fachbereichs – <strong>in</strong>dividuell <strong>und</strong> aggregiert (Fall 2)<br />
Die Gesamtbetrachtung zeigt, dass dem Fachbereich – anders als im ersten Fall – <strong>in</strong>sgesamt<br />
stets e<strong>in</strong>e gleiche Höhe an Drittmitteln zur Verfügung steht <strong>und</strong> auch das produzierte Wissen<br />
<strong>in</strong> jeder Periode durch Publikationen sichtbar ist. Dies führt dazu, dass die Forschungsleistung<br />
sowohl bei re<strong>in</strong>er Betrachtung der Publikations- als auch der Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren konstant<br />
ersche<strong>in</strong>t. Daher erweisen sich Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren – sofern der Zweck unmittelbar erfasst<br />
werden kann – bei der aggregierten Beurteilung mehrerer Forscher <strong>in</strong> dieser speziellen Situation<br />
als irrelevant. Verallgeme<strong>in</strong>ernd ist festzuhalten, dass Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren bei kurzen<br />
Beurteilungszeiträumen je nach Überlagerung der drittmittelf<strong>in</strong>anzierten Forschungstätigkeit<br />
sowie des produzierten Wissens mehr oder weniger aussagekräftig s<strong>in</strong>d.<br />
4. Fazit<br />
Die Überlegungen zeigen <strong>in</strong>sgesamt, dass die <strong>in</strong> der Praxis hohe Bedeutung von Drittmittel<strong>in</strong>dikatoren<br />
bei der Leistungsbeurteilung der Hochschulforschung nur unter bestimmten Annahmen<br />
bzw. unter besonderen Bed<strong>in</strong>gungen gerechtfertigt ist. Insbesondere die Aussagekraft<br />
115
32<br />
outcomeorientierter Größen ist abhängig von der Länge des betrachteten Zeitraums, der Möglichkeit,<br />
die Zweckerreichung durch andere Indikatoren, wie Publikations- <strong>und</strong> Patentkennzahlen,<br />
erfassen zu können sowie dem Zusammenhang zwischen der Drittmittelförderung <strong>und</strong><br />
dem damit verb<strong>und</strong>enen Projekterfolg. Insbesondere letzterer sollte fachspezifisch überprüft<br />
werden. Zudem gibt es <strong>in</strong> diesem Bereich weiteren Forschungsbedarf. So sollte z.B. überlegt<br />
werden, wie e<strong>in</strong>e weitgehend akzeptierte Gewichtung der Drittmittel nach ihrer Herkunft aussehen<br />
könnte, um zwischen <strong>in</strong>dustrieller Auftragsforschung <strong>und</strong> re<strong>in</strong> wissenschaftlichen Projekten<br />
differenzieren zu können.<br />
116
33<br />
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Controll<strong>in</strong>gkonzept der RWTH Aachen, Aachen.<br />
Schnell, R./Hill, P.B./Esser, E. (2005)<br />
Methoden der empirischen Sozialforschung, 7. Aufl., München/Wien.<br />
Wissenschaftsrat (2004)<br />
Empfehlungen zu Rank<strong>in</strong>gs im Wissenschaftssystem, Hamburg, 12. November 2004,<br />
www.wissenschaftsrat.de/texte/6285-04.pdf (Abruf am 26. Juli 2005).<br />
118
Stylised Facts als Konzept zur Messung <strong>und</strong> Bewertung<br />
wissenschaftlichen Fortschritts<br />
Bernd-Oliver He<strong>in</strong>e/Matthias Meyer/Oliver Strangfeld<br />
Abstract: Modelltheoretische Beiträge erfreuen sich <strong>in</strong> der betriebswirtschaftlichen Forschung<br />
e<strong>in</strong>er hohen Popularität, zugleich steht aber weiterh<strong>in</strong> der Vorwurf des Modellplatonismus<br />
im Raum. Vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> stellt dieser Beitrag das Konzept der „Stylised<br />
Facts“ vor <strong>und</strong> diskutiert <strong>in</strong>wieweit es e<strong>in</strong>e Gr<strong>und</strong>lage bietet, wissenschaftlichen Fortschritt<br />
im Bereich modelltheoretischer Analysen zu messen <strong>und</strong> zu bewerten. Zunächst wird ausgehend<br />
von der ursprünglichen Verwendung des Konzepts durch Kaldor <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em spezifischen<br />
Diskussionkontext, allgeme<strong>in</strong> dessen Anwendungsmöglichkeiten erarbeitet. Dann<br />
wird die Anwendung des Konzepts vorgestellt, wobei sich zwei sukzessive Schritte unterscheiden<br />
lassen. Der erste Schritt umfasst die Bestimmung der Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens,<br />
ausgehend von dem <strong>in</strong> wissenschaftlichen Publikationen dokumentierten, empirischen<br />
Erkenntnisstand. Auf dieser Basis kann dann, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweiten Schritt, e<strong>in</strong>e Messung<br />
<strong>und</strong> Bewertung des allgeme<strong>in</strong>en Forschungstands <strong>und</strong> des Erkenntnisbeitrags e<strong>in</strong>zelner<br />
Modelle erfolgen.<br />
Lehrstuhl für Controll<strong>in</strong>g <strong>und</strong> Telekommunikation<br />
Deutsche Telekom AG Stiftungslehrstuhl<br />
Burgplatz 2<br />
56179 Vallendar<br />
Email: bohe<strong>in</strong>e@whu.edu; Matthias.Meyer@whu.edu; Oliver.Strangfeld@whu.edu<br />
1<br />
119
Stylised Facts als Konzept zur Messung <strong>und</strong> Bewertung<br />
wissenschaftlichen Fortschritts<br />
1 E<strong>in</strong>leitung<br />
Gegenwärtig ist <strong>in</strong> der betriebswirtschaftlichen Forschung e<strong>in</strong>e zunehmende Bedeutung<br />
modelltheoretischer Analysen zu beobachten. E<strong>in</strong>e gute Illustration hierfür bietet die<br />
deutschsprachige Controll<strong>in</strong>gforschung, für die gegenwärtig aktuelle Untersuchungen vorliegen.<br />
Bis Mitte der 90er Jahre lag der Anteil der formal-analytisch basierten Beiträge bei<br />
etwa 12%, seitdem ist e<strong>in</strong> Anstieg auf durchschnittlich 30% zu beobachten (vgl.<br />
B<strong>in</strong>der/Schäffer 2004:20). E<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielt dabei die Pr<strong>in</strong>zipal-Agenten-Theorie,<br />
die fast 20% aller Publikationen ausmacht (vgl. B<strong>in</strong>der/Schäffer 2004:21). 1<br />
Trotz dieser Popularität modelltheoretischer Beiträge im wissenschaftlichen Forschungsbetrieb,<br />
steht aus wissenschaftstheoretischer Perspektive aber weiterh<strong>in</strong> der Vorwurf des<br />
„Modellplatonismus“ im Raum. Diese Kritik wurde bereits <strong>in</strong> den 60er Jahren <strong>in</strong> prägnanter<br />
Weise von Albert vorgebracht. Se<strong>in</strong>er Auffassung nach hat die mit großem Aufwand betriebene<br />
Formalisierung <strong>in</strong> der Neoklassik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e theoretische Sackgasse geführt. Die neoklassische<br />
Ökonomik verfügt <strong>in</strong>folgedessen zwar über elegante Modelle, hat aber den Charakter<br />
e<strong>in</strong>er Erfahrungswissenschaft weitestgehend verloren (vgl. Albert 1963/1967). Entsprechend<br />
könnte man auch den Beitrag modelltheoretischer Analysen zur Erklärung betriebswirtschaftlicher<br />
Phänomene <strong>in</strong> Frage stellen.<br />
Vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> wird <strong>in</strong> diesem Beitrag das Konzept der Stylised Facts vorgestellt,<br />
das e<strong>in</strong>e Möglichkeit bietet, wissenschaftlichen Fortschritt im Bereich modelltheoretischer<br />
Analysen zu messen <strong>und</strong> zu bewerten. Zweckmäßig angewendet kann es mehrere positive<br />
Wirkungen entfalten. Hiervon werden <strong>in</strong> diesem Beitrag drei mögliche Anwendungen näher<br />
untersucht: (1) Die Fokussierung beim Aufbau neuer Modelle auf relevante <strong>und</strong> überprüfbare<br />
Hypothesen über die Realität <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong> Entgegenwirken der Gefahr des Modellplatonismus.<br />
(2) Die Visualisierung des Forschungsstandes auf der Basis der Stylised<br />
Facts e<strong>in</strong>es Phänomens, <strong>in</strong>dem aufgezeigt wird, welche Aspekte e<strong>in</strong>es Phänomens bereits<br />
adressiert wurden <strong>und</strong> wo noch Forschungsbedarf besteht. (3) E<strong>in</strong>e fokussierte Modellbewertung<br />
bei der die Stylised Facts e<strong>in</strong>e modellübergreifende Struktur vorgeben <strong>und</strong> als<br />
„Sche<strong>in</strong>werfer“ zur Durchleuchtung der jeweiligen Modellmechanik dienen.<br />
Die weiteren Ausführungen gliedern sich wie folgt: Im folgenden Abschnitt wird zunächst<br />
allgeme<strong>in</strong> das Konzept der Stylised Facts vorgestellt. Dann wird das Vorgehen bei der Bestimmung<br />
der Stylised Facts e<strong>in</strong>es empirischen Phänomens beschrieben. Schließlich wird<br />
illustriert, wie auf dieser Basis e<strong>in</strong>e <strong>Fortschrittsmessung</strong> <strong>und</strong> -bewertung möglich ist. Die<br />
Ausführungen schließen mit e<strong>in</strong>em Fazit.<br />
1 Für ähnliche E<strong>in</strong>schätzungen vgl. auch Hess et al. (2005) oder Wagenhofer (2004).<br />
2<br />
120
2 Vorstellung des Stylised-Facts-Konzepts<br />
Das Konzept der Stylised Facts wurde erstmalig von Kaldor im Rahmen der Erarbeitung<br />
e<strong>in</strong>er Forschungsagenda für die makroökonomische Wachstumstheorie vorgestellt. 2 Dieses<br />
Konzept besitzt jedoch e<strong>in</strong>e methodologische Bedeutung über diese spezielle Anwendung<br />
<strong>in</strong> der Makroökonomik h<strong>in</strong>aus: Es bietet e<strong>in</strong>e Möglichkeit, die Zielsetzung positiver Forschung<br />
durch e<strong>in</strong>e Fokussierung auf die wesentlichen Merkmale des untersuchten Phänomens<br />
zu präzisieren.<br />
Positive Wissenschaft verfolgt das Ziel, empirische Beobachtungen zu erklären (vgl. Blaug<br />
1998). Allerd<strong>in</strong>gs wird es mit wachsender Komplexität des untersuchten Phänomens immer<br />
schwieriger, dieses jenseits e<strong>in</strong>er lebensweltlichen Betrachtung auch mit wissenschaftlichen<br />
Methoden zu erfassen. In Anlehnung an Kaldor s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondere statistische Darstellungen<br />
empirischer Phänomene immer auch mit Unstimmigkeiten <strong>und</strong> E<strong>in</strong>schränkungen behaftet.<br />
3 Aufgr<strong>und</strong> dieser Eigenschaft empirischer Beobachtungen ist es oft schwierig, unmittelbar<br />
e<strong>in</strong>en geeigneten Abstraktionsgrad zur Beschreibung e<strong>in</strong>es Phänomens zu bestimmen.<br />
Der Wissenschaftler steht folglich vor der Herausforderung, e<strong>in</strong>en Abstraktionsgrad<br />
festzusetzen, der sowohl dem realen Phänomen als auch den Kriterien ökonomischer Theoriebildung<br />
gerecht wird. 4<br />
Um dieses Problems habhaft zu werden, schlägt Kaldor e<strong>in</strong>en Zwischenschritt vor: „[T]he<br />
theorist should be free to start off with a stylised view of the facts“ (Kaldor<br />
1961/1968:178), um zuerst den Gegenstand der Untersuchungen klar herauszuarbeiten. E<strong>in</strong><br />
solcher „stylised view“ konzentriert sich auf allgeme<strong>in</strong>e Tendenzen <strong>und</strong> ignoriert e<strong>in</strong>zelne<br />
Details, um geme<strong>in</strong>same Muster über unterschiedliche Beobachtungen h<strong>in</strong>weg zu identifizieren.<br />
Der Wissenschaftler kann anschließend fortfahren <strong>und</strong> Hypothesen generieren, die<br />
diese „stylised facts“ erklären, ohne dabei durch ger<strong>in</strong>gfügige, widersprüchliche Abweichungen<br />
<strong>in</strong> empirischen Untersuchungen <strong>und</strong> anderen Forschungsergebnissen abgelenkt zu<br />
werden.<br />
Um das Konzept zu veranschaulichen, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige von Kaldors Stylised Facts für e<strong>in</strong>e<br />
makroökonomische Wachstumstheorie im folgenden Zitat aufgeführt: „As regards the process<br />
of economic change and development <strong>in</strong> capitalist societies, I suggest the follow<strong>in</strong>g<br />
'stylized facts' as start<strong>in</strong>g po<strong>in</strong>t for the construction of theoretical models: (1) The cont<strong>in</strong>ued<br />
growth <strong>in</strong> the aggregate volume of production and <strong>in</strong> the productivity of labour at a steady<br />
trend rate; no recorded tendency for a fall<strong>in</strong>g rate of growth of productivity. (2) A cont<strong>in</strong>-<br />
2 Für e<strong>in</strong>e jüngere, allerd<strong>in</strong>gs modifizierte Anwendung des Konzeptes vgl. Schwer<strong>in</strong> (2001).<br />
3 Im Orig<strong>in</strong>altext charakterisiert er statistische Untersuchungen als „always subject to numerous snags and qualifications“<br />
(Kaldor 1961/1968:178).<br />
4 Leistungsfähige Theorien <strong>und</strong> Modelle besitzen e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>fachen Kern, s<strong>in</strong>d jedoch bei Bedarf ausdifferenzierungsfähig,<br />
d. h. falls es für die Untersuchung e<strong>in</strong>er bestimmten Fragestellung erforderlich ist, kann dieser e<strong>in</strong>fach gehaltene<br />
abstrakte Ausgangspunkt zunehmend konkretisiert <strong>und</strong> erweitert werden (vgl. Suchanek 1994). E<strong>in</strong> derartiges Verfahren<br />
bietet die Methode der abnehmenden Abstraktion, die von L<strong>in</strong>denberg (1992) entwickelt wurde.<br />
3<br />
121
ued <strong>in</strong>crease <strong>in</strong> the amount of capital per worker, whatever statistical measure of 'capital' is<br />
chosen <strong>in</strong> this connection. (…)” (Kaldor 1961/1968:178).<br />
Das Konzept der Stylised Facts besitzt e<strong>in</strong>ige wichtige methodologische Implikationen.<br />
Erstens führt es e<strong>in</strong>e vom neoklassischen „as if“-Ansatz abweichende Fiktion e<strong>in</strong> (vgl.<br />
Boland 1987/1994). Der neoklassische „as if“-Ansatz verwendet grob vere<strong>in</strong>fachte Annahmen,<br />
als ob sie der Realität entsprächen (vgl. Friedman 1953/1989). Dies setzt voraus, dass<br />
die für e<strong>in</strong>en gewählten Abstraktionsgrad notwendigen Annahmen aus der Perspektive des<br />
gesamten Modells betrachtet werden sollten, <strong>in</strong>sbesondere h<strong>in</strong>sichtlich der durch das Modell<br />
generierten Prognosen. Ansatzpunkt der Modellkritik ist damit das gesamte Modell als<br />
E<strong>in</strong>heit <strong>und</strong> nicht etwa e<strong>in</strong>zelne „unrealistische“ Annahmen (vgl. Friedman 1953/1989). 5<br />
Das Konzept der Stylised Facts unterscheidet sich von diesem Ansatz dadurch, dass es die<br />
Stylised Facts darstellt, als ob sie wirklich das untersuchte Phänomen repräsentieren. Damit<br />
unterstützt das Konzept die Auswahl e<strong>in</strong>es geeigneten Abstraktionsgrades <strong>und</strong> bezieht sich<br />
auf e<strong>in</strong>en früheren Schritt im wissenschaftlichen Prozess als der neoklassische „as if“-<br />
Ansatz.<br />
Zweitens kann es sowohl den realistischen als auch den <strong>in</strong>strumentalistischen Standpunkt <strong>in</strong><br />
jeweils wichtigen Aspekten ergänzen: Für den Realisten ist das Stylised-Facts-Konzept im<br />
E<strong>in</strong>klang mit der Überzeugung, dass „facts about the world“ bekannt se<strong>in</strong> können (Mäki<br />
1998:407). Im Kontrast zum naiven Realismus begünstigen die Stylised Facts darüber h<strong>in</strong>aus<br />
e<strong>in</strong>e analytische Herangehensweise an die Modellbildung. Aus dieser Perspektive s<strong>in</strong>d<br />
Modelle auch gedankliche Instrumente <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Beschreibung der Realität. 6 Für Instrumentalisten<br />
s<strong>in</strong>d die Stylised Facts <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit dem neoklassischen „as if“-<br />
Ansatz, da sie nicht die Auswahl e<strong>in</strong>es bestimmten Abstraktionsgrades festlegen, sondern<br />
vielmehr den Gegenstand der Theoriebildung für die folgende Auswahl e<strong>in</strong>es geeigneten<br />
Abstraktionsgrades präzisieren. Darüber h<strong>in</strong>aus regt das Konzept der Stylised Facts an, dass<br />
die re<strong>in</strong>e Prognose durch Modelle alle<strong>in</strong> nicht ausreicht. Mit Hilfe der Modelle sollten auch<br />
die den Ergebnissen zu Gr<strong>und</strong>e liegenden „erzeugenden Mechanismen“ 7 dargestellt <strong>und</strong><br />
untersucht werden können („look<strong>in</strong>g <strong>und</strong>er the hood“, Hausman 1994/1995).<br />
Diese pr<strong>in</strong>zipiell positiven Eigenschaften br<strong>in</strong>gen aber auch e<strong>in</strong>e Gefahr mit sich. Der Forscher<br />
ist nun <strong>in</strong> der Lage, zwei wichtige Schritte des wissenschaftlichen Prozesses zu bee<strong>in</strong>flussen.<br />
Er benennt die Stylised Facts, die er beschreiben möchte, konstruiert dann e<strong>in</strong> auf<br />
e<strong>in</strong>em bestimmten Abstraktionsgrad basierendes Modell <strong>und</strong> leitet daraus bestimmte Hypothesen<br />
ab, die potenziell mit den Stylised Facts übere<strong>in</strong>stimmen. Von e<strong>in</strong>em methodologi-<br />
5 Es ist jedoch darauf h<strong>in</strong>zuweisen, dass aus methodologischer Sicht dieses Argument nicht ganz unproblematisch ist.<br />
Vgl. hierzu etwa Hausman (1994/1995) oder Meyer (2003).<br />
6 Theorien <strong>und</strong> Modelle leisten e<strong>in</strong>e „pragmatische Reduktion“ von Komplexität. Die Stylised Facts geben somit aus<br />
e<strong>in</strong>er empirischen Perspektive H<strong>in</strong>weise, welche Aspekte e<strong>in</strong>es Phänomens bei der Konstruktion e<strong>in</strong>es Modells zu beachten<br />
s<strong>in</strong>d, die jeweilige Problemstellung bestimmt jedoch darüber, <strong>in</strong>wieweit diese dann relevant s<strong>in</strong>d. Gr<strong>und</strong>legend<br />
hierzu vgl. Suchanek (1994), vgl. darüber h<strong>in</strong>aus Meyer (2004:9-30) für weitergehende Verweise <strong>und</strong> Diskussion.<br />
7 Der Begriff wird <strong>in</strong> Anlehnung an Lawson (1989) („generative mechanism“) verwendet. Im Rahmen dieses Artikels<br />
verwenden wir den Begriff, um zwei Ebenen zu unterscheiden: E<strong>in</strong>e Ebene der Modellergebnisse <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e zweite, die<br />
zu diesen Ergebnissen führt („erzeugender Mechanismus“).<br />
4<br />
122
schen Standpunkt aus erlaubt dieses Vorgehen die Generierung von Forschungsergebnissen<br />
auf m<strong>in</strong>destens zwei unproduktive Arten (vgl. Boland 1987/1994). Zum e<strong>in</strong>en kann er die<br />
Stylised Facts den Ergebnissen se<strong>in</strong>es Modells anpassen. Dieses Vorgehen kann man als<br />
„ad hoc“- Vorgehen im Rahmen der Ableitung der Stylised Facts bezeichnen. Zum anderen<br />
kann der Forscher behaupten, empirische Widerlegungen se<strong>in</strong>er Hypothesen seien bedeutungslos,<br />
da es sich um „Rauschen“ im Vergleich zu den von se<strong>in</strong>en Stylised Facts erfassten<br />
wesentlichen Tendenzen handele („Immunisierungsstrategie“). Auf die Gefahr e<strong>in</strong>es<br />
möglichen Missbrauchs wies schon Solow <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er direkten Antwort an Kaldor h<strong>in</strong>, als er<br />
se<strong>in</strong>e Stylised Facts des makroökonomischen Wachstums mit dem Kommentar „[t]here is<br />
no doubt that they are stylised, though it is possible to question whether they are facts.“<br />
(Solow 1969/1988) bedachte.<br />
Trotz der kritischen Gr<strong>und</strong>haltung zeigt das Zitat gleichzeitig e<strong>in</strong>en zentralen Aspekt der<br />
produktiven Verwendung von Stylised Facts auf. Die explizite Formulierung von Stylised<br />
Facts durch e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zelnen Forscher sollte nicht das Ende, sondern den Anfang e<strong>in</strong>er kritischen<br />
Diskussion der Experten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Forschungsfeld darstellen. Diese Diskussion<br />
expliziert <strong>und</strong> öffnet damit für Kritik, was anderenfalls nur implizit vom e<strong>in</strong>zelnen<br />
Forscher verwendet wird. Idealerweise erwächst am Ende e<strong>in</strong>es solchen Prozesses Konsens<br />
wenigstens bezüglich e<strong>in</strong>iger Stylised Facts. E<strong>in</strong>e derartige Diskussion muss auf Basis bestehender<br />
empirischer Arbeiten beg<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> kann ggf. weitere empirische Untersuchungen<br />
bed<strong>in</strong>gen. In diesem Zusammenhang ist die Methode der „Triangulation“ von Bedeutung.<br />
Durch die Komb<strong>in</strong>ation unterschiedlicher empirischer Forschungsmethoden können<br />
verschiedene Perspektiven berücksichtigt werden, wodurch e<strong>in</strong>er zu starken E<strong>in</strong>seitigkeit<br />
entgegengewirkt werden kann. 8 Deshalb sollte die Ableitung von Stylised Facts transparent<br />
auf Forschungsergebnissen möglichst verschiedener empirischer Methoden basieren <strong>und</strong><br />
aus der Diskussion von Experten der betroffenen Wissenschaftsbereiche hervorgehen.<br />
Bisher stand die generelle E<strong>in</strong>ordnung des Konzepts der Stylised Facts im Mittelpunkt.<br />
Hiervon ausgehend lassen sich jedoch zwei konkrete Anwendungsmöglichkeiten unterscheiden.<br />
Erstens kann das Konzept als Basis <strong>und</strong> Orientierungshilfe bei der Modellbildung<br />
dienen (ex ante), zweitens bieten die Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens e<strong>in</strong>e Struktur zur Bewertung<br />
<strong>und</strong> dem Vergleich bereits existierender Modelle (ex post). 9 Dabei gilt es zu be-<br />
8 Ziel ist dabei nicht e<strong>in</strong>e Validierung, sondern e<strong>in</strong> tieferes <strong>und</strong> umfassenderes Verständnis des untersuchten Phänomens<br />
(vgl. Olsen 2004). E<strong>in</strong>e detaillierte Diskussion dieser Forschungsform kann bei Creswell (2003) nachgeschlagen werden.<br />
Im Allgeme<strong>in</strong>en stellt die Integration unterschiedlicher Betrachtungsweisen <strong>und</strong> Forschungsh<strong>in</strong>tergründe e<strong>in</strong>e gute<br />
Möglichkeit dar, um mit dem Problem der Theorieimprägniertheit („theory-ladeness“) empirischer Beobachtungen<br />
umzugehen. Man muss sich der Tatsache bewusst se<strong>in</strong>, dass empirische Studien ke<strong>in</strong>e unverzerrten Fakten beschreiben,<br />
sondern schon „theorieimprägniert“ s<strong>in</strong>d, was niemals vermieden werden kann. Dieser Aspekt ist schon von Popper<br />
klar formuliert worden: „[O]bservations, and even more so observation statements and statements of experimental<br />
results, are always <strong>in</strong>terpretations of the facts observed; they are <strong>in</strong>terpretations <strong>in</strong> the light of theories.” (Popper<br />
1934/1959:107) „[W]e might say that these facts do not exist as facts before they are s<strong>in</strong>gled out from the cont<strong>in</strong>uum<br />
of events and p<strong>in</strong>ned down by statements - the theories which describe them.” (Popper 1946/1996:214). E<strong>in</strong>e gute allgeme<strong>in</strong>e<br />
E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Problematik f<strong>in</strong>det sich bei Hands (2001:91-93, 102-109), für die Bee<strong>in</strong>flussung der Wahrnehmung<br />
durch ökonomische Modelle vgl. Meyer (2004).<br />
9 Verwendet man die übliche epistemologische Unterscheidung zwischen dem „context of discovery“ <strong>und</strong> „context of<br />
justification“, dann wird die ex ante Verwendung des Stylised-Facts-Konzepts dem Ersteren zugerechnet. Nach tradi-<br />
5<br />
123
achten, dass die Verwendung von Stylised Facts ke<strong>in</strong> Ersatz für empirische Tests von abgeleiteten<br />
Theorien oder für andere Widerlegungsversuche ist, aber sie hilft, ex ante über die<br />
von der Forschung e<strong>in</strong>geschlagene Richtung zu entscheiden <strong>und</strong> macht die Entscheidungsf<strong>in</strong>dung<br />
<strong>in</strong>nerhalb der Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft transparent.<br />
Im Rahmen der ersten Anwendungsmöglichkeit geben die Stylised Facts somit den Gegenstand<br />
der positiven Forschung explizit wieder, um die Forschung bereits ex ante darauf<br />
zu fokussieren, e<strong>in</strong>en Beitrag zum Verständnis beobachtbarer Phänomene zu leisten. Sie<br />
geben damit e<strong>in</strong>e Orientierungshilfe für die Formulierung produktiver Abstraktionen, die es<br />
erlauben, die beobachteten Eigenschaften e<strong>in</strong>es Phänomens zu erklären. Damit ist jedoch<br />
nicht gesagt, dass die Stylised Facts selbst schon e<strong>in</strong> Modell be<strong>in</strong>halten, welches der Wissenschaftler<br />
lediglich herausarbeiten muss. Die Konstruktion e<strong>in</strong>es Modells bleibt weiter<br />
e<strong>in</strong>e Kunst für sich. Jedoch bewahrt die Berücksichtigung von Stylised Facts den Forscher<br />
davor, Modelle zu konstruieren, die ke<strong>in</strong>e relevanten <strong>und</strong> überprüfbaren Hypothesen über<br />
die Realität liefern, womit der Gefahr des Modellplatonismus entgegengewirkt wird. All<br />
diese nützlichen Eigenschaften gelten solange e<strong>in</strong> Satz von Stylised Facts zum Aufbau e<strong>in</strong>es<br />
Modells verwendet wird. Allerd<strong>in</strong>gs sollte anschließend nicht der gleiche Satz zur Bewertung<br />
des Modells verwendet werden. In diesem Fall liefert e<strong>in</strong> nochmaliger Bezug auf<br />
die erfolgreiche Beschreibung der Stylised Facts ke<strong>in</strong>en zusätzlichen Wert, da <strong>in</strong> diesem<br />
Fall die Stylised Facts nicht länger e<strong>in</strong>en neutralen Bezugspunkt zum Zwecke der Modellbewertung<br />
darstellen.<br />
Aber auch im Rahmen der zweiten Anwendungsmöglichkeit, der Ex-post-Perspektive, kann<br />
das Konzept der Stylised Facts gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend als Basis zur Bewertung e<strong>in</strong>er Sammlung<br />
schon vorliegender Modelle angewandt werden: Mit Hilfe der Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens<br />
können Modelle relativ zue<strong>in</strong>ander durch e<strong>in</strong>e Fokussierung auf ihre gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>genden<br />
Implikationen untersucht werden, ohne dass die Untersuchung durch kle<strong>in</strong>ere Unstimmigkeiten<br />
der empirischen Beobachtungen, die ebenfalls von den Modellen abgedeckt werden,<br />
abgelenkt wird. „[A]s long as we can come to an agreement regard<strong>in</strong>g the stylized<br />
facts, the comparative appropriateness of compet<strong>in</strong>g explanatory abstractions can be<br />
brought <strong>in</strong>to clear and decisive focus” (Boland 1987/1994:535-536). Dies umgeht die oben<br />
formulierte Warnung, da die Modelle relativ zue<strong>in</strong>ander verglichen werden.<br />
Konkret ist e<strong>in</strong>e vergleichende Untersuchung von Modellen auf der Basis der Stylised Facts<br />
geeignet, um (1) den wissenschaftlichen Beitrag <strong>und</strong> (2) die F<strong>und</strong>ierung der zu Gr<strong>und</strong>e liegenden<br />
Annahmen zu untersuchen. Der wissenschaftliche Beitrag kann durch e<strong>in</strong>en Vergleich<br />
des Erklärungsbeitrags der Modelle <strong>in</strong> Bezug auf die relevanten Stylised Facts beurtioneller<br />
Auffassung hat der Schwerpunkt der Kritik auf dem Letzteren zu liegen (vgl. Popper 1934/1959:27-34). In<br />
jüngerer Zeit wurde diese Auffassung kritisiert, da, sollten alle wissenschaftlichen Hypothesen, die überprüft werden<br />
sollen, e<strong>in</strong>e Verzerrung enthalten, diese Verzerrung auch nicht durch strenge Überprüfungen ausgeschlossen werden<br />
kann. Deshalb sollte auch der „context of discovery“ berücksichtigt werden (vgl. Okruhlik 1994/1998:200-205). Vor<br />
diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> bietet das Konzept der Stylised Facts e<strong>in</strong>en systematischen Ansatz zur Rationalisierung der Hypothesengenerierung<br />
im oft vernachlässigten „context of discovery“ (vgl. Lawson 1989:67).<br />
6<br />
124
teilt werden. 10 Aus der Perspektive der Stylised Facts ist der wissenschaftliche Beitrag unterschiedlicher<br />
Modelle ihre Fähigkeit, die Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens zu erklären. Zunächst<br />
gilt, dass e<strong>in</strong>em Modell, das e<strong>in</strong>en Beitrag zur Erklärung der Stylised Facts leistet,<br />
aus diesem Gr<strong>und</strong> e<strong>in</strong> größerer wissenschaftlicher Beitrag zugeordnet werden kann, als e<strong>in</strong>em<br />
Modell, das auf die Erklärung e<strong>in</strong>es Nebenaspektes ausgerichtet ist (vgl. Boland<br />
1987/1994:536). Existieren mehrere Stylised Facts, dann erhöht sich der Beitrag e<strong>in</strong>es Modells<br />
mit se<strong>in</strong>er Fähigkeit, weitere Stylised Facts zu erklären, <strong>und</strong> der Abwesenheit von<br />
Widersprüchen bezüglich der übrigen Stylised Facts. Marcet/Nicol<strong>in</strong>i (2003:1477-1478)<br />
bieten e<strong>in</strong>e gute Illustration dieses Aspektes, <strong>in</strong>dem sie den Beitrag ihrer Arbeit h<strong>in</strong>sichtlich<br />
e<strong>in</strong>er Liste etablierter Stylised Facts von Hyper<strong>in</strong>flationen darlegen. Sie zeigen, dass die<br />
vorhandenen Modelle nicht alle Stylised Facts konsistent erklären <strong>und</strong> ihr Modell deshalb<br />
e<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Beitrag durch die konsistente Beschreibung sämtlicher Stylised<br />
Facts leistet. 11<br />
Bei der Prüfung der F<strong>und</strong>ierung der Annahmen e<strong>in</strong>es Modells kann das Konzept der Stylised<br />
Facts verwendet werden, um die Untersuchung zu fokussieren. Es stellt e<strong>in</strong> Mittel bereit,<br />
die Komplexität der Analyse e<strong>in</strong>es Modells so weit zu reduzieren, dass e<strong>in</strong>deutige<br />
Aussagen über die im Rahmen der Modellbildung zu Gr<strong>und</strong>e gelegten Annahmen möglich<br />
werden. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Stylised Fact kann dazu verwendet werden, den zu Gr<strong>und</strong>e liegenden<br />
Mechanismus zu isolieren (vgl. Lawson 1989:62,66). Damit ermöglicht das Konzept e<strong>in</strong>e<br />
Validierung, die genügend fokussiert ist, um aussagekräftige Ergebnisse zu liefern. E<strong>in</strong>e<br />
derartige Untersuchung ermöglicht die Identifikation unproduktiver Arten, Stylised Facts<br />
zu generieren, wie z. B. die Verwendung nicht widerlegbarer Annahmen, <strong>und</strong> ergänzt <strong>und</strong><br />
vertieft damit die vergleichende Untersuchung des wissenschaftlichen Beitrags. 12<br />
Im H<strong>in</strong>blick auf die Identifikation <strong>und</strong> Unterscheidung produktiver von unproduktiver Verfahrensweisen,<br />
die Stylised Facts zu reproduzieren, muss untersucht werden, wie genau die<br />
Stylised Facts von dem untersuchten Modell reproduziert werden. Für diesen Zweck können<br />
Stylised Facts als Sche<strong>in</strong>werfer <strong>in</strong>terpretiert werden, d. h. mit Bezug auf e<strong>in</strong>e Menge<br />
von Stylised Facts ist es möglich, die Modellmechanik systematisch <strong>und</strong> präzise e<strong>in</strong>er kritischen<br />
Prüfung zu unterziehen. Das Konzept bietet e<strong>in</strong>e klare Leitl<strong>in</strong>ie für das „look<strong>in</strong>g <strong>und</strong>er<br />
the hood“. Dabei ist zuerst für jeden Stylised Fact der Mechanismus zu identifizieren,<br />
der ihn produziert. Anschließend gilt es für jeden Mechanismus se<strong>in</strong>e Implementierung h<strong>in</strong>-<br />
10 Erklärung wird hierbei nicht auf die Ableitung von korrekten Prognosen durch das Modell reduziert, sondern schließt<br />
die Herausarbeitung des „Mechanismus“, der zu dem entsprechenden Ergebnis führt, mit e<strong>in</strong>. Modelle erklären, <strong>in</strong>dem<br />
sie <strong>in</strong> kompakter Form E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> komplexe Zusammenhänge ermöglichen <strong>und</strong> so darstellen, wie die Ergebnisse<br />
produziert werden. Für e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Diskussion dieses Aspektes siehe Meyer (2004:9-59).<br />
11 Trotzdem muss unsere Warnung von weiter oben beachtet werden: die gleichzeitige Verwendung von Stylised Facts<br />
zur Modellkonstruktion <strong>und</strong> Modellbewertung verm<strong>in</strong>dert den Wert dieses Anspruches erheblich. Allerd<strong>in</strong>gs ändert<br />
dies nichts an der Struktur des Arguments, so dass es immer noch e<strong>in</strong>e aufschlussreiche Veranschaulichung bietet.<br />
12 Genauer bedeutet dies, dass sich nach der erfolgreichen Erklärung der Stylised Facts die Notwendigkeit e<strong>in</strong>er Überprüfung<br />
auf die nächste Ebene verschiebt: die Mechanismen, die e<strong>in</strong> Modell zur Reproduktion von Stylised Facts<br />
verwenden, müssen nun ebenfalls überprüft werden. Anderenfalls leistet das Modell nur wenig mehr als e<strong>in</strong> Gedankenexperiment,<br />
„demonstrat<strong>in</strong>g only that a hypothesized process could be the source of some stylised fact“ (Cohen<br />
1999:375).<br />
7<br />
125
sichtlich (1) der Modellgestaltung <strong>und</strong> (2) der Kalibrierung zu überprüfen. Der erste Punkt<br />
bezieht sich auf qualitative (d. h. gr<strong>und</strong>legende Modellannahmen), der zweite auf quantitative<br />
(d. h. Parameterwerte) Entscheidungen im Rahmen der Modellkonstruktion. Im Kontext<br />
derartiger quantitativer Freiheitsgrade, die üblicherweise mit Hilfe e<strong>in</strong>er Sensitivitätsanalyse<br />
untersucht werden, verwenden wir den Begriff der Sensitivität.<br />
Das Konzept der Stylised Facts ist damit gut geeignet, e<strong>in</strong>e Basis zur Messung <strong>und</strong> Bewertung<br />
wissenschaftlichen Fortschritts im Bereich modelltheoretischer Analysen zu leisten.<br />
Zum e<strong>in</strong>en kann bestimmt werden, welche Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens überhaupt<br />
schon von den bestehenden Modellen adressiert werden. Zum anderen erlaubt es, diese<br />
Kartografierung des Forschungsstands <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweiten Schritt zu vertiefen, <strong>in</strong>dem die<br />
Qualität der modelltheoretischen Ableitung der jeweiligen Stylised Facts auf der Ebene der<br />
Annahmen analysiert <strong>und</strong> bewertet werden kann. Die Stylised Facts bieten deshalb e<strong>in</strong>en<br />
zuverlässigen Referenzpunkt zur Bewertung von Modellen unter Berücksichtigung der empirischen<br />
Erkenntnisse zu e<strong>in</strong>em Phänomen.<br />
Nachdem das Konzept der Stylised Facts vorgestellt <strong>und</strong> die angekündigten drei Möglichkeiten<br />
se<strong>in</strong>er Anwendung aufgezeigt wurden, wird im nächsten Abschnitt e<strong>in</strong> Vorgehen zur<br />
Bestimmung von Stylised Facts zu e<strong>in</strong>em Phänomen beschrieben.<br />
3 Vorgehen bei der Bestimmung von Stylised Facts<br />
Im Rahmen der Bestimmung der Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens gilt es, ausgehend von<br />
den bestehenden empirischen Beobachtungen allgeme<strong>in</strong>e Muster unter der Aussparung<br />
vernachlässigbarer Details zu identifizieren. 13 Die Identifikation derartiger allgeme<strong>in</strong>er<br />
Tendenzen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Menge empirischer Arbeiten <strong>und</strong> das anschließende Herausfiltern von<br />
Stylised Facts ist e<strong>in</strong> <strong>in</strong>duktives Vorgehen, bei dem auch subjektive E<strong>in</strong>schätzungen erforderlich<br />
s<strong>in</strong>d. 14 Wie schon im methodologischen Teil erläutert, begegnet man dieser Herausforderung,<br />
<strong>in</strong>dem die Ableitung so transparent wie möglich gestaltet wird, um somit e<strong>in</strong>e<br />
Diskussion unter den Experten des entsprechenden Fachbereichs zu ermöglichen.<br />
Abbildung 1 beschreibt e<strong>in</strong>e von den Autoren erprobte Vorgehensweise bei der Bestimmung<br />
von Stylised Facts. 15<br />
13 Die vernachlässigbaren Details können dabei <strong>in</strong> zwei Kategorien unterteilt werden. Die erste enthält dabei Informationen,<br />
die zur Beschreibung der allgeme<strong>in</strong>en Muster unwesentlich s<strong>in</strong>d. Die zweite Kategorie enthält Details, die den<br />
allgeme<strong>in</strong>en Mustern widersprechen, allerd<strong>in</strong>gs nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr speziellen Kontext gelten, <strong>und</strong> daher vernachlässigt<br />
werden können.<br />
14 Zwei E<strong>in</strong>wände können gegen e<strong>in</strong>e solche Folgerung erhoben werden. Erstens handelt es sich um e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>duktiven<br />
Schluss, so dass Allgeme<strong>in</strong>gültigkeit nicht gewährleistet werden kann. Zweitens basiert diese Folgerung auf den<br />
Überlegungen <strong>und</strong> dem Urteilsvermögen der Wissenschaftler, die die Bestimmung der Stylised Facts durchführen.<br />
15 Diese Vorgehensweise hat sich bislang <strong>in</strong> zwei Studien bewährt. Im Rahmen der ersten Studie wurde auf Basis der<br />
Stylised Facts der Stabilität von Kollusionen der Mehrwert von Computersimulationsmodellen untersucht. Derzeit bef<strong>in</strong>det<br />
sich e<strong>in</strong>e weitere Studie zu den Stylised Facts der partizitiven Budgetierung <strong>in</strong> Arbeit, bei der das beschriebene<br />
Vorgehen ebenfalls erfolgreich angewendet werden konnte.<br />
8<br />
126
Def<strong>in</strong>iton des<br />
untersuchten<br />
Phänomens<br />
Quellensuche<br />
<strong>in</strong> Literaturdatenbanken<br />
Identifikation<br />
von Aussagen<br />
zum Phänomen<br />
Gruppierung<br />
der Aussagen<br />
Ableitung<br />
der Stylised<br />
Facts<br />
Abbildung 1: Vorgehen bei der Ableitung von Stylised Facts<br />
Das <strong>in</strong> der Abbildung dargestellte Vorgehen erlaubt es zudem, den Prozess der Bestimmung<br />
von Stylised Facts möglichst transparent zu gestalten. Dabei erwies sich die Aufteilung<br />
<strong>in</strong> fünf Schritte als hilfreich. Jeder der fünf Schritte liefert e<strong>in</strong> Zwischenergebnis <strong>und</strong><br />
ermöglicht damit e<strong>in</strong> schrittweises Nachvollziehen des Prozesses <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e konstruktive<br />
Diskussion auf Ebene der Zwischenergebnisse. Damit wird versucht sicherzustellen, dass<br />
die subjektiven E<strong>in</strong>schätzungen der Autoren <strong>in</strong> jedem e<strong>in</strong>zelnen Prozessschritt möglichst<br />
ger<strong>in</strong>g ausfallen <strong>und</strong> e<strong>in</strong>fach nachvollzogen bzw. kritisiert werden können.<br />
Im Folgenden wird nun das Vorgehen <strong>in</strong>nerhalb der e<strong>in</strong>zelnen Prozessschritte detailliert<br />
beschrieben. Zur weiteren Illustration greift die Beschreibung auf Ausschnitte aus e<strong>in</strong>er von<br />
den Autoren durchgeführten Studie zur Bestimmung der Stylised Facts von Kollusion zurück.<br />
Als Ausgangspunkt für die Bestimmung der Stylised Facts hat sich e<strong>in</strong>e präzise Def<strong>in</strong>ition<br />
des untersuchten Phänomens bewährt. Dieser bedarf es, bevor nach geeigneten empirischen<br />
Quellen gesucht wird. Bereits <strong>in</strong> diesem Schritt wird e<strong>in</strong>e erste grobe Festlegung des Abstraktionsniveaus<br />
getroffen. Dabei gilt es zu entscheiden, ob e<strong>in</strong> Phänomen ganz allgeme<strong>in</strong><br />
def<strong>in</strong>iert oder aber schon jetzt e<strong>in</strong> bestimmter Kontext festlegt werden soll. So kann das<br />
Phänomen der Kollusion aus e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en Perspektive als die Kooperation von Individuen<br />
zur Maximierung ihres Nutzens auf Kosten e<strong>in</strong>es Dritten def<strong>in</strong>iert werden oder aber<br />
bereits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em spezifischen Kontext, wie z. B. Anbieterkollusionen auf e<strong>in</strong>em Markt. Kollusion<br />
könnte man dort als die Kooperation zweier Firmen zur Maximierung ihres Gew<strong>in</strong>nes<br />
auf Kosten der Konsumenten def<strong>in</strong>ieren. E<strong>in</strong>e präzise Abgrenzung ist wichtig, um nicht<br />
durch e<strong>in</strong> unterschiedliches Verständnis des Untersuchungsgegenstandes une<strong>in</strong>heitliche Assoziationen<br />
bei anderen Wissenschaftlern hervorzurufen <strong>und</strong> damit unproduktive Diskussionen<br />
auszulösen. Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass die Def<strong>in</strong>ition ke<strong>in</strong>e unnötigen E<strong>in</strong>schränkungen<br />
enthält, um nicht unnötigerweise Quellen auszuschließen. In Anlehnung an<br />
das obige Beispiel muss entschieden werden, ob man an möglicherweise spezifischen Ausprägungen<br />
von Kollusion <strong>in</strong> Märkten <strong>in</strong>teressiert ist oder ganz allgeme<strong>in</strong> das Phänomen der<br />
Kollusion untersuchen möchte. Soll nun das Phänomen der Kollusion an sich untersucht<br />
werden, so wäre e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung auf den Marktkontext e<strong>in</strong>e unnötige E<strong>in</strong>engung des<br />
Blickfeldes des Forschers, denn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ersten Schritt kann davon ausgegangen werden,<br />
dass <strong>in</strong> unterschiedlichen Umgebungen die abstrakten Wirkmechanismen, die zur Entstehung<br />
von Kollusion führen, gleich s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> daher Studien aus unterschiedlichen Bereichen<br />
zur Bestimmung der Stylised Facts verwendet werden können.<br />
9<br />
127
Im Rahmen der Quellensuche s<strong>in</strong>d zwei Ziele zu beachten. Zum e<strong>in</strong>en gilt es möglichst umfassend<br />
<strong>und</strong> repräsentativ – idealerweise vollständig – existierende Arbeiten zu erfassen.<br />
Zum anderen sollten die verwendeten Arbeiten e<strong>in</strong> möglichst hohes Maß an Qualität aufweisen.<br />
16 Als Basis der Erarbeitung von Stylised Facts s<strong>in</strong>d daher wissenschaftliche Zeitschriften<br />
am besten geeignet. Sie enthalten aktuelle wissenschaftliche Ergebnisse, die von<br />
den Experten des jeweiligen Themenbereiches diskutiert werden. Gleichzeitig stellt die<br />
Veröffentlichung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeitschrift e<strong>in</strong>e Qualitätssicherung dar. Bezüglich der Qualitätssicherung<br />
können verschiedene Niveaus unterschieden werden. Die höchste Stufe seitens des<br />
Prozesses bilden hierbei sicher „double-bl<strong>in</strong>d refereed“-Publikationen. Aber selbst die Auswahl<br />
e<strong>in</strong>es Artikels durch den Herausgeber e<strong>in</strong>er Zeitschrift kann als e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum an<br />
Qualitätssicherung angesehen werden. 17 E<strong>in</strong>e möglichst unverzerrte <strong>und</strong> damit quantitativ<br />
repräsentative Recherche <strong>in</strong>nerhalb der Vielzahl von existierenden Zeitschriften ermöglichen<br />
hierbei Literaturdatenbanken. Diese enthalten die Ergebnisse von Fallstudien, statistischen<br />
Erhebungen <strong>und</strong> Experimenten gleichermaßen <strong>und</strong> ermöglichen gleichzeitig den<br />
E<strong>in</strong>bezug der Ergebnisse angrenzender Wissenschaftsbereiche wie z. B. der Verhaltenswissenschaften.<br />
Insbesondere der Social Science Citation Index (SSCI) bietet hier e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> der<br />
Wissenschaft geläufige Quelle. 18 Diese kann bei Bedarf um weitere Datenbanken ergänzt<br />
werden. 19 E<strong>in</strong>e frühzeitige E<strong>in</strong>schränkung der Recherche auf „relevante“ Zeitschriften birgt<br />
gegenüber der Suche <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Literaturdatenbank die Gefahr, nur e<strong>in</strong>en Ausschnitt der existierenden<br />
Studien zu erfassen, <strong>und</strong> damit das untersuchte Phänomen unvollständig oder<br />
verzerrt abzubilden.<br />
Liegen die entsprechenden empirischen Arbeiten vor, so gilt es die Aussagen zum untersuchten<br />
Phänomen zu identifizieren. Dabei sollten alle von der Studie beschriebenen <strong>und</strong><br />
empirisch belegten Eigenschaften des untersuchten Phänomens berücksichtigt werden. Dies<br />
s<strong>in</strong>d idealerweise beobachtete Zusammenhänge wie z. B. e<strong>in</strong> kont<strong>in</strong>uierlicher Anstieg des<br />
Kapitals pro Arbeiter (vgl. Kaldor 1961/1968:178). Insbesondere bei Fallstudien können<br />
aber auch schlüssig begründete Aussagen anhand e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>zelbeispiels aufgegriffen werden.<br />
Für die sprachliche Aufbereitung der Aussagen hat es sich als s<strong>in</strong>nvoll erwiesen, für<br />
jede untersuchte Eigenschaft des Phänomens eigenständige, möglichst kompakte Kurztexte<br />
zu formulieren. 20 Abbildung 2 zeigt e<strong>in</strong>e Veranschaulichung des Schrittes Identifikation<br />
16 Qualität wird hier als die E<strong>in</strong>haltung allgeme<strong>in</strong> akzeptierter methodischer Standards verstanden.<br />
17 Die ausschließliche Verwendung von wissenschaftlichen Zeitschriften besitzt allerd<strong>in</strong>gs den Nachteil, nicht die aktuellsten<br />
Ergebnisse z. B. aus Konferenzbänden oder Arbeitspapieren berücksichtigen zu können, da der Qualitätssicherungsprozess<br />
e<strong>in</strong>e Zeitverzögerung bed<strong>in</strong>gt. Hier muss entsprechend dem Stand der Forschung <strong>in</strong> dem jeweiligen<br />
Fachbereich e<strong>in</strong>e Abwägung zwischen der Notwendigkeit der Berücksichtigung aktueller Ergebnisse <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er möglichst<br />
hohen Qualität der Beiträge getroffen werden. Ungeachtet der tatsächlich getroffenen Auswahl ist sicherzustellen,<br />
dass die angewendeten Auswahlkriterien klar <strong>und</strong> transparent dargestellt werden.<br />
18 Als Beispiel siehe Teichert/Talaulicar (2002) sowie Schwer<strong>in</strong> (2001).<br />
19 Zum Beispiel bieten sich hier die Literaturdatenbank Bus<strong>in</strong>ess Source Premier oder Econlite an („ebsco“).<br />
20 Diese Texte sollten zum e<strong>in</strong>en selbsterklärend se<strong>in</strong>, um e<strong>in</strong> von der detaillierten Kenntnis der Quellen unabhängiges<br />
Verständnis zu ermöglichen <strong>und</strong> somit e<strong>in</strong>e Diskussion entsprechender Experten möglichst zu fördern. Zum anderen<br />
sollten sie so nahe wie möglich am Orig<strong>in</strong>altext formuliert werden, wenn möglich den Orig<strong>in</strong>altext zitieren, um die<br />
Gefahr der Verzerrung der ursprünglichen Aussagen durch den Autor zu m<strong>in</strong>imieren.<br />
10<br />
128
von Aussagen, der auch e<strong>in</strong>ige Beispiele zur Formulierung der Texte zu Aussagen über das<br />
Phänomen der Kollusion entnommen werden können.<br />
No.<br />
Study<br />
Empirical method and<br />
context<br />
F<strong>in</strong>d<strong>in</strong>gs about collusion<br />
1<br />
Abb<strong>in</strong>k (2003): 24<br />
Experiment with students<br />
mostly <strong>und</strong>ergraduate<br />
concern<strong>in</strong>g the <strong>in</strong>fluence of<br />
the number of players on<br />
the market price<br />
"In duopolies, the cartel price is the most<br />
frequently observed outcome. With three and<br />
four firms, the frequency of collusive<br />
outcomes decreases." (p. 24)<br />
2<br />
Aig<strong>in</strong>ger (1993): Collusion,<br />
Concentration and Profits:<br />
an Empirical Confrontation<br />
of an Old Story and a<br />
Supergame Implication<br />
Statistical analysis of 97<br />
three digit <strong>in</strong>dustries and a<br />
set of 896 Austrian<br />
manufactur<strong>in</strong>g firms<br />
The 'relevant time discount rate', proxied by<br />
variables on the volatility and unpredictability<br />
<strong>in</strong> demand, expla<strong>in</strong>s cross section profit<br />
variance and therefore the chance for<br />
collusion (cf. p. 166).<br />
3<br />
Alexander (1994): The<br />
Impact of the National<br />
Industrial Recovery Act on<br />
Cartel Formation and<br />
Ma<strong>in</strong>tenance Cost<br />
Statistical analysis of<br />
<strong>in</strong>dustry concentration and<br />
price distribution before,<br />
dur<strong>in</strong>g and after the<br />
National Industrial<br />
Recovery Act<br />
"The results suggest that regulatory actions<br />
which reduce cartel formation costs, even<br />
temporarily, will <strong>in</strong>crease the ability of<br />
<strong>in</strong>dustries to act cooperatively for a longer<br />
period." (p. 254)<br />
4<br />
Apesteguia/Dufwenberg/Se<br />
lten (2003): Blow<strong>in</strong>g the<br />
Whistle<br />
Experiments on the effect<br />
of leniency clauses for<br />
firms that report cartels<br />
Communication fosters collusion (cf. p. 19).<br />
Leniency clauses destabilise collusion (cf. p.<br />
16).<br />
Bonus regulations for the firms report<strong>in</strong>g<br />
cartels do not destabilise collusion stronger<br />
than simple leniency clauses (cf. p. 17).<br />
Abbildung 2: Beispiel e<strong>in</strong>es Zwischenergebnisses für die Identifikation von Aussagen<br />
Um aus der Sammlung von Aussagen nun möglichst transparent <strong>und</strong> nachvollziehbar Stylised<br />
Facts abzuleiten, werden die e<strong>in</strong>zelnen Aussagen zunächst anhand ihrer Inhalte zu<br />
Clustern gruppiert. Die Struktur der Gruppierung kann sich dabei am untersuchten Phänomen<br />
orientieren, ohne dabei schon möglichen Stylised Facts vorzugreifen. Für das Beispiel<br />
Kollusion kann e<strong>in</strong>e Gruppierung z. B. entlang der drei Aspekte (1) Eigenschaften der Beteiligten,<br />
(2) Situation, <strong>in</strong> der die Kollusion stattf<strong>in</strong>det, <strong>und</strong> (3) Verlauf der Ereignisse, die<br />
zur Kollusion führen, erfolgen. E<strong>in</strong>e vierte Kategorie (4) sonstige Beobachtungen fasst alle<br />
nicht den Punkten 1-3 zuordenbaren Aussagen zusammen. Nach erfolgter Gruppierung<br />
wird zu jeder Aussage e<strong>in</strong>e entsprechende Folgerung formuliert. Bei der Formulierung dieser<br />
Folgerungen wird der vom Autor für relevant erachtete Teil der entsprechenden Aussage<br />
wiedergegeben. Dabei können unwesentliche Details der Aussage vernachlässigt werden.<br />
Die Frage, wann e<strong>in</strong>e Information als e<strong>in</strong> unwichtiges Detail e<strong>in</strong>zustufen ist, kann nur<br />
im jeweiligen Kontext entschieden werden. Die Formulierung der Folgerungen sollte daher<br />
erst erfolgen, sobald e<strong>in</strong>e ausreichend große Sammlung von Aussagen vorhanden ist. Erst<br />
vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er ausreichenden Anzahl an Aussagen ist e<strong>in</strong>e entsprechende Abwägung<br />
möglich. Die Entscheidung ist dann e<strong>in</strong> <strong>in</strong>duktiver Prozess, der aber durch die Dar-<br />
11<br />
129
stellung der ursprünglichen Aussage transparent dokumentiert wird <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e konstruktive<br />
Diskussion ermöglicht. 21 E<strong>in</strong>e Illustration der Prozessschritte Gruppierung <strong>und</strong> Ableitung<br />
sowie e<strong>in</strong>ige Beispiele zur Formulierung von Folgerungen können Abbildung 3 entnommen<br />
werden.<br />
Cluster<br />
F<strong>in</strong>d<strong>in</strong>gs about Collusion<br />
Implication<br />
Stylised Fact<br />
A small <strong>in</strong>crease <strong>in</strong> the size of the<br />
team destabilises collusion (cf. p.<br />
443).<br />
Increas<strong>in</strong>g group size<br />
destabilises collusion.<br />
The sett<strong>in</strong>g that stabilises collusion<br />
most strongly is a relatively small<br />
number of compet<strong>in</strong>g firms.<br />
Small group size<br />
stabilises collusion.<br />
"These results suggest that tacit<br />
collusion is possible and more likely<br />
to occur <strong>in</strong> an oligopoly market with a<br />
small number of firms."<br />
Small group size<br />
stabilises collusion.<br />
A lower number of buyers facilitates<br />
collusion aga<strong>in</strong>st the sellers.<br />
Small group size<br />
stabilises collusion.<br />
Individuals/<br />
Firms<br />
"In 79 per cent of the conspiracies<br />
ten or fewer firms were <strong>in</strong>volved."<br />
"Previous [experimental, the authors]<br />
studies <strong>in</strong>dicate that collusion<br />
sometimes occurs <strong>in</strong> duopolies, but<br />
is very rare <strong>in</strong> markets with more<br />
than two firms." The same tendency<br />
is observed <strong>in</strong> the current<br />
experiments.<br />
Small group size<br />
stabilises collusion.<br />
Small group size<br />
stabilises collusion.<br />
SF "Group<br />
Size"<br />
With two rivals collusion with high<br />
Small group size<br />
Abbildung 3: Beispiel für die Gruppierung der Aussagen <strong>und</strong> Ableitung der Stylised Facts<br />
S<strong>in</strong>d zu allen Aussagen die entsprechenden Folgerungen formuliert, lassen sich aus diesen<br />
die entsprechenden Stylised Facts ableiten. Hierbei gilt es zu entscheiden, <strong>in</strong>wieweit im Detail<br />
unterschiedliche Folgerungen noch zusammengefasst werden <strong>und</strong> <strong>in</strong> welchen Fällen die<br />
Abweichungen zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Folgerungen groß genug s<strong>in</strong>d, um unterschiedliche,<br />
eigenständige Stylised Facts zu stützen. Dabei s<strong>in</strong>d zwei Aspekte zu berücksichtigen: zum<br />
e<strong>in</strong>en die Trennschärfe der e<strong>in</strong>zelnen Folgerungen zue<strong>in</strong>ander. Unterscheidet sich z. B. e<strong>in</strong>e<br />
Gruppe von Folgerungen nur durch kle<strong>in</strong>e Details im Untersuchungskontext <strong>und</strong> ist dieses<br />
Detail zur Beschreibung des untersuchten Phänomens nicht wesentlich, dann sollten die<br />
Folgerungen zu e<strong>in</strong>em Stylised Fact zusammengefasst werden. Zum anderen spielt auch die<br />
Häufigkeit <strong>und</strong> die Qualität der zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Studien e<strong>in</strong>e Rolle. Deuten vere<strong>in</strong>zelte<br />
Aussagen basierend auf Fallstudien e<strong>in</strong>e neue Eigenschaft an, dann sollten diese eher e<strong>in</strong>em<br />
21 Siehe Fußnote 14.<br />
12<br />
130
esser gestützten Stylised Fact zugeordnet werden. Gibt es dagegen e<strong>in</strong>e Vielzahl von Studien,<br />
die mit allen drei empirischen Methoden e<strong>in</strong>e weitere Eigenschaft belegen, dann ist<br />
sicher die Formulierung e<strong>in</strong>es eigenständigen Stylised Fact angebracht.<br />
4 Anwendung des Konzepts zur <strong>Fortschrittsmessung</strong> <strong>und</strong> -bewertung<br />
Nach der Beschreibung des Vorgehens zur Herausarbeitung von Stylised Facts werden nun<br />
zwei Ex-post-Anwendungsmöglichkeiten illustriert, die üblicherweise sequentiell erfolgen.<br />
Zunächst wird gezeigt, wie mit den Stylised Facts als Struktur e<strong>in</strong>e Forschungslandschaft<br />
erstellt <strong>und</strong> so der Beitrag schon vorliegender unterschiedlicher Modelle zur Beschreibung<br />
e<strong>in</strong>es Phänomens bestimmt werden kann. Neben dem Modellvergleich ermöglicht e<strong>in</strong>e derartige<br />
Forschungslandschaft auch e<strong>in</strong>e systematische <strong>und</strong> anschauliche Identifikation bisher<br />
unbearbeiteter Themen <strong>und</strong> eignet sich daher zur Erstellung e<strong>in</strong>er Forschungsagenda.<br />
Daneben ist oft jedoch e<strong>in</strong> zweiter Schritt notwendig, da der vorgenommene Vergleich<br />
noch ke<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> die dem Modell zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Mechanismen <strong>und</strong> damit ke<strong>in</strong><br />
tiefer greifendes Verständnis der Modellmechanik liefert. 22 Erst e<strong>in</strong> durch die Stylised<br />
Facts angeleiteter tiefer greifender Modellvergleich ermöglicht e<strong>in</strong>e systematische Bewertung<br />
der untersuchten Modelle h<strong>in</strong>sichtlich der F<strong>und</strong>ierung der getroffenen Annahmen. Wie<br />
dies mit Hilfe der Stylised Facts geleistet werden kann, wird anhand e<strong>in</strong>es zweiten Beispiels<br />
gezeigt.<br />
Zu Erstellung e<strong>in</strong>er Forschungslandschaft werden mehrere, idealerweise alle zur Beschreibung<br />
e<strong>in</strong>es Phänomens vorhandenen relevanten Modelle h<strong>in</strong>sichtlich der von ihnen reproduzierten<br />
Stylised Facts untersucht. Entsprechend dem Stylised-Facts-Konzept können nun<br />
die folgenden Kriterien bei der Bewertung der Modelle relativ zue<strong>in</strong>ander angelegt werden:<br />
(1) E<strong>in</strong> Modell, das e<strong>in</strong>en Stylised Fact erklärt, leistet e<strong>in</strong>en größeren wissenschaftlichen<br />
Beitrag, als e<strong>in</strong> Modell, das auf die Erklärung e<strong>in</strong>es Nebenaspektes ausgerichtet ist. (2) E-<br />
xistieren mehrere Stylised Facts, dann erhöht sich der Beitrag e<strong>in</strong>es Modells mit der Fähigkeit,<br />
weitere Stylised Facts zu erklären, <strong>und</strong> (3) der Abwesenheit von Widersprüchen bei<br />
der Erklärung der anderen Stylised Facts. Auf diesen Kriterien basierend lassen sich bei der<br />
Bewertung vier Stufen der Qualität der Erklärung der Stylised Facts durch das Modell unterscheiden:<br />
(1) e<strong>in</strong> Stylised Fact wird nicht adressiert, (2) e<strong>in</strong> Stylised Fact wird mit e<strong>in</strong>em<br />
zu den empirischen Beobachtungen widersprüchlichen Ergebnis adressiert, (3) e<strong>in</strong> Stylised<br />
Fact wird mit teilweise mit den Beobachtungen übere<strong>in</strong>stimmenden Ergebnissen reproduziert<br />
oder (4) die Ergebnisse der Beschreibung stehen im E<strong>in</strong>klang mit den Beobachtungen.<br />
Für jedes Modell wird analysiert, welche Charakterisierung der Beschreibung für jeden der<br />
Stylised Facts zutreffend ist. Das Ergebnis dieser Analyse lässt sich grafisch anschaulich <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er Forschungslandschaft darstellen. E<strong>in</strong> Beispiel hierfür ist <strong>in</strong> Abbildung 4 dargestellt.<br />
22 Es ist noch ke<strong>in</strong> „look<strong>in</strong>g <strong>und</strong>er the hood“ erfolgt, um mit Hausmans (1994/1995) Worten zu sprechen.<br />
13<br />
131
Untersuchungen<br />
Stylised Facts<br />
Modell A<br />
Modell B<br />
Modell C<br />
Modell D<br />
SF 1<br />
<br />
---<br />
<br />
<br />
SF 2<br />
---<br />
<br />
<br />
---<br />
SF 3<br />
---<br />
---<br />
<br />
---<br />
SF 4<br />
---<br />
<br />
---<br />
---<br />
--- SF nicht adressiert<br />
SF adressiert, aber mit widersprüchlichen<br />
Ergebnissen<br />
Ergebnisse reproduzieren SF<br />
zum Teil<br />
Ergebnisse <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit SF<br />
Abbildung 4: Modellvergleich mit Hilfe e<strong>in</strong>er Forschungslandschaft<br />
Der wissenschaftliche Beitrag verschiedener Modelle zur Beschreibung der Stylised Facts<br />
kann auf Basis e<strong>in</strong>er Forschungslandschaft visualisiert werden. Die Anzahl der adressierten<br />
Stylised Facts lässt sich direkt ablesen. In unserem Beispiel adressiert Modell C drei, Modell<br />
B zwei <strong>und</strong> Modell A <strong>und</strong> D jeweils e<strong>in</strong>en Stylised Fact. Auch e<strong>in</strong>e erste qualitative<br />
Bewertung ist bei e<strong>in</strong>er entsprechenden grafischen Darstellung unmittelbar aus der Forschungslandschaft<br />
heraus möglich. Modell B <strong>und</strong> C beschreiben jeweils e<strong>in</strong>en Stylised Fact<br />
<strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit den empirischen Beobachtungen <strong>und</strong> können die restlichen von den Modellen<br />
angesprochenen Stylised Facts nur teilweise reproduzieren. Während Modell D e<strong>in</strong>en<br />
Stylised Fact zum Teil reproduziert, stehen die Aussagen von Modell A im Widerspruch zu<br />
den Beobachtungen bzgl. des adressierten Stylised Fact. Im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Messung leistet<br />
Modell C den größten wissenschaftlichen Beitrag zur Beschreibung des untersuchten Phänomens,<br />
gefolgt von Modell B, D <strong>und</strong> C. 23<br />
Forschungsdefizite ergeben sich primär aus Stylised Facts, die von ke<strong>in</strong>em Modell angesprochen<br />
werden. Danach ist die Qualität der Beschreibung <strong>und</strong> zuletzt die Kompaktheit<br />
der Modellierung, d. h. <strong>in</strong>wieweit e<strong>in</strong> Modell verschiedene Stylised Facts adäquat adressiert,<br />
von Bedeutung. In unserem Beispiel wird jeder Stylised Fact von zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>em<br />
23 E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige Rangfolge wird <strong>in</strong> der Praxis selten möglich se<strong>in</strong>, da sich qualitative <strong>und</strong> quantitative Aspekte selten<br />
e<strong>in</strong>deutig komb<strong>in</strong>ieren lassen. Z. B. ist bei zwei Modellen, von denen das e<strong>in</strong>e drei Stylised Facts teilweise reproduziert<br />
<strong>und</strong> das andere zwei Stylised Facts <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang mit den Beobachtungen wiedergibt, ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>gültige Aussage<br />
bzgl. der Frage, welches Modell den größeren Beitrag leistet, möglich. Zusätzlich müssen auch nicht immer alle<br />
Stylised Facts für die Beschreibung e<strong>in</strong>es Phänomens gleichbedeutend se<strong>in</strong>, so dass auch hier die E<strong>in</strong>schätzung des<br />
Wissenschaftlers notwendig ist. Allerd<strong>in</strong>gs stellt e<strong>in</strong>e wie beschrieben erstellte Forschungslandschaft den gegenwärtigen<br />
Forschungsstand transparent dar <strong>und</strong> unterstützt so e<strong>in</strong>e fokussierte Diskussion.<br />
14<br />
132
Modell adressiert. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d die Beschreibungen von SF2 <strong>und</strong> SF3 nur zum Teil <strong>in</strong><br />
E<strong>in</strong>klang mit den Beobachtungen. Hier besteht demzufolge noch Forschungsbedarf. Ebenfalls<br />
noch offen ist die Erstellung e<strong>in</strong>es Modells, das alle vier Stylised Facts gleichzeitig<br />
adressiert. 24 E<strong>in</strong> solch <strong>in</strong>tegratives Modell besitzt gegenüber e<strong>in</strong>er Sammlung von e<strong>in</strong>zelnen<br />
Modellen, die jeweils e<strong>in</strong>en Teil der Stylised Facts beschreiben, den Vorteil, dass es zusätzlich<br />
Aussagen über die Zusammenhänge <strong>und</strong> Wechselwirkungen bezüglich der e<strong>in</strong>zelnen<br />
Stylised Facts liefern kann. 25<br />
Während die vorgestellte Forschungslandschaft e<strong>in</strong>en systematischen <strong>und</strong> übersichtlichen<br />
Vergleich vorhandener Modelle anhand ihrer Beschreibung des Phänomens ermöglicht, untersucht<br />
e<strong>in</strong>e zweite Anwendungsmöglichkeit des Stylised-Facts-Konzept e<strong>in</strong>e tiefer liegende<br />
Ebene, die den Modellen zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Mechanismen. Ziel der Untersuchung<br />
der Modellmechanik ist die Bewertung der F<strong>und</strong>ierung der Annahmen <strong>und</strong> damit der Belastbarkeit<br />
der von dem Modell gelieferten Aussagen. Bei der Durchführung e<strong>in</strong>er derartigen<br />
Untersuchung werden die Stylised Facts als e<strong>in</strong>e Art Sche<strong>in</strong>werfer verwendet, um die<br />
Mechanik der Modelle systematisch zu durchleuchten. Dabei dient e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Stylised<br />
Fact dazu, genau den für se<strong>in</strong>e Generierung verantwortlichen Mechanismus aus e<strong>in</strong>er ggf.<br />
sehr komplexen Modellmechanik zu isolieren <strong>und</strong> ermöglicht somit e<strong>in</strong>e aussagekräftige<br />
Bewertung. Damit unterstützt das Stylised-Facts-Konzept e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> die Tiefe gehende Diskussion<br />
des Grades der Willkürlichkeit bei den Modellannahmen <strong>und</strong> der Sensitivität des<br />
Modells h<strong>in</strong>sichtlich der Wahl ggf. zu setzender Parameterwerte.<br />
Im Rahmen e<strong>in</strong>er tiefer greifenden Bewertung können die Modelle auf drei Ebenen untersucht<br />
werden. 26 Am Anfang steht e<strong>in</strong> Stylised Fact, mit dem das Modell <strong>in</strong> Bezug gebracht<br />
werden kann. Aus dieser Perspektive wird der entsprechende, den Stylised Fact generierende<br />
Mechanismus identifiziert. Anschließend wird der Modellaufbau überprüft, <strong>in</strong>dem untersucht<br />
wird, ob die Annahmen, die dem Mechanismus im Modell zu Gr<strong>und</strong>e liegen, gut begründet<br />
<strong>und</strong> etabliert s<strong>in</strong>d oder eher willkürlich gewählt wurden. Zum Abschluss wird, falls<br />
vorhanden, die Wahl von Parameterwerten überprüft. 27 Dazu wird zum e<strong>in</strong>en nach e<strong>in</strong>em<br />
nachvollziehbaren Bezug der Parameterwerte zur Realität gesucht <strong>und</strong> zum anderen die<br />
Sensitivität der Modellergebnisse auf die Wahl der Werte auf Basis der von den Modellautoren<br />
gelieferten Informationen geprüft. 28<br />
24 Erwähnt sei an dieser Stelle nochmals der Beitrag von Marcet/Nicol<strong>in</strong>i (2003:1477-1478), der e<strong>in</strong> gutes Beispiel hierfür<br />
ist: Für das Problem wiederkehrender Hyper<strong>in</strong>flationen zeigen sie, dass die vorhandenen Modelle nicht mit allen<br />
Stylised Facts konsistent s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> ihr Modell aufgr<strong>und</strong> der stimmigen Beschreibung aller Stylised Facts e<strong>in</strong>en Fortschritt<br />
darstellt.<br />
25 In unserem Beispiel kann anhand der vorhandenen Modelle nicht untersucht werden, welchen E<strong>in</strong>fluss e<strong>in</strong>e bestimmte<br />
Ausprägung des SF1 auf die Ausprägung von SF4 besitzt. Dies wäre aber mit e<strong>in</strong>em Modell, das SF1 <strong>und</strong> SF4 gleichzeitig<br />
beschreibt, möglich.<br />
26 Vergleiche auch Werker/Brenner (2004:8).<br />
27 Vergleiche auch Werker/Brenner (2004:9).<br />
28 Werden ke<strong>in</strong>e Informationen zur Sensitivität der Modellergebnisse bzgl. der Parameterwertewahl geliefert, so ist dies<br />
negativ h<strong>in</strong>sichtlich der Modellqualität zu bewerten. Unter diesen Umständen lässt sich nur schwer e<strong>in</strong> Bild von der<br />
Stabilität der Ergebnisse machen.<br />
15<br />
133
Zur Illustration verwenden wir die Analyse zweier Modelle, die die Stabilität von Kollusionen<br />
<strong>in</strong> der Struktur e<strong>in</strong>es wiederholten Gefangenendilemmas untersuchen. Modell I verwendet<br />
dabei die klassische Spieltheorie, während Modell II auf der Methode der Computersimulation<br />
basiert. Der Stylised Fact „Durchsetzungsprozesse kooperativen Verhaltens“<br />
wird dabei unterschiedlich modelliert. Modell I zeigt unter den etablierten Annahmen der<br />
Spieltheorie, dass es unter der Annahme der Existenz e<strong>in</strong>es beliebig kle<strong>in</strong>en Anteils an kooperativen<br />
Mitspielern 29 rational ist, zum<strong>in</strong>dest zeitweise kooperativ zu spielen. Damit s<strong>in</strong>d<br />
die Annahmen von Modell I sehr gut f<strong>und</strong>iert. Die Beschreibung des Stylised Fact ist aber<br />
nur sehr grob, da weder Aussagen über die Dynamik der möglichen Entstehung kooperativen<br />
Verhaltens getroffen noch die Erfolgsaussichten spezifischer Verhaltensweisen abgeschätzt<br />
werden können. Modell II beschreibt das Verhalten der Teilnehmer, <strong>in</strong>dem es sechs<br />
Verhaltenseigenschaften der Teilnehmer modelliert. 30 Die Eigenschaften der modellierten<br />
Spieler s<strong>in</strong>d dabei nicht statisch, sondern werden durch e<strong>in</strong>en Lernprozess mit dem Ziel der<br />
Gew<strong>in</strong>nmaximierung angepasst. 31 Diese Vorgehensweise verspricht e<strong>in</strong>e deutlich detailliertere<br />
Beschreibung des entsprechenden Stylised Fact als die Methodik von Modell I, da sowohl<br />
die Dynamik des Prozesses als auch der E<strong>in</strong>fluss spezifischer Verhaltensweisen auf<br />
die Erfolgsaussichten der Durchsetzung von Kollusion beschrieben werden können. Diese<br />
Modellierung des Verhaltens stützt sich auf verschiedene neuere Quellen, die Integration<br />
dieser unterschiedlichen Ansätze <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gesamtkonzept wird jedoch nicht begründet. Auch<br />
wird e<strong>in</strong>e F<strong>und</strong>ierung des neuen Konzeptes <strong>in</strong>sgesamt bzw. e<strong>in</strong>e empirische Stützung nicht<br />
gegeben.<br />
Vergleicht man die Ergebnisse der Analyse der Modellmechanik <strong>und</strong> der F<strong>und</strong>ierung der zu<br />
Gr<strong>und</strong>e liegenden Annahmen, dann bietet Modell II die detailliertere Beschreibung des untersuchten<br />
Stylised Fact. E<strong>in</strong>e Untersuchung der zu Gr<strong>und</strong>e liegenden Modellmechanik<br />
zeigt aber, dass die Ergebnisse auf wenig f<strong>und</strong>ierten Annahmen beruhen <strong>und</strong> daher Anlass<br />
zur Kritik geben.<br />
Blickt man e<strong>in</strong>e Ebene tiefer auf die Wahl von Werten für ggf. vorhandene Parameter, so<br />
setzt sich dieses Bild fort: Modell I benötigt lediglich e<strong>in</strong>en Hilfsparameter, der den Anteil<br />
der kooperativen Mitspieler darstellt. Dieser Parameter kann zwischen null <strong>und</strong> e<strong>in</strong>s liegen,<br />
für die Untersuchung ist aber nur wesentlich, dass er größer null ist. Damit bee<strong>in</strong>flusst die<br />
Wahl des Wertes für diese Größe die Modellergebnisse nicht. Zur Modellierung der verschiedenen<br />
Eigenschaften <strong>in</strong> Modell II wird e<strong>in</strong>e Vielzahl von Parametern, wie z. B. die<br />
Dauer der Bestrafung von unkooperativen Mitspielern, e<strong>in</strong>geführt. Bei der Wahl dieser Parameter<br />
wird häufig auf Pretests verwiesen, ohne deren Ergebnisse detailliert wiederzugeben.<br />
Sensitivitätsanalysen werden nicht durchgeführt, ebenso wenig werden empirische<br />
29 Es wird die Existenz von Mitspielern angenommen, die sich entsprechend der „Tit for Tat“-Strategie (vgl. Axelrod<br />
1984) verhalten.<br />
30 Modelliert werden die Ungeduld der Mitspieler, ihre Bereitschaft, unkooperatives Verhalten zu bestrafen, zu vergeben,<br />
eigenes Fehlverhalten zu bereuen, zur Versöhnung sowie den Mitspielern zu vertrauen.<br />
31 In der Arbeit werden zwei unterschiedliche Lernformen mite<strong>in</strong>ander verglichen: Beim Verstärkungslernen werden nur<br />
die eigenen Erfahrungen der Spielers bei der Suche nach e<strong>in</strong>er besseren Anpassung verwendet, beim Beobachtungslernen<br />
werden auch die Erfahrungen der Mitspieler <strong>in</strong> den Lernprozess mit e<strong>in</strong>bezogen.<br />
16<br />
134
F<strong>und</strong>ierungen für die Parameterwahl gegeben. Damit ist die Aussage des Modells I so gut<br />
wie gar nicht von der Wahl der Werte für die Parameter abhängig, h<strong>in</strong>gegen kann dies bei<br />
Modell II nicht ausgeschlossen werden. Dies stellt e<strong>in</strong>en weiteren negativen Aspekt bei der<br />
Bewertung des Modells II dar.<br />
Damit wurde illustriert, wie mit Hilfe der Stylised Facts e<strong>in</strong> strukturierter Modellvergleich<br />
erfolgen kann. Dieser wird <strong>in</strong> zwei Schritten <strong>und</strong> auf zwei Ebenen durchgeführt: Zunächst<br />
stellten die Stylised Facts e<strong>in</strong>e Struktur für e<strong>in</strong>e Messung <strong>und</strong> Visualisierung des potentiellen<br />
Erkenntnisbeitrags der verschiedenen Modelle dar, im zweiten Schritt ermöglichen sie<br />
auf e<strong>in</strong>er tieferen Ebene e<strong>in</strong>e fokussierte Bewertung der jeweiligen Modellierungen.<br />
5 Fazit<br />
In diesem Beitrag wurde mit dem Konzept der Stylised Facts e<strong>in</strong> Weg aufgezeigt, wie sich<br />
für den Bereich modelltheoretischer Analysen wissenschaftlicher Fortschritt messen <strong>und</strong><br />
bewerten lässt. Daneben erlaubt das Konzept e<strong>in</strong>e systematische Reduktion der Gefahr des<br />
Modelplatonismus bei e<strong>in</strong>er Anwendung <strong>in</strong> der Phase der Modellentwicklung, <strong>in</strong>dem das<br />
Augenmerk des Forschers auf empirisch relevante <strong>und</strong> etablierte Aspekte e<strong>in</strong>es Phänomens<br />
gelenkt wird. E<strong>in</strong> weiterer Beitrag liegt <strong>in</strong> der expliziten Ausweisung der Sichtweise e<strong>in</strong>es<br />
Phänomens als Ausgangspunkt der Modellbildung, die sonst nur implizit der Modellkonstruktion<br />
zu Gr<strong>und</strong>e liegt. Damit werden die Annahmen e<strong>in</strong>zelner Forscher expliziert <strong>und</strong><br />
dadurch der wissenschaftlichen Diskussion <strong>und</strong> Kritik zugänglich gemacht.<br />
Der vorgestellte Prozess zur Bestimmung der Stylised Facts e<strong>in</strong>es ausgewählten Phänomens<br />
versucht aus diesem Gr<strong>und</strong> auch die unvermeidbar subjektiven E<strong>in</strong>schätzungen der<br />
Forscher transparent <strong>und</strong> nachvollziehbar auszuweisen. Das präsentierte Beispiel e<strong>in</strong>er Forschungslandschaft<br />
illustriert, wie mit den Stylised Facts e<strong>in</strong>es Phänomens als Struktur e<strong>in</strong>e<br />
<strong>in</strong>tersubjektiv nachvollziehbare Messung des Forschungsstandes existierender Modelle<br />
durchgeführt <strong>und</strong> anschaulich dargestellt werden kann. Der beispielhaft durchgeführte tiefer<br />
greifende Modellvergleich zeigt zudem, wie die e<strong>in</strong>zelnen Stylised Facts verwendet werden<br />
können, die Komplexität e<strong>in</strong>es Modells durch die systematische Isolation des entsprechenden<br />
Mechanismus zu reduzieren. Dies ermöglicht e<strong>in</strong>e systematische Durchleuchtung der<br />
Modellmechanik <strong>und</strong> somit e<strong>in</strong>deutige Aussagen h<strong>in</strong>sichtlich der F<strong>und</strong>ierung der Modellannahmen<br />
<strong>und</strong> der Sensitivität ggf. vorhandener Parameterwerte.<br />
Es soll nicht versäumt werden, darauf h<strong>in</strong>zuweisen, dass die Gew<strong>in</strong>nung von Stylised Facts<br />
e<strong>in</strong> anspruchsvolles Verfahren darstellt. Die Verfügbarkeit empirischer Untersuchungen<br />
könnte stark variieren <strong>und</strong> deren Ergebnisse können durch den jeweiligen methodologischen<br />
<strong>und</strong> theoretischen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> des Forschungsgebietes geprägt se<strong>in</strong>. Die Ableitung<br />
von Stylised Facts ist zudem idealerweise das Ergebnis e<strong>in</strong>es Diskussionsprozesses unter<br />
Experten. Auch wenn das Konzept der Stylised Facts von se<strong>in</strong>er Gr<strong>und</strong>idee sehr e<strong>in</strong>fach ist,<br />
bietet es ke<strong>in</strong>en Automatismus für die Forschung. Vielmehr zeigt auch dieses Konzept die<br />
Bedeutung rationalitätsfördernder Verfahrensweisen <strong>in</strong> der Wissenschaft <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit<br />
der Urteilskraft der jeweiligen Forscher.<br />
17<br />
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20<br />
138
Erkenntnisfortschritt <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre<br />
– E<strong>in</strong> methodologisches Konzept zur Herleitung von Muster-Hypothesen –<br />
Univ.-Prof. Dr. Ute Schmiel<br />
Technische Universität Ilmenau<br />
Lehrstuhl für ABWL, <strong>in</strong>sbesondere Steuerlehre/Prüfungswesen<br />
Helmholtzstr. 3<br />
98693 Ilmenau<br />
Tel.-Nr. 03677/694498 (Sekretariat) 694497 (Durchwahl)<br />
Fax-Nr. 03677/694499<br />
ute.schmiel@tu-ilmenau.de<br />
Zusammenfassung<br />
In diesem Beitrag wird e<strong>in</strong> methodologisches Konzept zur Herleitung erfahrungswissenschaftlicher<br />
Aussagen <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre vorgelegt. In kritisch-rationalistischer<br />
Perspektive hat e<strong>in</strong>e solche Methodologie die Funktion e<strong>in</strong>er<br />
Technologie zur Erreichung von Erkenntnisfortschritt. Gleichzeitig wird mit e<strong>in</strong>er<br />
solchen Methodologie Erkenntnisfortschritt gemessen. Erfahrungswissenschaftliche<br />
Aussagen bilden <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre die Gr<strong>und</strong>lage für die<br />
Beratung des (Steuer-)Gesetzgebers. Die Neukonzeption e<strong>in</strong>er Methodologie zur<br />
Herleitung solcher Aussagen wird damit begründet, dass vorhandene Konzepte<br />
kritischen E<strong>in</strong>wendungen nicht standhalten. Das hier vorgelegt Konzept geht von der<br />
begründeten Annahme aus, dass <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre nur erfahrungswissenschaftliche<br />
Aussagen über abstrakte Muster (Muster-Hypothesen) möglich<br />
s<strong>in</strong>d. Die These des Beitrags lautet, dass diese Methodologie zur Herleitung von<br />
Muster-Hypothesen e<strong>in</strong> geeignetes Fortschrittskonzept darstellt.<br />
139
1 E<strong>in</strong>leitung<br />
Sobald e<strong>in</strong> Wissenschaftler e<strong>in</strong>e kritisch-rationalistische Haltung e<strong>in</strong>nimmt, bildet die<br />
Messung wissenschaftlichen Fortschritts e<strong>in</strong>e eigenständige wissenschaftliche Problematik.<br />
Denn <strong>in</strong> kritisch-rationalistischer Perspektive ist absolut sichere Erkenntnis unrealisierbar.<br />
„Unsere Wissenschaft ist ke<strong>in</strong> System von gesicherten Sätzen“, so formuliert<br />
Karl R. Popper, „auch ke<strong>in</strong> System, das <strong>in</strong> stetem Fortschritt e<strong>in</strong>em Zustand der<br />
Endgültigkeit zustrebt. Unsere Wissenschaft ist ke<strong>in</strong> Wissen ... weder Wahrheit noch<br />
Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit kann sie erreichen.“ Aber obwohl „Wahrheit <strong>und</strong> Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
für sie unerreichbar ist, so ist doch das <strong>in</strong>tellektuelle Streben, der Wahrheitstrieb,<br />
wohl der stärkste Antrieb der Forschung.“ 1 Übernimmt man diese Position Poppers,<br />
resultiert hieraus die Konsequenz, dass Erkenntnisfortschritt nicht objektiv bestimmt<br />
werden kann. Insbesondere lässt sich Erkenntnisfortschritt nicht dadurch überprüfen, ob<br />
– <strong>und</strong> wenn ja <strong>in</strong>wieweit – man sich an e<strong>in</strong>e endgültige Wahrheit angenähert hat. Die<br />
Feststellung von Erkenntnisfortschritt erfordert vielmehr, dass e<strong>in</strong>e wissenschaftliche<br />
Geme<strong>in</strong>schaft Erkenntnisfortschritt def<strong>in</strong>iert. Dies geschieht mithilfe e<strong>in</strong>er Methodologie,<br />
die e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Geme<strong>in</strong>schaft explizit oder implizit, reflektiert oder unreflektiert<br />
anwendet: „Alle<strong>in</strong> die Methodologie selbst kann Explikata des Begriffs ‚Erkenntnisfortschritt‘,<br />
adäquate Erklärungen usf., vorschlagen; nur sie kann angeben, wor<strong>in</strong><br />
Erkenntnisfortschritt bestehen soll, was wir zweckmäßig unter ‚Erkenntnisfortschritt‘<br />
verstehen sollen <strong>und</strong> woran man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em konkreten Fall Erkenntnisfortschritt<br />
erkennen kann.“ 2<br />
E<strong>in</strong>e Methodologie hat den Charakter e<strong>in</strong>er Technologie, mit deren Hilfe Erkenntnisfortschritt<br />
erlangt werden soll. 3 Zum<strong>in</strong>dest implizit liegt jeder Methodologie die Aussage<br />
zugr<strong>und</strong>e, dass Erkenntnisfortschritt besser oder sogar nur dann zu gew<strong>in</strong>nen ist,<br />
wenn sie befolgt wird. 4 Schwierigkeiten bereitet allerd<strong>in</strong>gs die Beurteilung e<strong>in</strong>er<br />
Methodologie <strong>und</strong> damit des Fortschrittskonzepts selbst. Denn wenn e<strong>in</strong>e Methodologie<br />
determ<strong>in</strong>iert, was als Erkenntnisfortschritt anzusehen ist, kann nicht gleichzeitig<br />
mithilfe des so def<strong>in</strong>ierten Erkenntnisfortschritts die Eignung der Methodologie zur<br />
Erreichung des Erkenntnisfortschritts überprüft werden. E<strong>in</strong>e solche Bestimmung wäre<br />
offensichtlich zirkulär: Ob e<strong>in</strong> Forschungsergebnis als Erkenntnisfortschritt zu<br />
qualifizieren wäre, würde durch die Methodologie bestimmt, wobei die Brauchbarkeit<br />
der Methodologie davon abhängen würde, ob der durch die Methodologie def<strong>in</strong>ierte Erkenntnisfortschritt<br />
erzielt wurde. Die Qualität e<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts kann demzufolge<br />
nicht an dem gewonnenen Erkenntnisfortschritt gemessen werden. Vielmehr<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
Popper (1994), S. 223 [alle Zitate].<br />
Radnitzky (1992), S. 469 f.<br />
Siehe zu diesem Methodologieverständnis Albert (1987), S. 84-93, Albert (1991), S. 44-50.<br />
So Gadenne (2002), S. 76 f.<br />
1<br />
140
können nur Gründe angeführt werden, die für oder gegen e<strong>in</strong> Fortschrittskonzept<br />
sprechen, ohne dass es sich hierbei um e<strong>in</strong>e abschließende Begründung handelt. 5<br />
In diesem Beitrag wird e<strong>in</strong>e Methodologie zur Herleitung erfahrungswissenschaftlicher<br />
Aussagen <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre unterbreitet <strong>und</strong> <strong>in</strong>soweit e<strong>in</strong> modifiziertes<br />
Fortschrittskonzept für die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre vorgelegt. Die<br />
Bedeutung e<strong>in</strong>er Methodologie zur Herleitung erfahrungswissenschaftlicher Aussagen<br />
ist offensichtlich: Erfahrungswissenschaftliche Aussagen bilden <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen<br />
Steuerlehre <strong>in</strong>sbesondere die Gr<strong>und</strong>lage für die betriebswirtschaftliche Beratung<br />
des Steuergesetzgebers zur Ausgestaltung des Steuerrechts. 6 In der Betriebswirtschaftlichen<br />
Steuerlehre werden zurzeit im Wesentlichen zwei methodologische Konzeptionen<br />
zur Herleitung erfahrungswissenschaftlicher Aussagen vertreten. Nach der<br />
implizit von Franz W. Wagner vorgetragenen Konzeption liegt e<strong>in</strong>e erfahrungswissenschaftliche<br />
Aussage vor, wenn mithilfe statistischer Methoden nachgewiesen werden<br />
kann, dass Steuerpflichtige ihre ökonomischen Entscheidungen treffen, <strong>in</strong>dem sie steuerrechtliche<br />
Regelungen <strong>in</strong> Entscheidungskalküle, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> das Kapitalwertmodell,<br />
implementieren. Hiergegen ist vorzutragen, dass die Prämissen des Kapitalwertmodells,<br />
<strong>in</strong>sbesondere die unterstellten (Un-)Sicherheitsannahmen, Erfahrungstatbeständen<br />
widersprechen. Überdies werden durch die Verknüpfung von Elementen e<strong>in</strong>er<br />
neoklassischen Idealwelt <strong>und</strong> Elementen e<strong>in</strong>er realen Welt widersprüchliche „Hybrid-<br />
Modelle“ konstruiert. Außerdem ist das implizit vertretene Verständnis empirischer<br />
Wahrheit zum<strong>in</strong>dest vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>es korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnisses<br />
kritisch zu sehen: Denn Wagner überprüft nicht, <strong>in</strong>wieweit die Prämissen<br />
e<strong>in</strong>es vollkommenen <strong>und</strong> vollständigen Kapitalmarkts mit Erfahrungstatbeständen übere<strong>in</strong>stimmen.<br />
Vielmehr def<strong>in</strong>iert Wagner implizit empirische Wahrheit als Anerkennung<br />
der <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre erarbeiteten Modelle durch Steuerpflichtige.<br />
Die Modellergebnisse s<strong>in</strong>d nicht empirisch wahr, weil ihre Prämissen e<strong>in</strong>em korrespondenztheoretischen<br />
Wahrheitsverständnis entsprechend e<strong>in</strong> Abbild der Wirklichkeit<br />
darstellen. Die Modellergebnisse s<strong>in</strong>d vielmehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em annähernd konsenstheoretischen<br />
S<strong>in</strong>ne wahr, weil Steuerpflichtige sie als s<strong>in</strong>nvoll, als nützlich anerkennen, um<br />
damit ihre betriebswirtschaftlichen Entscheidungen zu treffen. Schließlich richtet sich<br />
e<strong>in</strong>e erfahrungswissenschaftliche Aussage im S<strong>in</strong>ne Wagners auf die Herleitung von<br />
Zusammenhängen über konkretes Handeln von Wirtschaftssubjekten <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />
5<br />
6<br />
Siehe Radnitzky (1992), S. 470, Gadenne (2002), S. 76 f.<br />
In diesem Beitrag wird nicht thematisiert, ob auch Gestaltungsempfehlungen gegenüber e<strong>in</strong>zelnen<br />
Wirtschaftssubjekten erfahrungswissenschaftliche Aussagen zugr<strong>und</strong>e liegen können <strong>und</strong> sollen.<br />
Siehe zu e<strong>in</strong>er ablehnenden Position Bretzke (1980), S. 227-232.<br />
2<br />
141
Situationen. 7 Darüber können aber nach der hier vertretenen <strong>und</strong> <strong>in</strong> Kapitel 2 explizierten<br />
Auffassung ke<strong>in</strong>e Regelmäßigkeiten aufgestellt werden.<br />
E<strong>in</strong>e zweite Konzeption zur Herleitung e<strong>in</strong>er erfahrungswissenschaftlichen Aussage ist<br />
die explizit formulierte Methodologie von Dieter Schneider. 8 Auch diese ist darauf ausgerichtet,<br />
Regelmäßigkeiten über konkretes Handeln von Steuerpflichtigen <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />
Situationen zu erarbeiten. Weil sich nach der hier vertretenen Auffassung diese Situationen<br />
der Herleitung von Regelmäßigkeiten entziehen <strong>und</strong> überdies – wie <strong>in</strong> Kapitel<br />
2 <strong>und</strong> 3 deutlich werden wird – Detaile<strong>in</strong>wände gegen die Position Schneiders vorzubr<strong>in</strong>gen<br />
s<strong>in</strong>d, wird <strong>in</strong> diesem Beitrag die Methodologie Schneiders modifiziert. Erst<br />
diese modifizierte Methodologie zur Herleitung erfahrungswissenschaftlicher Aussagen<br />
– so lautet die These dieses Beitrags – ist e<strong>in</strong> geeignetes Fortschrittskonzept für die Betriebswirtschaftliche<br />
Steuerlehre. 9 Diese These wird im Folgenden begründet, <strong>in</strong>dem <strong>in</strong><br />
Kapitel 2 zunächst der Begriff der erfahrungswissenschaftlichen Aussage konturiert<br />
wird. In Kapitel 3 wird die Methodologie zur Herleitung e<strong>in</strong>er solchen erfahrungswissenschaftlichen<br />
Aussage erarbeitet. Kapitel 4 schließt mit e<strong>in</strong>em Vorschlag dazu,<br />
wie das hier vorgelegte Fortschrittskonzept selbst kritisch überprüft werden kann.<br />
Obwohl dieses methodologische Konzept zunächst nur die betriebswirtschaftliche<br />
Beratung des Steuergesetzgebers <strong>in</strong> Blick nimmt, ist es nicht hierauf beschränkt. Es<br />
kann vielmehr immer dann Berücksichtigung f<strong>in</strong>den, wenn es um betriebswirtschaftliche<br />
Gesetzesberatung schlechth<strong>in</strong> geht. Er erstreckt sich beispielsweise auch<br />
auf die Analyse des Gesellschafts-, Bilanz- <strong>und</strong> Insolvenzrechts <strong>und</strong> damit auf Rechtsgebiete,<br />
die typischerweise im Betriebswirtschaftlichen Rechnungswesen oder im Betriebswirtschaftlichen<br />
Prüfungswesen analysiert werden.<br />
2 Konturierung des Begriffs „erfahrungswissenschaftliche Aussage“<br />
Das hier vorgelegte Verständnis e<strong>in</strong>er erfahrungswissenschaftlichen Aussage wird<br />
durch e<strong>in</strong> kritisch-realistisches Wirklichkeitsverständnis determ<strong>in</strong>iert. Demzufolge wird<br />
von der Existenz e<strong>in</strong>er vom beobachtenden Subjekt unabhängigen Wirklichkeit ausgegangen,<br />
die gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>in</strong> erfahrungswissenschaftlichen Aussagen erfasst werden<br />
kann. Gleichzeitig wird die Auffassung vertreten, dass betriebswirtschaftliche Erkenntnis,<br />
soweit erfahrungswissenschaftliche Aussagen beabsichtigt s<strong>in</strong>d, die empirische<br />
Überprüfung <strong>in</strong>kludiert. Diese empirische Überprüfung von Aussagen erweist sich<br />
7<br />
8<br />
9<br />
Siehe Wagner (1999), S. 20-33, Wagner (2002), S. 1889-1892, Wagner/Schwenk (2003), S. 376-<br />
395, Wagner (2004), S. 239-245.<br />
Siehe Schneider (2001), S. 13-25, 490-508, 1019-1036.<br />
Dass sowohl Wagner als auch Schneider mit ihrem Konzept auch die Def<strong>in</strong>ition von<br />
Erkenntnisfortschritt verb<strong>in</strong>den, zeigt sich bei Wagner <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Kritik „wertungsbasierter“<br />
Steuerforschung, siehe Wagner (2004), S. 245-248, <strong>und</strong> bei Schneider explizit bei der von<br />
ihm vorgetragenen Messung wissenschaftlichen Fortschritts, siehe Schneider (2001), S. 1019-1036.<br />
3<br />
142
jedoch als problematisch, wenn auch nicht als unmöglich, weil es ke<strong>in</strong>e „re<strong>in</strong>e“<br />
Beobachtung gibt, auf die e<strong>in</strong>e Theorie zurückgeführt werden kann. Vielmehr ist jede<br />
Beobachtung im wissenschaftlichen Kontext theoriebeladen. Die Qualifizierung e<strong>in</strong>er<br />
Beobachtung als Bestätigung oder Widerlegung e<strong>in</strong>er Aussage setzt bereits die<br />
Akzeptanz e<strong>in</strong>er oder mehrerer anderer Theorien als vorläufig bestätigt voraus. Die<br />
vorläufige Bestätigung oder Widerlegung von Aussagen ist demzufolge nicht objektiv<br />
durch „re<strong>in</strong>e“ Beobachtung möglich, sondern an <strong>in</strong>tersubjektiv gültige Vere<strong>in</strong>barungen<br />
e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Geme<strong>in</strong>schaft geb<strong>und</strong>en. 10<br />
In dieser Perspektive des kritischen Realismus handelt es sich um e<strong>in</strong>e an der Wirklichkeit<br />
begründete Festsetzung, wenn im Folgenden davon ausgegangen wird, dass die <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em vollkommenen <strong>und</strong> vollständigen Kapitalmarkt unterstellten (Un-)Sicherheitsannahmen<br />
Beobachtungstatbeständen widersprechen. Das Kapitalwertmodell basiert entweder<br />
auf der Annahme sicherer Erwartungen oder ihm liegt e<strong>in</strong> Unsicherheitsverständnis<br />
zugr<strong>und</strong>e, nach dem Wirtschaftssubjekte alle denkbaren Zukunftslagen <strong>in</strong> ihren Plan<br />
aufnehmen. „Unsicherheit“ besteht dann nur dar<strong>in</strong>, nicht zu wissen, welche dieser im<br />
Voraus festgelegten Zukunftslagen e<strong>in</strong>treten wird. „Echte“ Unsicherheit, expliziert als<br />
das mögliche E<strong>in</strong>treten von nicht <strong>in</strong>s Entscheidungskalkül e<strong>in</strong>bezogenen Zuständen –<br />
Schneider bezeichnet diese als Ex-post-Überraschungen – ist ausgeschaltet. Des Weiteren<br />
wird e<strong>in</strong>e Gleichverteilung des Wissens unterstellt <strong>und</strong> damit ignoriert, dass das unvollständige<br />
Wissen e<strong>in</strong>er menschlichen Gesellschaft bei dem E<strong>in</strong>zelnen nur zum Teil<br />
<strong>und</strong> regelmäßig <strong>in</strong> anderer Form vorhanden ist als bei e<strong>in</strong>em anderen. Diese Elim<strong>in</strong>ierung<br />
„echter“ Unsicherheit <strong>und</strong> Ungleichverteilung des Wissens ist <strong>in</strong>soweit problematisch,<br />
als dass zahlreiche weitere Beobachtungstatbestände, beispielsweise das<br />
Entstehen von Unternehmen, das Vorhandense<strong>in</strong> von Liquiditätsproblemen bis h<strong>in</strong> zur<br />
Illiquidität sowie die entsprechenden Institutionen zu ihrer Bekämpfung, erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Welt mit „echter“ Unsicherheit <strong>und</strong> Ungleichverteilung des Wissens erklärbar s<strong>in</strong>d.<br />
Deshalb wird im Folgenden die Struktur e<strong>in</strong>er Welt mit „echter“ Unsicherheit <strong>und</strong> Ungleichverteilung<br />
des Wissens zugr<strong>und</strong>e gelegt. 11<br />
Verb<strong>und</strong>en mit der Theoriebeladenheit der Beobachtung ist e<strong>in</strong>e Theoriebeladenheit der<br />
Sprache. Denn sowohl e<strong>in</strong>e Theorie als auch (theoriebeladene) Beobachtungen werden<br />
10<br />
11<br />
Siehe Popper (1994), S. 31, 71-76, siehe auch Albert (1987), S. 6, 43-62, 107, 111-116, Albert<br />
(1996), S. 121. Siehe h<strong>in</strong>gegen zum Wirklichkeitsverständnis des radikalen Konstruktivismus von<br />
Glasersfeld (1994), zu deren Rezeption <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftslehre Pfriem (1994), S. 116-118,<br />
<strong>und</strong> zur kritischen Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem radikalen Konstruktivismus Dettmann (1999),<br />
<strong>in</strong>sbesondere S. 222-248.<br />
Siehe zu dieser hier von Schneider übernommenen Sichtweise Schneider (1995), S. 1-30, Schneider<br />
(1997), S. 42-46, Schneider (2001), S. 370-378, 469, 490, 1030 <strong>und</strong> bereits Schneider (1987), S. 1-<br />
6, 467-474, 496-517. Siehe zur Unsicherheitsproblematik auch Tietzel (1985), <strong>in</strong>sbesondere S. 172-<br />
177. Die Unsicherheitsproblematik stellt – wenn auch mit anderen Konsequenzen – auch Schreyögg<br />
heraus, siehe Schreyögg (1991), S. 266-268.<br />
4<br />
143
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Sprache zum Ausdruck gebracht. Deshalb spiegelt sich <strong>in</strong> der Sprache das Problem<br />
der Theoriebeladenheit der Beobachtung wider: Ebenso wenig wie e<strong>in</strong>e Theorie<br />
durch „re<strong>in</strong>e“ Beobachtung bestätigt oder widerlegt werden kann, ist es möglich, e<strong>in</strong>e<br />
theoretische Sprache objektiv auf e<strong>in</strong>e „re<strong>in</strong>e“ Beobachtungssprache zurückzuführen.<br />
Im wissenschaftlichen Kontext existiert ke<strong>in</strong>e „re<strong>in</strong>e“, also nicht theoriebeladene Beobachtungssprache.<br />
Damit entfällt die Differenz zwischen e<strong>in</strong>er theoretischen Sprache, die<br />
Begriffe für nicht ohne e<strong>in</strong>e Theorie beobachtbare Sachverhalte verwendet, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Beobachtungssprache, die sich aus Begriffen für Sachverhalte zusammensetzt, die ohne<br />
e<strong>in</strong>e Theorie beobachtbar wären. Und vor allem ist das dah<strong>in</strong>ter stehende Ziel, durch<br />
Übersetzung den empirischen Gehalt theoretischer Aussagen zu sichern, mith<strong>in</strong> theoretische<br />
Aussagen objektiv an der Erfahrungswelt zu überprüfen, nicht zu erreichen. 12<br />
Gleichwohl s<strong>in</strong>d unterschiedliche theoretische Sprachen möglich. So existieren Sprachen<br />
mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad, formale Sprachen e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> natürliche<br />
Sprachen anderseits. Außerdem s<strong>in</strong>d Sprachen mit unterschiedlichem Genauigkeitsgrad<br />
denkbar. Letztere lassen sich <strong>in</strong> Sprachen unterteilen, die die Wirklichkeit verbal<br />
erfassen, <strong>und</strong> solche, die diese <strong>in</strong> Zahlen abbilden, d. h. messen. Zwischen diesen Sprachen<br />
s<strong>in</strong>d Übersetzungsvorgänge notwendig. E<strong>in</strong>e formale Sprache verlangt die Zuordnung<br />
zwischen den verwandten Symbolen <strong>und</strong> der natürlichen Sprache. Ebenso ist es<br />
notwendig, die im Rahmen e<strong>in</strong>er Theorie verwandten Begriffe e<strong>in</strong>er natürlichen Sprache<br />
zu def<strong>in</strong>ieren. Damit verb<strong>und</strong>en ist regelmäßig die Zuordnung abstrakter Begriffe zu<br />
konkreteren Begriffen. Die Begriffsexplikation ist <strong>in</strong>sbesondere vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />
erforderlich, dass Begriffe <strong>in</strong> verschiedenen Theorien mit unterschiedlichem Begriffs<strong>in</strong>halt<br />
verwandt werden <strong>und</strong> Begriffe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Theorie häufig anders gebraucht werden als<br />
<strong>in</strong> der Umgangssprache. 13<br />
Die hier vorgelegte Methodologie e<strong>in</strong>er erfahrungswissenschaftlichen Aussage versteht<br />
des Weiteren ökonomische Sachverhalte nicht als „historisch bed<strong>in</strong>gte s<strong>in</strong>guläre Entwicklungen“,<br />
„die sich pr<strong>in</strong>zipiell e<strong>in</strong>er systematisch-theoretischen Erklärung entziehen“.<br />
Vielmehr wird angenommen, dass ökonomische Sachverhalte zum<strong>in</strong>dest durch<br />
„Regelmäßigkeiten <strong>und</strong> Struktureigenschaften“ charakterisiert s<strong>in</strong>d. 14 Die Herleitung<br />
e<strong>in</strong>er erfahrungswissenschaftlichen Aussage richtet sich im Folgenden darauf, solche<br />
12<br />
13<br />
14<br />
Siehe zur Entwicklung verschiedener Positionen zur Zurückführbarkeit e<strong>in</strong>er theoretischen Aussage<br />
auf e<strong>in</strong>e Beobachtungsaussage Stegmüller (1989), S. 380-411. Siehe zur Abgrenzung e<strong>in</strong>er<br />
realistischen Bedeutung der Sprache von e<strong>in</strong>em antirealistischen Verständnis, nach dem die Sprache<br />
die Erkenntnis konstituiert, Albert (1996), S. 133-135.<br />
Schneider stellt solche Übersetzungsvorgänge heraus. Es ist aber nicht abschließend ersichtlich, ob<br />
die hier vorgetragene Deutung se<strong>in</strong>er Position entspricht oder ob Schneider nicht vielmehr die<br />
Trennbarkeit von Theorie- <strong>und</strong> Beobachtungssprache für möglich hält. Siehe zu den <strong>in</strong>soweit nicht<br />
e<strong>in</strong>deutigen Ausführungen Schneider (2001), S. 19-25, 492-508.<br />
Siehe zu e<strong>in</strong>er solchen Auffassung Lehmann-Waffenschmidt als Vertreter evolutorischer Ökonomik<br />
(2002), S. 280 f. [dort auch die wörtlichen Zitate].<br />
5<br />
144
Regelmäßigkeiten aufzuzeigen. Regelmäßigkeiten werden hier als e<strong>in</strong>e im Vergleich zu<br />
determ<strong>in</strong>istischen Gesetzen schwächere Kausalbeziehung verstanden. 15 Ökonomische<br />
Regelmäßigkeit impliziert, dass im Unterschied zu determ<strong>in</strong>istischen Gesetzen Ausnahmen<br />
zugelassen s<strong>in</strong>d. Selbst wenn man naiv-realistisch die Auffassung vertreten<br />
würde, e<strong>in</strong> Gesetz könnte durch e<strong>in</strong>zelne Gegenbeispiele widerlegt werden – hiergegen<br />
steht die Theoriebeladenheit der Beobachtung –, träfe e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit diese Konsequenz<br />
nicht. Indem Schneider herausstellt, dass e<strong>in</strong>e Wissenschaft, die Aspekte<br />
menschlichen Handelns untersucht, ke<strong>in</strong>e deduktiv-nomologischen Erklärungen abgeben<br />
kann, sondern nur „schlußfolgerungsfähiges Wissen über glaubwürdige Regelmäßigkeiten“,<br />
16 orientiert sich auch Schneider an der Erforschung von Regelmäßigkeiten.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs ist die von Schneider vorgelegte Konzeption nicht widerspruchsfrei an dieser<br />
Zielsetzung ausgerichtet. Denn Schneiders Ausführungen zur Widerlegung erfahrungswissenschaftlicher<br />
Aussagen deuten darauf h<strong>in</strong>, dass Schneider <strong>in</strong> diesem Kontext die<br />
Widerlegung von Gesetzen <strong>und</strong> nicht die von Regelmäßigkeiten vor Augen hat. 17<br />
Wenn man e<strong>in</strong>e Methodologie zur Herleitung e<strong>in</strong>er erfahrungswissenschaftlichen Aussage<br />
an der Erarbeitung von Regelmäßigkeiten orientiert, stellt sich die Frage, welche<br />
ökonomischen Regelmäßigkeiten überhaupt erforscht werden können. Hier wird <strong>in</strong> Anlehnung<br />
an Friedrich A. von Hayek bezweifelt, dass sich Regelmäßigkeiten <strong>in</strong> Bezug<br />
auf konkretes Handeln von Wirtschaftssubjekten <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuellen Situationen feststellen<br />
lassen. 18 Wirtschaftliches Handeln vollzieht sich <strong>in</strong> sozialen <strong>und</strong> damit komplexen<br />
Systemen <strong>und</strong> hängt demzufolge von zahlreichen unterschiedlichen, nicht vone<strong>in</strong>ander<br />
zu isolierenden E<strong>in</strong>flüssen ab. Jede Aussage, die zwischen e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>fluss oder<br />
mehreren ausgewählten, aber notwendigerweise begrenzten Faktoren <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em<br />
bestimmten Handeln e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit behauptet, lässt andere Faktoren unberücksichtigt.<br />
In komplexen Situationen können aber gerade diese außer Acht gelassenen<br />
Faktoren das Ergebnis herbeigeführt haben.<br />
Demzufolge wird man – von wenigen Ausnahmen abgesehen – den konkreten E<strong>in</strong>fluss<br />
der Besteuerung auf das konkrete Handeln von Wirtschaftssubjekten nicht als Regelmäßigkeit<br />
erfassen können. Damit ist aber überaus fraglich, ob die Zielsetzung der Betriebswirtschaftlichen<br />
Steuerlehre, Zusammenhänge zwischen der Besteuerung <strong>und</strong> ihrem<br />
E<strong>in</strong>fluss auf die E<strong>in</strong>kommenserzielung von Steuerpflichtigen – so genannte Steuerwirkungen<br />
– aufzuzeigen, überhaupt erreicht werden kann. Dabei wird nicht bereits die<br />
an e<strong>in</strong>en wirtschaftlichen Sachverhalt anknüpfende Steuerzahlung als Steuerwirkung<br />
15<br />
16<br />
17<br />
18<br />
Da nicht vorausgesetzt (aber auch nicht generell ausgeschlossen) wird, dass Regelmäßigkeiten auf<br />
Wahrsche<strong>in</strong>lichkeitsaussagen beruhen, stellen hier betrachtete Regelmäßigkeiten auch im Vergleich<br />
zu statistischen Gesetzen e<strong>in</strong>e schwächere Kausalbeziehung dar.<br />
Schneider (2001), S. 490.<br />
Siehe Schneider (2001), S. 1023, <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit S. 501-503.<br />
Siehe von Hayek (1972), <strong>in</strong>sbesondere S. 15-29.<br />
6<br />
145
qualifiziert. E<strong>in</strong>e Steuerwirkung liegt erst vor, wenn die Besteuerung die ökonomische<br />
Entscheidung e<strong>in</strong>es Steuerpflichtigen verändert, der Steuerpflichtige e<strong>in</strong>e andere Entscheidung<br />
trifft, als er dies ohne Besteuerung oder unter e<strong>in</strong>er anderen Form der Besteuerung<br />
tun würde. 19<br />
So würde die Aussage: „Wenn die Besteuerung OHG- <strong>und</strong> GmbH-Gesellschaftern steuerliche<br />
Verluste <strong>in</strong> gleicher Weise, d. h. ohne deren unterschiedliche Haftung zu beachten,<br />
zurechnet, wählen rational handelnde Wirtschaftssubjekte die GmbH, während sie<br />
bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Haftung <strong>in</strong> der steuerlichen Verlustzurechnung<br />
die OHG wählen würden“, zahlreiche solcher E<strong>in</strong>flussfaktoren vernachlässigen.<br />
Zu diesen gehört beispielsweise, dass rational handelnde Wirtschaftssubjekte neben unterschiedlichen<br />
Formen der Haftung unter Umständen auch andere Rechtsformunterschiede<br />
<strong>in</strong>s Kalkül ziehen: so etwa die mit der Haftung eng verb<strong>und</strong>ene Verpflichtung<br />
zur Kapitalaufbr<strong>in</strong>gung, Möglichkeiten zur Fremdorganschaft, Publizitätspflichten, die<br />
Besteuerung von Gew<strong>in</strong>nen sowie aperiodische Besteuerungssachverhalte, deren Ausprägungen<br />
wiederum von zahlreichen Umweltfaktoren abhängen. Wenn also e<strong>in</strong>e Besteuerungsregelung<br />
wie die <strong>in</strong> der „Wenn-Komponente“ beschriebene existent wäre <strong>und</strong><br />
auch die Konsequenz, mith<strong>in</strong> die „dann-Komponente“, beobachtbar wäre, bestätigt<br />
diese zwar vordergründig die vorläufige Wahrheit der Hypothese. Die Wahl der GmbH<br />
könnte jedoch ebenso durch e<strong>in</strong>en oder mehrere andere E<strong>in</strong>flussfaktoren sowie durch<br />
deren Zusammenwirken verursacht se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>er Überprüfung des konkreten E<strong>in</strong>flusses<br />
e<strong>in</strong>er Besteuerungsregel auf das konkrete Handeln steht jedoch entgegen, dass sich die<br />
Vielzahl der e<strong>in</strong>zelnen möglichen E<strong>in</strong>flüsse nicht vone<strong>in</strong>ander isoliert beobachten lässt:<br />
Insbesondere ist es nicht möglich, e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelne Besteuerungsregel zu variieren <strong>und</strong><br />
sämtliche anderen denkmöglichen E<strong>in</strong>flussfaktoren konstant zu halten. 20<br />
Den konkreten E<strong>in</strong>fluss der Besteuerung auf das konkrete Handeln von Wirtschaftssubjekten<br />
wird man, von wenigen Ausnahmefällen abgesehen, nicht <strong>in</strong> gleicher Weise erfassen<br />
können, wie den Kausalzusammenhang zwischen e<strong>in</strong>em Gewicht <strong>und</strong> dem<br />
Zerreißen e<strong>in</strong>es Fadens. Dieses Zerreißen lässt sich aus dem allgeme<strong>in</strong>en Satz: „Jedesmal,<br />
wenn e<strong>in</strong> Faden mit e<strong>in</strong>er Last von e<strong>in</strong>er gewissen M<strong>in</strong>destgröße belastet wird, zerreißt<br />
er“ <strong>und</strong> den besonderen Sätzen: „Für diesen Faden hier beträgt diese Größe 1 kg“<br />
sowie: „Das an diesem Faden angehängte Gewicht ist e<strong>in</strong> 2-kg-Gewicht“, deduzieren. 21<br />
19<br />
20<br />
21<br />
Siehe zu diesem Verständnis von Steuerwirkungen Schneider (2002), S. 19-24, König/Wosnitza<br />
(2004), S. 1-6, Wagner (2004), S. 239-245, Schreiber (2005), S. 493 f.<br />
E<strong>in</strong>e weitere Schwierigkeit resultiert daraus, dass unter der Annahme „echter“ Unsicherheit nicht<br />
„objektiv“ bestimmt werden kann, welches Verhalten rational wäre. Siehe zu dieser Rationalitätsproblematik<br />
Kirchner (1997), S. 13-18, Schneider (2001), S. 397-402. Siehe zur Komplexitätsproblematik<br />
ausführlich, e<strong>in</strong>schließlich e<strong>in</strong>er kritischen Betrachtung der hier nicht thematisierten<br />
Ceteris-paribus-Annahme, Bretzke (1980), S. 159-186.<br />
Siehe Popper (1994), S. 31 f. [dort auch die wörtlichen Zitate, im Orig<strong>in</strong>al teilweise<br />
hervorgehoben]. Allerd<strong>in</strong>gs hat Popper das auch nicht für die Sozialwissenschaften behauptet, wie<br />
7<br />
146
Im Unterschied zu diesem Zusammenhang, der <strong>in</strong> der Diktion von Hayeks e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches<br />
Phänomen beschreibt, gehört der konkrete E<strong>in</strong>fluss der Besteuerung auf ökonomisches<br />
Handeln <strong>in</strong> konkreten Situationen zu dem Bereich komplexer Phänomene. 22<br />
„E<strong>in</strong>es der wichtigsten der bisher durch theoretische Arbeit auf diesem Gebiet [geme<strong>in</strong>t<br />
ist die Erklärung geistiger <strong>und</strong> gesellschaftlicher Phänomene, Anmerkung der Verfasser<strong>in</strong>]<br />
erreichten Ergebnisse“, so konstatiert von Hayek, „sche<strong>in</strong>t mir der Nachweis zu<br />
se<strong>in</strong>, daß hier die konkreten Umstände, von denen die <strong>in</strong>dividuellen Ereignisse abhängen,<br />
<strong>in</strong> der Regel so zahlreich s<strong>in</strong>d, daß wir sie praktisch nie alle ermitteln können <strong>und</strong><br />
daß folglich nicht nur das Ideal ‚Voraussage <strong>und</strong> Kontrolle‘ weitgehend unerreichbar<br />
ist, sondern auch die Hoffnung, wir könnten durch Beobachtungen regelmäßige Beziehungen<br />
zwischen den <strong>in</strong>dividuellen Ereignissen entdecken, illusorisch bleibt.“ „Aus<br />
diesem Gr<strong>und</strong>e ist die ökonomische Theorie auf die Beschreibung der Arten von Mustern<br />
beschränkt, die auftreten, wenn gewisse allgeme<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gungen erfüllt s<strong>in</strong>d, aber<br />
aus diesem Wissen kann sie kaum, wenn überhaupt, irgendwelche Voraussagen über <strong>in</strong>dividuelle<br />
Phänomene ableiten.“ „E<strong>in</strong>e Theorie def<strong>in</strong>iert immer nur e<strong>in</strong>e Art (oder<br />
Klasse) von Mustern, <strong>und</strong> die <strong>in</strong>dividuelle Ersche<strong>in</strong>ungsform des zu erwartenden<br />
Musters hängt von den <strong>in</strong>dividuellen Umständen ab“ 23 .<br />
22<br />
23<br />
Trotz dieser e<strong>in</strong>leuchtenden Ausführungen bereitet es Schwierigkeiten, den von von<br />
Hayek verwandten Begriff des Musters auf betriebswirtschaftliche Sachverhalte zu<br />
applizieren. Denn von Hayeks Erläuterungen zu Muster-Hypothesen <strong>in</strong> der ökonomischen<br />
Theorie bleiben außerordentlich vage. Von Hayek versteht die allgeme<strong>in</strong>e Gleichgewichtstheorie,<br />
so wie sie von Léon Walras aufgestellt wurde, als e<strong>in</strong> solches Muster,<br />
um „die allgeme<strong>in</strong>en Beziehungen zwischen den Preisen <strong>und</strong> den Mengen aller gekauften<br />
<strong>und</strong> verkauften Güter darzustellen“. Von Hayek betont weiter, dass die simultanen<br />
Gleichungssyteme so gefasst s<strong>in</strong>d, dass „wir die Preise <strong>und</strong> Mengen aller Güter ausrechnen<br />
könnten, ... wenn wir alle Parameter dieser Gleichungen kennen würden“, allerd<strong>in</strong>gs<br />
handele es sich hierbei um e<strong>in</strong>e völlig abwegige Annahme. „Die Voraussage, daß sich<br />
e<strong>in</strong> Muster dieser allgeme<strong>in</strong>en Art herausbildet, beruht auf gewissen sehr allgeme<strong>in</strong>en<br />
Annahmen über Tatsachen (beispielsweise, daß die meisten Leute sich beruflich betätigen,<br />
um e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>kommen zu erlangen; daß sie e<strong>in</strong> größeres E<strong>in</strong>kommen e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>eren<br />
E<strong>in</strong>kommen vorziehen; daß sie an e<strong>in</strong>em freien Zugang zu den Märkten nicht geh<strong>in</strong>dert<br />
werden ...); sie ist jedoch nicht von der Kenntnis der spezielleren Umstände abhängig,<br />
die uns bekannt se<strong>in</strong> müßten, um Preise <strong>und</strong> Mengen bestimmter Güter vorauszusa<strong>in</strong>sbesondere<br />
se<strong>in</strong>e Ausführungen zur Situationslogik belegen, siehe Popper (1962), S. 120 f.,<br />
Popper (1967), <strong>in</strong>sbesondere S. 354, 356, die Popper jedoch im Zeitablauf erheblich verändert hat,<br />
siehe hierzu Böhm (2002).<br />
Siehe von Hayek (1972), S. 12-15.<br />
Von Hayek (1972), S. 25 [erstes Zitat], S. 27 [zweites Zitat], S. 10 [drittes Zitat].<br />
8<br />
147
gen.“ 24 Von Hayek sche<strong>in</strong>t damit zum Ausdruck br<strong>in</strong>gen zu wollen, dass diese allgeme<strong>in</strong>en<br />
Tatsachen das Muster e<strong>in</strong>es allgeme<strong>in</strong>en Preismechanismus kennzeichnen. 25<br />
Wenn im Folgenden die Idee des Musters aufgegriffen wird, kann nicht mit Sicherheit<br />
gesagt werden, dass diese Verwendung mit der von Hayeks übere<strong>in</strong>stimmt. 26<br />
Die Aussage: „Wenn die Besteuerung OHG- <strong>und</strong> GmbH-Gesellschaftern steuerliche<br />
Verluste <strong>in</strong> gleicher Weise, d. h. ohne deren unterschiedliche Haftung zu beachten, zurechnet,<br />
wählen rational handelnde Wirtschaftssubjekte die GmbH, während sie bei Berücksichtigung<br />
der unterschiedlichen Haftung <strong>in</strong> der steuerlichen Verlustzurechnung die<br />
OHG wählen würden“, kann man <strong>in</strong> das folgende abstrakte Muster e<strong>in</strong>ordnen: Wenn <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er Welt mit „echter“ Unsicherheit Haftungsrisiken vorliegen, bee<strong>in</strong>flussen diese<br />
nicht nur die Renditeforderung von Wirtschaftssubjekten – <strong>in</strong> diesem Fall gäbe es<br />
ke<strong>in</strong>en Gr<strong>und</strong> für e<strong>in</strong>e differenzierte Verlustbesteuerung. Wenn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt mit<br />
„echter“ Unsicherheit Haftungsrisiken vorliegen, haben Haftungsrisiken <strong>in</strong>nerhalb ökonomischer<br />
Entscheidungen e<strong>in</strong>e darüber h<strong>in</strong>ausgehende „eigenständige“ Bedeutung. Implizit<br />
vertritt Schneider e<strong>in</strong>e solche Muster-Hypothese, wenn er ausführt, das den<br />
„Problemkreis ‚Besteuerung <strong>und</strong> F<strong>in</strong>anzierung Kennzeichnende‘ s<strong>in</strong>d nicht ... die Rentabilitätswirkungen,<br />
sondern die Liquiditäts- <strong>und</strong> Risikowirkungen der Besteuerung“ 27 .<br />
Denn das setzt voraus, dass Liquidität <strong>und</strong> Risiko eigenständige Entscheidungskomponenten<br />
darstellen.<br />
E<strong>in</strong>e solche Muster-Hypothese umfasst verschiedene „Wenn-Komponenten“, beispielsweise<br />
unterschiedliche Formen zivilrechtlicher Haftungsrisiken. Ebenso impliziert sie<br />
auch unterschiedliche „dann-Komponenten“, <strong>in</strong>sbesondere unterschiedliche Situationen,<br />
24<br />
25<br />
26<br />
27<br />
Von Hayek (1972), S. 27 [alle Zitate, Hervorhebung im Orig<strong>in</strong>al]. Siehe auch bereits von Hayek<br />
(1962), S. 10-14.<br />
Dah<strong>in</strong>ter steht vermutlich die von von Hayek vorgetragene, aber umstrittene Position, dass zwar e<strong>in</strong><br />
Gleichgewicht im S<strong>in</strong>ne der allgeme<strong>in</strong>en Gleichgewichtstheorie nicht erreichbar sei, gleichwohl<br />
e<strong>in</strong>e Tendenz zum Gleichgewicht bestehe. Siehe hierzu von Hayek (1967a), S. 166-170, <strong>und</strong> kritisch<br />
Schneider (2001), S. 452-467, Tietzel (1985), S. 132-137.<br />
Sie stimmt aber mit den allgeme<strong>in</strong>en Ausführungen von Hayeks zum Muster übere<strong>in</strong>, siehe von<br />
Hayek (1972), S. 10 f., <strong>und</strong> kommt darüber h<strong>in</strong>aus der Deutung von Muster-Hypothesen nahe, die<br />
Bretzke – ebenfalls <strong>in</strong> Anlehnung an von Hayek – vorlegt, siehe Bretzke (1980), S. 178-186.<br />
Schneider (2002), S. 175 [im Orig<strong>in</strong>al teilweise hervorgehoben]. Von der Frage, welche<br />
Regelmäßigkeiten erforscht werden könnten, ist die Frage danach abzugrenzen, warum solche Regelmäßigkeiten<br />
auftreten. Hier wird vermutet, dass Wirtschaftssubjekte vergleichbaren Problemen<br />
mit vergleichbaren Verhaltensweisen zu begegnen versuchen, wobei dies den Wirtschaftssubjekten<br />
nicht unbed<strong>in</strong>gt bewusst se<strong>in</strong> muss. Siehe zur dah<strong>in</strong>ter stehenden Problematik von Unsichtbare-<br />
Hand-Erklärungen sowie der Gegenüberstellung der Herausbildung e<strong>in</strong>er spontanen Ordnung im<br />
Gegensatz zu Ergebnissen menschlichen Entwurfs von Hayek (1967b), <strong>in</strong>sbesondere S. 100-102,<br />
<strong>und</strong> Schneider (2001), S. 464. In ke<strong>in</strong>em Fall sollen die Überlegungen zur Regelmäßigkeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
essentialistischen S<strong>in</strong>ne so verstanden werden, dass bestimmten Abläufen oder Gegenständen e<strong>in</strong><br />
Wesen <strong>in</strong>newohnt, das es zu entdecken gilt.<br />
9<br />
148
die als Ausdruck des E<strong>in</strong>bezugs eigenständiger Risikowirkungen <strong>in</strong> ökonomische Entscheidungen<br />
verstanden werden können. Hierzu zählen auch entsprechende Steuerausweichhandlungen.<br />
Die Hypothese über e<strong>in</strong> solches Muster lässt im Gegensatz zur Hypothese<br />
über konkrete Sachverhalte zahlreiche unterschiedliche konkrete Sachverhalte<br />
als Ausprägungen dieses Musters zu. Dies hat jedoch unweigerlich zur Konsequenz,<br />
dass die Muster-Hypothese im H<strong>in</strong>blick auf ihren Behauptungsgehalt <strong>und</strong> – wie sich <strong>in</strong><br />
Kapitel 3 zeigen wird – ebenso im H<strong>in</strong>blick auf ihren Geltungsbereich vage ist. 28<br />
3 Entwurf e<strong>in</strong>er Methodologie zur Herleitung von Muster-Hypothesen<br />
Den Ausgangspunkt für die im Folgenden vorgetragene Methodologie zur Herleitung<br />
von Muster-Hypothesen bildet die Konzeption e<strong>in</strong>er „erklärenden“ Theorie im S<strong>in</strong>ne<br />
Schneiders. 29 Das methodologische Konzept Schneiders wurde von dem von Joseph<br />
D. Sneed <strong>und</strong> Wolfgang Stegmüller begründeten Strukturalismus bee<strong>in</strong>flusst. Da<br />
Schneider aber selbst hervorhebt, es handele sich bei se<strong>in</strong>em Konzept um e<strong>in</strong>en „vere<strong>in</strong>fachten<br />
Eigenbau[-s]“ 30 besteht des Weiteren weder die Intention, die Unterschiede<br />
zum Strukturalismus herauszustellen, noch die Absicht, dessen Vorteilhaftigkeit zu diskutieren.<br />
31 Zur Vermeidung von Missverständnissen wird jedoch, um die Abgrenzung<br />
zum Strukturalismus zu unterstreichen, auf e<strong>in</strong>e „strukturalistische Term<strong>in</strong>ologie“,<br />
konkret auf die Begriffe „Struktur e<strong>in</strong>er Theorie“ <strong>und</strong> „Strukturkern“ verzichtet.<br />
Die hier vorgelegte Methodologie zur Herleitung e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Aussage<br />
übernimmt gr<strong>und</strong>legend den von Schneider vorgetragenen Aufbau, der sich sehr vere<strong>in</strong>facht<br />
folgendermaßen beschreiben lässt: 32 Auf e<strong>in</strong>e Frage, die sich beim Nachdenken<br />
über die Wirklichkeit ergibt <strong>und</strong> die zusammen mit e<strong>in</strong>er Lösungsidee die Problemstellung<br />
(das erste Theorieelement) bildet, wird e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Antwort gegeben, d. h. e<strong>in</strong>e<br />
Hypothese (das vierte Theorieelement) formuliert. 33 Schneider veranschaulicht se<strong>in</strong>e<br />
28<br />
29<br />
30<br />
31<br />
32<br />
33<br />
Siehe von Hayek (1972), S. 17 f., 27 f., Bretzke (1980), S. 184-186.<br />
Die von Schneider vorgenommene darüber h<strong>in</strong>aus gehende Differenzierung zwischen erklärenden,<br />
gestaltenden <strong>und</strong> metrisierenden Theorien – siehe Schneider (1995), S. 117-119 – wird nicht<br />
thematisiert. Siehe ablehnend zu dieser Differenzierung Küttner (1987), S. 256, Bre<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ger-<br />
O‘Reilly (1991), S. 146.<br />
Schneider (2001), S. 405.<br />
Siehe hierzu Bre<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ger-O‘Reilly (1991), <strong>in</strong>sbesondere S. 274-286.<br />
Siehe zu dieser Konzeption Schneider (2001), S. 13-25, 490-508, 1019-1036<br />
Die <strong>in</strong>haltlich formulierte Hypothese bildet (neben anderem) e<strong>in</strong>en wesentlichen Unterschied zum<br />
Strukturalismus. Demzufolge verzichtet Bre<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ger-O‘Reilly (1991), S. 139, 142-145, der die Konzeption<br />
Schneiders <strong>in</strong> strukturalistischer Perspektive deutet, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Interpretation auf e<strong>in</strong>e solche<br />
Hypothese <strong>und</strong> beschränkt sich auf e<strong>in</strong>e Anwendungsbehauptung. Die Anwendungsbehauptung besagt,<br />
dass weitere Anwendungsfälle des Strukturkerns, der im Folgenden expliziert wird, existieren.<br />
10<br />
149
Konzeption anhand der Frage: „Wie läßt sich erklären, daß e<strong>in</strong> Unternehmer, der nur<br />
e<strong>in</strong>e Produktart erzeugt, se<strong>in</strong>en Absatzpreis so <strong>und</strong> nicht anders festsetzt?“<br />
Nach Schneider wird die Antwort auf die empirische Frage mit Hilfe e<strong>in</strong>es Modells, das<br />
im Wesentlichen dem Strukturkern (dem zweiten Theorieelement) entspricht, erarbeitet.<br />
Das Modellergebnis lautet bei Schneider: „Der Gew<strong>in</strong>n ist bei jenem Absatzpreis maximal,<br />
bei dem der mit alternativ wachsender Absatzmenge stetig fallende zusätzliche<br />
Umsatz je Absatze<strong>in</strong>heit (Grenzerlös) den nicht fallenden (also gleichbleibenden oder<br />
steigenden) zusätzlichen Kosten je Absatz- = Produktionse<strong>in</strong>heit (Grenzkosten) entspricht“<br />
34 . Dieses Modellergebnis hat jedoch nur den Charakter e<strong>in</strong>er vorläufigen Antwort<br />
auf die Fragestellung. Sie steht unter dem Vorbehalt, dass sich das Modellergebnis<br />
<strong>in</strong> Erfahrungssachverhalten, den Musterbeispielen (drittes Theorieelement), wiederf<strong>in</strong>den<br />
lässt. Diese Musterbeispiele s<strong>in</strong>d im Verhältnis zum Modell konkreter: Während<br />
sich das Modell auf typisierte Unternehmer bezieht, erstrecken sich Musterbeispiele auf<br />
e<strong>in</strong>zelne Unternehmer der Erfahrungswelt. 35 Es bedarf also der Bestätigung durch e<strong>in</strong>zelne<br />
Erfahrungssachverhalte, dass das Modell Erfahrungssachverhalte zwar vere<strong>in</strong>facht<br />
abbildet, es sich aber gleichwohl um e<strong>in</strong>e Abbildung der Wirklichkeit handelt. Untermauern<br />
diese konkreteren Erfahrungssachverhalte das Modellergebnis, bilden sie als<br />
modellgestützte Musterbeispiele die Gr<strong>und</strong>lage für die Verallgeme<strong>in</strong>erung zur Hypothese.<br />
Die Problematik dieser Vorgehensweise liegt <strong>in</strong> dem Auff<strong>in</strong>den von Musterbeispielen.<br />
Nach der Konzeption Schneiders müsste es sich bei der Beobachtung von Erfahrungssachverhalten<br />
geradezu aufdrängen, dass diese Anwendungsfälle des Modellergebnisses<br />
s<strong>in</strong>d. Das wird aber, wenn überhaupt, nur <strong>in</strong> sehr konkreten, isolierten Situationen der<br />
Fall se<strong>in</strong>. Für solche Situationen wird jedoch nach der hier vertretenen Auffassung bezweifelt,<br />
dass sich für sie ökonomische Regelmäßigkeiten erarbeiten lassen. Gestützt<br />
wird diese Auffassung im Übrigen auch durch die weiteren Ausführungen Schneiders.<br />
Denn diese zeigen, dass es sich <strong>in</strong> dem Beispielsfall, der der Veranschaulichung der<br />
Schneiderschen Konzeption zugr<strong>und</strong>e liegt, nicht um e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit handelt. 36<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus bereitet selbst für konkrete Situationen das Auff<strong>in</strong>den von Musterbeispielen<br />
Schwierigkeiten. So wählt denn auch Schneider für die Explikation se<strong>in</strong>er Theorie<br />
e<strong>in</strong> konstruiertes Beispiel. 37<br />
Gleichwohl ist die hier im Folgenden vorgenommene Modifikation des Theorieaufbaus<br />
von Schneider weniger dar<strong>in</strong> begründet, dass das Auff<strong>in</strong>den von Musterbeispielen die<br />
34<br />
35<br />
36<br />
37<br />
Schneider (1995), S. 176 f. [beide Zitate].<br />
Siehe zu dieser Interpretation auch Küttner (1984), S. 146.<br />
Siehe Schneider (1995), S. 179, Schneider (2001), S. 500-503.<br />
Siehe dazu kritisch Küttner (1984), S. 147. Siehe h<strong>in</strong>gegen zur Zulässigkeit konstruierter Musterbeispiele<br />
Schneider (1995), S. 179.<br />
11<br />
150
„Achillesferse“ se<strong>in</strong>er Konzeption bildet. Anlass für die Modifizierung ist vielmehr die<br />
Schwierigkeit, diese Konzeption auf das Erarbeiten von abstrakten, d. h. von nicht auf<br />
das konkrete Handeln von Wirtschaftssubjekten <strong>in</strong> konkreten Situationen bezogenen,<br />
Regelmäßigkeiten <strong>in</strong> der Form von Muster-Hypothesen zu übertragen. Wendet man die<br />
von Schneider vertretene Methodologie auf das Erforschen solcher Regelmäßigkeiten<br />
an, müsste für e<strong>in</strong>e komplexe Problemstellung, die entsprechend der Problemstellung<br />
Schneiders aus e<strong>in</strong>er Frage <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Lösungsidee besteht (erstes Theorieelement), e<strong>in</strong><br />
Modell formuliert werden. Legt man beispielsweise die Frage: „Welcher Zweck lässt<br />
sich Institutionen zuordnen?“ zugr<strong>und</strong>e, erfordert das Erarbeiten e<strong>in</strong>er Muster-Hypothese<br />
die Betrachtung e<strong>in</strong>zelner Erfahrungssachverhalte, die unter den – zuvor zu explizierenden<br />
– Begriff der Institution zu subsumieren s<strong>in</strong>d. Hier wird der Begriffsexplikation<br />
Schneiders gefolgt, der unter Institutionen Regel- <strong>und</strong> Handlungssysteme versteht.<br />
38<br />
Für diese e<strong>in</strong>zelnen Erfahrungssachverhalte ist die <strong>in</strong> der Problemstellung aufgeworfene<br />
Frage zu beantworten. Aufgr<strong>und</strong> deren Komplexität ist die Erarbeitung e<strong>in</strong>es Modells<br />
für alle Institutionen, für das konkrete Erfahrungssachverhalte, konkrete Institutionen,<br />
als Musterbeispiele anzuführen wären, gr<strong>und</strong>sätzlich nicht möglich. Vielmehr ist es notwendig,<br />
für jeden dieser im Verhältnis zur Frage konkreteren Erfahrungssachverhalte<br />
e<strong>in</strong> Modell zu formulieren. Die Frage: „Welcher Zweck lässt sich Institutionen zuordnen?“<br />
wäre für e<strong>in</strong>zelne Institutionen zu beantworten. Lassen die mit Hilfe von Modellen<br />
erarbeiteten Antworten für e<strong>in</strong>zelne Erfahrungssachverhalte (Modellergebnisse) e<strong>in</strong>e<br />
Regelmäßigkeit vermuten, bilden diese Erfahrungssachverhalte die Gr<strong>und</strong>lage für die<br />
Muster-Hypothese <strong>und</strong> damit für die Beantwortung der Frage. Aus jeweils auf die e<strong>in</strong>zelnen<br />
Erfahrungssachverhalte (die e<strong>in</strong>zelnen Institutionen) bezogenen Antworten, den<br />
Modellergebnissen, wird die allgeme<strong>in</strong>ere Antwort auf die Fragestellung, die Muster-<br />
Hypothese, <strong>in</strong>duktiv hergeleitet. 39 Die Erfahrungssachverhalte s<strong>in</strong>d Musterbeispiele<br />
(drittes Theorieelement) <strong>und</strong> damit richtungsweisend für e<strong>in</strong>e abstrakte Muster-Hypothese<br />
(viertes Theorieelement).<br />
Es sei angenommen, das Modellergebnis <strong>und</strong> damit die Antwort auf die Frage: „Welcher<br />
Zweck lässt sich Institutionen zuordnen?“ hieße <strong>in</strong> Bezug auf die Institution „Insolvenztatbestand<br />
Überschuldung“: „Überschuldung dient der Verr<strong>in</strong>gerung von E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten,<br />
die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Gläubiger-Schuldner-Beziehung aus<br />
e<strong>in</strong>er vermögenslosen Zahlungsunfähigkeit resultieren“. 40 Weiter sei unterstellt, auch<br />
für andere Institutionen ergäbe die Modellbildung, ihr Zweck bestünde <strong>in</strong> der Verr<strong>in</strong>ge-<br />
38<br />
39<br />
40<br />
Siehe Schneider (1995), S. 23, siehe kritisch zu diesem Institutionenverständnis Haase (2000),<br />
S. 148-154.<br />
Dabei handelt es sich um e<strong>in</strong>en paradigmatischen Schluss, bei dem von e<strong>in</strong>em Beispiel auf ähnliche<br />
neue E<strong>in</strong>zelfälle geschlossen wird, siehe hierzu Gethmann (1995), S. 33.<br />
Siehe hierzu Zisowski (2001), S. 46-48.<br />
12<br />
151
ung spezifischer E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten. Beispielsweise besteht nach Schneider<br />
der Zweck der Institution „Haftungsbegrenzung“ dar<strong>in</strong>, die Bereitschaft zur Übernahme<br />
der Unternehmensleitung zu fördern. Damit verb<strong>und</strong>en wäre die Übernahme der mit<br />
dem Ausüben der Geschäftsführung <strong>und</strong> Vertretung e<strong>in</strong>hergehenden E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten.<br />
Mit der Übertragung der Unternehmensleitung entstehen neue E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten,<br />
die wiederum das Vorhandense<strong>in</strong> anderer Institutionen, <strong>in</strong>sbesondere<br />
solcher zur Rechnungslegung, erklären. Die Erfahrungssachverhalte wären Musterbeispiele<br />
für e<strong>in</strong> Muster, das <strong>in</strong> der Muster-Hypothese: „Institutionen dienen der Verr<strong>in</strong>gerung<br />
von E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten“ zum Ausdruck kommt. 41<br />
Anders als bei Schneider besteht die Problemlösung (zweites Element, nach Schneider<br />
der Strukturkern) nicht aus e<strong>in</strong>em Modell bezogen auf die Fragestellung. Sie ist vielmehr<br />
e<strong>in</strong>e offene Menge von Modellen, deren Ergebnisse erstens die Frage der Problemstellung<br />
für e<strong>in</strong>zelne Erfahrungssachverhalte, auf die sich die Problemstellung bezieht,<br />
beantworten <strong>und</strong> deren Ergebnisse zweitens e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit vermuten lassen.<br />
Wie viele solcher Modellergebnisse vorliegen müssen, damit von e<strong>in</strong>er Regelmäßigkeit<br />
gesprochen werden kann, kann nicht generell beantwortet werden. Vielmehr ist <strong>in</strong> Relation<br />
zu der jeweiligen Problemstellung zu begründen, warum nach der Auffassung des<br />
betreffenden Wissenschaftlers e<strong>in</strong>e bestimmte Anzahl von Modellergebnissen als ausreichend<br />
angesehen wird.<br />
Als Zwischenfazit kann somit festgehalten werden, dass e<strong>in</strong>e Muster-Hypothese die <strong>in</strong>haltlich<br />
formulierte Antwort auf e<strong>in</strong>e Problemstellung darstellt. Die Problemstellung<br />
besteht aus e<strong>in</strong>er Frage nach e<strong>in</strong>er ökonomischen Regelmäßigkeit sowie e<strong>in</strong>er Lösungsidee.<br />
Die Problemlösung setzt sich aus den Modellen von Erfahrungssachverhalten zusammen,<br />
soweit diese <strong>in</strong> den Anwendungsbereich der Problemstellung fallen <strong>und</strong> soweit<br />
deren Modellergebnisse auf e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit h<strong>in</strong>weisen. Die Muster-Hypothese<br />
verallgeme<strong>in</strong>ert diese Regelmäßigkeit. Denn die Muster-Hypothese basiert auf der Behauptung,<br />
dass die Regelmäßigkeit nicht nur für diese Erfahrungssachverhalte (Musterbeispiele),<br />
sondern darüber h<strong>in</strong>aus für zahlreiche Anwendungsfälle der Problemstellung<br />
gilt.<br />
In der Perspektive des von Schneider vertretenen Modellverständnisses drängt sich jedoch<br />
die Frage auf, <strong>in</strong>wieweit Modellergebnisse als Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e Hypothese –<br />
41<br />
Es besteht nicht die Intention, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Theorie zu formulieren, sondern den abstrakten Aufbau<br />
anhand e<strong>in</strong>es betriebswirtschaftlichen Beispiels zu explizieren. Dieses Beispiel wurde gewählt,<br />
weil Schneider implizit e<strong>in</strong>e solche Muster-Hypothese aufstellt. Denn nach Schneider (1997), S. 47,<br />
bezwecken Institutionen „e<strong>in</strong>e bessere Vorhersehbarkeit, also e<strong>in</strong>e Verr<strong>in</strong>gerung von Unsicherheitsursachen<br />
bei ungleich verteiltem unvollständigen Wissen“. Siehe zur Institution „Haftungsbegrenzung“<br />
Schneider (1997), S. 523-528, sowie zur Institution „Rechnungslegung“ Schneider (1995),<br />
S. 23 <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit S. 54. Auch wenn es nicht um e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Überprüfung geht, sei darauf<br />
h<strong>in</strong>gewiesen, dass mit dieser Muster-Hypothese nicht behauptet wird, dass Institutionen genau zu<br />
diesem Zweck auch tatsächlich gegründet wurden, siehe noch e<strong>in</strong>mal Fußnote 27.<br />
13<br />
152
<strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>e Aussage über die Wirklichkeit – geeignet s<strong>in</strong>d. Denn Schneider stellt<br />
heraus, Modellergebnisse seien logisch aus den Prämissen erzwungen (logisch wahr)<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e solche Aussage „unterrichtet unter ihren Voraussetzungen nicht über die<br />
Wirklichkeit, weil das Gegenteil e<strong>in</strong> Widerspruch wäre“ 42 . H<strong>in</strong>sichtlich des Modellbegriffs<br />
wird gr<strong>und</strong>sätzlich dem von Schneider vertretenen erfahrungswissenschaftlichen<br />
Modellverständnis gefolgt. Modelle stellen e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>fachtes Abbild der Wirklichkeit<br />
dar. 43 Der von Schneider verwandte <strong>und</strong> hier übernommene Modellbegriff ist heterogen.<br />
Er umfasst sowohl formale Modelle – <strong>und</strong> <strong>in</strong>soweit auch vollständig axiomatisierte<br />
Modelle als deren Teilmenge – als auch verbale Modelle. 44 Fraglich ist jedoch, welche<br />
Modellergebnisse logisch aus den Prämissen erzwungen werden <strong>und</strong> warum e<strong>in</strong>e solche<br />
Aussage nicht über die Wirklichkeit unterrichtet. Schneiders Ausführungen s<strong>in</strong>d sowohl<br />
im H<strong>in</strong>blick auf das Attribut „logisch wahr“ als auch auf den Modellbegriff, der mit<br />
diesem Attribut beschrieben wird, nicht e<strong>in</strong>heitlich: Wenn Schneider <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />
Ausführungen zur logischen Wahrheit auf e<strong>in</strong>e Tautologie im S<strong>in</strong>ne Wittgenste<strong>in</strong>s<br />
rekurriert, 45 ist zu vermuten, dass er sich auf vollständig axiomatisierte Modelle<br />
beschränkt. Hierfür spricht auch, dass Schneider an anderer Stelle hervorhebt, <strong>in</strong> der<br />
Betriebswirtschaftslehre existierten nur wenige vollständige Axiomatisierungen, die e<strong>in</strong><br />
Modellergebnis logisch erzw<strong>in</strong>gen würden. 46 In diesem S<strong>in</strong>ne logisch wahr s<strong>in</strong>d nach<br />
Schneider nur die allgeme<strong>in</strong>e Gleichgewichtstheorie <strong>und</strong> bestimmte Fassungen des<br />
Bernoulli-Pr<strong>in</strong>zips. 47 Demzufolge hätten nach Schneider <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen<br />
Steuerlehre nahezu ausschließlich solche Modelle Bedeutung, die nicht streng axiomatisiert<br />
s<strong>in</strong>d. Dies gilt vor allem dann, wenn e<strong>in</strong>e Welt mit „echter“ Unsicherheit <strong>und</strong> Ungleichverteilung<br />
des Wissens zugr<strong>und</strong>e gelegt wird. Wenn <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftlichen<br />
Steuerlehre aber (nahezu) ausschließlich Modelle verwandt werden, die (im S<strong>in</strong>ne<br />
42<br />
43<br />
44<br />
45<br />
46<br />
47<br />
Schneider (2001), S. 19, siehe auch S. 507.<br />
Siehe zu e<strong>in</strong>er Präzisierung des erfahrungswissenschaftlichen Modellbegriffs Küttner (1981), S. 77-<br />
96. Siehe h<strong>in</strong>gegen ablehnend zum erfahrungswissenschaftlichen Modellbegriff Bre<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ger-<br />
O‘Reilly (1991), S. 240-255.<br />
Dagegen erfasst Küttner (1981), S. 93, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Modelldef<strong>in</strong>ition nur formale Modelle. Bre<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ger-<br />
O‘Reilly beschränkt sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Interpretationsvorschlag für den Strukturkern Schneiders nicht<br />
auf formale Präzisierungen, sondern bezieht auch verbale Ausführungen mit e<strong>in</strong>. Aufgr<strong>und</strong> se<strong>in</strong>es<br />
Modellverständnisses, siehe Fußnote 43, spricht er jedoch nicht von Modellen, sondern von der „auf<br />
die empirischen Fragestellungen bezogene[-n] Explikation der Lösungsidee“, siehe Bre<strong>in</strong>l<strong>in</strong>ger-<br />
O‘Reilly (1991), S. 141 [dort auch das wörtliche Zitat].<br />
Siehe Schneider (2001), S. 498 f.<br />
Siehe Schneider (1995), S. 180.<br />
Siehe Schneider (2001), S. 18.<br />
14<br />
153
Schneiders) die Anforderung logischer Wahrheit nicht erfüllen, hat der E<strong>in</strong>wand<br />
Schneiders, Modelle würden nicht über die Wirklichkeit unterrichten, ke<strong>in</strong>e Relevanz. 48<br />
Im Zusammenhang mit se<strong>in</strong>en gr<strong>und</strong>legenden Ausführungen zu den Elementen e<strong>in</strong>er<br />
Theorie identifiziert Schneider „logisch“ mit „widerspruchsfrei“ <strong>und</strong> bezieht sich sowohl<br />
auf sämtliche (mith<strong>in</strong> nicht nur vollständig axiomatisierte) formalen Modelle als<br />
auch auf verbale Modelle. Denn Schneider stellt hier heraus: „Verbale <strong>und</strong> formale Modelle<br />
im ökonomischen S<strong>in</strong>ne sollen „widerspruchsfreie, also ‚logische‘ Schlußfolgerungen<br />
auszusprechen erlauben“ 49 . Nach dieser Interpretation von „logisch“ hat aber<br />
Schneiders E<strong>in</strong>wand, logisch wahre Aussagen (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Tautologie) würden nicht<br />
über die Wirklichkeit <strong>in</strong>formieren, bereits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen Diktion ke<strong>in</strong>e Relevanz. 50<br />
Obwohl Schneider im Weiteren dann auch „nur widerspruchsfreie“ verbale <strong>und</strong> formale<br />
Modelle im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Tautologie (ke<strong>in</strong>e Information über die Wirklichkeit) charakterisiert,<br />
sche<strong>in</strong>t es vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er fehlenden gegenteiligen Begründung gerechtfertigt,<br />
diesen formalen <strong>und</strong> verbalen Modellen nicht generell die Eignung zur Information<br />
über die Wirklichkeit abzusprechen.<br />
Fraglich ist allerd<strong>in</strong>gs, wie überprüft werden kann, ob das, was Modelle über die Wirklichkeit<br />
sagen, der Wirklichkeit oder – genauer formuliert – e<strong>in</strong>em Wirklichkeitsausschnitt<br />
entspricht. Wenn Modelle e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>fachtes Abbild e<strong>in</strong>es Wirklichkeitsausschnitts<br />
darstellen, stehen sie <strong>in</strong>soweit der Wirklichkeit entgegen, als dass sie die Komplexität<br />
der Wirklichkeit reduzieren müssen. 51 Beispielsweise blendet e<strong>in</strong>e Modellbildung<br />
der Institution Überschuldung, die die Person des Gläubigers auf „re<strong>in</strong>e“ Fremdkapitalgeber<br />
reduziert, hybride F<strong>in</strong>anzierungsformen aus. Komplexitätsreduktion ist unvermeidbar,<br />
weil ansonsten nichts über die Wirklichkeit <strong>in</strong> Erfahrung zu br<strong>in</strong>gen wäre.<br />
Deshalb wird von Modellen nicht verlangt, dass sie e<strong>in</strong>en Wirklichkeitsausschnitt <strong>in</strong><br />
48<br />
49<br />
50<br />
51<br />
Deshalb wird im Folgenden nicht thematisiert, ob „vollständige Axiomatisierung“ mit „logisch<br />
wahr“ im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Tautologie zu identifizieren ist. Siehe zur möglichen Interpretation e<strong>in</strong>es<br />
Axiomensystems als System empirischer Hypothesen Popper (1994), S. 43 f. Ebenso kann<br />
unberücksichtigt bleiben, ob e<strong>in</strong>e Trennung <strong>in</strong> analytische (logische) <strong>und</strong> synthetische (empirische)<br />
Aussagen überhaupt möglich ist. Siehe kritisch Qu<strong>in</strong>e (1979), S. 27-42, <strong>und</strong> hierzu Stegmüller<br />
(1987), S. 225-247.<br />
Schneider (2001), S. 19. Wenn Schneider h<strong>in</strong>gegen auf S. 491 hervorhebt, dass der „Schluß von den<br />
Voraussetzungen e<strong>in</strong>es Gedankenmodells auf e<strong>in</strong>e Aussage über die Wirklichkeit ... e<strong>in</strong>er logischen<br />
Überprüfung zugänglich se<strong>in</strong>“ muss, sche<strong>in</strong>t Schneider logische Überprüfung oder logische Erklärung<br />
mit theoretisch f<strong>und</strong>ierter Überprüfung zu identifizieren.<br />
Wenn Modellergebnisse etwas über die Wirklichkeit sagen, ist allerd<strong>in</strong>gs nicht ersichtlich, warum<br />
Schneider e<strong>in</strong>e umfassende Abgrenzung von Modellergebnis <strong>und</strong> Hypothese vornimmt, siehe hierzu<br />
Schneider (2001), S. 18-25, 498-508.<br />
So ist wohl auch Schneider (2001), S. 19, zu verstehen, wenn er ausführt, dass „Beobachtungssachverhalte<br />
‚augensche<strong>in</strong>lich‘ kaum jemals e<strong>in</strong>em Modellergebnis [entsprechen], weil <strong>in</strong> der Wirklichkeit<br />
immer weit mehr Abhängigkeiten bestehen als <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em vere<strong>in</strong>fachten gedanklichen Abbild berücksichtigt<br />
werden können“.<br />
15<br />
154
vollem Umfang abbilden, sondern dass es sich um e<strong>in</strong>e „strukturgleiche Abbildung der<br />
Welt der Tatsachen“ 52 handelt.<br />
Lehnt man e<strong>in</strong>en naiven Realismus ab, ist die Struktur der Wirklichkeit bzw. e<strong>in</strong>es Ausschnitts<br />
der Wirklichkeit jedoch nicht unmittelbar zu beobachten. Vielmehr ist das, was<br />
man unter der Struktur der Wirklichkeit versteht, wiederum durch die Lösungsidee der<br />
aufzustellenden Theorie oder e<strong>in</strong>e andere Theorie vorbelastet. Es handelt sich bei e<strong>in</strong>em<br />
Modell mith<strong>in</strong> nicht um e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>fachtes Abbild e<strong>in</strong>es Wirklichkeitsausschnitts, sondern<br />
vielmehr um e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>fachtes Abbild e<strong>in</strong>es „<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Weise gesehenen<br />
Wirklichkeitsausschnitt[-e-]s“. 53 Ob das, was das Modell zu erklären behauptet, auch<br />
tatsächlich die Wirklichkeit erfasst, hängt von der Akzeptanz der Theorie ab, <strong>in</strong> deren<br />
Licht die Wirklichkeit betrachtet wird. E<strong>in</strong> Modell als Abbild der Wirklichkeit zu qualifizieren,<br />
bedarf somit immer e<strong>in</strong>er solchen Akzeptanz <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>er Entscheidung. 54<br />
In der Perspektive der Theoriebeladenheit der Beobachtung kann die Forderung nach<br />
Strukturgleichheit deshalb nur heißen, dass das Modell nicht zu der Struktur <strong>in</strong> Widerspruch<br />
treten darf, die die Wirklichkeit der Theorie nach hat, <strong>in</strong> deren Perspektive die<br />
Wirklichkeit betrachtet wird. 55 Damit stellt das Kriterium e<strong>in</strong>er strukturgleichen Abbildung<br />
zwar ke<strong>in</strong>en objektiven Maßstab zur Bewertung e<strong>in</strong>es Modells dar, es<br />
konkretisiert aber die Anforderung, Modelle haben widerspruchsfrei zu se<strong>in</strong>. Widerspruchsfreiheit<br />
im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er strukturgleichen Abbildung heißt, dass sich Modelle konsistent<br />
<strong>in</strong> die Struktur der aufzustellenden Theorie sowie <strong>in</strong> die Struktur „verwandter“<br />
Theorien e<strong>in</strong>fügen.<br />
Wenn beispielsweise die Wirklichkeit im Lichte e<strong>in</strong>er Theorie betrachtet wird, die von<br />
der Struktur e<strong>in</strong>er Welt mit „echter“ Unsicherheit <strong>und</strong> Ungleichverteilung des Wissens<br />
ausgeht, wäre es widersprüchlich, e<strong>in</strong> neoklassisches Modell, das „echte“ Unsicherheit<br />
ausschließt, zu formulieren. 56 Typische Anwendungsfälle für e<strong>in</strong>en solchen Verstoß gegen<br />
e<strong>in</strong>e strukturgleiche Abbildung bilden Hybrid-Modelle. Hybrid-Modelle zeichnen<br />
sich durch nicht mite<strong>in</strong>ander zu vere<strong>in</strong>barende Annahmen, also Annahmen unterschiedlicher<br />
Strukturen, oder dadurch aus, dass die Annahmen <strong>und</strong> das Modellergebnis nicht<br />
kompatibel s<strong>in</strong>d. Widersprechende Annahmen liegen vor, wenn sich ausschließende<br />
52<br />
53<br />
54<br />
55<br />
56<br />
Schneider (2001), S. 499, siehe zu diesem Postulat für die Betriebswirtschaftslehre auch<br />
Schmidt/Schor (1987), S. 31. Siehe zur Strukturgleichheit allgeme<strong>in</strong> Andersson (1992), S. 370 f.<br />
Siehe zur (verfälschenden) Vere<strong>in</strong>fachung sowie zum <strong>in</strong>direkten Realitätsbezug erfahrungswissenschaftlicher<br />
Modelle Küttner (1981), S. 79 f., 84 [das wörtliche Zitat auf S. 80, Hervorhebung durch<br />
die Verfasser<strong>in</strong>], Küttner (1983), S. 352 f. Siehe sehr kritisch zum Abbildverständnis von Modellen<br />
Bretzke (1980), S. 213-221.<br />
Siehe hierzu Küttner (1983), S. 355-360.<br />
Siehe auch Jansen (2000), S. 72 f.<br />
Siehe zu dieser Position auch Jansen (2000), <strong>in</strong>sbesondere S. 239-241, 281 <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit<br />
S. 93-107.<br />
16<br />
155
Elemente der neoklassischen Modellwelt mit Elementen der „realen“ Welt verknüpft<br />
werden. E<strong>in</strong> Hybrid-Modell wäre beispielsweise gegeben, wenn e<strong>in</strong> vollkommener <strong>und</strong><br />
vollständiger Kapitalmarkt zur Ermittlung e<strong>in</strong>er allokationseffizienten Überschuldung<br />
zugr<strong>und</strong>e gelegt wird 57 oder mithilfe e<strong>in</strong>es vollkommenen <strong>und</strong> vollständigen Kapitalmarktes<br />
Besteuerungsregelungen für Sachverhalte gef<strong>und</strong>en werden, die aus Institutionen<br />
zur Vermeidung von Liquiditätsproblemen entstehen. Fehlende Kompatibilität zwischen<br />
Annahmen <strong>und</strong> Modellergebnis s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der modelltheoretischen Steuerwirkungsanalyse<br />
Wagners möglich. 58 Im Rahmen der modelltheoretischen Steuerwirkungsanalyse<br />
implementiert Wagner Gew<strong>in</strong>nermittlungsregeln des geltenden Steuerrechts <strong>in</strong> das<br />
Kapitalwertmodell. Vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>, dass das Kapitalwertmodell an die Prämisse<br />
e<strong>in</strong>es vollkommenen <strong>und</strong> vollständigen Kapitalmarkts geb<strong>und</strong>en ist, 59 stellt sich die<br />
folgende Frage: Wenn e<strong>in</strong> vollkommener <strong>und</strong> vollständiger Kapitalmarkt, mith<strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />
pareto-effizientes Marktgleichgewicht, gegeben ist, wie kann dann im Fall der Implementierung<br />
von Steuerrechtsnormen des geltenden Rechts gleichzeitig e<strong>in</strong>e Besteuerung<br />
gegeben se<strong>in</strong>, die e<strong>in</strong>erseits das Zustandekommen e<strong>in</strong>es pareto-effizienten Marktgleichgewichts<br />
verh<strong>in</strong>dert, die Effizienz des unterstellten vollkommenen <strong>und</strong> vollständigen<br />
Kapitalmarkts jedoch nicht bee<strong>in</strong>flusst? E<strong>in</strong> Modellergebnis mit dem Inhalt, dass, wenn<br />
e<strong>in</strong> pareto-effizienter Kapitalmarkt vorliegt <strong>und</strong> die steuerliche Gew<strong>in</strong>nermittlung dem<br />
geltenden Steuerrecht entspricht, es zu Steuerwirkungen kommt, die Pareto-Effizienz<br />
bee<strong>in</strong>trächtigen, ist widersprüchlich.<br />
Die strukturgleiche Abbildung im Rahmen e<strong>in</strong>er Theorie, die von „echter“ Unsicherheit<br />
<strong>und</strong> Ungleichverteilung des Wissens ausgeht, erfordert zwar die Vermeidung von Hybrid-Modellen.<br />
Damit verb<strong>und</strong>en ist jedoch nicht der Verzicht auf die Betrachtung e<strong>in</strong>er<br />
neoklassischen Modellwelt. Vielmehr ist es häufig unerlässlich, die neoklassische Modellwelt<br />
als e<strong>in</strong>e Welt zugr<strong>und</strong>e zu legen, <strong>in</strong> der bestimmte Probleme ke<strong>in</strong>e Bedeutung<br />
haben, aus deren Betrachtung sich jedoch H<strong>in</strong>weise ergeben, warum <strong>in</strong> der realen Welt<br />
bestimmte ökonomische Sachverhalte relevant s<strong>in</strong>d. Die neoklassische Modellwelt hat<br />
dann den Charakter e<strong>in</strong>es „Nullpunkts“, beispielsweise def<strong>in</strong>ieren Marktgleichgewichtsmodelle<br />
„e<strong>in</strong>en Nullpunkt von Wettbewerb“ 60 . Dieser neoklassischen Modellwelt wird<br />
e<strong>in</strong> vere<strong>in</strong>fachtes Abbild e<strong>in</strong>es Wirklichkeitsausschnitts mit „echter“ Unsicherheit <strong>und</strong><br />
Ungleichverteilung des Wissens gegenübergestellt. In e<strong>in</strong>em solchen – regelmäßig <strong>in</strong> ei-<br />
57<br />
58<br />
59<br />
60<br />
Siehe Zisowski (2001), S. 56-59, <strong>und</strong> zur Ablehnung von Hybrid-Modellen generell Richter/<br />
Furubotn (2003), S. 438, 446-449, 547-552.<br />
Siehe Wagner (1999), S. 20-24, Wagner/Schwenk (2003), S. 377-385, Wagner (2004), S. 239-243.<br />
Siehe Schmidt/Terberger (1997), S. 90-97, <strong>und</strong> zu den Merkmalen vollständiger Konkurrenzmärkte<br />
generell Schumann/Meyer/Ströbele (1999), S. 22-24, 207-209.<br />
Schneider (2001), S. 387 [im Orig<strong>in</strong>al hervorgehoben]. Siehe zu e<strong>in</strong>er solchen Deutung neoklassischer<br />
Modelle als „Extremfälle“ auch Albert (1998), S. 74.<br />
17<br />
156
ner natürlichen Sprache verfassten 61 – Modell können aus den Modellannahmen ke<strong>in</strong>e<br />
e<strong>in</strong>deutigen Modellergebnisse abgeleitet werden. Beispielsweise sagt das Modellergebnis<br />
„Überschuldung dient der Verr<strong>in</strong>gerung von E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten, die <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er bestimmten Gläubiger-Schuldner-Beziehung aus e<strong>in</strong>er vermögenslosen Zahlungsunfähigkeit<br />
resultieren“, nicht, dass sich rational handelnde Wirtschaftssubjekte für die<br />
Institution Überschuldung entscheiden würden oder dass rational handelnde Wirtschaftssubjekte<br />
Überschuldung anderen Formen des Gläubigerschutzes vorziehen<br />
würden. E<strong>in</strong>e solche Aussage, mit der implizit wiederum versucht würde, konkrete Situationen<br />
zu erklären, scheitert unter „echter“ Unsicherheit bereits an der<br />
Unbestimmtheit rationalen Verhaltens. 62<br />
Modellergebnisse s<strong>in</strong>d damit zwar als Gr<strong>und</strong>lage für die Formulierung e<strong>in</strong>er Hypothese<br />
geeignet, weil sie über die Wirklichkeit unterrichten. Gleichwohl s<strong>in</strong>d aber diese E<strong>in</strong>schränkungen<br />
im H<strong>in</strong>blick auf die pragmatischen Elemente der Modellbildung <strong>und</strong> ihre<br />
fehlende Str<strong>in</strong>genz zu beachten. Letzteres gilt zum<strong>in</strong>dest immer dann, wenn e<strong>in</strong>e Welt<br />
mit „echter“ Unsicherheit <strong>und</strong> Ungleichverteilung des Wissens zugr<strong>und</strong>e gelegt wird.<br />
Entsprechend ist auch die Muster-Hypothese im H<strong>in</strong>blick auf ihren empirischen Wahrheitsgehalt,<br />
ihre Übere<strong>in</strong>stimmung mit der Wirklichkeit, zahlreichen E<strong>in</strong>schränkungen<br />
unterworfen.<br />
E<strong>in</strong>e Muster-Hypothese, so lässt sich resümieren, ist die <strong>in</strong>haltlich formulierte Antwort<br />
auf e<strong>in</strong>e Problemstellung bestehend aus e<strong>in</strong>er Frage nach e<strong>in</strong>er ökonomischen Regelmäßigkeit<br />
sowie e<strong>in</strong>er Lösungsidee. Die Problemlösung umfasst die Modelle von Erfahrungssachverhalten,<br />
soweit diese <strong>in</strong> den Anwendungsbereich der Problemstellung fallen<br />
<strong>und</strong> soweit deren Modellergebnisse auf e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit h<strong>in</strong>weisen. Die Muster-<br />
Hypothese beruht auf e<strong>in</strong>er Verallgeme<strong>in</strong>erung dieser Regelmäßigkeit dah<strong>in</strong>gehend,<br />
dass sie nicht nur für diese Erfahrungssachverhalte (Musterbeispiele), sondern darüber<br />
h<strong>in</strong>aus für zahlreiche Anwendungsfälle der Problemstellung gilt.<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich kann aus der Muster-Hypothese <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit e<strong>in</strong>em Erfahrungssachverhalt<br />
e<strong>in</strong>e – gemessen an den Idealkriterien e<strong>in</strong>er deduktiv-nomologischen Erklärung<br />
– unvollkommene Erklärung für diesen Sachverhalt abgeleitet werden. 63 Aus der<br />
Muster-Hypothese: „Institutionen dienen der Verr<strong>in</strong>gerung von E<strong>in</strong>kommensunsicher-<br />
61<br />
62<br />
63<br />
Unabhängig davon, ob formale oder verbale Modelle verwandt werden, s<strong>in</strong>d Übersetzungsvorgänge<br />
<strong>in</strong> dem <strong>in</strong> Kapitel 2 skizzierten S<strong>in</strong>ne notwendig.<br />
Siehe Fußnote 20.<br />
Siehe von Hayek (1972), S. 36 f. Siehe zu den Adäquatheitsbed<strong>in</strong>gungen für deduktiv-nomologische<br />
Erklärungen Stegmüller (1983), S. 124-128, <strong>und</strong> zu e<strong>in</strong>er Übersicht über unvollkommene Erklärungen<br />
S. 143-154. Siehe zu „Erklärungen im Pr<strong>in</strong>zip“, mit der die hier aufgezeichnete Vorgehensweise<br />
Parallelen aufweist, Albert (1998), S. 163-165, 256-258 317-319. Allerd<strong>in</strong>gs besteht e<strong>in</strong><br />
wesentlicher Unterschied dar<strong>in</strong>, dass nach Albert ökonomische Modelle <strong>in</strong> soziologische Theorien<br />
e<strong>in</strong>zub<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d.<br />
18<br />
157
heiten“ <strong>und</strong> der s<strong>in</strong>gulären Aussage: „Die für bestimmte Rechtsformen vorgesehene<br />
handelsrechtliche Pflichtprüfung ist e<strong>in</strong>e Institution“, lässt sich deduzieren: „Die handelsrechtliche<br />
Pflichtprüfung dient der Verr<strong>in</strong>gerung von E<strong>in</strong>kommensunsicherheiten.“<br />
Die Überprüfung der Muster-Hypothese erfordert, den Erfahrungssachverhalt „handelsrechtliche<br />
Pflichtprüfung“ im Modell abzubilden. Entspricht das Modellergebnis der<br />
Muster-Hypothese, so besagt dieses Ergebnis zunächst nur, dass die Muster-Hypothese<br />
für diesen Erfahrungssachverhalt modellangemessen ist. E<strong>in</strong>e darüber h<strong>in</strong>ausgehende<br />
Aussage über die Angemessenheit der Hypothese für den vom Modell abgebildeten Erfahrungssachverhalt<br />
unterliegt den durch die Theoriebeladenheit der Beobachtung entstehenden<br />
E<strong>in</strong>schränkungen. Deshalb ist umgekehrt e<strong>in</strong> widersprechendes Modellergebnis<br />
nicht geeignet, die Muster-Hypothese an der Erfahrung zu widerlegen. Darüber h<strong>in</strong>aus<br />
ließe e<strong>in</strong>e Regelmäßigkeit widersprechende Modellergebnisse gr<strong>und</strong>sätzlich zu. Die<br />
Muster-Hypothese – <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>en die Theorie – ist erst dann e<strong>in</strong>zuschränken<br />
oder aufzugeben, wenn ihr zahlreiche widerspruchsfrei formulierte Modellergebnisse<br />
entgegenstehen. 64 Die nach dem hier vertretenen Wissenschaftsverständnis postulierte<br />
Überprüfung von Muster-Hypothesen an der Wirklichkeit be<strong>in</strong>haltet vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong><br />
der Theoriebeladenheit der Beobachtung sowie komplexer ökonomischer Sachverhalte<br />
nur, die Erfahrung nicht völlig auszublenden. Der Anspruch empirischer Überprüfung<br />
ist zu relativieren, bleibt aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>geschränkter Form als Anforderung an e<strong>in</strong>e<br />
Methodologie zur Herleitung e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Aussage bestehen: „Es ist z. B.<br />
nicht zugelassen“, so konstatiert Volker Gadenne <strong>in</strong> kritisch-rationalistischer Perspektive,<br />
„die Empirie gar nicht mehr zu Rate zu ziehen <strong>und</strong> Theorien nur noch a priori zu<br />
beurteilen <strong>und</strong> es ist auch nicht zugelassen, aufgetretene Widersprüche zu ignorieren“. 65<br />
Trotz dieser Mängel hat e<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem S<strong>in</strong>ne „schwaches“ korrespondenztheoretisches<br />
Wahrheitsverständnis gegenüber e<strong>in</strong>em konsenstheoretischen Wahrheitsverständnis den<br />
Vorzug, die Wahrheit e<strong>in</strong>er Aussage nicht nur an den Konsens von Wissenschaftlern,<br />
sondern zum<strong>in</strong>dest an den Konsens von Wissenschaftlern im H<strong>in</strong>blick auf die Übere<strong>in</strong>stimmung<br />
der Aussage mit der Wirklichkeit zu b<strong>in</strong>den. 66 E<strong>in</strong>e gesicherte Widerlegung<br />
von Hypothesen durch die Erfahrung ist jedoch nicht möglich. Ebenso scheitert e<strong>in</strong><br />
64<br />
65<br />
66<br />
Siehe zum unklaren Geltungsbereich von Muster-Hypothesen von Hayek (1972), S. 17 f., Bretzke<br />
(1980), S. 184 f.<br />
Siehe Gadenne (2002), S. 58-69 [das wörtliche Zitat auf S. 68], siehe auch Albert (1998), S. 61.<br />
E<strong>in</strong> pragmatisches Wahrheitsverständnis, das die Wahrheit von Aussagen an den Erfolg von Handlungen<br />
knüpft, ruft ebenfalls Schwierigkeiten hervor. Denn dieses führt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Regress dah<strong>in</strong>gehend,<br />
dass festgelegt werden müsste, wann e<strong>in</strong> solcher Erfolg e<strong>in</strong>getreten ist. Siehe zu e<strong>in</strong>em<br />
Überblick über unterschiedliche Wahrheitsauffassungen Skirbekk (1977), S. 8-34, Andersson (1992)<br />
<strong>und</strong> kritisch zum konsenstheoretischen <strong>und</strong> pragmatischen Wahrheitsverständnis Tugendhat/Wolf<br />
(1983), S. 236-238, Keuth (1989), S. 129-140.<br />
19<br />
158
strenger Theorienvergleich im H<strong>in</strong>blick auf den Gehalt e<strong>in</strong>er Muster-Hypothese. 67 E<strong>in</strong><br />
Theorienvergleich beschränkt sich darauf, Gründe anzuführen, warum die Wirklichkeit<br />
durch e<strong>in</strong>e Muster-Hypothese besser abgebildet wird als durch e<strong>in</strong>e widersprechende<br />
Muster-Hypothese. E<strong>in</strong> weiteres Vergleichskriterium ist die Konsistenz der Problemlösung<br />
<strong>und</strong> ihre Vere<strong>in</strong>barkeit mit verwandten Theorien. In diesem S<strong>in</strong>ne konstatiert<br />
Hans Albert für das Erarbeiten von Theorien <strong>und</strong> ihren Vergleich: „Die Idee e<strong>in</strong>es Bewährungskalküls,<br />
also e<strong>in</strong>es Algorithmus, der es erlauben würde, e<strong>in</strong>e solche Beurteilung<br />
<strong>in</strong> jedem Fall auf e<strong>in</strong>e strenge Kalkulation mit e<strong>in</strong>deutigen Ergebnissen zu stützen,<br />
wird heute nur noch selten vertreten. Ebensowenig wie die Theorienbildung ist die Bewertung<br />
von Theorien e<strong>in</strong>e Tätigkeit, für die mechanisch anzuwendende Verfahren zur<br />
Verfügung stehen.“ 68<br />
4 Ausblick<br />
Nach Albert ist die Auffassung Poppers, theoretische Aussagen ihrer Falsifikation auszusetzen,<br />
um so „<strong>in</strong> möglichst strengem Wettbewerb das relativ haltbarste“ 69 theoretische<br />
System auszuwählen, „auf Problemlösungen aller Art“ 70 zu applizieren. Folgt man<br />
diesem methodologischen Revisionismus Alberts, ist das hier vorgelegte Fortschrittskonzept<br />
selbst e<strong>in</strong>er kritischen Prüfung zu unterziehen. Allerd<strong>in</strong>gs wurde bereits <strong>in</strong> der<br />
E<strong>in</strong>leitung herausgestellt, dass die Qualität e<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts nicht an dem gewonnenen<br />
Erkenntnisfortschritt gemessen werden kann, sondern nur Gründe angeführt<br />
werden können, die für oder gegen dieses Konzept sprechen. Es ist offensichtlich, dass<br />
es sich hierbei nicht um e<strong>in</strong>e abschließende Begründung handelt. 71 Was spräche gegen<br />
das <strong>in</strong> diesem Beitrag vorgelegte Fortschrittskonzept? Begründete kritische E<strong>in</strong>wendungen<br />
wären erstens überzeugende Argumente gegen die <strong>in</strong> Kapitel 2 getroffenen gr<strong>und</strong>legenden<br />
Annahmen. Hierzu gehören das kritisch-realistische Wirklichkeitsverständnis<br />
sowie die hiermit e<strong>in</strong>hergehende Entscheidung, e<strong>in</strong>er schwachen korrespondenztheoretischen<br />
Wahrheitsauffassung zu folgen, die Struktur e<strong>in</strong>er Welt mit „echter“ Unsicherheit<br />
<strong>und</strong> Ungleichverteilung des Wissens <strong>und</strong> schließlich die Annahme, dass ökonomische<br />
Sachverhalte <strong>in</strong> abstrakten Muster-Hypothesen erfasst werden können. Zu e<strong>in</strong>er<br />
zweiten Kategorie begründeter E<strong>in</strong>wendungen gehören Argumente, die Widersprüche<br />
67<br />
68<br />
69<br />
70<br />
71<br />
Schneider sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ausführungen zum Gehalt e<strong>in</strong>er Hypothese, siehe Schneider (2001),<br />
S. 500-504, implizit an die Allgeme<strong>in</strong>heit <strong>und</strong> Bestimmtheit von Hypothesen im S<strong>in</strong>ne Poppers anzuknüpfen,<br />
siehe Popper (1994), S. 83-89.<br />
Albert (1998), S. 66 f. Siehe zur Problematik des Theorienvergleichs im Zusammenhang mit komplexen<br />
Phänomenen von Hayek (1967c), S. 19 f.<br />
Popper (1994), S. 16.<br />
Albert (1987), S. 92 [im Orig<strong>in</strong>al hervorgehoben]. Siehe zur Hervorhebung der Falsifikation<br />
Poppers als „wichtigste“ Regel des kritischen Rationalismus Gadenne (2002), S. 69.<br />
Siehe noch e<strong>in</strong>mal Radnitzky (1992), S. 470, Gadenne (2002), S. 76 f.<br />
20<br />
159
<strong>in</strong>nerhalb der Methodologie oder Widersprüche im H<strong>in</strong>blick auf zugr<strong>und</strong>e gelegte wissenschaftstheoretische<br />
Erkenntnisse aufzeigen. E<strong>in</strong>e dritte Form kritischer E<strong>in</strong>wendungen<br />
bestünde dar<strong>in</strong>, die Umsetzbarkeit des vorgelegten Konzepts <strong>in</strong> Frage zu stellen.<br />
Der Vorwurf e<strong>in</strong>er fehlenden Anwendbarkeit könnte erhoben werden, wenn Muster-<br />
Hypothesen nicht zu erarbeiten wären, mith<strong>in</strong> die Methodologie e<strong>in</strong>en nicht e<strong>in</strong>zulösenden<br />
Anspruch stellen würde.<br />
In Analogie zur Methodik Poppers beim Vergleich von Theorien würden solche E<strong>in</strong>wände<br />
nur dann zur Ablehnung dieser Methodologie führen, wenn gleichzeitig e<strong>in</strong>e andere,<br />
plausiblere vorgeschlagen würde. Diese müsste zu den Fragen Stellung nehmen,<br />
auf die sich das kritisierte Konzept bezieht <strong>und</strong> darüber h<strong>in</strong>aus den vorgetragenen E<strong>in</strong>wendungen<br />
besser als jenes gerecht werden. E<strong>in</strong>wände gegen die gr<strong>und</strong>legenden Annahmen<br />
würden die hier vorgelegte Methodologie <strong>in</strong>sgesamt oder <strong>in</strong> Teilbereichen <strong>in</strong><br />
Frage stellen, wenn sie mit dem Entwurf e<strong>in</strong>es konsistenten <strong>und</strong> praxistauglichen Konzepts<br />
e<strong>in</strong>herg<strong>in</strong>gen. Besteht die Kritik bei gleichen gr<strong>und</strong>legenden Annahmen dar<strong>in</strong>,<br />
Widersprüche aufzuzeigen, ist e<strong>in</strong>e andere Methodologie zur Herleitung e<strong>in</strong>er Muster-<br />
Hypothese im Vergleich zu der hier vorgelegten Konzeption vorzuziehen, wenn sie bei<br />
gleicher Praxistauglichkeit weniger Widersprüche aufwiese. Wird h<strong>in</strong>gegen die Umsetzbarkeit<br />
beanstandet, müsste das andere Konzept bei m<strong>in</strong>destens gleicher Konsistenz<br />
besser umsetzbar se<strong>in</strong>.<br />
Es ist jedoch offensichtlich, dass sich auch diese Leistungsmerkmale e<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts<br />
nicht abschließend begründen lassen können. Sich am eigenen Schopf aus dem<br />
Sumpf ziehen zu können, ist das Privileg Münchhausens. Der Wissenschaftler, der <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er kritisch-rationalistischen Perspektive die Messung wissenschaftlichen Fortschritts<br />
als e<strong>in</strong>e eigenständige wissenschaftliche Problematik versteht, hat nur die Möglichkeit,<br />
diese Kriterien zur Bewertung e<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts selbst wiederum e<strong>in</strong>er kritischen<br />
Prüfung auszusetzen. 72<br />
72<br />
Siehe zum Münchhausen-Trilemma Albert (1991), S. 13-18.<br />
21<br />
160
Literaturverzeichnis<br />
Bei Schriften, die mehrfach unverändert publiziert wurden, gibt das Literaturverzeichnis<br />
neben dem Jahr der Erstveröffentlichung die Ausgabe an, nach der zitiert wurde.<br />
Die Kurzzitierweise im Text nennt lediglich das Jahr der Erstveröffentlichung.<br />
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25<br />
164
FUNKTIONEN UND ZIELE<br />
WISSENSCHAFTLICHEN FORTSCHRITTS AUS<br />
STRUKTURATIONSTHEORETISCHER PERSPEKTIVE<br />
von Dipl.-Kfm. Stephan Cappallo<br />
Essen, den 15. September 2005<br />
165<br />
I
INHALTSVERZEICHNIS<br />
INHALTSVERZEICHNIS ..................................................................................II<br />
1 EINLEITUNG............................................................................................1<br />
2 DIE STRUKTURATIONSTHEORIE ALS<br />
WISSENSCHAFTSPROGRAMM...........................................................3<br />
2.1 Die ontologische Position der Strukturationstheorie..............................4<br />
2.2 Das zugr<strong>und</strong>e gelegte Menschenbild ........................................................9<br />
2.3 Die methodologische Position der Strukturationstheorie ....................11<br />
2.4 Epistemologische Schlussfolgerungen für strukturationstheoretische<br />
Forschungsarbeit .....................................................................................16<br />
3 INTENTIONALITÄT AUS STRUKTURATIONSTHEORTISCHER<br />
PERSPEKTIVE .......................................................................................18<br />
3.1 Intentionalität als Denkfigur der Strukturationstheorie .....................18<br />
3.2 Intentionalität <strong>in</strong> der wissenschaftlichen <strong>und</strong> nichtwissenschaftlichen<br />
Praxis.........................................................................................................20<br />
4 FUNKTIONEN UND ZIELE STRUKTURATIONSTHEORETISCH<br />
FUNDIERTEN ERKENNTNISFORTSCHRITTS ..............................24<br />
4.1 Funktionen strukturationstheoretischer Forschungsarbeiten.............24<br />
4.2 Zielsetzungen strukturationstheoretisch f<strong>und</strong>ierter Branchenanalysen<br />
...................................................................................................................27<br />
LITERATURVERZEICHNIS ...........................................................................32<br />
166<br />
II
1 EINLEITUNG<br />
Die von dem britischen Soziologen Anthony Giddens entwickelte Strukturationstheorie<br />
ist e<strong>in</strong>e gr<strong>und</strong>legende Theorie des Sozialen, die mittlerweile von e<strong>in</strong>er<br />
ganzen Reihe von Autoren der Organisations- <strong>und</strong> Managementforschung dazu<br />
verwendet wird, soziale Phänomene auf unterschiedlichen Aggregationsebenen zu<br />
analysieren. 1<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich kann die Strukturationstheorie auf zwei mite<strong>in</strong>ander verb<strong>und</strong>enen<br />
Ebenen zum Erkenntnisfortschritt beitragen: E<strong>in</strong>mal kann dies auf e<strong>in</strong>er konzeptionellen<br />
Ebene erfolgen, <strong>in</strong>dem die abstrakten Analysekategorien der Strukturationstheorie<br />
<strong>in</strong> Beziehung zu Theorien mit e<strong>in</strong>em bestimmten Gegenstandsbezug<br />
gesetzt werden (etwa zu Branchentheorien). Zum anderen kann die Strukturationstheorie<br />
empirische Forschungsvorhaben f<strong>und</strong>ieren. Die Strukturationstheorie<br />
bildet dann die Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e Untersuchung e<strong>in</strong>es bestimmten Untersuchungsgegenstandes,<br />
wie etwa e<strong>in</strong>er konkreten Branche.<br />
Die Strukturationstheorie ist aber nicht nur als e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Sozialtheorie anzusehen.<br />
Sie argumentiert <strong>in</strong> wesentlichen Teilen auf e<strong>in</strong>er metatheoretischen<br />
Ebene <strong>und</strong> trägt deshalb starke Züge e<strong>in</strong>es Wissenschaftsprogramms. Dabei ist sie<br />
speziell auf die Entwicklung e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tegrativen, die „klassischen“ Paradigmendiskussionen<br />
überw<strong>in</strong>denden anthroposophischen <strong>und</strong> methodologischen Sichtweise<br />
ausgerichtet. Daher ist es die Strukturationstheorie selbst, die den metatheoretischen<br />
Kontext für die Bestimmung von Erkenntniszielen bildet. Diese sollten ihre<br />
Anwendung bei der Untersuchung theoretischer <strong>und</strong>/oder empirischer betriebswirtschaftlicher<br />
Fragestellungen leiten <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong>e Messung des <strong>in</strong><br />
diesen Untersuchungen erzielten Erkenntnisfortschrittes darstellen.<br />
Ziel des vorliegenden Beitrages ist es aufzuzeigen, welche Funktionen <strong>und</strong> Ziele<br />
Wissenschaft aus der Perspektive der Strukturationstheorie hat. Damit sollen Bezugsgrößen<br />
erarbeitet werden, an denen wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt<br />
festgemacht werden kann. Dies gilt zum e<strong>in</strong>en für Analysen, die die Strukturationstheorie<br />
selbst auf konzeptueller oder auf empirischer Ebene nutzbar machen<br />
wollen. Beurteilbar s<strong>in</strong>d aber auch die Beiträge, die ähnliche metatheoretische<br />
Gr<strong>und</strong>lagen haben, aber die Begriffskategorien der Strukturationstheorie nicht<br />
explizit zugr<strong>und</strong>e legen. Ferner können die strukturationstheoretischen Funktionen<br />
1 Vgl. beispielsweise die bei Bamberger, I.; Wrona, T. (2004), S. 90f. zusammengetragene Literatur.<br />
167<br />
1
<strong>und</strong> Ziele wissenschaftlichen Arbeitens e<strong>in</strong>e Anregungsfunktion für die Messung<br />
des Erkenntnisfortschrittes von Arbeiten anderer Wissenschaftskulturen erfüllen.<br />
Dazu werden im folgenden Kapitel zentrale Argumentationsfiguren der Strukturationstheorie<br />
vorgestellt, <strong>in</strong>dem sie als Wissenschaftsprogramm rekonstruiert wird.<br />
Als Orientierungshilfe dazu dient die viel beachtete 2 Klassifikation von Organisationstheorien<br />
von Burrell <strong>und</strong> Morgan, 3 weil sie Parameter e<strong>in</strong>es Wissenschaftsprogramms<br />
nennt, die zur Strukturgebung der wissenschaftstheoretischen Aussagen<br />
der Strukturationstheorie dienen können. Anschließend wird die strukturationstheoretische<br />
Denkfigur der Intentionalität näher betrachtet <strong>und</strong> erweitert, weil<br />
sie die deutlichsten H<strong>in</strong>weise für die Bildung von Wissenschaftsfunktionen <strong>und</strong><br />
-zielen, speziell auch solcher für unterschiedliche Anwendungskontexte wissenschaftlicher<br />
Erkenntnis liefert. Das abschließende Kapitel (4) zeigt auf diesen<br />
Gr<strong>und</strong>lagen Funktionen <strong>und</strong> Ziele wissenschaftlichen Fortschritts auf, wie sie aus<br />
der Strukturationstheorie hervorgehen <strong>und</strong> <strong>in</strong> verschiedenen Kontexten ihre spezifische<br />
Ausprägung erfahren. Als Beispiel wurde dazu die Analyse von Branchen<br />
gewählt. 4<br />
2 Siehe etwa He<strong>in</strong>dl, M. (1996), S. 115 <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere Hassard, J. (1993), S. 65 <strong>und</strong> die dort<br />
angegebene Literatur. Auch im deutschsprachigen Raum wurde diese Klassifikation breit rezipiert.<br />
So etwa auch <strong>in</strong> Knyphausen, D. z. (1988), S. 67 ff. oder Kirsch, W. (1997), S. 95 f.<br />
3 Vgl. Burrell, G.; Morgan, G. (1979).<br />
4 Verschiedene Teile dieses Beitrages stammen, mit mehr oder weniger starken <strong>in</strong>haltlichen <strong>und</strong><br />
formalen Änderungen, aus Cappallo, S. (2005).<br />
168<br />
2
2 DIE STRUKTURATIONSTHEORIE ALS WISSENSCHAFTSPRO-<br />
GRAMM<br />
Die Strukturationstheorie ist e<strong>in</strong> Wissenschaftsprogramm, weil sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em, mit<br />
we<strong>in</strong>igen Ausnahmen, kohärenten Aussagensystem den Zweck wissenschaftlichen<br />
Arbeitens, das Wesen des Forschungsgegenstandes <strong>und</strong> adäquate Vorgehensweisen<br />
se<strong>in</strong>er Untersuchung begründet. 5 Um der Aufarbeitung dieser wissenschaftstheoretischen<br />
Aussagen der Strukturationstheorie e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Struktur zu geben,<br />
werden im Folgenden die von Burrell/Morgan verwendeten Unterscheidungskriterien<br />
objektivistischer <strong>und</strong> subjektivistischer Sozialtheorien zugr<strong>und</strong>e<br />
gelegt: 6 ontologische, epistemologische, anthropologische <strong>und</strong> methodologische<br />
Gr<strong>und</strong>annahmen.<br />
Ferner soll die Strukturationstheorie durch die Bezugnahme auf andere Wissenschaftsprogramme<br />
zusätzlich (jeweils kurz) profiliert werden. Stark vere<strong>in</strong>fachend<br />
sollen dazu zum e<strong>in</strong>en Konzeptionen, die auf dem „kritischen Rationalismus“<br />
oder ähnlichen Sichtweisen aufbauen 7 , <strong>und</strong> zum anderen solche, die sog. „konstruktivistische“<br />
Positionen e<strong>in</strong>nehmen, verwendet werden. 8 Bei der Darstellung<br />
der aktuellen, wissenschaftstheoretischen Diskussion <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften<br />
(<strong>und</strong> auch darüber h<strong>in</strong>aus) werden diese beiden oft idealisierend als zwei „konkurrierende“<br />
Wissenschaftsprogramme e<strong>in</strong>ander gegenübergestellt. 9<br />
Die Strukturationstheorie lässt sich nun zwischen den sich widersprechenden<br />
(Extrem-)Positionen beider Wissenschaftsprogramme e<strong>in</strong>ordnen – nicht zuletzt<br />
deshalb, weil Giddens 10 die Strukturationstheorie direkt auf die Lösung verschiedener<br />
Inkommensurabilitätsprobleme <strong>in</strong> dieser Paradigmendiskussion ausrichtet. 11<br />
5 Vgl. Scherer, A. (1999), S. 5 <strong>in</strong> Anlehnung an Burrell, G.; Morgan, G. (1979).<br />
6 Vgl. Burrell, G.; Morgan, G. (1979). Vgl. Hassard, J. (1993), S. 67 ff. zu e<strong>in</strong>er kritischen Analyse<br />
der Klassifikation von Burrell/Morgan.<br />
7 Diese gelten, trotz vielfältiger Vorbehalte (vgl. Scherer, A. (1999), S. 11 ff. <strong>und</strong> die dort angegebene<br />
Literatur), als die <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftslehre<br />
dom<strong>in</strong>ante wissenschaftstheoretische Konzeption. Vgl. Dachler, P. (1992),<br />
S. 169 f.; Ste<strong>in</strong>mann, H.; Braun, W. (1979), S. 191; Morgan, G.; Smircich, L. (1980), S. 492.<br />
8 Aus Gründen der sprachlichen Vere<strong>in</strong>fachung werden im Folgenden die Vertreter der jeweiligen<br />
Lager auch als „Objektivisten“ oder „Positivisten“ bzw. Vertreter des Objektivismus oder des<br />
Positivismus <strong>und</strong> „Konstruktivisten“ bzw. Vertreter des Konstruktivismus bezeichnet.<br />
9 Der Rahmen dieses Beitrags erlaubt wenig mehr als e<strong>in</strong>e grobe Skizze der verschiedenen Sichtweisen.<br />
Deshalb sei an den entsprechenden Stellen zur Vertiefung auf die relevante Literatur<br />
verwiesen.<br />
10 Sofern nicht anders gekennzeichnet, beruht die Rekonstruktion der Strukturationstheorie auf<br />
Giddens Monografien von 1976, 1979 <strong>und</strong> 1984.<br />
11 Vgl. Weaver, G.; Gioia, D. (1994); Osterloh, M.; Grand, S. (1997), S. 355.<br />
169<br />
3
Dabei ist die Strukturationstheorie nicht lediglich als e<strong>in</strong>e Kompromissformel im<br />
S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es „sowohl als auch“ anzusehen. Vielmehr wird e<strong>in</strong> eigenständiges Programm<br />
entwickelt, dessen Kerngedanken die Dualismen der Paradigmendiskussion<br />
überw<strong>in</strong>den <strong>und</strong> nicht nur gegenläufige Argumentationen abwägen, ohne sie<br />
jedoch <strong>in</strong> ihrer Gültigkeit anzutasten. 12 Die folgende Abbildung bildet diese Eigenständigkeit<br />
der Strukturationstheorie unter Bezugnahme auf die e<strong>in</strong>zelnen<br />
Dimensionen von Wissenschaftsprogrammen nach Burrell/Morgan graphisch zum<br />
Ausdruck.<br />
ontologische<br />
Position<br />
metaphysischer<br />
Realismus<br />
Wissens-, Handlungs-<br />
<strong>und</strong><br />
Systemkonzeption<br />
konstruktivistischer<br />
Relativismus<br />
epistemologische<br />
Position<br />
Positivismus<br />
Alternieren<br />
Anti –<br />
Positivismus<br />
anthropologische<br />
Position<br />
Determ<strong>in</strong>ismus<br />
Dualität von<br />
Strukturen<br />
Voluntarismus<br />
methodologische<br />
Position<br />
makro /<br />
nomothetisch<br />
E<strong>in</strong>klammern/<br />
Methodenpluralismus<br />
mikro /<br />
ideographisch<br />
Abbildung 1: Die Rekonstruktion der Strukturationstheorie entlang der Merkmalsdimensionen von<br />
Wissenschaftsprogrammen 13<br />
2.1 Die ontologische Position der Strukturationstheorie<br />
Ontologische Gr<strong>und</strong>annahmen von Wissenschaftsprogrammen beschreiben f<strong>und</strong>amentale<br />
Sichtweisen <strong>in</strong> Bezug auf das Wesen des Erkenntnisgegenstandes. 14 Sie<br />
spezifizieren, was unter „Wirklichkeit“ verstanden wird, <strong>und</strong> damit das, was überhaupt<br />
Gegenstand wissenschaftlichen Erkenntnis<strong>in</strong>teresses se<strong>in</strong> kann. Ontologische<br />
Gr<strong>und</strong>annahmen spannen so e<strong>in</strong>en Phänomenbereich auf, auf den die wissenschaftliche<br />
Aktivität ausgerichtet werden kann, den diese aber nicht transzendieren<br />
kann. Insofern def<strong>in</strong>ieren sie auch, was im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen<br />
erreicht werden kann.<br />
12 Vgl. Ortmann, G.; Sydow, J. (2001), S. 425 ff.<br />
13 Quelle: Selbst erstellt nach Burrell, G.; Morgan, G. (1979).<br />
14 Vgl. Burrell, G.; Morgan, G. (1979), S. 1. Zum Begriff der “Ontologie” im Allgeme<strong>in</strong>en siehe<br />
Schütte, R.; Zelewski, S. (2002), S. 162 f.<br />
170<br />
4
Die ontologischen Gr<strong>und</strong>annahmen, auf denen Wissenschaftsprogramme beruhen,<br />
betreffen im Kern zwei mite<strong>in</strong>ander verb<strong>und</strong>ene Gr<strong>und</strong>fragestellungen:<br />
• Zum e<strong>in</strong>en ist danach zu fragen, ob die zu untersuchenden Phänomene<br />
der Realität von Individuen (e<strong>in</strong>schließlich des Forschers selbst)<br />
erdacht werden oder ob es sich um objektiv gegebene, außerhalb <strong>in</strong>dividueller<br />
Wahrnehmung liegende Tatsachen handelt.<br />
• E<strong>in</strong>e zweite, hiermit verb<strong>und</strong>ene, ontologische Fragestellung lautet, ob<br />
soziales Geschehen bestimmten Regeln oder gar Gesetzen folgt oder<br />
ob es sich völlig ungesteuert entfaltet.<br />
(1) Im H<strong>in</strong>blick auf den ontologischen Status der Wirklichkeit lassen sich idealisiert<br />
zwei extreme, sich diametral widersprechende Sichtweisen gegenüberstellen:<br />
Vertreter des Objektivismus verfolgen e<strong>in</strong>en sog. metaphysischen Realismus 15 :<br />
„(...) e<strong>in</strong>e objektive Realität existiert (…) <strong>und</strong> deren zutreffende sprachliche Darstellung<br />
e<strong>in</strong> Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis se<strong>in</strong> muß“ 16 . Der Forscher erhält<br />
als erkennendes Subjekt über se<strong>in</strong>en Wahrnehmungsapparat e<strong>in</strong>en direkten Zugang<br />
zur „Realität“ bzw. dem Objekt se<strong>in</strong>es Forschungs<strong>in</strong>teresses. 17 In dieser<br />
Sichtweise ist e<strong>in</strong>e klare Trennung zwischen dem Objekt <strong>und</strong> dem Subjekt der<br />
Forschungsanstrengungen (nämlich dem Untersuchungsgegenstand <strong>und</strong> dem Forscher)<br />
nicht nur möglich, sondern auch Gr<strong>und</strong>lage jeden Erkenntnisfortschrittes. 18<br />
Der Phänomenbereich, den der Forscher erschließen kann, ist pr<strong>in</strong>zipiell unendlich<br />
<strong>und</strong> wird nur durch die Möglichkeiten se<strong>in</strong>es Forschungs<strong>in</strong>strumentariums<br />
begrenzt.<br />
Dieser Dualismus von Objekt <strong>und</strong> Subjekt wird von dem Lager der Konstruktivisten<br />
aufgehoben. Basis ihrer Argumentation ist dabei die Sichtweise, dass Individuen<br />
die sie umgebende Welt <strong>in</strong> ihrem Bewusstse<strong>in</strong> konstruieren <strong>und</strong> anhand von<br />
Namen, Konzepten, vordef<strong>in</strong>ierten Kategorien usw. strukturieren. 19 Diese Position<br />
wird von den Vertretern des Konstruktivismus durch jeweils verschiedene Argumentationsl<strong>in</strong>ien<br />
zu belegen versucht. Dazu zählen etwa die auf Berger <strong>und</strong><br />
Luckmann (1980) zurückgehende sozial-konstruktivistische Sichtweise sowie der<br />
15 Vgl. Glasersfeld, E. v. (1981), S. 24 f.<br />
16 Raffée, H.; Abel, B. (1979), S. 5 (Hervorhebungen im Orig<strong>in</strong>al weggelassen).<br />
17 Vgl. Scherer, A. (1999), S. 5 ff.; Dachler, P. (1992), S. 170.<br />
18 Vgl. Dachler, P. (1992), S. 170; Hosk<strong>in</strong>g, D. (2000), S. 147 ff.<br />
19 Vgl. Burrell, G.; Morgan, G. (1979), S. 4.<br />
171<br />
5
neurophysiologisch/philosophisch geprägte kognitionstheoretische Konstruktivismus.<br />
20<br />
In der Literatur s<strong>in</strong>d verschiedene „Vermittlungsversuche“ zwischen dem metaphysischen<br />
Rationalismus <strong>und</strong> dem konstruktivistischen Relativismus zu f<strong>in</strong>den. 21<br />
E<strong>in</strong>e Gruppe von Autoren unterbreitet dabei Vorschläge zur Erarbeitung geteilter<br />
ontologischer Gr<strong>und</strong>annahmen. 22 Andere wiederum entwickeln eigenständige<br />
ontologische Positionen. 23<br />
Obwohl die Strukturationstheorie nur vage Bezug auf die Relativismus-<br />
Realismus-Debatte nimmt, lassen sich ihre Argumentationsfiguren auf diese Fragestellung<br />
beziehen. 24 Ausgangspunkt ist dabei die E<strong>in</strong>sicht, dass die soziale<br />
Wirklichkeit zwar unabhängig von dem Forschungssubjekt existieren mag, aber<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich nur durch dessen kognitive Systeme erfahrbar ist. Auch für Giddens<br />
existiert die soziale Wirklichkeit nicht außerhalb <strong>in</strong>dividueller Wissensstrukturen<br />
<strong>und</strong> der mit ihnen verknüpften Handlungen. 25 Diese Sichtweise arbeitet er <strong>in</strong> zentralen<br />
Bestandteilen se<strong>in</strong>er Strukturationstheorie aus: So entwickelt er e<strong>in</strong>e gr<strong>und</strong>legende<br />
Wissenskonzeption, auf der e<strong>in</strong>e Handlungskonzeption <strong>und</strong> dann e<strong>in</strong>e<br />
Konzeption sozialer Systeme aufbauen. Der grobe Zusammenhang zwischen den<br />
Kernkonzepten dieser (Meta-)Theorie sozialer Systeme wird im folgenden Abschnitt<br />
erläutert. 26<br />
20 Vgl. als Überblick <strong>und</strong> für andere konstruktivistische Argumentationen Knorr-Cet<strong>in</strong>a, K. (1989),<br />
Prawat, R. (1996), Mir, R.; Watson, A. (2000) oder Rüegg-Stürm, J. (2001).<br />
21 Neben diesen „Vermittlungsversuchen“ <strong>in</strong> der wissenschaftstheoretischen Inkommensurabilitätsdebatte,<br />
die <strong>in</strong> unterschiedlicher Form die Etablierung eigenständiger wissenschaftstheoretischer<br />
Positionen anstreben, werden noch andere Vorschläge zum Umgang mit dem Inkommensurabilitätsproblem<br />
unterbreitet. Hierzu gehört beispielsweise die enge Anlehnung an e<strong>in</strong> Wissenschaftsprogramm<br />
oder die Multiparadigma-Forschung. Vgl. zu diesen Alternativen Scherer,<br />
A. (1999), S. 20 ff., Hassard, J. (1993), S. 85 ff., Gioia, D.; Pitre, E. (1990) oder Van de Ven,<br />
A.; Poole, M. (1988).<br />
22 Als Beispiele für solche Vorschläge seien der sog. methodische Konstruktivismus (vgl. hierzu<br />
Lueken, G. (1992), S. 174 ff. sowie Scherer, A.; Ste<strong>in</strong>mann, H. (1999), S. 524 ff.) sowie Hunts<br />
„Realist Theory of Empirical Test<strong>in</strong>g“ (vgl. Hunt, S. (1994)) genannt.<br />
23 Siehe z. B. Morgan, G.; Smircich, L. (1980), S. 492 ff., für die der radikalkonstruktivistische<br />
Relativismus <strong>und</strong> der positivistische Realismus jeweils Extreme e<strong>in</strong>es Kont<strong>in</strong>uums darstellen,<br />
zwischen denen sie e<strong>in</strong>e Reihe <strong>in</strong>termediärer Sichtweisen def<strong>in</strong>ieren.<br />
24 Auf die ontologische Natur weiter Teile der Strukturationstheorie weisen Giddens selbst, aber<br />
auch andere Autoren h<strong>in</strong>. Hierzu zählt z. B. Cohen, I. (1989), der von dem „ontologischen Potenzial“<br />
der Strukturationstheorie spricht. Auch Ortmann, G.; Sydow, J.; W<strong>in</strong>deler, A. (2000)<br />
akzentuieren den eher wissenschaftstheoretischen Charakter der Strukturationstheorie, <strong>in</strong>dem<br />
sie sie als e<strong>in</strong>e „Metatheorie“ ansehen.<br />
25 Vgl. Giddens, A. (1981), S. 171.<br />
26 Hierbei sollte angemerkt werden, dass Giddens zentrale Ideen se<strong>in</strong>er Theorie mehrdeutig formuliert.<br />
Vgl. Walgenbach, P. (1995), S. 773 ff.; Duschek, S. (2001), S. 61 <strong>und</strong> die dort angegebene<br />
Literatur. Dies zw<strong>in</strong>gt den Forscher, der die Strukturationstheorie verwenden möchte, zu ei-<br />
172<br />
6
Das Aussagensystem der Strukturationstheorie kann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Wissens-, Handlungs<strong>und</strong><br />
Systemkonzeption untergliedert werden. Kern der Wissenskonzeption ist<br />
Giddens Gr<strong>und</strong>modell der menschlichen Psyche. Diese sieht er als e<strong>in</strong>en Vorrat,<br />
bestehend aus vergangenen Erfahrungen, den sog. Er<strong>in</strong>nerungsspuren (memory<br />
traces), der als Moderator <strong>und</strong> Speicher von <strong>in</strong>dividuellen Wahrnehmungen fungiert.<br />
Teile dieses Wissensvorrates werden über implizite oder explizite Mechanismen<br />
der Er<strong>in</strong>nerung <strong>in</strong> konkreten Handlungssituationen abgerufen <strong>und</strong> reproduziert.<br />
Dieser extern <strong>in</strong>duzierte Abruf von Wissen geschieht permanent <strong>und</strong><br />
begründet die Fähigkeit von Menschen zur Aufnahme <strong>und</strong> Verarbeitung von sensorischen<br />
Reizen aus der Umwelt. Giddens bezeichnet diese Fähigkeit als „Bewusstse<strong>in</strong>“.<br />
Weniger als Fähigkeit, sondern als Zustand betrachtet kann man hierfür<br />
auch die Bezeichnung „aktualisierte menschliche Psyche“ wählen. Unter Verwendung<br />
bestimmter Mechanismen steuert die aktualisierte menschliche Psyche<br />
die Handlungen von Individuen. Handlungen s<strong>in</strong>d dabei räumlich <strong>und</strong> zeitlich<br />
situierte E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en kont<strong>in</strong>uierlich ablaufenden Strom kausal verknüpfter<br />
(anderer) Handlungen oder Interaktionen, falls weitere Personen anwesend s<strong>in</strong>d.<br />
Wenn diese Handlungen (man könnte allgeme<strong>in</strong>er auch von Verhaltensweisen<br />
reden) zu unterschiedlichen Zeiten <strong>und</strong> an unterschiedlichen Orten mit e<strong>in</strong>er gewissen<br />
Ähnlichkeit (re-)produziert werden, dann stellen sie für Giddens e<strong>in</strong>e Praktik<br />
dar. Diese kann als soziale Praktik gelten, wenn das raumzeitlich stabile Verhalten<br />
(bzw. Handeln) mehrerer Aktoren wechselseitig aufe<strong>in</strong>ander Bezug nimmt<br />
(<strong>in</strong>terdependent ist) <strong>und</strong> auf diese Weise soziale Beziehungen begründet. Interdependente<br />
soziale Praktiken konstituieren soziale Systeme. Erreichen diese sozialen<br />
Systeme e<strong>in</strong>e sehr große raumzeitliche Ausdehnung, werden sie zu Institutionen.<br />
Der Zusammenhang zwischen der menschlichen Psyche, der aktualisierten<br />
menschlichen Psyche, dem Handeln <strong>und</strong> den sozialen Praktiken ist dabei nicht<br />
e<strong>in</strong>seitig (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er unidirektionalen Wirkungskette), sondern wechselseitig:<br />
Soziale Praktiken bee<strong>in</strong>flussen über ihre Eigenschaften <strong>in</strong>dividuelles Handeln;<br />
<strong>in</strong>dividuelles Handeln formt das Bewusstse<strong>in</strong>; Bewusstse<strong>in</strong>szustände werden <strong>in</strong><br />
Er<strong>in</strong>nerungsspuren abgespeichert. Abbildung 2 gibt diese Zusammenhänge graphisch<br />
wieder.<br />
ner <strong>in</strong>tensiven Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den genannten Arbeiten von Giddens <strong>und</strong> zum Schließen<br />
der von Giddens offen gelassenen Interpretationsspielräume. Daher ist die im Folgenden<br />
zu f<strong>in</strong>dende Darstellung der Strukturationstheorie weniger als Zusammenfassung, sondern eher<br />
als Rekonstruktion anzusehen. Dabei bemüht sich die Rekonstruktion um e<strong>in</strong>e Auslegung der<br />
Ideen von Giddens, die e<strong>in</strong>e Kohärenz des Theoriegebäudes herstellt <strong>und</strong> gleichzeitig häufig<br />
geäußerte Kritikpunkte an der Theorie berücksichtigt.<br />
173<br />
7
Gr<strong>und</strong>modell<br />
der menschlichen<br />
Psyche<br />
Er<strong>in</strong>nerungsmechanismen<br />
aktualisierte<br />
menschliche<br />
Psyche<br />
Mechanismen<br />
der Handlungssteuerung<br />
Handlungen<br />
Mechanismen<br />
der Systemreproduktion<br />
soziale<br />
Praktiken<br />
Abbildung 2: Zentrale Denkfiguren der Strukturationstheorie <strong>und</strong> ihr Zusammenhang (1/3) 27<br />
(2) Auch <strong>in</strong> Bezug auf die zweite zentrale ontologische Annahme von Wissenschaftsprogrammen,<br />
ob nämlich die soziale Realität gemäß Regeln oder Gesetzmäßigkeiten<br />
zustande kommt oder nicht, 28 lassen sich zwei Positionen idealisiert<br />
gegenüberstellen.<br />
Vertreter des Kritischen Rationalismus gehen implizit oder explizit von der Existenz<br />
von Logiken aus, die die Entwicklung von Phänomenen der (sozialen) Realität<br />
bestimmen. (Diese Gr<strong>und</strong>annahme bildet e<strong>in</strong>e Prämisse des deduktiv nomologischen<br />
Erklärungsmodells, das e<strong>in</strong>en zentralen Bestandteil der Epistemologie des<br />
kritischen Rationalismus bildet. 29 ) Die dort zugr<strong>und</strong>e gelegte Annahme von konstanten<br />
Zusammenhängen zwischen Variablen der (sozialen) Realität wird von<br />
Vertretern des radikalen Konstruktivismus stark relativiert. Aus dem Blickw<strong>in</strong>kel<br />
konstruktivistischer Positionen ist die Existenz struktureller Invarianzen des Sozialen<br />
zwar gr<strong>und</strong>sätzlich nicht ausschließbar. Wie aber alle anderen Phänomene<br />
der Realität s<strong>in</strong>d auch die Gesetze des Sozialen (wenn es sie denn tatsächlich gibt)<br />
nur über Wahrnehmungsprozesse zugänglich <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich e<strong>in</strong> Produkt<br />
menschlicher Vorstellungskraft.<br />
Zu e<strong>in</strong>em ähnlichen Ergebnis kommt Giddens (vgl. Giddens, A. (1984), S. 343 ff.<br />
<strong>und</strong> (1979), S. 242 f.). Für ihn ersche<strong>in</strong>t der empirische Nachweis <strong>in</strong>varianter<br />
Gesetzmäßigkeiten sozialen Verhaltens sehr unwahrsche<strong>in</strong>lich. 30 Zwei Gründe<br />
führt er hierfür an: Erstens bedürfen Gesetze, um zu wirken, e<strong>in</strong>es Mediums. Dieses<br />
Medium ist im Falle sozialer Gesetze das menschliche Handeln. Der Versuch,<br />
dieses Handeln auf bestimmte Gründe zurückzuführen, wie dies die Formulierung<br />
von Gesetzen <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften versucht, hat die moderierende Wirkung<br />
von situationsspezifischen, historisch gewachsenen Bewusstse<strong>in</strong>s<strong>in</strong>halten<br />
27 Quelle: Selbst erstellt unter Bezug auf Giddens, A. (1976/1979/1984).<br />
28 Vgl. Bunge, M. (1967), S. 376.<br />
29 Wie Weick, K. (1989), S. 517 zeigt, schlägt sich dieses Erklärungsmodell <strong>in</strong> verschiedenen<br />
Varianten der Theoriebildung nach dem Kritischen Rationalismus nieder.<br />
30<br />
Die Denkfiguren der Strukturationstheorie selbst können dies allerd<strong>in</strong>gs kaum begründen: Zwar<br />
bezieht Giddens an verschiedenen Stellen se<strong>in</strong>es Werkes zu diesem ontologischen Sachverhalt<br />
e<strong>in</strong>e klare Stellung. Diese lässt sich, trotz ihrer Anschlussfähigkeit, aber nur <strong>in</strong> Teilen aus der<br />
Strukturationstheorie herleiten.<br />
174<br />
8
des Handelnden zu kontrollieren. Handelnde erzeugen durch verschiedene kognitive<br />
Prozesse e<strong>in</strong>e Instabilität sozialwissenschaftlicher Kausalzusammenhänge, da<br />
die Individuen, auf die sich die Gesetzesaussage bezieht, um Standardverhaltensmuster<br />
zu erzeugen, auch e<strong>in</strong>e Art „Standardbewusstse<strong>in</strong>“ aufweisen müssten.<br />
Zweitens weist er darauf h<strong>in</strong>, dass sowohl sozialwissenschaftliche Theorien als<br />
auch die Fakten, die zur Falsifizierung oder (auch nur vorläufigen) Verifizierung<br />
der Theorien herangezogen werden, stets <strong>in</strong>terpretationsbedürftig s<strong>in</strong>d. Aufgr<strong>und</strong><br />
dieser Umstände schlägt Giddens vor, anstatt des naturwissenschaftlich belegten<br />
Begriffs „Gesetz“ <strong>in</strong> den Sozialwissenschaften den unschärferen Term<strong>in</strong>us „Verallgeme<strong>in</strong>erungen“<br />
zu verwenden.<br />
Verallgeme<strong>in</strong>erungen weisen im Gegensatz zu Gesetzen mit „naturwissenschaftlicher<br />
Güte“ e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>geschränkten Geltungsanspruch auf: Während „Gesetze“ aus<br />
positivistischer Sicht bis zu ihrer Widerlegung kontextungeb<strong>und</strong>en 31 gelten, verstehen<br />
sich sozialwissenschaftliche Verallgeme<strong>in</strong>erungen im von Giddens verwendeten<br />
S<strong>in</strong>ne stärker kontextgeb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> eher kurzfristig geltend. Neben dem<br />
oben genannten Gründen spricht dafür, dass soziale Phänomene eng mit ihrem<br />
Kontext verb<strong>und</strong>en s<strong>in</strong>d: E<strong>in</strong>zelne Handlungen ergeben sich aus e<strong>in</strong>er Historie<br />
unzähliger anderer Handlungen <strong>und</strong> bilden ihrerseits die Antezedenzen nachfolgender<br />
Handlungen. Auf diese Weise entsteht das Bild e<strong>in</strong>es Stroms kausal verknüpfter<br />
Handlungen, wie es sich <strong>in</strong> der strukturationstheoretischen Denkfigur der<br />
„Durée“ bei Giddens 32 wieder f<strong>in</strong>det.<br />
2.2 Das zugr<strong>und</strong>e gelegte Menschenbild<br />
Sozialwissenschaftliche Theoriebildung be<strong>in</strong>haltet immer die Analyse menschlichen<br />
Verhaltens <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e explizite oder implizite Stellungnahme zu dem Verhältnis<br />
zwischen dem Individuum e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er (sozialen) Umwelt andererseits.<br />
Typischerweise werden <strong>in</strong> Bezug hierauf (wie so oft) zwei Extrempositionen<br />
e<strong>in</strong>ander gegenüber gestellt: der Voluntarismus <strong>und</strong> der Determ<strong>in</strong>ismus. 33 E<strong>in</strong>e<br />
extrem determ<strong>in</strong>istische Position betrachtet den Menschen <strong>und</strong> se<strong>in</strong> Handeln als<br />
31 Vgl. Giddens, A. (1979), S. 246. „Kontextungeb<strong>und</strong>en“ bezieht sich auf die Annahme, dass bei<br />
Vorliegen gleicher Antezedenzbed<strong>in</strong>gungen die im Gesetz beschriebenen Zustände (Dann-<br />
Komponente) e<strong>in</strong>treten. Alles andere würde als Widerlegung des Gesetzes betrachtet.<br />
32 Vgl. Giddens, A. (1984), S. 3.<br />
33 So etwa <strong>in</strong> Burell, G.; Morgan, G. (1979), S. 6, Astley, G.; Van de Ven, A. (1983), S. 246 ff.,<br />
Perich, R. (1992), S. 184 ff. <strong>und</strong> Stetter, T. (1994), S. 262 ff. Vgl. diese Beiträge auch für e<strong>in</strong>e<br />
ausführlichere Darstellung der beiden Extrempositionen.<br />
175<br />
9
vollständig durch die Situation <strong>und</strong> die Umwelt bestimmt. 34 Aus der Warte des<br />
extremen Voluntarismus h<strong>in</strong>gegen handelt der Mensch vollkommen autonom <strong>und</strong><br />
nach freien Stücken. 35 Zwischen diesen beiden Gegenpolen existiert e<strong>in</strong> breiter<br />
<strong>in</strong>termediärer Bereich an Sichtweisen, <strong>in</strong> denen sowohl determ<strong>in</strong>istische als auch<br />
voluntaristische Faktoren zur Erklärung menschlichen Handelns herangezogen<br />
werden. 36 Die meisten Theorien, die <strong>in</strong> diesem Bereich anzusiedeln wären, äußern<br />
sich kaum explizit zu dem ihnen zugr<strong>und</strong>e liegenden Menschenbild <strong>und</strong> den damit<br />
verb<strong>und</strong>enen Problemen. Dabei werden <strong>in</strong> der Literatur verschiedene Möglichkeiten<br />
diskutiert, e<strong>in</strong>e solche Position auch wissenschaftstheoretisch zu untermauern.<br />
E<strong>in</strong>e Möglichkeit ist das Entwickeln von oder das Anknüpfen an e<strong>in</strong>er die beiden<br />
Gegenpole mite<strong>in</strong>ander verb<strong>in</strong>denden Konzeption. 37 E<strong>in</strong>e solche Konzeption ist<br />
die Strukturationstheorie. Mit ihrer zentralen Argumentationsfigur, der sog. „Dualität<br />
von Strukturen“, versucht sie den Dualismus zwischen Voluntarismus <strong>und</strong><br />
Determ<strong>in</strong>ismus aufzulösen.<br />
In der Strukturationstheorie s<strong>in</strong>d es soziale Strukturen, die die Handlungsautonomie<br />
des Aktors begrenzen <strong>und</strong> gleichzeitig erzeugen. Sie s<strong>in</strong>d (auch) enthalten <strong>in</strong><br />
den Wissensstrukturen, auf deren Gr<strong>und</strong>lage der Aktor se<strong>in</strong> Handeln koord<strong>in</strong>iert<br />
<strong>und</strong> die ihm so auch die Grenzen se<strong>in</strong>es Handelns aufzeigen. Da soziale Strukturen<br />
zwar kognitiv, aber unabhängig vom e<strong>in</strong>zelnen Individuum existieren, s<strong>in</strong>d sie<br />
im S<strong>in</strong>ne über<strong>in</strong>dividueller, geteilter Wissensstrukturen anzusehen: Als sog. „mutual<br />
knowledge“ liegen die über Raum <strong>und</strong> Zeit h<strong>in</strong>weg stabilisierten Strukturmomente<br />
sozialer Systeme bei ihren Mitgliedern geme<strong>in</strong>sam vor. 38<br />
Bereits damit wird deutlich, dass Handelnde <strong>und</strong> soziale Strukturen nicht vone<strong>in</strong>ander<br />
getrennte Phänomene (im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Dualismus) s<strong>in</strong>d. Nach Giddens setzen<br />
sie e<strong>in</strong>ander als zwei Seiten derselben Medaille voraus. Die Medaille, oder<br />
besser das Scharnier, welches die Vorstellung von Strukturen sozialer Systeme<br />
(sog. struktureller Momente) auf der e<strong>in</strong>en <strong>und</strong> die Bedeutung des Bewusstse<strong>in</strong>s,<br />
der Handlungen <strong>und</strong> der Interaktionen von Aktoren auf der anderen Seite mite<strong>in</strong>ander<br />
verb<strong>in</strong>den soll, ist das Konzept der Praktik. Daher bilden Praktiken den<br />
zentralen Bezugspunkt strukturationstheoretischer Analysen. Praktiken (<strong>und</strong> die <strong>in</strong><br />
34 Perich nennt als Beispiele für solche Ansätze die Populationsökologie <strong>und</strong> Lebenszyklustheorien.<br />
Vgl. Perich, R. (1992), S. 191 f.<br />
35 Beispiele für stark voluntaristisch geprägte Ansätze s<strong>in</strong>d laut Perich Persönlichkeitstheorien der<br />
Führung oder Theorien des geplanten Wandels. Vgl. Perich, R. (1992), S. 189 f.<br />
36 Morgan/Smircich (1980) formulieren e<strong>in</strong>e Reihe von <strong>in</strong>termediären Sichtweisen <strong>und</strong> Perich R.<br />
(1992), S. 184 ff. ordnet verschiedene Theorien entlang dieses Kont<strong>in</strong>uums auf.<br />
37 Vgl. zu Ansätzen im deutschsprachigen Raum M<strong>in</strong>der, K. (1994) <strong>und</strong> die Ausführungen bei<br />
Evers, M. (1998), S. 172 ff.<br />
38 Vgl. Giddens, A. (1984), S. XXXI, S. 4, S. 375.<br />
176<br />
10
ihnen enthaltenen Strukturen) s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>erseits über<strong>in</strong>dividuell, da sie <strong>in</strong> begrenztem<br />
Maße das Substituieren von Aktoren zulassen. So ermöglichen sie e<strong>in</strong>e Konzeptualisierung<br />
subjektloser, sozialer Strukturen. Andererseits verdeutlichen sie, dass<br />
Strukturen von Aktoren auch praktiziert werden müssen, um zu existieren. Ferner<br />
geben soziale Strukturen über das Medium der Praktiken dem <strong>in</strong>dividuellen Handeln<br />
e<strong>in</strong>e Form <strong>und</strong> begrenzen es dadurch gewissermaßen. Gleichzeitig ermöglichen<br />
sie dieses Handeln aber auch, <strong>in</strong>dem sie eben diese Form def<strong>in</strong>ieren. Sie<br />
stellen den Rahmen des Handelns dar, der e<strong>in</strong>e Menge „zulässiger“ Handlungen<br />
spezifiziert. Dieser Rahmen kann aber durch die Auslegung von Regeln verändert<br />
(z. B. erweitert oder verkle<strong>in</strong>ert) werden. „Zulässig“ me<strong>in</strong>t hier Regeln, die sich<br />
als Bestandteil von Praktiken im Alltagshandeln bewährt haben <strong>und</strong> die über das<br />
E<strong>in</strong>setzen von Ressourcen zur Anwendung gebracht werden. 39<br />
Mit diesen Gr<strong>und</strong>aussagen, die Giddens als „Dualität von Strukturen“ bezeichnet,<br />
soll die Strukturationstheorie im Kontext der Gegenpole des Voluntarismus <strong>und</strong><br />
des Determ<strong>in</strong>ismus etabliert werden. Oft werden die eben grob erläuterten Kernideen<br />
auf die Sentenz zugespitzt, dass „Strukturen das Handeln zugleich ermöglichen<br />
<strong>und</strong> begrenzen“. Dieser relativ e<strong>in</strong>fache Gedanke der Dualität von Strukturen,<br />
der das Menschenbild der Strukturationstheorie <strong>und</strong> ihre Position <strong>in</strong> der Voluntarismus-Determ<strong>in</strong>ismus-Debatte<br />
konstituiert, baut jedoch auf e<strong>in</strong>em relativ<br />
komplexen Gedankengebäude auf.<br />
2.3 Die methodologische Position der Strukturationstheorie<br />
Auf den ontologischen <strong>und</strong> anthropologischen Aussagen aufbauend enthält die<br />
Strukturationstheorie auch methodologische Komponenten, die H<strong>in</strong>weise auf<br />
Ansatzpunkte, Strategien <strong>und</strong> Methoden für Forschungsaktivitäten liefern.<br />
39 Damit schießt Giddens die Möglichkeit e<strong>in</strong>es mit Regeln nicht konform gehenden Handelns<br />
nicht aus. Das Konzept der sich überlappenden sozialen Systeme verweist allerd<strong>in</strong>gs darauf,<br />
dass e<strong>in</strong> Verstoß gegen situationsangemessene Praktiken aus der Warte anderer sozialer Systeme<br />
durchaus „zulässig“ se<strong>in</strong> kann. Die „Situationsangemessenheit“ e<strong>in</strong>er Handlung ist damit<br />
als e<strong>in</strong> relatives Konzept anzusehen <strong>und</strong> muss jeweils mit Blick auf die durch das Handeln des<br />
Aktors potenziell reproduzierbaren Systeme beurteilt werden.<br />
Reproduktion (so wie Giddens den Begriff verwendet) darf <strong>in</strong> strukturationstheoretischer Perspektive<br />
nicht gleich mit der identischen Wiederherstellung von Strukturen gesetzt werden. Mit<br />
jedem Handeln wird immer wieder neu die Gestalt der Struktur def<strong>in</strong>iert. Dabei bleibt offen, ob<br />
<strong>in</strong> dem neuen Handeln die Struktur so wiederhergestellt wird, wie sie zuvor hergestellt wurde.<br />
Dass Strukturen, um zu existieren, reproduziert werden müssen, präjudiziert nicht die Konstanz<br />
dieser Struktur. Aus Sicht der Strukturationstheorie ist der raumzeitliche Fortbestand von<br />
Strukturen genauso e<strong>in</strong> erklärungsbedürftiges Phänomen wie ihre Veränderung. Vgl. Giddens,<br />
A. (1979), S. 216.<br />
177<br />
11
Bei der Frage nach den adäquaten Ansatzpunkten für sozialwissenschaftliche<br />
Forschungsunterfangen gilt es zu klären, ob die Entscheidungen, Aktionen <strong>und</strong><br />
Interaktionen von Individuen im Mittelpunkt der Analyse stehen oder man auf<br />
e<strong>in</strong>er übergeordneten Ebene ansetzt <strong>und</strong> soziale Systeme betrachtet, wie sie sich <strong>in</strong><br />
aggregierten, über<strong>in</strong>dividuellen Größen darstellen. Ersteres propagiert der methodologische<br />
Individualismus, letzteres entspricht e<strong>in</strong>em methodologischen Kollektivismus.<br />
Baut man, der Strukturationstheorie folgend, e<strong>in</strong>e empirische Arbeit auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage der oben beschriebenen Dualität von Strukturen auf, erweisen sich der<br />
methodologische Kollektivismus <strong>und</strong> der methodologische Individualismus nicht<br />
mehr als sich gegenseitig ausschließende Alternativen: Die Gesamtheit der Dualität<br />
von Strukturen <strong>und</strong> die von ihr thematisierten Betrachtungsebenen sollen nach<br />
Ansicht Giddens der Ansatzpunkt für die sozialwissenschaftliche Analyse darstellen<br />
<strong>und</strong> nicht entweder (nur) das Handeln e<strong>in</strong>zelner Aktoren oder (lediglich) die<br />
Charakteristika sozialer Aggregate.<br />
Bedeutsam hierbei ist, dass die Dualität von Strukturen um Giddens Konzept der<br />
Praktiken kreist. Auf der e<strong>in</strong>en Seite dieses Konzeptes stehen subjektlose Strukturen<br />
sozialer Systeme. Diese Strukturen bestehen aus Regelgefügen, die <strong>in</strong> verschiedenen,<br />
durch sie mehr oder m<strong>in</strong>der lose spezifizierten Kontexten anwendbar<br />
s<strong>in</strong>d. Auf der anderen Seite steht die Ebene des Handelns, die eng mit dem Kontext<br />
verwoben ist, da Handlungen zeitlich, räumlich <strong>und</strong> personell situiert s<strong>in</strong>d. 40<br />
Der empirische Zugang zu Praktiken <strong>und</strong> den <strong>in</strong> ihnen enthaltenen strukturellen<br />
Momenten erfolgt durch das alternierende E<strong>in</strong>nehmen e<strong>in</strong>er kollektivistischen <strong>und</strong><br />
e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>dividualistischen Perspektive 41 :<br />
1. In der sog. Analyse des Strategischen Handelns stehen die situierten<br />
E<strong>in</strong>zelhandlungen <strong>und</strong> Interaktionen der Aktoren im Vordergr<strong>und</strong> der<br />
Betrachtung. Im Rahmen des Studiums sozialer Interaktionen soll die<br />
Art <strong>und</strong> Weise untersucht werden, wie die Aktoren bei ihrem Handeln<br />
Regeln <strong>und</strong> Ressourcen e<strong>in</strong>setzen <strong>und</strong> dabei ihr Wissen mobilisieren.<br />
Weil Forscher bei dieser Analyse Vorstellungen dessen haben müssen,<br />
was sie erforschen, werden die Strukturmomente sozialer Praktiken zunächst<br />
als gegeben angesehen.<br />
2. In der sog. Institutionellen Analyse setzt man auf e<strong>in</strong>er strukturellen<br />
Ebene an <strong>und</strong> zielt auf die Untersuchung sozialer Gesamtheiten ab. Im<br />
40 Vgl. Duschek, S. (2001), S. 80.<br />
41 Schon früh <strong>in</strong> der Soziologie wurde e<strong>in</strong> solcher Wechsel zwischen mikroskopisch <strong>in</strong>dividualistischen<br />
<strong>und</strong> makroskopisch kollektivistischen Perspektiven verwendet. Vgl. hierzu Mayhew, B.<br />
(1980), S. 360 <strong>und</strong> die dort angegebene Literatur.<br />
178<br />
12
Mittelpunkt stehen <strong>in</strong> dieser über<strong>in</strong>dividuellen Betrachtung aggregierte<br />
Größen. Diese sollen unter der Annahme analysiert werden, dass sie e<strong>in</strong>e<br />
tatsächliche Relevanz für das Verhalten von Aktoren <strong>in</strong> dem sozialen<br />
System, das sie strukturieren (sollen), besitzen. Auf diesem Wege erarbeitet<br />
sich der Forscher auch e<strong>in</strong> „Vor-“Verständnis, das er für die Analyse<br />
des Strategischen Handelns benötigt.<br />
Beide Analyseschritte stehen <strong>in</strong> enger wechselseitiger Abhängigkeit zue<strong>in</strong>ander,<br />
da sie jeweils die Voraussetzungen füre<strong>in</strong>ander schaffen. Im praktischen Forschungsvollzug<br />
ist jedoch die zeitgleiche Betrachtung des gesamten Strukturationsprozesses,<br />
im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er simultanen Zweiebenenbetrachtung, kaum möglich.<br />
Daher empfiehlt Giddens e<strong>in</strong>e (zeitweise) Konstantsetzung der Ergebnisse der<br />
Institutionellen Analyse, während man das Verhalten von Aktoren untersucht, <strong>und</strong><br />
vice versa. Er bezeichnet dies als „E<strong>in</strong>klammern“.<br />
Wenn unter Strategien globale Beschreibungen von Aktivitätsstrukturen zur Erreichung<br />
von Zielen verstanden werden, dann kann die grobe Strukturierung der<br />
Aktivitäten der Erkenntnisgew<strong>in</strong>nung als Formulierung e<strong>in</strong>er Forschungsstrategie<br />
gelten. Hierzu werden <strong>in</strong> der Literatur zur empirischen Sozialforschung verschiedene<br />
Vorschläge diskutiert. E<strong>in</strong>e Gruppe an Forschungsstrategien ist dabei im<br />
Kritischen Rationalismus verwurzelt <strong>und</strong> nimmt daher <strong>in</strong> starkem Maße auf das<br />
deduktiv-nomologische Erklärungsmodell Bezug: Aktivitäten der empirischen<br />
Forschung dienen dazu, Hypothesen über Zusammenhänge zwischen sozialen<br />
Phänomenen aufzustellen <strong>und</strong> diese durch die Konfrontation mit den gewonnenen<br />
Daten zu verifizieren bzw. zu verwerfen. Verschiedene Anforderungen an die<br />
zentralen Aktivitäten „Hypothesenformulierung“ <strong>und</strong> „empirische Realisierungsversuche“<br />
(d. h. empirische Überprüfung der Gültigkeit von Hypothesen) bilden<br />
den Kern dieser Methodologie. Andere Forschungsstrategien lassen sich als<br />
explorative Strategien empirischer Forschung kennzeichnen, die konstruktivistisches<br />
Gedankengut umsetzen. Hier stehen Überlegungen im Mittelpunkt, wie e<strong>in</strong><br />
Forscher se<strong>in</strong>e Problem- oder Objektbereiche def<strong>in</strong>iert <strong>und</strong> wie er zu jenen Begriffssystemen<br />
<strong>und</strong> Theoriegebäuden gelangt, die er für die Entwicklung von<br />
Hypothesen oder für die Beschreibung se<strong>in</strong>es Forschungsgegenstandes benötigt.<br />
Diese Fragestellungen werden von Vertretern des Kritischen Rationalismus typischerweise<br />
dem sog. „Entdeckungszusammenhang“ zugeordnet. 42 Nicht zuletzt<br />
weil dieser Bereich als e<strong>in</strong>e Domäne der Subjektivität angesehen wird, gilt er dort<br />
als dem eigentlichen Wissenschaftsprozess vorgeschaltet. 43 Dennoch gibt es e<strong>in</strong>e<br />
42 Vgl. etwa Friedrichs, J. (1973), S. 50 ff.<br />
43 Vgl. Reichertz, J. (2000), S. 277.<br />
179<br />
13
ganze Reihe an Vorschlägen, wie diese Aktivitäten <strong>und</strong> Problemfelder des Forschungsprozesses<br />
„rationalisiert“ <strong>und</strong> methodisch unterstützt werden können. 44 Im<br />
Kontext der <strong>in</strong>terpretativen Sozialforschung spielt dabei beispielsweise die von<br />
Glaser/Strauss entwickelte „Gro<strong>und</strong>ed Theory“ e<strong>in</strong>e hervorgehobene Rolle. Sie<br />
wurde schon zu e<strong>in</strong>em relativ frühen Zeitpunkt <strong>in</strong> die Diskussion e<strong>in</strong>gebracht <strong>und</strong><br />
zählt heute zu den meist zitierten Methodenbeiträgen im Bereich der qualitativen<br />
Sozialforschung. 45 E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Alternative/Ergänzung zur Gro<strong>und</strong>ed Theory<br />
schlägt Kubicek 46 vor. Er sieht den exploratorischen Forschungsprozess als e<strong>in</strong>en<br />
von e<strong>in</strong>em theoretischen Erkenntnisziel geleiteten Lernprozess an. Dieser Lernprozess<br />
vollzieht sich zunächst beim Forscher. Er macht ihn zu e<strong>in</strong>em „Experten“<br />
<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Expertise, vermittelt etwa über Forschungsberichte, kann anderen Personen<br />
– Studenten, Praktikern oder Wissenschaftlern – e<strong>in</strong>e Orientierungsleistung<br />
bieten. Medium des Lernprozesses (auf Seiten des Forschers) s<strong>in</strong>d dabei zunächst<br />
theoretisch geleitete Fragen an die Realität. Diese br<strong>in</strong>gen das Vorverständnis des<br />
Forschers e<strong>in</strong>. Durch die Verarbeitung des im Zuge der Forschungsarbeiten erworbenen<br />
Wissens wird dann die Entwicklung immer neuer Fragen angestrebt,<br />
die dieses Vorverständnis iterativ ausformen.<br />
Das Forschungsdesign beschreibt <strong>und</strong> begründet das konkrete, methodengestützte<br />
Vorgehen bei der Sammlung <strong>und</strong> Analyse von Daten im Forschungsprozess <strong>und</strong><br />
stellt die Umsetzung der Forschungsstrategie dar. 47 Speziell wegen der unterschiedlichen<br />
Ansatzpunkte strukturationstheoretischer Analysen ist der E<strong>in</strong>satz<br />
e<strong>in</strong>er ganzen Bandbreite von Forschungsmethoden nicht nur möglich, sondern<br />
auch erforderlich.<br />
Wie oben beschrieben, nähert sich der Forscher dem Konstrukt „soziale Praktiken“<br />
bei strukturationstheoretischen Analysen von zwei mite<strong>in</strong>ander verb<strong>und</strong>enen<br />
Seiten, <strong>und</strong> zwar der Analyse des Strategischen Handelns von Aktoren <strong>und</strong> der<br />
Institutionellen Analyse. Erstere stellt das Handeln <strong>und</strong> das Wissen von Individuen<br />
<strong>in</strong> den Mittelpunkt der Analyse. Letztere sucht nach aggregierten Größen zur<br />
Erfassung über<strong>in</strong>dividueller Merkmale der durch die sozialen Praktiken konstituierten<br />
sozialen Systeme. Dementsprechend s<strong>in</strong>d die unterstützenden Methoden zur<br />
Datenerhebung <strong>und</strong> -auswertung auch auf die Anforderungen beider Analyseperspektiven<br />
h<strong>in</strong> auszurichten. Allerd<strong>in</strong>gs ergeben sich, auch mit Blick auf das ontologische<br />
F<strong>und</strong>ament der Strukturationstheorie, e<strong>in</strong>e Reihe weiterer methodologi-<br />
44 Vgl. hierzu ausführlich Kelle, U. (1994).<br />
45 Vgl. Denz<strong>in</strong>, N.; L<strong>in</strong>coln, Y. (1994), S. 204; Locke, K. (1996).<br />
46 Vgl. hierzu Kubicek, H. (1977), S. 12 ff., aber auch Wollnik, M. (1977), S. 42 ff., deren Argumentationen<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e vergleichbare Richtung gehen.<br />
47 Vgl. Flick, U. (2000), S. 252 oder Rag<strong>in</strong>, C. (1994), S. 191.<br />
180<br />
14
scher Konsequenzen, die es ebenfalls bei der Entwicklung des Forschungsdesigns<br />
zu beachten gilt:<br />
• Gr<strong>und</strong>sätzlich ist das verwendete Forschungs<strong>in</strong>strumentarium so auszuwählen,<br />
dass das Relevanzsystem (d. h. die Wissensstrukturen) der „Erforschten“<br />
sich so ungestört wie möglich entfalten kann. Damit soll vermieden<br />
werden, dass der Forscher Bedeutungen <strong>in</strong> die empirische Evidenz<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>projiziert, die die „Schaffer“ dieser Evidenz nicht so zuordnen<br />
würden. 48 Diesem Vorgehen s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs mehr oder m<strong>in</strong>der enge<br />
Grenzen gesteckt, die aus allgeme<strong>in</strong>en Überlegungen folgen: Zum e<strong>in</strong>en<br />
ist der Forschungsprozess als e<strong>in</strong> Prozess der (direkten oder <strong>in</strong>direkten)<br />
Interaktion zwischen Erforschtem <strong>und</strong> Forscher zu sehen, wobei der Forscher<br />
se<strong>in</strong>em Anteil der Interaktion gr<strong>und</strong>sätzlich se<strong>in</strong> eigenes Wissen <strong>in</strong><br />
vielfältiger Weise zugr<strong>und</strong>e legt. Zum anderen geht es im Rahmen der<br />
Forschung um e<strong>in</strong>e Rekonstruktion e<strong>in</strong>es Wissensbestandes. Diese Rekonstruktion<br />
ist zwangsläufig mit der Interpretation der empirischen Evidenz<br />
verknüpft.<br />
• Der Forschungsprozess, wie auch alles andere Handeln, läuft sowohl auf<br />
expliziter als auch auf impliziter Ebene ab. 49 Dementsprechend kann <strong>in</strong><br />
empirischen Untersuchungen auch nur e<strong>in</strong> gewisses Maß an Kontrolle,<br />
z. B. über Interviewsituationen oder auch den Kontext der Analyse des<br />
Datenmaterials, ausgeübt werden.<br />
• Unter den Bed<strong>in</strong>gungen beschränkter Ressourcen gestattet der E<strong>in</strong>satz<br />
e<strong>in</strong>es kontextsensitiven Instrumentariums oftmals nur die Betrachtung relativ<br />
ger<strong>in</strong>ger Fallzahlen – zum<strong>in</strong>dest im Rahmen der Analyse des strategischen<br />
Handelns.<br />
Diese Restriktionen machen deutlich, dass e<strong>in</strong> Forschungsdesign für strukturationstheoretische<br />
(Branchen-) Analysen nicht auf der Gr<strong>und</strong>lage e<strong>in</strong>iger weniger<br />
Verfahren zur Sammlung <strong>und</strong> Analyse von Daten über den Untersuchungsbereich<br />
aufbauen kann. Vielmehr ist e<strong>in</strong> h<strong>in</strong>reichend fe<strong>in</strong>gliedriges Vorgehen zu wählen,<br />
das der Differenziertheit des strukturationstheoretischen Analyserahmens Rechung<br />
trägt. Dies ist nur mit e<strong>in</strong>er Komb<strong>in</strong>ation unterschiedlicher Vorgehensweisen<br />
bei der Sammlung <strong>und</strong> Analyse von Daten zu erreichen. Dabei schließt die<br />
Strukturationstheorie gr<strong>und</strong>sätzlich ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelnen Datenerhebungs- <strong>und</strong> Verarbeitungsmethoden<br />
als ungeeignet aus. Sie müssen nur durch e<strong>in</strong>e Reihe anderer<br />
48 Vgl. Bohnsack, R. (2000), S. 21 f.<br />
49 Vgl. hierzu auch Polanyi, M. (1967), S. 20 f.<br />
181<br />
15
Methoden ergänzt werden, damit den oben beschriebenen Anforderungen an e<strong>in</strong><br />
Forschungsdesign Genüge getan wird.<br />
2.4 Epistemologische Schlussfolgerungen für strukturationstheoretische<br />
Forschungsarbeit<br />
Kriterien oder Regeln, an denen sich die Güte der Antwort (als Ergebnis wissenschaftlichen<br />
Arbeitens) sowie des Antwortens (als Prozess wissenschaftlichen<br />
Arbeitens) auf vorab gestellte Forschungsfragen messen lassen muss, s<strong>in</strong>d Gegenstand<br />
von epistemologischen Aussagen. Leider entwirft Giddens ke<strong>in</strong>en solchen<br />
Kriterienkatalog <strong>und</strong> stellt ke<strong>in</strong>e entsprechenden Regeln auf. Zwar kritisiert<br />
er speziell positivistisch geprägte Epistemologien. Er versäumt es aber, selbst e<strong>in</strong><br />
der Strukturationstheorie entsprechendes Regelsystem zur Erkenntnisgew<strong>in</strong>nung<br />
zu entwickeln. Daher müssen passende epistemologische Festlegungen, als e<strong>in</strong><br />
Kernstück von Wissenschaftsprogrammen, vom Anwender der Strukturationstheorie<br />
selbst getroffen werden. Die ontologischen, methodologischen <strong>und</strong> anthropologischen<br />
Aussagen der Strukturationstheorie geben hierfür verschiedene (teilweise<br />
versteckte) H<strong>in</strong>weise.<br />
Analog zu ontologischen Positionsbestimmungen werden auch <strong>in</strong> Bezug auf Epistemologien<br />
<strong>in</strong> der wissenschaftstheoretischen Literatur häufig wieder konstruktivistische<br />
<strong>und</strong> positivistische Positionen e<strong>in</strong>ander gegenüber gestellt. 50 Dabei wird<br />
teilweise dem e<strong>in</strong>en Lager e<strong>in</strong> „erklärendes“ <strong>und</strong> dem andern e<strong>in</strong> „verstehendes“<br />
Herantreten an den Untersuchungsgegenstand attestiert <strong>und</strong> der diesbezügliche<br />
Widerstreit als „Erklären-Verstehen-Debatte“ 51 bezeichnet. 52<br />
Die positivistische Epistemologie ist darauf ausgerichtet, Kausalbeziehungen<br />
zwischen den Komponenten e<strong>in</strong>er subjektunabhängigen Realität herauszuarbeiten<br />
<strong>und</strong>, hierauf aufbauend, Gesetze ihres Zusammenwirkens zu formulieren. Dementsprechend<br />
orientiert sich ihre Epistemologie an dem deduktiv-nomologischen<br />
Modell des „Erklärens“ 53 . Während im Rahmen der Institutionellen Analyse die<br />
„erklärende“ Epistemologie s<strong>in</strong>nvoll e<strong>in</strong>setzbar ersche<strong>in</strong>t, ist sie für Analysen des<br />
50 Vgl. etwa Burrell, G.; Morgan, G. (1976), Morgan, G.; Smircich, L. (1980) oder Mir, R.; Watson,<br />
A. (2000).<br />
51 Vgl. zu e<strong>in</strong>er ausführlichen Rekonstruktion dieser Debatte etwa Kelle, U. (1994), S. 57 ff.<br />
52 Dies erweist sich, was von verschiedenen Autoren auch betont wird, als teilweise verkürzt:<br />
Kritische Rationalisten greifen häufig <strong>in</strong> ihren Untersuchungen auf „verstehende“ Vorgehensweisen<br />
zurück <strong>und</strong> Konstruktivisten können Erkenntnisse e<strong>in</strong>es „erklärenden“ Zugangs s<strong>in</strong>nvoll<br />
verwenden. Vgl. Kieser, A. (1995), S. 21 f. Beide Epistemologien werden hier lediglich<br />
aus Gründen der vere<strong>in</strong>fachten Darstellung idealisierend gegenüber gestellt.<br />
53 Vgl. hierzu umfassend Stegmüller, W. (1969), S. 86.<br />
182<br />
16
strategischen Handelns aus e<strong>in</strong>er Reihe von Gründen mit Problemen behaftet. 54<br />
Daher greift die Epistemologie des kritischen Rationalismus für die strukturationstheoretische<br />
Analysen zu kurz. Speziell für Belange der Analyse des strategischen<br />
Handelns ist es ihr Pendant, der „verstehende“ Zugang, der zu bevorzugen<br />
ist. „Verstehen“ bedeutet dabei <strong>in</strong> der Literatur typischerweise die (durch den<br />
Forscher vollzogene) Rekonstruktion der Prozesse der Wahrnehmung <strong>und</strong> der<br />
Zuschreibung von S<strong>in</strong>n durch die betrachtete Person (das Forschungs-Subjekt). 55<br />
Nach konstruktivistischem Duktus existiert e<strong>in</strong>e Reihe von Maximen, nach denen<br />
der Forscher so se<strong>in</strong>en Erkenntnisgegenstand verstehen lernen soll <strong>und</strong> die e<strong>in</strong>e<br />
Bestimmung <strong>und</strong> ggf. Steigerung der „Güte“ dieses Verständnisses ermöglichen.<br />
Dazu zählen die Explizierung des Forschungsprozesses 56 , das Zurückstellen der<br />
theoretischen (Vor-)Strukturierung des Forschungsgegenstandes 57 , e<strong>in</strong> thematisch<br />
breites (holistisches) Herantreten an den Untersuchungsgegenstand <strong>und</strong> die Angemessenheit<br />
der Kommunikation mit dem Forschungsobjekt.“ 58<br />
Diese Sichtweise <strong>in</strong> Bezug auf das Zusammenspiel erklärender <strong>und</strong> verstehender<br />
Zugänge zu sozialen Phänomenen führt zu verschiedenen Implikationen für den<br />
Erkenntnisgew<strong>in</strong>nungsprozess <strong>in</strong> strukturationstheoretischen Analysen. Das Vorgehen<br />
ist als e<strong>in</strong> iterativer Prozess zu gestalten, bei dem mit jeder Iteration der<br />
Zugang zum Phänomenbereich wechselt. Im Zuge dieses Prozesses schafft jede<br />
Iteration die Voraussetzungen für den nachfolgenden Schritt: Individuen geben<br />
Auskunft darüber, welche strukturellen Momente zu analysieren s<strong>in</strong>d, <strong>und</strong> die<br />
Analyse dieser Strukturen liefert die Vokabeln oder gibt H<strong>in</strong>weise auf die relevante<br />
Sachverhalte für die Betrachtung <strong>in</strong>dividuellen Handelns. Den Anfangspunkt <strong>in</strong><br />
diesem Prozess sollte die Entwicklung oder Präzisierung <strong>und</strong> Ausformulierung<br />
e<strong>in</strong>es Vorverständnisses markieren. Dies ersche<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>nvoll, da der Forscher<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich mit Vorwissen an se<strong>in</strong>en Untersuchungsgegenstand (die soziale<br />
Praktik) herantritt, sich also zunächst auf e<strong>in</strong>er über<strong>in</strong>dividuellen Ebene bewegt.<br />
Im Zuge des Forschungsprozesses erfolgt dann die iterative, aber kont<strong>in</strong>uierlich<br />
abfolgende Erschließung der fokalen Wissensstrukturen durch den Forscher, wobei<br />
erklärende <strong>und</strong> verstehende Zugänge im Wechsel erfolgen. E<strong>in</strong>en (vorläufigen)<br />
Abschluss des Forschungsprozesses bildet die vorgenommene Rekonstruktion<br />
des neu gewonnenen Verständnisses des Forschers von se<strong>in</strong>em Untersuchungsgegenstand.<br />
54 Vgl. dazu Cappallo, S. (2005), S. 69 ff.<br />
55 Vgl. Habermas, J. (1981a), S. 159ff.; Kieser, A. (1995), S. 15.<br />
56 Vgl. Rusch, G. (1987), S. 262 f.<br />
57 Vgl. Hoffmann-Riem, C. (1980), S. 343.<br />
58 Vgl. Kelle, U. (1994), S. 217.<br />
183<br />
17
3 INTENTIONALITÄT AUS STRUKTURATIONSTHEORTISCHER<br />
PERSPEKTIVE<br />
E<strong>in</strong>e weitere Denkfigur der Strukturationstheorie stellt die „Intentionalität“ des<br />
Handelns <strong>und</strong> des Handelnden da. Obwohl sie auch als Teil der anthropologischen<br />
Position der Strukturationstheorie gelten kann, wird sie hier gesondert betrachtet.<br />
So lässt sie, wie im Abschlusskapitel zu sehen se<strong>in</strong> wird, die Funktionen <strong>und</strong> Ziele<br />
strukturationstheoretisch geleiteten Erkenntnisfortschritts besonders deutlich hervortreten.<br />
Ferner lässt sich hier gut zeigen, dass die Strukturationstheorie sowohl<br />
auf den Untersuchungsgegenstand der Sozialforschung als auch reflexiv auf die<br />
Forschung selbst angewandt werden kann. Für beide Anwendungsfelder lassen<br />
sich aus den allgeme<strong>in</strong>en Funktionen strukturationstheoretischen Erkenntnisfortschritts<br />
59 jeweils spezifische Ziele bilden.<br />
3.1 Intentionalität als Denkfigur der Strukturationstheorie<br />
Das strukturationstheoretische Schichtenmodell der menschlichen Psyche besagt,<br />
dass im Pr<strong>in</strong>zip alles Wissen über die Welt <strong>in</strong> den Ebenen des Bewusstse<strong>in</strong>s <strong>und</strong><br />
des Unterbewusstse<strong>in</strong>s der sie bevölkernden Menschen als Er<strong>in</strong>nerungsspuren<br />
gespeichert ist. Bezogen auf die Perspektive des Handelnden geht Giddens entsprechend<br />
davon aus, dass e<strong>in</strong> Aktor sehr viel über die Umstände se<strong>in</strong>es Handelns<br />
<strong>und</strong> der Handlungen anderer weiß. 60 Das <strong>in</strong> der Sek<strong>und</strong>ärliteratur zur Strukturationstheorie<br />
häufig aufzuf<strong>in</strong>dende Zitat hierzu lautet:<br />
„All competent members of society are vastly skilled <strong>in</strong> the practical<br />
accomplishments of social activities and are expert >>sociologists
d<strong>in</strong>gs nur für e<strong>in</strong>en vergleichsweise kle<strong>in</strong>en Teil der kont<strong>in</strong>uierlich erfolgenden<br />
Handlungen des Aktors. Giddens vermutet, dass der größere Teil des Wissens auf<br />
impliziter Ebene <strong>in</strong> das Handeln e<strong>in</strong>fließt <strong>und</strong> die eigentliche Gr<strong>und</strong>lage für e<strong>in</strong><br />
Zurechtf<strong>in</strong>den <strong>in</strong> den tagtäglichen sozialen Interaktionen bildet.<br />
In Bezug auf beide Ebenen des Handelns können Aktoren <strong>in</strong>tentional handeln.<br />
Dabei def<strong>in</strong>iert Giddens „<strong>in</strong>tentional“ als „characteriz<strong>in</strong>g an act which its perpetrator<br />
knows, or believes, will have a particular quality or outcome and where<br />
such knowledge is utilized by the author of the act to achieve this quality or outcome.”<br />
62<br />
1. Auf e<strong>in</strong>er expliziten Ebene vermag e<strong>in</strong> Aktor die Gründe für se<strong>in</strong> Tun<br />
darzulegen. 63 Hierzu muss er aus dem Strom sich kont<strong>in</strong>uierlich vollziehender<br />
Handlungen e<strong>in</strong>en bestimmten S<strong>in</strong>n „herausziehen“, wodurch er<br />
zwangsläufig von der Komplexität alltäglicher Interaktionen abstrahiert.<br />
Dieses „Herausziehen“ besteht aus der Identifikation von m<strong>in</strong>destens<br />
zwei (<strong>in</strong>tentionalen) Handlungen <strong>und</strong> der begründeten Herstellung e<strong>in</strong>er<br />
logischen Beziehung zwischen beiden. Dabei wird die Beziehung zwischen<br />
zwei Handlungen nicht durch „Gesetze des Sozialen“, wie sie <strong>in</strong><br />
determ<strong>in</strong>istischen Ansätzen der Sozialwissenschaften angenommen<br />
werden, sondern durch den Aktor selbst begründet. Dieser kann freilich,<br />
im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er „wissenschaftlich abgesicherten“ Begründung, dabei auf<br />
determ<strong>in</strong>istische Sichtweisen zurückgreifen, ohne dass sie aber <strong>in</strong> den<br />
Augen von Giddens gelten würden. 64<br />
2. Da Giddens Intentionalität als e<strong>in</strong> alltägliches, kont<strong>in</strong>uierlich reproduziertes<br />
Merkmal menschlicher Interaktion def<strong>in</strong>iert, das gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
ohne das Vorhandense<strong>in</strong> präzise formulierter (oder formulierbarer) Ziele<br />
auskommt, gibt es Intentionalität auch auf e<strong>in</strong>er impliziten Ebene. 65<br />
Die auf dieser Ebene reproduzierten Theorien <strong>und</strong> Wissensstrukturen<br />
zielen auf e<strong>in</strong> „Zurechtkommen“ im Alltagsleben ab, welches zu e<strong>in</strong>em<br />
großen Teil auf den nicht erkannten Bed<strong>in</strong>gungen des Handelns beruht.<br />
Dies trägt der Sichtweise Rechnung, dass sich der Alltag oft nicht an<br />
klar def<strong>in</strong>ierten Zielen orientiert. 66 Dabei darf man hier nicht den E<strong>in</strong>druck<br />
erlangen, Giddens folge e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong> voluntaristischen Menschenbild.<br />
Handlungen können auch nicht <strong>in</strong>tendierte Folgen nach sich ziehen.<br />
Je weiter Handlungsfolgen <strong>in</strong> Raum <strong>und</strong> Zeit vom unmittelbaren<br />
62 Giddens, A. (1984), S. 10.<br />
63 Vgl. Giddens, A. (1984), S. 376.<br />
64 Vgl. Giddens, A. (1976), S. 90 ff.<br />
65 Giddens, A. (1979), S. 56.<br />
66 Vgl. Giddens, A. (1976), S. 89.<br />
185<br />
19
Handlungskontext entfernt s<strong>in</strong>d, desto größer ist die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit,<br />
dass diese Folgen nicht <strong>in</strong>tentional s<strong>in</strong>d. Dabei kommt es allerd<strong>in</strong>gs<br />
immer auf die <strong>in</strong>dividuelle „Knowledgeability“ <strong>und</strong> Machtausstattung<br />
an. 67 Ferner setzt Handeln als E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Strom an Handlungen<br />
immer auch das Handeln anderer Aktoren voraus. Damit werden die<br />
Resultate des eigenen Handelns stets auch von den Handlungen anderer<br />
bestimmt.<br />
Ergänzend dazu stellt Giddens fest, dass, wenn es e<strong>in</strong>e kausal vernetzte Intervention<br />
e<strong>in</strong>es Aktors <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fortwährenden Strom von Handlungen geben kann,<br />
dies se<strong>in</strong>er Ansicht nach gr<strong>und</strong>sätzlich auch impliziert, dass diese Intervention<br />
ausbleiben kann <strong>und</strong> kont<strong>in</strong>gent ist. 68<br />
3.2 Intentionalität <strong>in</strong> der wissenschaftlichen <strong>und</strong> nichtwissenschaftlichen<br />
Praxis<br />
Das Konzept der Intentionalität kann, wie auch die anderen Denkfiguren der<br />
Strukturationstheorie, gr<strong>und</strong>sätzlich auf alle Ausschnitte der sozialen Realität<br />
angewandt werden. Solche Ausschnitte können z. B. die wissenschaftliche <strong>und</strong> die<br />
nichtwissenschaftliche soziale Praxis se<strong>in</strong>.<br />
Die nichtwissenschaftliche soziale Praxis ist typischerweise Haupt-<br />
Gegenstandsbereich sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeiten. Hier s<strong>in</strong>d es die<br />
Wissensstrukturen, Handlungen <strong>und</strong> sozialen Systeme (oder kurz: die sozialen<br />
Praktiken) mit ihren jeweiligen strukturellen Momenten, die im Mittelpunkt strukturationstheoretischer<br />
Betrachtungen stehen. Wissensstrukturen, die <strong>in</strong>tentional im<br />
Rahmen sozialer Praktiken mobilisiert werden, dürften dabei zwei Merkmale<br />
aufweisen: sie werden als „objektiv“ wahrgenommen <strong>und</strong> sie s<strong>in</strong>d bei der Bewältigung<br />
alltagsweltlicher Problemstellungen erfolgreich. Mit diesen Feststellungen<br />
lässt sich die Konzeptualisierung anschlussfähig präzisieren bzw. ausführen.<br />
Aus e<strong>in</strong>er positivistischen Perspektive ist etwas „objektiv“ gegeben, wenn es von<br />
m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er weiteren Person identisch kognitiv reproduziert werden kann. 69<br />
Die Herstellung dieser Objektivität steht im Zentrum der wissenschaftlichen Me-<br />
67 Vgl. Giddens, A. (1984), S. 11.<br />
68 Vgl. Giddens, A. (1976), S. 81, (1984), S. 9 ff. Den Gedanken der stets vorhandenen Wahlmöglichkeit<br />
zwischen e<strong>in</strong>em Handeln <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Nicht-Handeln entwickelt Giddens <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Konzept der Dialektik der Kontrolle weiter. Vgl. dazu Giddens, A. (1984), S. 16.<br />
69 Vgl. Albach, H. (1993), S. 9.<br />
186<br />
20
thode des Positivismus 70 <strong>und</strong> wird dort als e<strong>in</strong> zentrales Ziel wissenschaftlicher<br />
Aktivitäten gesehen. 71 Aus Sicht der Strukturationstheorie ist „Objektivität“ jedoch<br />
kont<strong>in</strong>gent <strong>und</strong> teilsystemspezifisch. Auch ergibt sich bereits aus der eben<br />
erfolgten Def<strong>in</strong>ition von „Objektivität“, dass es sich um e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tersubjektives, e<strong>in</strong><br />
soziales Phänomen handelt:<br />
1. Zum e<strong>in</strong>en f<strong>in</strong>det objektives Wissen se<strong>in</strong>en Ausdruck <strong>in</strong> Sprache bzw.<br />
Symbolen. 72 Dies ist zwangsläufig, da objektives Wissen ex def<strong>in</strong>itione<br />
nur <strong>in</strong>tersubjektiv vorliegen kann <strong>und</strong> diese Intersubjektivität über den<br />
Gebrauch von Symbolen hergestellt werden muss. Dabei beruht Sprache<br />
auf Konventionen im H<strong>in</strong>blick auf den Gebrauch von Lauten oder<br />
Schriftzeichen. Daher handelt es sich bei objektivem Wissen um e<strong>in</strong> soziales<br />
Phänomen. 73<br />
2. Objektives Wissen kommt zustande über Prozesse der Kontrolle, die typischerweise<br />
auch Prozesse der geme<strong>in</strong>schaftlichen Reflexion, Kommunikation<br />
<strong>und</strong> Konsensbildung s<strong>in</strong>d.<br />
3. Wie gleich noch zu erörtern se<strong>in</strong> wird, zeichnet sich objektives Wissen<br />
durch se<strong>in</strong>e Leistungsfähigkeit aus. Se<strong>in</strong>e praktische Bewährung, an der<br />
die Leistungsfähigkeit festgemacht wird, erfährt das Wissen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
sozialen Kontext.<br />
Damit wird klar, dass der soziale Kontext, <strong>in</strong> dem sich e<strong>in</strong> Individuum bewegt,<br />
das bestimmt, was als „objektives Wissen“ betrachtet wird. Daher kann angenommen<br />
werden, dass <strong>in</strong> den Teilsystemen der Gesellschaft <strong>und</strong> <strong>in</strong> den durch sie<br />
geprägten Organisationen mit ihren spezifischen Sprachen jeweils eigene objektive<br />
Realitäten vorzuf<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d. Das, was objektives Wissen <strong>und</strong> damit „Realität“<br />
ist, variiert dann im Allgeme<strong>in</strong>en <strong>in</strong> Abhängigkeit von dem sozialen Kontext, z. B.<br />
von Organisation zu Organisation.<br />
70 Vgl. Anderson, P. (1983), S. 18; Hunt, S. (1994), S. 133 ff.<br />
71 Dies f<strong>in</strong>det se<strong>in</strong>en Ausdruck beispielsweise <strong>in</strong> Sentenzen wie “Science strives for objectivity<br />
(...).“ (Bacharach, S. (1989), S. 501) oder <strong>in</strong> der Bezeichnung „Objektivismus“, die für das gesamte<br />
Wissenschaftsprogramm steht. Vgl. Burrell, G.; Morgan, G. (1979); Morgan, G.; Smircich,<br />
L. (1980).<br />
72 Dabei ist Sprache als e<strong>in</strong>e Art Rohmaterial zu verstehen. Sie bildet die Basis für Modelle <strong>und</strong><br />
Theorien, die ebenfalls „Objektivität“ abbilden sollen. Auch sie beruhen damit auf (sozialen)<br />
Konventionen. Vgl. Astley, G. (1985). Vgl. auch Weik, E. (1996), S. 381 f.<br />
73 Vgl. Balzer, W. (1997), S. 31.<br />
187<br />
21
Ob Wissen <strong>in</strong>tentional e<strong>in</strong>gesetzt wird, hängt von se<strong>in</strong>er praktischen Bewährung<br />
ab. 74 Der Nutzen von Wissen steht <strong>und</strong> fällt mit dessen Fähigkeit, se<strong>in</strong>em Anwender<br />
Orientierungsleistungen im Alltag zu geben. Dabei werden jene Teile des<br />
Wissens als besonders leistungsfähig angesehen, die Individuen als „objektiv“<br />
betrachten. Teilweise basierend auf den Arbeiten von Piaget beschreibt Glasersfeld<br />
(<strong>und</strong> dieser Argumentation soll hier gefolgt werden) den Zusammenhang<br />
zwischen Leistungsfähigkeit <strong>und</strong> „Objektivität“ 75 von Wissen.<br />
Objektivität ist, nach der auch hier zugr<strong>und</strong>e gelegten Sichtweise Glasersfelds, e<strong>in</strong><br />
Ergebnis mehrstufiger kognitiver Prozesse: Zunächst nimmt e<strong>in</strong> Aktor (eigene<br />
oder fremde) Handlungsmuster wahr. Bewähren sich diese <strong>in</strong> alltagsweltlichen<br />
Situationen, werden sie <strong>in</strong> abstrakter, vom orig<strong>in</strong>ären Handlungskontext losgelöster<br />
Form mental gespeichert. Dabei bleibt allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e Verknüpfung zu bestimmten<br />
Objekten bewahrt. Diese fungieren als Anker für die Reproduktion des<br />
Handlungsmusters <strong>in</strong> ähnlichen Kontexten, wodurch e<strong>in</strong>e Projektion des Handlungsmusters<br />
auf e<strong>in</strong> Objekt stattf<strong>in</strong>det. Der fortgesetzte Erfolg dieser Projektion<br />
veranlasst schließlich e<strong>in</strong>en Aktor zu glauben, dass diese unabhängig von se<strong>in</strong>en<br />
eigenen Erfahrungen Bestand hat <strong>und</strong> erhält so den Status e<strong>in</strong>er „objektiven<br />
Wahrheit“.<br />
Als „objektiv“ angesehenes Wissen ist normalerweise nicht Gegenstand e<strong>in</strong>er<br />
andauernden Reflexion durch se<strong>in</strong>en Anwender. 76 Dieses Wissen dient der alltäglichen<br />
Verständigung <strong>und</strong> Problembewältigung. Es wird mehr oder weniger unbewusst<br />
mobilisiert 77 <strong>und</strong> ersche<strong>in</strong>t dem Menschen als „objektiv“ 78 . Dieses Wissen<br />
umfasst pr<strong>in</strong>zipiell alles, was Gegenstand von Wissensstrukturen se<strong>in</strong> kann:<br />
hierzu zählen S<strong>in</strong>nzuweisungen aller Art, wie sie sich <strong>in</strong> faktischen, theoretischen,<br />
technologischen oder etwa valuativen Wissensbeständen wieder f<strong>in</strong>den. 79<br />
Die Kont<strong>in</strong>genz von Objektivität gilt nicht nur für die sozialen Systeme, die Gegenstand<br />
sozialwissenschaftlicher Analysen s<strong>in</strong>d, sondern auch für die Wissenschaftspraxis.<br />
Auch Wissenschaftler handeln <strong>in</strong>tentional (im S<strong>in</strong>ne der Struktura-<br />
74 Vgl. Knyphausen, D. v. (1995), S. 384 ff.<br />
75 Vgl. hierzu Glasersfeld, E. v. (1982), S. 630 ff.; Glasersfeld, E. v. (1996), S. 194 ff.<br />
76 Diese Idee fußt auf der Vorstellung der Existenz e<strong>in</strong>er „vortheoretischen Praxis“, wie sie Lueken<br />
(1992) als e<strong>in</strong> Vertreter des methodischen Konstruktivismus entwickelt. Die vortheoretische<br />
Praxis bezieht sich auf (sprachliche wie nicht-sprachliche) Handlungszusammenhänge, die<br />
nicht durch theoretische E<strong>in</strong>sichten geleitet s<strong>in</strong>d.<br />
77 Vgl. Lueken, G. (1992), S. 176.<br />
78 Vgl. Berger, P.; Luckmann, T. (1971), S. 23 f.<br />
79 Es be<strong>in</strong>haltet auf e<strong>in</strong>er f<strong>und</strong>amentaleren Ebene <strong>in</strong>sbesondere die Zuordnung von S<strong>in</strong>ngehalten zu<br />
Sprachsymbolen <strong>und</strong> damit die Schaffung sprachlicher Kategorien.<br />
188<br />
22
tionstheorie) <strong>und</strong> verwenden zum Zurechtkommen <strong>in</strong> ihrem Wissenschafts(teil)system<br />
als objektiv angesehenes, Erfolg versprechendes Wissen.<br />
Astley (1985) verdeutlicht dies sehr anschaulich an der Forschungsgeme<strong>in</strong>de<br />
„Adm<strong>in</strong>istrative Science“. 80 Diese Forschungsgeme<strong>in</strong>de verwendet theoretisch<br />
f<strong>und</strong>ierte Modelle (hierzu zählen auch Messtheorien 81 ), die als Referenzpunkt für<br />
ihre Arbeit dienen. Diese Modelle strukturieren den Untersuchungsgegenstand der<br />
Forschung vor, <strong>in</strong>dem sie etwa relevante Merkmalsdimensionen bestimmen <strong>und</strong><br />
den Ausprägungen dieser Merkmale bestimmte Bedeutungen zuordnen. Damit<br />
geben sie vor, was erhoben wird <strong>und</strong> (ab wann etwas) als Faktum gelten kann.<br />
Insofern verleiht die durch Theorien geprägte Wissensstruktur „Adm<strong>in</strong>istrative<br />
Science“ bestimmten Phänomenen bestimmte Bedeutungen. 82 Diese Bedeutungen<br />
bzw. die Regeln ihrer Zuweisung s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Produkt sozialer Prozesse <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft. In diesen Prozessen erlangen e<strong>in</strong>ige Theorien e<strong>in</strong>e gewisse<br />
Prom<strong>in</strong>enz <strong>und</strong> prägen die Aktivitäten e<strong>in</strong>er Diszipl<strong>in</strong> <strong>in</strong> besonderem Maße,<br />
während andere <strong>in</strong>s Abseits geraten. Dabei werden nicht jene Theorien verworfen<br />
oder vergessen, die den ger<strong>in</strong>gsten Bezug zur „objektiven Realität des Untersuchungsgegenstandes“<br />
aufweisen. Nach Astley s<strong>in</strong>d es vielmehr un<strong>in</strong>teressante<br />
Arbeiten, die lediglich Bekanntes bestätigen <strong>und</strong> es versäumen, gr<strong>und</strong>legende<br />
Selbstverständlichkeiten zu h<strong>in</strong>terfragen, die langweilig <strong>und</strong> unpopulär werden. 83<br />
Diese Prozesse werden durch allgeme<strong>in</strong>e Gepflogenheiten <strong>und</strong> strukturelle Gegebenheiten<br />
der Diszipl<strong>in</strong> angestoßen <strong>und</strong> vorangetrieben. Hierzu zählen etwa Auswahlverfahren<br />
von Manuskripten durch die Herausgeber wichtiger Magaz<strong>in</strong>e,<br />
Zitationsstrategien von Autoren, Zugehörigkeiten zu Strömungen <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Diszipl<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> hierarchisches Reputationssystem usw. 84 Sprache ist dabei das zentrale<br />
Medium, das <strong>in</strong> diesen sozialen Prozessen zum E<strong>in</strong>satz kommt. Wegen ihrer<br />
f<strong>und</strong>amentalen Bedeutung kann die „Adm<strong>in</strong>istrative Science“ (oder auch die Wissenschaft<br />
<strong>in</strong>sgesamt) daher auch als e<strong>in</strong> System von Begriffen bzw. sprachlichen<br />
Kategorien gesehen werden, das im Extremfall nicht mit der „Realität“ (auf die es<br />
Bezug zu nehmen vorgibt) korrespondiert. Richtet der Wissenschaftler se<strong>in</strong> Ver-<br />
80 Siehe auch Araujo, L.; Easton, G. (1996), 63 f. oder, für e<strong>in</strong>e empirische Analyse e<strong>in</strong>iger dieser<br />
Zusammenhänge, Mizruchi, M.; Fe<strong>in</strong>, L. (1999). Zu e<strong>in</strong>em ähnlichen Ergebnis – wenn auch<br />
auf allgeme<strong>in</strong>erer Betrachtungsebene – kommt auch der sog. Wissenschaftshistorische Ansatz<br />
der Wissenschaftstheorie mit se<strong>in</strong>en Vertretern Kuhn, Laudan <strong>und</strong> Lakatos. Vgl. Kelle, U.<br />
(1994), S. 214 f.<br />
81 Vgl. Kieser, A. (1995), S. 10 f.<br />
82 Morgan diskutiert <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auch die Bedeutung von Metaphern aus dom<strong>in</strong>anten<br />
Wissenschaftsprogrammen für die organisationstheoretische Forschung. Vgl. Morgan, G.<br />
(1980).<br />
83 Vgl. hierzu auch Weick, K. (1989).<br />
84 Vgl. Araujo, L.; Easton, G. (1996), S. 63 f. <strong>und</strong> die dort angegebene Literatur.<br />
189<br />
23
halten „<strong>in</strong>tentional“ auf e<strong>in</strong> Zurechtkommen <strong>in</strong> dieser Diszipl<strong>in</strong> aus, so verwendet<br />
er Begriffe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Art <strong>und</strong> Weise, legt se<strong>in</strong>en Arbeiten für <strong>in</strong>teressant<br />
gehaltene Theorien zugr<strong>und</strong>e, gestaltet se<strong>in</strong>e Publikationen entsprechend der<br />
Vorgaben wichtiger Journals usw.<br />
Wenn nun e<strong>in</strong> bestimmtes Wissenselement im wissenschaftlichen Kontext als<br />
objektiv <strong>und</strong> nützlich gilt, so muss dies noch lange nicht für andere Kontexte<br />
gelten. Die Anwendung e<strong>in</strong>er Theorie etwa mag für Forscher sehr <strong>in</strong>teressant<br />
(z. B. im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Publikationswürdigkeit) se<strong>in</strong>, während dies aus anderer Perspektive<br />
als akademischer Selbstzweck e<strong>in</strong>gestuft wird. Die Ziele, <strong>und</strong> damit die<br />
Beurteilungsgr<strong>und</strong>lagen des Erkenntnisfortschrittes, der Anwendung von Theorien<br />
können <strong>in</strong> Abhängigkeit vom fokalen Sozialen System variieren. Dies wird<br />
im folgenden Kapitel deutlich werden.<br />
4 FUNKTIONEN UND ZIELE STRUKTURATIONSTHEORETISCH<br />
FUNDIERTEN ERKENNTNISFORTSCHRITTS<br />
Auf der Basis der <strong>in</strong> den vorangegangenen Abschnitten vorgestellten Denkfiguren<br />
der Strukturationstheorie soll im Folgenden aufgezeigt werden, welche Funktionen,<br />
im S<strong>in</strong>ne nicht-gegenstandsbezogener Zwecksetzungen, Forschungsarbeiten<br />
im Allgeme<strong>in</strong>en erfüllen sollen, wenn sie sich auf den eben erarbeiteten, durch die<br />
Strukturationstheorie geprägten, metatheoretischen Gr<strong>und</strong>annahmen aufbauen. In<br />
e<strong>in</strong>em zweiten Schritt werden diese (allgeme<strong>in</strong>en) Funktionen auf e<strong>in</strong>e betriebswirtschaftliche<br />
Problemstellung, die Analyse e<strong>in</strong>er Branche, bezogen.<br />
4.1 Funktionen strukturationstheoretischer Forschungsarbeiten<br />
Funktionen, die auf der Gr<strong>und</strong>lage der eben entwickelten metatheoretischen Position<br />
Forschungsarbeiten im Allgeme<strong>in</strong>en zugewiesen werden können, ergeben<br />
sich (unter anderem) aus drei verschiedenen „Quellen“:<br />
• den wissenschaftstheoretischen Aussagen der Strukturationstheorie,<br />
wie sie oben entwickelt wurden,<br />
• den generellen Funktionen von Wissensstrukturen (Denn aus der<br />
Strukturationstheorie geht hervor, dass wissenschaftliche Erkenntnisse<br />
ebenfalls Wissensstrukturen darstellen.) sowie<br />
• allgeme<strong>in</strong>en Funktionen wissenschaftlichen Arbeitens.<br />
Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkt für die Festlegung der Funktionen strukturationstheoretischer<br />
Forschungsarbeiten ist die E<strong>in</strong>sicht, dass Wissen den Ausgangspunkt, das<br />
190<br />
24
Medium <strong>und</strong> das Endprodukt wissenschaftlichen Arbeitens darstellt. Entsprechend<br />
besteht <strong>in</strong> der hier verfolgten Sichtweise der Gegenstandsbereich sozialwissenschaftlicher<br />
Forschungsarbeiten aus (mite<strong>in</strong>ander verb<strong>und</strong>enen) Referenzsystemen.<br />
Diese s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>tersubjektiv geteilte Wissensstrukturen <strong>und</strong> für soziale Handlungssysteme<br />
typisch. Sie konstituieren eigene Lebens- <strong>und</strong> Sprachformen <strong>und</strong><br />
def<strong>in</strong>ieren „objektive“ Realitäten.<br />
Hieraus ergibt sich die zentrale Funktion strukturationstheoretisch geprägter Arbeiten,<br />
den Leser mit e<strong>in</strong>em bestimmten Referenzsystem, dem Gegenstandsbereich<br />
der jeweiligen Arbeiten, vertraut zu machen. Dabei ersche<strong>in</strong>en die Aufnahme,<br />
die Verarbeitung <strong>und</strong> die Weitergabe allen Wissens aus e<strong>in</strong>em bestimmten<br />
Handlungssystem nicht besonders s<strong>in</strong>nvoll oder gar realisierbar. Für sozialwissenschaftliche<br />
Forschungsarbeiten nach der Strukturationstheorie sche<strong>in</strong>t vielmehr<br />
e<strong>in</strong> bestimmter Teil des kontextspezifischen Referenzsystems besonders <strong>in</strong>teressant<br />
zu se<strong>in</strong>: Die handlungssystemspezifische „Objektivität“. Dabei ist, wie oben<br />
dargelegt, dieses objektive Wissen <strong>in</strong> der alltäglichen sozialen Interaktion e<strong>in</strong>es<br />
spezifischen Kontextes „bewährt“ bzw. „erfolgreich“. Insofern ersche<strong>in</strong>t das Kennenlernen<br />
bewährter Wissensbestände besonders erstrebenswert – <strong>in</strong>sbesondere<br />
wenn sich die Adressaten der sozialwissenschaftlichen Forschung selber <strong>in</strong> dem<br />
jeweiligen Kontext zurechtf<strong>in</strong>den möchten. Damit steht hier die Orientierungsleistung,<br />
die die Wissenschaft für menschliches Handeln erbr<strong>in</strong>gt, im Vordergr<strong>und</strong>.<br />
Wissenschaftliche Erkenntnisse haben e<strong>in</strong>e heuristische Funktion bei der Bewältigung<br />
alltagsweltlicher Probleme, da sie für diese Probleme Lösungen aufzeigen<br />
können, ohne aber e<strong>in</strong>e Garantie für e<strong>in</strong> „optimales“ Zurechtf<strong>in</strong>den im jeweiligen<br />
Handlungskontext versprechen zu können. 85<br />
Entsprechend der oben entwickelten ontologischen Konzeption wird dieses Kennenlernen<br />
von objektivem, handlungssystemspezifischem Wissen dadurch ermöglicht,<br />
dass der Forscher sich mit den betreffenden Kontexten bzw. Referenzsystemen<br />
vertraut macht, sie erschließt, rekonstruiert <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Rekonstruktion, z. B. <strong>in</strong><br />
Form strukturationstheoretischer Branchenanalysen, anderen Personen weitergibt<br />
bzw. anbietet.<br />
Mit der Vermittlung von Referenzsystemen, an denen sich Mitglieder des untersuchten<br />
sozialen Systems orientieren, leistet der Forscher im Kern e<strong>in</strong>e Übersetzungsarbeit.<br />
Die Produktion genu<strong>in</strong> neuen Wissens f<strong>in</strong>det so (zunächst) nicht<br />
statt. 86 Dementsprechend ist zu vermuten, dass die Rekonstruktion e<strong>in</strong>es Referenzsystems<br />
<strong>in</strong>sbesondere für die Mitglieder des untersuchten Systems nicht be-<br />
85 Vgl. hierzu auch Dachler, P. (1992), S. 172.<br />
86 Vgl. Giddens, A. (1984), S. 285.<br />
191<br />
25
sonders <strong>in</strong>teressant ist. Hieraus ergibt sich die Frage, wie der Forscher neues Wissen<br />
über e<strong>in</strong> gesellschaftliches Handlungssystem hervorbr<strong>in</strong>gen kann, das für die<br />
Aktoren selbst, die durch ihre Handlungen dieses System erzeugen, e<strong>in</strong>en Neuigkeitswert<br />
hat. Ferner ist zu klären, wie (sozial-) wissenschaftliches Arbeiten e<strong>in</strong>e<br />
kritische Position gegenüber dem von ihm erforschten Handlungssystem beziehen<br />
kann, wenn andere Referenzsysteme, aus deren Warte e<strong>in</strong>e kritische Analyse<br />
möglich wäre, sich vor allem durch ihre praktische Bewährung (im fokalen Handlungssystem<br />
selbst) als überlegen erweisen können.<br />
In für ihre Tragweite relativ knappen Ausführungen nennt Giddens hierzu verschiedene<br />
Ansatzpunkte: 87<br />
- Zunächst ergibt sich e<strong>in</strong>e Horizonterweiterung für die Mitglieder der untersuchten<br />
sozialen Systeme dadurch, dass Selbstverständliches von<br />
„Externen“ unter Verwendung anderer, möglicherweise sozialwissenschaftlicher<br />
Term<strong>in</strong>i (als Ausdruck e<strong>in</strong>es „fremden“ Referenzsystems)<br />
rekonstruiert wird. Die Verwendung anderer Begriffe impliziert dabei<br />
(auch) e<strong>in</strong>e andere, <strong>in</strong> der Regel distanziertere Haltung. Das hier<strong>in</strong> enthaltene<br />
kritische Moment kann wiederum bei den Teilnehmern des beschriebenen<br />
sozialen Handlungssystems Reflektionsprozesse auslösen,<br />
<strong>in</strong>dem Selbstverständliches <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen, unvertrautem Lichte dargestellt<br />
wird.<br />
- Zweitens kann die Kritik der Sozialwissenschaft an den Gründen oder<br />
den Begründungen der Aktoren für ihre Handlungen ansetzen. Sie kann<br />
zum e<strong>in</strong>en zeigen, dass diese Gründe e<strong>in</strong>er Basis entbehren. Zum anderen<br />
kann die Sozialwissenschaft aufzeigen, dass es alternative Rekonstruktionen<br />
der Begründungen für das Handeln der Aktoren gibt.<br />
(2) Die reflexive Anwendung e<strong>in</strong>er strukturationstheoretischen Wissensperspektive<br />
besagt, dass auch das Ergebnis wissenschaftlichen Arbeitens zu e<strong>in</strong>er<br />
Wissensstruktur wird. Daher gelten die allgeme<strong>in</strong>en Funktionen von Wissensstrukturen,<br />
wie sie im Rahmen der kognitiven Perspektive des strategischen Managements<br />
diskutiert werden, auch für wissenschaftliche Erkenntnisse. 88 E<strong>in</strong>ige<br />
von ihnen fasst das folgende Zitat zusammen:<br />
„Wissensstrukturen bee<strong>in</strong>flussen das Verhalten von Menschen speziell<br />
dadurch, dass sie die Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Wahrnehmung <strong>und</strong> damit<br />
auch das Erkennen von Problemen <strong>und</strong> die Suche nach Informationen<br />
87 Vgl. hierzu Giddens, A. (1984), S. 281 ff.<br />
88 Vgl. hierzu ausführlich Bamberger, I.; Wrona, T. (2004), S. 66 ff. <strong>und</strong> S. 364 ff.<br />
192<br />
26
lenken, Informationen/Fakten S<strong>in</strong>n bzw. Bedeutung geben <strong>und</strong> so als<br />
<strong>in</strong>terpretative Schemata wirken. Sie bilden den „Rohstoff“ für die Def<strong>in</strong>ition<br />
von Problemen <strong>und</strong> die Entwicklung von Problemlösungen<br />
[…].“ 89<br />
Diese Funktionen gelten für jegliche Arten von Wissensstrukturen <strong>und</strong> damit auch<br />
für solche, die mit sozialwissenschaftlichem Wirken (mit oder ohne die Strukturationstheorie)<br />
<strong>in</strong> Zusammenhang gebracht werden.<br />
(3) Schließlich bleiben (zusätzlich zu den oben angesprochenen) allgeme<strong>in</strong>ere<br />
Funktionen der Wissenschaft. Diese gelten nicht nur für strukturationstheoretisch<br />
orientierte Wissenschaft, sondern gr<strong>und</strong>sätzlich auch für Forschung, die auf anderen<br />
Wissenschaftsprogrammen aufbaut. Zu diesen Funktionen zählen:<br />
• generell die Demonstration der Kont<strong>in</strong>genz des (Alt-)Bekannten auch<br />
dadurch, dass neue Handlungsmöglichkeiten für vertraute Problemstellungen<br />
aufgezeigt werden; 90<br />
• die Anregung zur Entwicklung kreativer Problemlösungen;<br />
• die Legitimation von Entscheidungen <strong>und</strong> Haltungen; 91<br />
• im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es l<strong>in</strong>guistischen Instruments, die Hilfestellung bei der Formulierung<br />
abstrakter Ideen (wie sie etwa <strong>in</strong> Visionen enthalten s<strong>in</strong>d) <strong>und</strong><br />
die Unterstützung im Rahmen verständigungsorientierter 92 Kommunikationsprozesse.<br />
93<br />
4.2 Zielsetzungen strukturationstheoretisch f<strong>und</strong>ierter Branchenanalysen<br />
Vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> dieser Funktionen wissenschaftlichen Arbeitens können<br />
konkretere Zielsetzungen für bestimmte Forschungskontexte formuliert werden.<br />
E<strong>in</strong> solcher Forschungskontext s<strong>in</strong>d Analysen von Branchen, <strong>in</strong> denen das Analyseraster<br />
der Strukturationstheorie im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Sozialtheorie auf Branchenphänomene<br />
angewendet wird <strong>und</strong> so e<strong>in</strong>en Gegenstandsbezug erhält. 94<br />
89 Bamberger, I.; Wrona, T. (2004), S. 365<br />
90 Vgl. Knorr-Cet<strong>in</strong>a, K. (1989), S. 94 f. mit Bezug auf das empirische Programm des Konstruktivismus.<br />
91 Vgl. Kieser, A. (1995a), S. 350 f.<br />
92 Vgl. Habermas, J. (1981/1981a).<br />
93 Vgl. zu diesen Funktionen beispielsweise Cooperrider, D.; Barrett, F.; Srivastva, S. (1995),<br />
S. 168 ff. oder Rüegg-Stürm, J. (2001), S. 62 ff. <strong>und</strong> die dort angegebene Literatur.<br />
94 Vgl. als Beispiel dazu Cappallo, S. (2005), S. 197 ff.<br />
193<br />
27
Strukturationstheoretische Analysen von Branchen können zum e<strong>in</strong>en auf theoretischer<br />
Ebene (d. h. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>andersetzung mit verschiedenen Theorien der<br />
Branche ohne e<strong>in</strong>en unmittelbaren empirischen Bezug) <strong>und</strong> zum anderen im<br />
Rahmen von (darauf aufbauenden) empirischen Studien vollzogen werden. Dabei<br />
erfüllen beide Analysen gr<strong>und</strong>sätzlich dieselben, allgeme<strong>in</strong>en Funktionen wissenschaftlichen<br />
Arbeitens. Allerd<strong>in</strong>gs lassen sich für jede Ebene der Analyse aus<br />
diesen gleichen wissenschaftstheoretischen Funktionen jeweils unterschiedliche<br />
Zielsetzungen ableiten. Dies ergibt sich daraus, dass sich die Erkenntnisse der<br />
Analysen gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>in</strong> unterschiedlichen Kontexten verwenden lassen: Die<br />
Erarbeitung e<strong>in</strong>es strukturationstheoretischen Zuganges zu Branchen auf e<strong>in</strong>er<br />
theoretischen Ebene dürfte <strong>in</strong>sbesondere Sozialwissenschaftler <strong>in</strong>teressieren, die<br />
sich konzeptuell mit Branchenphänomenen ause<strong>in</strong>ander setzen wollen. Diese<br />
könnten beispielsweise den strukturationstheoretischen Bezugsrahmen dazu verwenden,<br />
sehr unterschiedliche Zugänge zu Branchen aufe<strong>in</strong>ander zu beziehen <strong>und</strong><br />
mite<strong>in</strong>ander zu vergleichen. Strukturationstheoretisch angeleitete empirische Untersuchungen<br />
h<strong>in</strong>gegen dürften ebenfalls für Aktoren von Interesse se<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> den<br />
jeweiligen Branchen tätig s<strong>in</strong>d oder es gerne wären. Diese streben den E<strong>in</strong>satz der<br />
wissenschaftlichen Erkenntnisse <strong>in</strong> Handlungen im Rahmen e<strong>in</strong>er Tätigkeit <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er konkreten Branche an. 95<br />
Je nach Standpunkt ergeben sich, abgeleitet aus der gleichen Funktion wissenschaftlichen<br />
Arbeitens, unterschiedliche Zielsetzungen strukturationstheoretischer<br />
Branchenanalysen. 96 Die Tabelle 1 zeigt dies für Wissenschaftsfunktionen, die<br />
sich aus den wissenschaftstheoretischen Aussagen der Strukturationstheorie ergeben.<br />
95 Dabei ist an dieser Stelle darauf h<strong>in</strong>zuweisen, dass e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelperson gr<strong>und</strong>sätzlich zwischen<br />
diesen Perspektiven wechseln kann. So kann e<strong>in</strong> Wissenschaftler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestimmten Branche<br />
tätig werden – genauso wie auch e<strong>in</strong> Branchenmitglied theoretische Überlegungen vollziehen<br />
kann. Ferner kann auch der Wissenschaftsbereich als e<strong>in</strong>e Branche def<strong>in</strong>iert werden <strong>und</strong> im<br />
Rahmen von Institutionen e<strong>in</strong>er Branche können wissenschaftliche oder wissenschaftsähnliche<br />
Aktivitäten stattf<strong>in</strong>den.<br />
96 Es lassen sich gr<strong>und</strong>sätzlich noch weitere solcher Standpunkte def<strong>in</strong>ieren. Ferner s<strong>in</strong>d die oben<br />
skizzierten Standpunkte so global beschrieben, dass <strong>in</strong>nerhalb dieser Standpunkte e<strong>in</strong>e ganze<br />
Reihe von E<strong>in</strong>zelpositionen denkbar s<strong>in</strong>d – etwa im Falle von Wissenschaftlern durch unterschiedliche<br />
diszipl<strong>in</strong>äre oder wissenschaftstheoretische Ausrichtungen. Für die Zwecke der<br />
vorliegenden Argumentation genügt jedoch die vere<strong>in</strong>fachende Bezugnahme auf diese beiden<br />
Standpunkte.<br />
194<br />
28
Begründung<br />
der<br />
Funktion<br />
durch …<br />
Funktionen wissenschaftlichen<br />
Arbeitens<br />
<strong>in</strong> der hier verfolgten<br />
Perspektive<br />
Abgeleitete Ziele e<strong>in</strong>er<br />
strukturationstheoretischen<br />
Branchenanalyse auf<br />
theoretischer Ebene<br />
Abgeleitete Ziele e<strong>in</strong>er<br />
strukturationstheoretischen<br />
Branchenanalyse auf<br />
empirischer Ebene<br />
(Beispiel Strombranche)<br />
Rekonstruktion des Referenzsystems<br />
„Strombranche“<br />
…wissenschaftstheoretische Aussagen der<br />
Strukturationstheorie<br />
Vertrautmachen der Adressaten<br />
mit e<strong>in</strong>em bestimmten<br />
Referenzsystem<br />
Aufarbeitung von handlungssystemspezifischobjektivem<br />
<strong>und</strong> bewährtem<br />
Wissen<br />
Rekonstruktion des Referenzsystems<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er den<br />
Systemmitgliedern nicht<br />
geläufigen Perspektive<br />
Kritisches H<strong>in</strong>terfragen der<br />
Begründungen für Handlungen<br />
Rekonstruktion des Referenzsystems<br />
„Branche“ <strong>in</strong> der Wissenschaft<br />
Aufarbeitung von Wissen, das<br />
sich im Handlungssystem „Wissenschaft“<br />
<strong>in</strong> Bezug auf Branchen<br />
bewährt hat <strong>und</strong> dort als<br />
objektiv gilt<br />
Übersetzung der Kategorien des<br />
Referenzsystems „Branche“ aus<br />
unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen<br />
<strong>in</strong> den strukturationstheoretischen<br />
Rahmen<br />
Erarbeiten e<strong>in</strong>er Basis zum H<strong>in</strong>terfragen<br />
der Argumentation von<br />
Forschern <strong>in</strong> ihren branchenbezogenen<br />
Arbeiten<br />
Aufarbeitung von Wissen, das<br />
sich im Handlungssystem<br />
„Strombranche“ bewährt hat <strong>und</strong><br />
dort als objektiv gilt<br />
Übersetzung der Kategorien des<br />
Referenzsystems „Strombranche“<br />
<strong>in</strong> den strukturationstheoretischen<br />
Rahmen<br />
H<strong>in</strong>terfragen der Begründungen,<br />
mit denen Mitglieder der Strombranche<br />
ihre Handlungen legitimieren<br />
Tabelle 1: Funktionen wissenschaftlichen Arbeitens <strong>und</strong> korrespondierende Ziele e<strong>in</strong>er strukturationstheoretischen<br />
Branchenanalyse 97<br />
Die sich ergebenden Zielsetzungen strukturationstheoretischer Branchenanalysen<br />
auf empirischer <strong>und</strong> theoretischer Ebene können wie folgt beschrieben werden:<br />
Das Vertrautmachen von Personen mit Referenzsystemen mündet im vorliegenden<br />
Forschungskontext <strong>in</strong> die Rekonstruktion von zwei Referenzsystemen: die des<br />
Referenzsystems „Branche“, wie es im Wissenschaftsbereich verwendet wird <strong>und</strong><br />
se<strong>in</strong>en Ausdruck <strong>in</strong> Branchentheorien f<strong>in</strong>det. Ferner sollte auf empirischer Ebene<br />
e<strong>in</strong>e Rekonstruktion des Referenzsystems e<strong>in</strong>er „realen“ Branche erfolgen. Die<br />
Qualität der Rekonstruktion des empirischen Referenzsystems „Branche“ kann<br />
dabei daran gemessen werden, <strong>in</strong>wieweit sie den Leser mit e<strong>in</strong>er Handlungskompetenz<br />
ausstattet, die ihm e<strong>in</strong> erfolgreiches Zurechtkommen im Handlungssystem<br />
„Branche“ ermöglicht. Hierzu ersche<strong>in</strong>t es erforderlich, das Wissen aufzuarbeiten,<br />
das sich zur Handlungskoord<strong>in</strong>ation <strong>in</strong> der Branche bewährt hat <strong>und</strong> dort als objektiv<br />
gilt. Im Kontext e<strong>in</strong>er strukturationstheoretischen Branchenanalyse auf<br />
theoretischer Ebene ist h<strong>in</strong>gegen die Aufarbeitung etablierter (d. h. im relevanten<br />
Wissenschaftssystem erfolgreicher) Branchentheorien anzustreben. Die Rekonstruktion<br />
sollte dabei für beide Analyseebenen e<strong>in</strong>en gewissen Innovationsgrad<br />
aufweisen <strong>und</strong> altbekannte Kategorien der jeweiligen Referenzsysteme <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />
neues Licht stellen. Dies sollte auch so weit gehen, dass Begründungen für Handlungen<br />
der betroffenen Personen h<strong>in</strong>terfragbar werden. Im Kontext der branchenbezogenen<br />
Wissenschaft betrifft dies beispielsweise das H<strong>in</strong>terfragen etablierter<br />
97 Quelle: Erstellt auf der Gr<strong>und</strong>lage von Cappallo, S. (2005), S. 377 ff.<br />
195<br />
29
Argumentationsketten. Bei den Branchenteilnehmern betrifft dies die Argumente,<br />
mit denen eigene Handlungen <strong>in</strong> der Branche legitimiert werden.<br />
Die Menge allgeme<strong>in</strong>er Funktionen wissenschaftlichen Arbeitens, die auf konstruktivistisch<br />
geprägten Sichtweisen basieren oder durch allgeme<strong>in</strong>e Funktionen<br />
von Wissensstrukturen aus kognitiver Perspektive begründet werden, ist vergleichsweise<br />
groß. Die Tabelle 2 listet diese Funktionen auf <strong>und</strong> ordnet ihnen,<br />
analog zum eben erfolgten Vorgehen, Ziele von strukturationstheoretischen Branchenanalysen<br />
auf theoretischer <strong>und</strong> auf empirischer Ebene zu. Weil diese Ziele,<br />
zum<strong>in</strong>dest was ihren Inhalt betrifft, für sich sprechen, wird hier auf e<strong>in</strong>e Erläuterung<br />
der e<strong>in</strong>zelnen Punkte <strong>in</strong> der Tabelle 2 verzichtet.<br />
196<br />
30
Begründung<br />
der<br />
Funktion<br />
durch …<br />
Funktionen<br />
wissenschaftlichen Arbeitens<br />
<strong>in</strong> der hier verfolgten<br />
Perspektive<br />
Abgeleitete Ziele e<strong>in</strong>er<br />
strukturationstheoretischen<br />
Branchenanalyse auf<br />
theoretischer Ebene<br />
Abgeleitete Ziele e<strong>in</strong>er<br />
strukturationstheoretischen<br />
Branchenanalyse auf<br />
empirischer Ebene<br />
(Beispiel Strombranche)<br />
… allgeme<strong>in</strong>e Überlegungen zu Funktionen von Wissenschaft <strong>und</strong> Wissensstrukturen<br />
Aufzeigen der Kont<strong>in</strong>genz<br />
des (Alt-) Bekannten<br />
Aufzeigen neuer Handlungsmöglichkeiten<br />
für<br />
vertraute Probleme<br />
Anregung zur Entwicklung<br />
kreativer Problemlösungen<br />
Legitimation von Entscheidungen<br />
Hilfestellung bei der Formulierung<br />
abstrakter Ideen<br />
Unterstützung im Rahmen<br />
verständigungsorientierter<br />
Kommunikationsprozesse<br />
Lenken der Aufmerksamkeit<br />
<strong>und</strong> der Wahrnehmung<br />
Hilfe zur Problemerkennung<br />
Hilfe bei der Suche nach<br />
Informationen<br />
Zuweisung von Bedeutungen<br />
zu Informationen /<br />
Fakten<br />
Def<strong>in</strong>ition von Problemen<br />
Rekonstruktion von Branchentheorien<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen Bezugsrahmen<br />
Aufzeigen alternativer theoretischer<br />
Zugänge zu branchenrelevanten<br />
Phänomenen<br />
Anregung zur Verwendung unterschiedlicher<br />
theoretischer<br />
Zugänge <strong>und</strong> Ansätze<br />
Legitimation von Forschungsvorhaben<br />
als „wissenschaftlich,<br />
<strong>in</strong>novativ, <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är usw.“<br />
Formulierungshilfe bei der Konzipierung<br />
von Branchenanalysen<br />
Unterstützung im <strong>in</strong>ner- <strong>und</strong><br />
<strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Austausch <strong>in</strong><br />
Bezug auf branchenbezogene<br />
Forschung<br />
Lenkung der Aufmerksamkeit<br />
des Forschers auf <strong>in</strong>teressante<br />
Fragestellungen <strong>und</strong> Ansätze für<br />
branchenbezogene Forschung<br />
Hilfe bei der Erkennung von<br />
Problemen mit branchenbezogener<br />
Forschung auf theoretischer<br />
Ebene<br />
Aufzeigen relevanter Wissensgebiete<br />
für branchenbezogene<br />
Forschung<br />
Hilfe bei der Interpretation von<br />
Theorien <strong>und</strong> theoretischen Erkenntnissen<br />
Hilfe bei der Identifikation <strong>und</strong><br />
E<strong>in</strong>grenzung branchenbezogener<br />
Forschungsprobleme<br />
Betrachtung von Merkmalen der<br />
Strombranche von e<strong>in</strong>em neuen<br />
Standpunkt aus<br />
Aufzeigen alternativer Problemlösungswege<br />
bei strombranchenbezogenen<br />
Problemen<br />
Erarbeitung von Anregungs<strong>in</strong>formationen<br />
<strong>und</strong> Denkanstößen<br />
<strong>in</strong> Bezug auf strombranchenrelevante<br />
Belange<br />
„wissenschaftliche Erkenntnisse“<br />
als Legitimationshilfe für<br />
Aktoren der Strombranche<br />
Formulierungshilfe bei strombranchenrelevanten<br />
Themen<br />
Unterstützung bei der Kommunikation<br />
zwischen Branchenteilnehmern<br />
Lenkung der Wahrnehmung <strong>und</strong><br />
Aufmerksamkeit auf handlungsrelevante<br />
Sachverhalte <strong>in</strong> der<br />
Strombranche<br />
Hilfe bei der Erkennung von<br />
Problemen <strong>in</strong> Handlungskontexten<br />
der Strombranche<br />
Lieferung von Informationen für<br />
Problemlösungen <strong>in</strong> Handlungskontexten<br />
der Strombranche<br />
Hilfe bei der Interpretation von<br />
strombranchenbezogenen Informationen/Fakten<br />
Hilfe bei der Identifikation <strong>und</strong><br />
E<strong>in</strong>grenzung von Problemen für<br />
Aktoren <strong>in</strong> der Strombranche<br />
Tabelle 2: Funktionen wissenschaftlichen Arbeitens <strong>und</strong> korrespondierende Ziele e<strong>in</strong>er strukturationstheoretischen<br />
Branchenanalyse 98<br />
Der Blick auf die soeben genannten Inhalte der mit e<strong>in</strong>er strukturationstheoretischen<br />
Branchenanalyse zu erreichenden Ziele wirft schnell die Frage nach der<br />
Operationalisierung dieser Ziele auf: Wie kann der Grad der Erfüllung der jeweiligen<br />
Ziele bei e<strong>in</strong>er konkreten strukturationstheoretischen Branchenanalyse, <strong>und</strong><br />
damit deren Güte, festgestellt werden? E<strong>in</strong>e Antwort hierauf könnte lauten, dass<br />
es sich dabei um e<strong>in</strong> empirisches Problem handelt, dessen Lösung sich an den hier<br />
entwickelten wissenschaftstheoretischen Ideen zu orientieren hat. E<strong>in</strong>e zentrale<br />
98 Quelle: Erstellt auf der Gr<strong>und</strong>lage von Cappallo, S. (2005), S. 377 ff.<br />
197<br />
31
E<strong>in</strong>sicht dabei ist, dass die Beurteilung der Zielerreichung stets kontextabhängig<br />
erfolgen muss: jeweils mit Blick auf e<strong>in</strong>en Forscher oder e<strong>in</strong> Forscherkollektiv<br />
bzw. mit Blick auf e<strong>in</strong> Branchenmitglied oder e<strong>in</strong>e Gruppe von Branchenmitgliedern.<br />
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36
Theoretischer Fortschritt<br />
– e<strong>in</strong>e Analyse aus der Perspektive des strukturalistischen Theorienkonzepts –<br />
Univ.-Prof. Dr. St. Zelewski<br />
Universität Duisburg-Essen, Campus Essen<br />
Abstract:<br />
Im Spannungsfeld zwischen Fortschritt als Legitimationsbasis für die Dignität wissenschaftlicher<br />
Arbeit e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> als schillerndem Begriff ohne <strong>in</strong>haltliche Verb<strong>in</strong>dlichkeit andererseits wird e<strong>in</strong><br />
Konzept zur präzisen <strong>in</strong>haltlichen Bestimmung des Fortschrittsbegriffs vorgestellt. Dieses Fortschrittskonzept<br />
beruht auf dem strukturalistischen Theorienkonzept des „non statement view. Zur<br />
Operationalisierung des strukturalistischen Fortschrittskonzepts werden formalsprachliche Kriterien<br />
entwickelt, die es gestatten, die Fortschrittlichkeit von jeweils zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien<br />
zu beurteilen. Diese Kriterien „relativer“ Fortschrittlichkeit erfordern lediglich Überprüfungen,<br />
ob zwischen ausgezeichneten Komponenten von strukturalistisch (re-) konstruierten Theorien mengentheoretische<br />
Inklusionsbeziehungen bestehen. Mittels der Inklusionsbeziehungen werden Fortschrittsrelationen<br />
spezifiziert, die e<strong>in</strong>e konkrete Messung des theoretischen Fortschritts auf e<strong>in</strong>er<br />
Ord<strong>in</strong>alskala erlauben.<br />
Es wird aufgezeigt, dass sich das strukturalistische Fortschrittskonzept im H<strong>in</strong>blick auf den empirischen<br />
Gehalt (Theoriepräzision <strong>und</strong> -Anwendungsbreite) <strong>und</strong> die empirische Bewährung von Theorien<br />
als anschlussfähig gegenüber konventionellen Fortschrittsverständnissen erweist. Darüber h<strong>in</strong>aus<br />
lässt sich e<strong>in</strong> Überschussgehalt des strukturalistischen Fortschrittskonzepts nachweisen, der es<br />
erlaubt, e<strong>in</strong>e größere Vielfalt von Ursachen <strong>und</strong> Arten theoretischen Fortschritts zu identifizieren,<br />
als es im konventionellen Theorienkonzept des „statement view“ möglich ist. Schließlich wird die<br />
konkrete Anwendung des strukturalistischen Fortschrittskonzepts anhand der Rekonstruktion e<strong>in</strong>er<br />
aktivitätsanalytischen Theorieentwicklung skizziert, mit der <strong>in</strong> der Betriebswirtschaftslehre auf ökologische<br />
Herausforderungen an die produktionswirtschaftliche Theoriebildung reagiert wurde.<br />
203
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 2<br />
1 Wissenschaftliche Problemstellung<br />
E<strong>in</strong>erseits stellt Fortschritt <strong>in</strong> den Wissenschaften e<strong>in</strong>en der zentralen normativen Begriffe dar. Er<br />
besitzt normativen Charakter, weil er „gute“, „weiter zu verfolgende“ Forschung gegenüber anderer,<br />
als rückschrittlich stigmatisierter Forschung auszeichnet. Zugleich handelt es sich um e<strong>in</strong>en<br />
Begriff von zentraler Qualität, weil angestrebter oder realisierter Fortschritt die Legitimationsbasis<br />
für die Dignität wissenschaftlicher Arbeit bildet – angefangen vom Selbstverständnis e<strong>in</strong>es Wissenschaftlers<br />
über die Reputation <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Scientific Community bis h<strong>in</strong> zur Vergabe von Forschungsmitteln<br />
(„Drittmitteln“) als Zeichen gesellschaftlicher Akzeptanz.<br />
Andererseits handelt es sich bei Fortschritt um e<strong>in</strong>en der „schillerndsten“ Begriffe des real existierenden<br />
Wissenschaftsbetriebs. Trotz – oder vielleicht sogar wegen – se<strong>in</strong>er zentralen legitimatorischen<br />
Bedeutung existiert ke<strong>in</strong>e verb<strong>in</strong>dliche Vorstellung darüber, welche <strong>in</strong>haltlichen Merkmale<br />
den Fortschrittsbegriff determ<strong>in</strong>ieren. Entweder wird er überhaupt nicht klar def<strong>in</strong>iert, sondern lediglich<br />
als „leicht handhabbares“, da <strong>in</strong>haltlich unbestimmtes Etikett für solche Forschungsarbeiten<br />
verwendet, die – aus welchem Gr<strong>und</strong> auch immer – positiv ausgezeichnet werden sollen. Oder es<br />
liegen zwar präzise Vorstellungen über den Inhalt des Fortschrittsbegriffs vor. Jedoch besitzen sie<br />
partikulären Charakter, weil sie nur <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er speziellen Forschergeme<strong>in</strong>schaft, d.h. unter den<br />
Anhängern e<strong>in</strong>er „Forschungs-Schule“ oder e<strong>in</strong>es „Forschungs-Paradigmas“, anerkannt werden.<br />
Letztes lässt sich aus wissenschaftssoziologischer Perspektive leicht nachvollziehen, hilft es doch,<br />
Forschungsarbeiten, die im Rahmen desselben Paradigmas erfolgen, e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen Standard<br />
zu „unterwerfen“ <strong>und</strong> so ihre <strong>in</strong>terne Kohärenz zu fördern. Zugleich lassen sich Forschungsarbeiten<br />
gegenüber externer Kritik aus den Perspektiven anderer Paradigmen immunisieren. Es braucht lediglich<br />
darauf h<strong>in</strong>gewiesen zu werden, dass die externen Beurteilungsmaßstäbe für Fortschrittlichkeit<br />
auf die „<strong>in</strong>terne“ Forschungsrationalität des „angegriffenen“ Paradigmas nicht anzuwenden seien.<br />
Auf diese Weise lassen sich partikuläre, paradigmenspezifische Fortschrittsvorstellungen – je<br />
nach Sichtweise – entweder ge- oder auch missbrauchen, um e<strong>in</strong>en pluralistischen bzw. an Beliebigkeit<br />
grenzenden Wissenschaftsbetrieb zu rechtfertigen.<br />
In diesem Spannungsfeld zwischen Fortschritt als Legitimationsbasis für die Dignität wissenschaftlicher<br />
Arbeit e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> als schillerndem Begriff ohne <strong>in</strong>haltliche Verb<strong>in</strong>dlichkeit andererseits<br />
ist der vorliegende Beitrag positioniert. Er stellt sich e<strong>in</strong>em zweifachen wissenschaftlichen Problem.<br />
Erstens wird e<strong>in</strong> Konzept zur präzisen <strong>in</strong>haltlichen Bestimmung des Fortschrittsbegriffs entfaltet,<br />
das auf dem strukturalistischen Theorienkonzept beruht. Zweitens wird e<strong>in</strong>e Operationalisierung<br />
dieses Fortschrittskonzepts vorgestellt, die es gestattet, die Fortschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
bestimmten, auf andere Theorien bezogenen Weise zu messen. Es werden also sowohl e<strong>in</strong> „strukturalistisch<br />
<strong>in</strong>spiriertes“ Fortschrittskonzept als auch e<strong>in</strong> darauf bezogener Ansatz zur „relationalen“<br />
oder „relativen“ <strong>Fortschrittsmessung</strong> zur Diskussion gestellt.<br />
2 Rahmenlegung<br />
In der hier gebotenen Kürze ist es nicht möglich, den State-of-the-art zum Erkenntnisgegenstand<br />
„theoretischer Fortschritt“ aufzuarbeiten. Weder die vielfältigen Beiträge zur Explikation von wissenschaftlichem<br />
Fortschritt noch die unterschiedlichen Auffassungen darüber, was unter e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen<br />
Theorie zu verstehen sei, werden näher beleuchtet. Stattdessen wird von e<strong>in</strong>igen<br />
„mutigen“ Prämissen ausgegangen, die dem hier präsentierten Fortschrittskonzept <strong>und</strong> der darauf<br />
aufbauenden <strong>Fortschrittsmessung</strong> zugr<strong>und</strong>e liegen. Über die Berechtigung dieser Prämissen lässt<br />
sich trefflich streiten. Dies wird vom Verfasser ausdrücklich anerkannt. E<strong>in</strong>e „prämissenfreie“ Argumentation<br />
ersche<strong>in</strong>t ihm aber denkunmöglich. Daher möchte er „ermuntern“, sich auf die nach-<br />
204
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 3<br />
stehend angeführten Prämissen versuchsweise e<strong>in</strong>zulassen, den daraus abgeleiteten E<strong>in</strong>sichten <strong>in</strong><br />
die Forschrittsthematik „provisorisch“ zu folgen <strong>und</strong> über die Ergebnisse schließlich kritisch zu urteilen.<br />
Wen es dazu drängt, der mag e<strong>in</strong> alternatives Prämissenensemble aufstellen <strong>und</strong> daraus zu<br />
anderen Vorschlägen für <strong>Fortschrittskonzepte</strong> <strong>und</strong> <strong>Fortschrittsmessung</strong>en gelangen. E<strong>in</strong>e Debatte<br />
über derart unterschiedliche Fortschrittsvorstellungen kann die wissenschaftliche Diskussion nur<br />
bereichern.<br />
Erstens wird von vier Anforderungen ausgegangen, die von e<strong>in</strong>em Fortschrittskonzept erfüllt werden<br />
sollen. Sie erfüllen den Zweck, die Anschlussfähigkeit zu „weit verbreiteten“, oftmals nur <strong>in</strong>tuitiv<br />
ausgearbeiteten Fortschrittsvorstellungen aus der erkenntnis- <strong>und</strong> wissenschaftstheoretischen<br />
Fachliteratur zu wahren (Anschlussfähigkeitspostulat). Im E<strong>in</strong>zelnen soll e<strong>in</strong> Fortschrittskonzept <strong>in</strong><br />
der Lage se<strong>in</strong>, für jeweils zwei mite<strong>in</strong>ander verglichene Theorien festzustellen, ob e<strong>in</strong>e von ihnen:<br />
e<strong>in</strong>en größeren empirischen Gehalt, der sich <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er größeren Anwendungsbreite (oder Allgeme<strong>in</strong>heit) oder<br />
e<strong>in</strong>er größere Präzision (oder Bestimmtheit oder Erklärungskraft) manifestiert, oder<br />
e<strong>in</strong>e größere empirische Bewährung (oder Evidenz)<br />
als die jeweils andere Theorie (Referenztheorie) besitzt.<br />
Zweitens soll das Fortschrittskonzept e<strong>in</strong>en Überschussgehalt besitzen: Es soll gestatten, die Fortschrittlichkeit<br />
e<strong>in</strong>er Theorie im H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>e Referenztheorie differenzierter zu beurteilen, als<br />
es mittels der oben angeführten, weith<strong>in</strong> etablierten Fortschrittsvorstellungen möglich ist (Differenzierungspostulat).<br />
Drittens soll sich das Fortschrittskonzept von lediglich <strong>in</strong>tuitiv ausgearbeiteten Fortschrittsvorstellungen<br />
dadurch abheben, dass es e<strong>in</strong>e präzise Messung der Fortschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug<br />
auf e<strong>in</strong>e Referenztheorie zulässt (Messbarkeitspostulat). Hierbei wird der Messbegriff e<strong>in</strong>erseits<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em möglichst weit gefassten Verständnis verwendet, um ke<strong>in</strong>e unnötigen Vorabfestlegungen<br />
zu treffen, andererseits jedoch so weit e<strong>in</strong>geengt, dass er noch präzise Messergebnisse zulässt. Die<br />
beiden voranstehenden Charakterisierungen eröffnen e<strong>in</strong>en Gestaltungsspielraum, weil ke<strong>in</strong>eswegs<br />
„objektiv“ festliegt, welche Vorabfestlegungen „unnötig“ s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> welche Messergebnisse als „präzise“<br />
anerkannt werden. Zur Verdeutlichung des Gestaltungsspielraums sei darauf h<strong>in</strong>gewiesen,<br />
dass die konventionelle Vorstellung, bei e<strong>in</strong>er Messung handele es sich um e<strong>in</strong>e Abbildung des zu<br />
messenden Sachverhalts auf die Menge der reellen Zahlen, zwar zweifellos e<strong>in</strong> präzises Messverständnis<br />
darstellt. Aber die E<strong>in</strong>schränkung auf reelle Zahlen fällt unnötig eng aus. Denn vergleichende<br />
<strong>und</strong> weiterh<strong>in</strong> präzise Messungen lassen sich beispielsweise auch auf mengentheoretischer<br />
Basis anhand von Inklusionsbeziehungen durchführen: E<strong>in</strong> Maßstab für die relative Mächtigkeit<br />
von Mengen ist aus dieser Perspektive der Sachverhalt, ob e<strong>in</strong>e Menge <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Menge als<br />
deren – echte oder unechte – Teilmenge enthalten ist. Dieser Sachverhalt des Enthaltense<strong>in</strong>s von<br />
Mengen lässt sich im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er „Ja“- oder „Ne<strong>in</strong>“-Entscheidung präzise prüfen („messen“), ohne<br />
sich von vornhere<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>e Messung als Abbildung e<strong>in</strong>es Sachverhalts auf – z.B. reelle – Zahlen<br />
festzulegen.<br />
Schließlich – <strong>und</strong> viertens – wird davon ausgegangen, dass sich alle Theorien, die h<strong>in</strong>sichtlich ihrer<br />
Fortschrittlichkeit mite<strong>in</strong>ander verglichen werden sollen, aus der Perspektive strukturalistischen<br />
Theorienkonzepts rekonstruieren lassen. Prima facie stellt diese strukturalistische Rekonstruktionsprämisse<br />
e<strong>in</strong>e gravierende E<strong>in</strong>schränkung dar. Denn zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> den Wirtschaftswissenschaften –<br />
<strong>und</strong> hier vor allem <strong>in</strong> Betriebswirtschaftslehre <strong>und</strong> Wirtschafts<strong>in</strong>formatik – fristet das strukturalistische<br />
Theorienkonzept e<strong>in</strong> „Schattendase<strong>in</strong>“. Dies wird oftmals auf die angeblich naturwissenschaftliche<br />
„Schlagseite“ dieses Theorienkonzepts <strong>und</strong> auf se<strong>in</strong>e „abstoßend“ rigide Formalisierung zurückgeführt.<br />
Deswegen könnte der E<strong>in</strong>wand erhoben werden, auf dieser Basis lasse sich nur e<strong>in</strong><br />
„exotisches“ Fortschrittskonzept errichten, das sich zwar durch se<strong>in</strong>e „<strong>in</strong>nere“ Str<strong>in</strong>genz auszeichne,<br />
aber ke<strong>in</strong>e „äußere“, praktische Relevanz für die real existierenden Wirtschaftswissenschaften be-<br />
205
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 4<br />
säße. Bei genauerem H<strong>in</strong>sehen zeigt sich jedoch, dass e<strong>in</strong> solcher E<strong>in</strong>wand dem strukturalistischen<br />
Theorienkonzepts aus m<strong>in</strong>destens drei Gründen nicht gerecht wird.<br />
Erstens stellt das strukturalistische Theorienkonzept ke<strong>in</strong> spezielles, auf e<strong>in</strong>e bestimmte Domäne<br />
zugeschnittenes Theorieverständnis dar. Insbesondere führt die Vorhaltung, es handele sich um e<strong>in</strong><br />
speziell naturwissenschaftliches, „szientistisches“ <strong>und</strong> „somit“ für die Wirtschaftswissenschaften<br />
ungeeignetes Theorienkonzept, <strong>in</strong> die Irre. Stattdessen handelt es sich um e<strong>in</strong> meta-theoretisches<br />
Rahmenkonzept, das sich gr<strong>und</strong>sätzlich auf alle realwissenschaftlichen Theorien anwenden lässt.<br />
Zweitens gibt das strukturalistische Theorienkonzept nur e<strong>in</strong>e wohldef<strong>in</strong>ierte Struktur für die Formulierung<br />
von Theorien vor, ohne e<strong>in</strong>e bestimmte Art der Formalisierung vorzuschreiben. Vielmehr<br />
lässt dieses Theorienkonzept e<strong>in</strong> weites Spektrum von Formalisierungen zu. Es reicht von e<strong>in</strong>er<br />
<strong>in</strong>formellen Mengentheorie, die vom „engeren Kreis“ der Vertreter strukturalistischen Theorienkonzepts<br />
wie BALZER, MOULINES, SNEED <strong>und</strong> STEGMÜLLER sogar bevorzugt wird, über die konventionelle<br />
Prädikatenlogik bis h<strong>in</strong> zu aufwändigeren Formen der sortierten oder algebraisch f<strong>und</strong>ierten<br />
Prädikatenlogik. Ausgeschlossen bleiben lediglich solche – z.B. wirtschaftswissenschaftliche<br />
– Theorien, die sich gr<strong>und</strong>sätzlich jeder Formalisierung entziehen. Der Verfasser vertritt an dieser<br />
Stelle die abermals „mutige“, aber durch vielfältige Formalisierungsansätze gestützte These,<br />
dass sich alle empirisch gehaltvollen Theorien der Wirtschaftswissenschaften zum<strong>in</strong>dest so weit<br />
formalisieren lassen, wie es e<strong>in</strong> <strong>in</strong>formeller mengentheoretischer Ansatz erfordert. Wer dies bestreitet,<br />
mag den Unmöglichkeitsbeweis der Formalisierung für e<strong>in</strong>e solche Theorie konkret erbr<strong>in</strong>gen.<br />
Drittens sagt das faktische Ausmaß, <strong>in</strong> dem wirtschaftswissenschaftliche Theorien mithilfe strukturalistischen<br />
Theorienkonzepts ausformuliert wurden, nichts über deren strukturelle Rekonstruierbarkeit<br />
aus. Mangelnde Vertrautheit mit dem strukturalistischen Theorienkonzept, gr<strong>und</strong>sätzliche<br />
Abneigung gegenüber irgende<strong>in</strong>er Art von Formalisierung, das Festhalten an „e<strong>in</strong>gespielten“ Theorietraditionen<br />
<strong>und</strong> viele Gründe mehr mögen davon abhalten, wirtschaftswissenschaftliche Theorie<br />
im Rahmen strukturalistischen Theorienkonzepts zu rekonstruieren. Dies bleibt jedoch unerheblich<br />
dafür, ob sich e<strong>in</strong>e solche Theorie im Pr<strong>in</strong>zip auf strukturalistische Weise rekonstruieren lässt. Gegen<br />
diese pr<strong>in</strong>zipielle Rekonstruierbarkeit wurden bis heute noch ke<strong>in</strong>e stichhaltigen E<strong>in</strong>wände erhoben.<br />
Und diese pr<strong>in</strong>zipielle Rekonstruierbarkeit reicht aus, um e<strong>in</strong>en Vergleich der Fortschrittlichkeit<br />
wirtschaftswissenschaftlicher Theorien im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />
leisten zu können.<br />
Um die Berechtigung der voranstehenden drei Argumentationsstränge zugunsten strukturalistischen<br />
Theorienkonzepts zu belegen, wird abschließend e<strong>in</strong> knapper Überblick über exemplarische Anwendungen<br />
dieses Theorienkonzepts gewährt. Er zeigt, dass sich e<strong>in</strong>e breite Palette realwissenschaftlicher<br />
Theorien auf strukturalistische Weise rekonstruieren lässt. 1)<br />
Das strukturalistische Theorienkonzept fand zwar zunächst vorwiegend <strong>in</strong> den Naturwissenschaften<br />
Verbreitung: z.B. für die klassische Partikelmechanik, die Thermodynamik, die Quantenelektrodynamik<br />
<strong>und</strong> die Genetik. Dies hat außerhalb der Naturwissenschaften mitunter zu dem oben bereits<br />
angesprochenen Vorurteil beigetragen, das strukturalistische Theorienkonzept eigne sich allenfalls<br />
für „szientistisch“ geprägte Theorieverständnisse, besitze jedoch <strong>in</strong> den „andersartigen“ <strong>und</strong> „eigengesetztlichen“<br />
Kulturwissenschaften ke<strong>in</strong>e Relevanz. Dieses lang gehegte lässt sich jedoch nicht<br />
mehr ernsthaft aufrecht erhalten. Denn das strukturalistische Theorienkonzept hat <strong>in</strong> jüngerer Zeit<br />
auch verstärkte Aufmerksamkeit <strong>in</strong> den Kulturwissenschaften auf sich gezogen. Dazu gehören vor<br />
allem die Beiträge zur Psychologie von WESTERMANN <strong>und</strong> WESTMEYER 2) , zur Sozialpsychologie<br />
1) Vgl. zu e<strong>in</strong>er ausführlicheren Übersicht über Anwendungen des strukturalistischen Theorienkonzepts im Bereich<br />
der Realwissenschaften BREINLINGER-O´REILLY (1991), S. 236 f. u. 256 ff.<br />
2) Vgl. WESTERMANN (1987), S. 14 ff., 39 ff. u. 101 ff.; WESTMEYER (1992), S. 4 u. 8 ff.<br />
206
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 5<br />
von MANHART 1) , zur Politikwissenschaft von DREIER 2) sowie zur soziologisch <strong>in</strong>spirierten Systemtheorie<br />
von PATIG 3) .<br />
Speziell im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich 4) wurden bislang vor allem auf der Seite der<br />
Volkswirtschaftslehre mehrere mikro- <strong>und</strong> makroökonomische Theorien 5) aus der Perspektive des<br />
strukturalistischen Theorienkonzepts rekonstruiert. Auf betriebswirtschaftlicher Seite hat <strong>in</strong>sbesondere<br />
SCHNEIDER 6) das strukturalistische Theorienkonzept aus dem Blickw<strong>in</strong>kel der Allgeme<strong>in</strong>en Betriebswirtschaftslehre<br />
7) rezipiert. Daneben stammen aus den Speziellen Betriebswirtschaftslehren<br />
nur vere<strong>in</strong>zelte Beiträge zum strukturalistischen Theorienkonzept, wie etwa aus dem betrieblichen<br />
Rechnungswesen 8) <strong>und</strong> – noch am stärksten vertreten – auf dem Gebiet der betriebswirtschaftlichen<br />
Produktionstheorie 9) . Im Bereich der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik hat vor allem PATIG 10) e<strong>in</strong>en beachtenswerten<br />
Beitrag zur Rekonstruktion e<strong>in</strong>es Theoriennetzes der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik präsentiert.<br />
Die <strong>in</strong>haltliche Verschiedenartigkeit der voranstehend aufgelisteten Theorien belegt die Fruchtbarkeit<br />
des strukturalistischen Theorienkonzepts als e<strong>in</strong> meta-theoretisches Rahmenkonzept. Dem Verfasser<br />
ist ke<strong>in</strong> alternatives Rahmenkonzept für die (Re-) Konstruktion realwissenschaftlicher Theorien<br />
bekannt, das e<strong>in</strong>e ähnliche Anwendungsbreite aufweist <strong>und</strong> zugleich ähnlich präzise metatheoretische<br />
Erkenntnisse – wie im hier vorliegenden Beitrag über die relative Fortschrittlichkeit<br />
von Theorien – gestattet. Daher sieht der Verfasser plausible Gründe auf se<strong>in</strong>er Seite, die es gerechtfertigt<br />
ersche<strong>in</strong>en lassen, die anschließende Diskussion e<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er<br />
darauf aufbauenden <strong>Fortschrittsmessung</strong> <strong>in</strong> das strukturalistische Theorienkonzept e<strong>in</strong>zubetten.<br />
1) Vgl. MANHART (1994), S. 113 ff., <strong>in</strong>sbesondere S. 119 ff.; MANHART (1995), S. 102 ff., <strong>in</strong>sbesondere S. 111 ff., 122<br />
ff., 148 f., 190 ff. u. 269 ff.; MANHART (1998), S. 302 ff., <strong>in</strong>sbesondere S. 307 ff. u. 314 ff.<br />
2) Vgl. DREIER (1993), S. 279 ff.; DREIER (2000), S. 195 ff.<br />
3) Vgl. PATIG (1999), S. 58 ff. PATIG (2001), S. 45 ff. (jeweils Rekonstruktionen der allgeme<strong>in</strong>en Systemtheorie von<br />
LUHMANN). Dadurch begegnet PATIG konstruktiv der – früheren – Kritik <strong>in</strong> MANHART (1995), S. 112 f., es sei erstaunlich,<br />
dass das strukturalistische Theorienkonzept zwar <strong>in</strong> der Psychologie auf fruchtbaren Boden gefallen sei,<br />
seitens der Soziologie jedoch die „Strukturalistische Wende“ nicht zur Kenntnis genommen worden sei.<br />
4) Vgl. dazu auch den Überblick über Anwendungen des strukturalistischen Theorienkonzepts auf wirtschaftswissenschaftliche<br />
Theorien bei BREINLINGER-O´REILLY (1991), S. 256 ff.<br />
5) Vgl. DIEDERICH (1981), S. 124 ff.; KÖTTER (1982), S. 108 ff.; WEBER (1983), S. 617 ff.; HASLINGER (1983), S. 115<br />
ff.; STEGMÜLLER (1986), S. 376 ff. u. 432 ff.; HAMMINGA/BALZER (1986), S. 31 ff.; JANSSEN (1989), S. 165 ff.;<br />
BREINLINGER-O´REILLY (1991), S. 260 ff.<br />
6) Vgl. SCHNEIDER (1994), S. 54 ff. u. 188.<br />
7) Vgl. zu weiteren, seltenen Ausnahmen, die das strukturalistische Theorienkonzept aus dem Blickw<strong>in</strong>kel der Allgeme<strong>in</strong>en<br />
Betriebswirtschaftslehre wahrgenommen, aber bislang ke<strong>in</strong>e nennenswerten „Nachwirkungen“ gezeigt<br />
haben, MATTESSICH (1979), S. 258 ff.; KÜTTNER (1983), S. 348 ff.; KÖTTER (1983), S. 324 ff.; KIRSCH (1984), S.<br />
1072 ff.; BREINLINGER-O´REILLY (1991), S. 90 ff. (<strong>in</strong> Bezug auf SCHNEIDER).<br />
8) Vgl. BALZER/MATTESSICH (2000), S. 103 ff.<br />
9) Vgl. KÖTTER (1983), S. 333 ff.; WEBER (1983), S. 617 ff.; BREINLINGER-O´REILLY (1991), S. 260; ZELEWSKI<br />
(1993), <strong>in</strong>sbesondere S. 225 ff.; STEVEN/BEHRENS (1998), S. 474 ff. (kritisch); ZELEWSKI (2004), S. 16 ff.<br />
10) Vgl. PATIG (2001), S. 53 ff.<br />
207
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 6<br />
3 Theoretischer Fortschritt<br />
im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />
3.1 E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> das strukturalistische Theorienkonzept<br />
Das strukturalistische Theorienkonzept – oder synonym: der „non statement view“ – geht auf Arbeiten<br />
von SNEED zur Struktur physikalischer Theorien zurück. 1) Es wurde vor allem von<br />
STEGMÜLLER, BALZER <strong>und</strong> MOULINES <strong>in</strong>haltlich fortentwickelt, 2) die daher auch zum „engeren<br />
Kreis“ der Vertreter des strukturalistischen Theorienkonzepts gerechnet werden.<br />
In der hier gebotenen Kürze kann die <strong>in</strong>haltliche Fülle des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />
noch nicht e<strong>in</strong>mal ansatzweise entfaltet werden. Stattdessen beschränken sich die anschließenden<br />
Erläuterungen auf e<strong>in</strong>e grobe Skizze der typischen Struktur e<strong>in</strong>er Theorie, welche die Gestaltungsvorgaben<br />
des strukturalistischen Theorienkonzepts befolgt. Auf Eigentümlichkeiten dieses Theorienkonzepts<br />
wird nur <strong>in</strong> dem Ausmaß e<strong>in</strong>gegangen, wie es zur späteren Entfaltung e<strong>in</strong>es „strukturalistisch<br />
<strong>in</strong>spirierten“ Fortschrittskonzepts zweckdienlich ersche<strong>in</strong>t. Außerdem wird im Interesse der<br />
Anschlussfähigkeit an frühere Publikationen des Verfassers <strong>und</strong> Veröffentlichungen Dritter auf e<strong>in</strong>e<br />
relativ e<strong>in</strong>fache „Standardvariante“ des strukturalistischen Theorienkonzepts zurückgegriffen, die<br />
allen nachfolgenden Erörterungen zugr<strong>und</strong>e liegt.<br />
Die Besonderheiten des strukturalistischen Theorienkonzepts lassen sich am e<strong>in</strong>fachsten durch e<strong>in</strong>en<br />
„kontrastierenden“ Argumentationsansatz herausarbeiten. Als Kontrastspender dient das konventionelle<br />
Theorienkonzept. Es wird oftmals auch als wissenschaftlicher „statement view“ oder<br />
„received view“ bezeichnet. Se<strong>in</strong>e Konzeptualisierung von Theorien trifft auf den größten Teil der<br />
wirtschaftswissenschaftlichen Theorien zu. Das gilt sowohl für die Betriebs- <strong>und</strong> die Volkswirtschaftslehre<br />
als auch für die Wirtschafts<strong>in</strong>formatik. Aus der Perspektive des konventionellen Theorienkonzepts<br />
werden realwissenschaftliche Theorien als deduktiv abgeschlossene Formelsysteme<br />
mit m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er nicht-trivialen nomischen Hypothese (gesetzesartigen Aussage) verstanden.<br />
Der „statement view“ behandelt das Formelsystem e<strong>in</strong>er Theorie als schlichte Ansammlung von<br />
Formeln („Aussagen“, „statements“), die nur äußerst schwach strukturiert ist. Die e<strong>in</strong>zige strukturelle<br />
Eigenschaft, die diese Formelansammlung unmittelbar aufweist, besteht dar<strong>in</strong>, dass alle Formeln<br />
so behandelt werden, als wären sie mittels e<strong>in</strong>es logischen „<strong>und</strong>“ mite<strong>in</strong>ander verknüpft.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus können zwei weitere Aspekte zur Struktur e<strong>in</strong>er konventionell formulierten Theorie<br />
gerechnet werden. Erstens handelt es sich um die Unterscheidung zwischen Theorieexplikat <strong>und</strong><br />
Theorieimplikat. Das Theorieexplikat umfasst alle Formeln, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Theorieformulierung explizit<br />
enthalten s<strong>in</strong>d. Das Theorieimplikat besteht h<strong>in</strong>gegen aus allen Formeln, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Theorieformulierung<br />
nicht explizit enthalten s<strong>in</strong>d, die aber aus den explizit angeführten Formeln mittels<br />
Deduktions- oder Inferenzregeln abgeleitet werden können. Zweitens lässt sich zur Theoriestruktur<br />
auch die Gesamtheit aller Inferenzregeln rechnen, die für die Ableitung von Formeln als zulässig<br />
erachtet werden. Diese „Inferenzkomponente“ wird im konventionellen Theorienkonzept zwar zumeist<br />
nicht als Bestandteil e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zelnen Theorie explizit angegeben, sondern für e<strong>in</strong>e große Anzahl<br />
von Theorien als e<strong>in</strong>heitlicher „deduktiver Theorieh<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>“ stillschweigend vorausgesetzt.<br />
Se<strong>in</strong>e Relevanz für die Theorieformulierung wird erst dann offensichtlich, wenn die Zulässigkeit<br />
1) Die Basisarbeit SNEED (1979) erschien <strong>in</strong> ihrer ersten Auflage im Jahr 1971. Sie bildet das historisch prägende<br />
F<strong>und</strong>ament des strukturalistischen Theorienkonzepts. Die wesentlichen Theorieformulierungen f<strong>in</strong>den sich dort auf<br />
S. 165 ff. u. 259 ff., <strong>in</strong>sbesondere S. 171 u. 183 f. Vgl. auch SNEED (1983), S. 345 u. 350 ff.<br />
2) Vgl. STEGMÜLLER (1973), S. 12 ff. u. 120 ff.; STEGMÜLLER (1979), S. 3 ff., <strong>in</strong>sbesondere S. 25 ff. u. 90 ff.; STEG-<br />
MÜLLER (1980), <strong>in</strong>sbesondere S. 32 ff., 56 ff. u. 137 ff.; STEGMÜLLER (1986), S. 2 ff., 46 ff. u. 98 ff.; BALZER/<br />
MOULINES/SNEED (1987), S. XX ff. (<strong>in</strong>formaler Überblick) u. 15 ff., <strong>in</strong>sbesondere S. 36 ff. u. 79 ff.; BALZER/MOU-<br />
LINES (1996) ; BALZER/SNEED/MOULINES (2000); MOULINES (2002), S. 2 ff.; BALZER (2002), S. 53 ff.<br />
208
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 7<br />
e<strong>in</strong>zelner Inferenzregeln – wie etwa das „tertium non datur“-Pr<strong>in</strong>zip <strong>und</strong> darauf aufbauende <strong>in</strong>direkte<br />
Schlussweisen seitens der <strong>in</strong>tuitionistischen Mathematik – <strong>in</strong> Zweifel gezogen wird. Da <strong>in</strong> diesem<br />
Beitrag alternative Vorstellungen über die Zulässigkeit von Inferenzregeln ke<strong>in</strong>e Rolle spielen, wird<br />
auf die Inferenzkomponente e<strong>in</strong>er Theorie nicht weiter e<strong>in</strong>gegangen.<br />
Das strukturalistische Theorienkonzept hebt sich vom konventionellen Theorienkonzept dadurch ab,<br />
dass es e<strong>in</strong>e weitaus reichhaltigere Strukturierung für „wohlgeformte“ Theorien vorschreibt. Daher<br />
rührt die Bezeichnung strukturalistisches Theorienkonzept. Darüber h<strong>in</strong>aus betrachtet das strukturalistische<br />
Theorienkonzept e<strong>in</strong>e Theorie gr<strong>und</strong>sätzlich nicht als System aus Formeln als kle<strong>in</strong>sten<br />
wahrheitsfähigen <strong>und</strong> somit überprüf- <strong>und</strong> kritisierbaren Theoriekonstituenten. Diese Abgrenzung<br />
vom konventionellen, auf Formelsysteme bezogenen Theorienkonzept hat dazu veranlasst, das<br />
strukturalistische Theorienkonzept auch als „non statement view“ zu bezeichnen. Stattdessen steht<br />
im Vordergr<strong>und</strong> der strukturalistischen Theorieformulierung e<strong>in</strong>e formale Struktur, die den <strong>in</strong>neren<br />
Theoriezusammenhang prägen. Je nachdem, welche Formalisierungspräferenzen gehegt werden,<br />
kann diese Struktur z.B. primär mit Ausdrucksmitteln der <strong>in</strong>formellen Mengentheorie oder aber vorrangig<br />
mit Ausdrucksmitteln der formalen Logik, <strong>in</strong>sbesondere Prädikatenlogik ausgefüllt werden.<br />
Die allgeme<strong>in</strong>e Struktur für wohlgeformte Theorien gilt aber unabhängig von diesen Formalisierungspräferenzen<br />
auf der Ebene der formalsprachlichen Ausdrucksweise. Diese allgeme<strong>in</strong>e Theoriestruktur<br />
wird im Folgenden skizziert.<br />
Zunächst wird im strukturalistischen Theorienkonzept die M<strong>in</strong>imalstruktur des konventionellen<br />
Theorienkonzepts nicht zur Disposition gestellt. Die konjunktive Formelverknüpfung, die Disjunktion<br />
zwischen Theorieexplikat <strong>und</strong> Theorieimplikat sowie die Dreiteilung zwischen Axiomen, Theoremen<br />
<strong>und</strong> Inferenzregeln f<strong>in</strong>den sich im strukturalistischen Theorienkonzept unverändert wieder.<br />
Daher führt das strukturalistische Theorienkonzept h<strong>in</strong>sichtlich der Theoreme <strong>und</strong> Inferenzregeln<br />
e<strong>in</strong>er Theorie zu ke<strong>in</strong>en neuartigen E<strong>in</strong>sichten. Folglich lässt sich der „non statement view“ auch so<br />
auffassen, dass er „nur“ für die Axiome e<strong>in</strong>er konventionell formulierten Theorie e<strong>in</strong>e neuartige <strong>und</strong><br />
tiefgründige Strukturierung anbietet. Von dieser „axiomatischen“ Variante des strukturalistischen<br />
Theorienkonzepts wird im Folgenden ausgegangen.<br />
Das strukturalistische Theorienkonzept schreibt für e<strong>in</strong>e wohlgeformte Theorie T e<strong>in</strong>e konzeptspezifische<br />
Theoriestruktur vor, die über die zuvor erwähnte M<strong>in</strong>imalstruktur weit h<strong>in</strong>ausreicht. Diese<br />
Struktur besteht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er mehrfachen, sowohl horizontalen als auch vertikalen Ausdifferenzierung<br />
der Theoriestruktur <strong>in</strong> charakteristische Theoriekomponenten.<br />
Zunächst wird die Theorie T auf der obersten Ebene durch das Tupel T = <strong>in</strong> ihren Theoriekern<br />
K T <strong>und</strong> ihren <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T horizontal gegliedert. Auf der zweiten Ebene,<br />
die der ersten Ebene hierarchisch untergeordnet ist, wird der Theoriekern K T <strong>in</strong> das Tupel<br />
K T = mit vier charakteristischen Mengen ausdifferenziert: 1)<br />
• die Menge M p(T) der potenziellen Modelle der Theorie T,<br />
• die Menge M pp(T) der partiellen potenziellen Modelle der Theorie T,<br />
1) Um Missverständnissen vorzubeugen, ist darauf h<strong>in</strong>zuweisen, dass der nachfolgend verwendete, für das strukturalistische<br />
Theorienkonzept typische Modellbegriff nichts mit dem wirtschaftswissenschaftlich vertrauten Modellbegriff<br />
geme<strong>in</strong>sam hat. Der Modellbegriff, der <strong>in</strong> den Wirtschaftswissenschaften vorherrscht, bezieht sich auf die<br />
Repräsentation e<strong>in</strong>es Realitätsausschnitts, verweist also auf e<strong>in</strong>e außersprachliche Realität. Stattdessen nimmt das<br />
strukturalistische Theorienkonzept auf den semantischen Modellbegriff der formalen Logik Bezug. Dabei um e<strong>in</strong><br />
re<strong>in</strong> sprachlich def<strong>in</strong>iertes, „<strong>in</strong>nersprachliches“ Konstrukt aus dem Bereich der formalen Semantik. E<strong>in</strong> Modell <strong>in</strong><br />
diesem speziellen S<strong>in</strong>ne der formalen Semantik ist e<strong>in</strong> formalsprachliches Konstrukt (z.B. e<strong>in</strong>e algebraische Struktur)<br />
A, das e<strong>in</strong>er formalsprachlichen Formel F durch e<strong>in</strong>e jeweils gegebene Interpretation I zugeordnet wird <strong>und</strong><br />
dazu führt, dass die Formel F nach Anwendung der Termauswertungs- <strong>und</strong> Interpretationsfunktionen, die im Rahmen<br />
e<strong>in</strong>er formalen Semantik spezifiziert s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e gültige Formel darstellt.<br />
209
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 8<br />
• die Menge M S(T) der Modelle der Theorie T <strong>und</strong><br />
• die Menge C S(T) der Restriktionen der Theorie T.<br />
Mit M p(T) wird die Menge aller potenziellen Modelle m p(T) der Theorie T bezeichnet. E<strong>in</strong> potenzielles<br />
Theoriemodell ist e<strong>in</strong> Term<strong>in</strong>us technicus der formalen Semantik, der <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Verwandtschaft<br />
mit dem betriebswirtschaftlichen Modellbegriff steht. Vielmehr wird unter dem potenziellen Modell<br />
m p(T) e<strong>in</strong>er Theorie T e<strong>in</strong> formalsprachliches Konstrukt verstanden, das mit Hilfe des term<strong>in</strong>ologischen<br />
Apparats dieser Theorie formuliert worden ist. Die Menge M p(T) der potenziellen Modelle<br />
umfasst alle Formelsysteme, die ausschließlich mittels der formalen Sprache der Theorie T formuliert<br />
werden können <strong>und</strong> als „s<strong>in</strong>nvolle“ formalsprachliche Konstrukte gelten. Dies gilt unabhängig<br />
davon, ob die Formelsysteme jeweils die gesetzesartigen Aussagen (nomischen Hypothesen) der<br />
Theorie T erfüllen oder nicht.<br />
In e<strong>in</strong>er groben Annäherung lässt sich die potenzielle Modellmenge M p(T) als e<strong>in</strong>e formalsprachliche<br />
Spezifikation des term<strong>in</strong>ologischen Apparats der Theorie T – oder kurz als term<strong>in</strong>ologische Basis<br />
dieser Theorie – auffassen. Denn die Spezifikation der potenziellen Modellmenge M p(T) umfasst<br />
zum<strong>in</strong>dest die Festlegung aller Ausdrücke (wie etwa Terme, Funktionen <strong>und</strong> Prädikate), aus denen<br />
zulässige Formeln gebildet werden können. H<strong>in</strong>zu kommen die syntaktischen Regeln zur Generierung<br />
zulässiger Formeln. Diese Syntaxregeln werden jedoch zumeist nicht <strong>in</strong> der potenziellen Modellmenge<br />
M p(T) explizit festgelegt, sondern aus e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>en formalsprachlichen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>kalkül<br />
– wie etwa der Mengentheorie oder der Prädikatenlogik – übernommen <strong>und</strong> implizit als<br />
bekannt unterstellt. Darüber h<strong>in</strong>aus kann die Spezifikation auch noch zusätzliche Festlegungen umfassen,<br />
mittels derer sich die komb<strong>in</strong>atorisch möglichen Formeln auf sprachlich „s<strong>in</strong>nvolle“ Formeln<br />
e<strong>in</strong>schränken lassen. Im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts werden solche E<strong>in</strong>schränkungen<br />
der potenziellen Modellmenge M p(T) als Rahmenbed<strong>in</strong>gungen („framework conditions“)<br />
thematisiert. Sie ähneln den Integritätsregeln, die <strong>in</strong> anderen Wissenschaftsbereichen – wie<br />
etwa bei der Konstruktion von „Ontologien“ – aufgestellt werden, um Formelsysteme auf sprachlich<br />
„s<strong>in</strong>nvolle“ Formeln zu begrenzen <strong>und</strong> hierdurch die „Integrität“ der Formelsysteme zu wahren.<br />
Die Menge M pp(T) der partiellen potenziellen Modelle m pp(T) der Theorie T geht aus der Menge ihrer<br />
potenziellen Modelle durch die Anwendung der RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung hervor. Mittels dieser Elim<strong>in</strong>ierungsoperation<br />
werden formalsprachliche Konstrukte e<strong>in</strong>er besonderen Art – die so genannten<br />
T-theoretischen Konstrukte – aus den Formulierungen der Formelsysteme der potenziellen Modelle<br />
vollständig entfernt, weil sie zu erheblichen Komplikationen bei der Überprüfung des empirischen<br />
Geltungsanspruchs e<strong>in</strong>er realwissenschaftlichen Theorie führen können. Auf die Besonderheiten T-<br />
theoretischer Konstrukte wird später zurückgekommen. Sie werden jedoch zunächst zurückgestellt,<br />
um im Folgenden mit der Erläuterung der Komponenten e<strong>in</strong>er wohlgeformten strukturalistischen<br />
Theorie fortfahren zu können.<br />
Die Menge M S(T) ist die Menge aller Modelle m S(T) der Theorie T. E<strong>in</strong> formalsprachliches Konstrukt,<br />
d.h. hier e<strong>in</strong> Formelsystem, wird als e<strong>in</strong> Modell der Theorie T bezeichnet, wenn es dieselbe formale<br />
Struktur S(T) wie diese Theorie besitzt. E<strong>in</strong> Modell der Theorie T läst sich daher als e<strong>in</strong>e „Instanziierung“<br />
dieser Theorie auffassen, die exakt die formale Struktur S(T) dieser Theorie aufweist. Die<br />
formale Struktur S(T) e<strong>in</strong>er Theorie T wird ihrerseits durch zwei Komponenten def<strong>in</strong>iert: e<strong>in</strong>erseits<br />
ihren term<strong>in</strong>ologischen Apparat <strong>und</strong> andererseits ihre nomischen Hypothesen. Folglich liegt e<strong>in</strong><br />
Modell der Theorie T genau dann vor, wenn es ausschließlich den term<strong>in</strong>ologischen Apparat dieser<br />
Theorie benutzt <strong>und</strong> zugleich alle ihre gesetzesartigen Aussagen erfüllt. E<strong>in</strong> Modell der Theorie T<br />
geht daher aus e<strong>in</strong>em ihrer potenziellen Modelle durch Erfüllung aller ihrer nomischen Hypothesen<br />
hervor. Folglich muss die Menge M S(T) aller Modelle der Theorie T stets e<strong>in</strong>e Teilmenge der Menge<br />
derselben Theorie darstellen: M S(T) ⊆ M p(T) .<br />
Schließlich stellt die Restriktionenmenge C S(T) e<strong>in</strong>e Besonderheit des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />
dar, die erst bei komplexen Theorieanwendungen Bedeutung erlangt. Sie ist <strong>in</strong> konventio-<br />
210
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 9<br />
nellen Theorieformulierungen des „statement view“ unbekannt <strong>und</strong> besitzt ke<strong>in</strong>en Bezug zu den<br />
äquivoken „Restriktionen“ aus entscheidungstheoretischen Modellierungen. Statt dessen handelt es<br />
sich bei den strukturalistischen Restriktionen um Anforderungen sui generis, die von mehreren potenziellen<br />
Modellen derselben Theorie geme<strong>in</strong>sam erfüllt werden müssen. Daher gilt für die<br />
Restriktionenmenge mithilfe des Potenzmengenoperators pot 1) + stets: C S(T) ⊆ pot + (M p(T) ). Die strukturalistischen<br />
Restriktionen besitzen die Qualität von Kohärenzbed<strong>in</strong>gungen, die zwischen mehreren<br />
Anwendungen derselben Theorie T gelten. Damit gehen diese Restriktionen <strong>in</strong> epistemologischer<br />
H<strong>in</strong>sicht über die „normalen“ nomischen Hypothesen h<strong>in</strong>aus, die nur <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Modells der<br />
Theorie T erfüllt se<strong>in</strong> müssen.<br />
Beispielsweise spielen strukturalistische Restriktionen e<strong>in</strong>e Rolle, wenn dieselbe produktionswirtschaftliche<br />
Theorie auf unterschiedliche Stufen e<strong>in</strong>es mehrstufigen Produktionssystems angewendet<br />
wird. Es liegen dann mehrere Theorieanwendungen vor, die durch Mengenkont<strong>in</strong>uitätsbed<strong>in</strong>gungen<br />
als Restriktionen strukturalistischer Art mite<strong>in</strong>ander verknüpft werden. Die meisten wirtschaftswissenschaftlichen<br />
Theorien erweisen sich jedoch aus der Perspektive des „non statement view“ als so<br />
e<strong>in</strong>fach strukturiert, dass <strong>in</strong> ihnen ke<strong>in</strong>e Restriktionen der zuvor skizzierten Art wirksam werden.<br />
Daher kann im Folgenden der Übersichtlichkeit halber von der vere<strong>in</strong>fachenden Annahme<br />
C S(T) = pot + (M p(T) ) ausgegangen werden.<br />
Nach der Ausdifferenzierung des Theoriekerns K T ist der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T der<br />
Theorie T festzulegen. Dies kann e<strong>in</strong>erseits durch spezielle Interpretations- <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen<br />
geschehen, die von den <strong>in</strong>tendierten Theorieanwendungen erfüllt werden müssen. Andererseits<br />
kommt auch die Verwendung so genannter „paradigmatischer“ Beispiele <strong>in</strong> Betracht, die als e<strong>in</strong>e<br />
Art Kristallisationskeim wirken, als dessen – zunächst offene <strong>und</strong> bei Bedarf erweiterte – Obermenge<br />
der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich „festgelegt“ wird. Auf die Details dieser Vorgehensweisen<br />
kann <strong>in</strong> der hier gebotenen Kürze nicht näher e<strong>in</strong>gegangen werden. Dies ist im hier erörterten Kontext<br />
auch nicht nötig, weil die spezielle Art <strong>und</strong> Weise, wie der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich e<strong>in</strong>er<br />
Theorie konkret bestimmt wird, von Theorie zu Theorie variieren kann. Für die allgeme<strong>in</strong>e<br />
strukturalistische Theorieformulierung reicht es aus zu bestimmen, <strong>in</strong> welchem charakteristischen<br />
Zusammenhang der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T e<strong>in</strong>er Theorie T mit ihrem Theoriekern K T<br />
steht. Dieser Zusammenhang wird durch die Gesamtheit aller <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereiche I T<br />
festgelegt, die sich aus strukturalistischer Perspektive mit dem Theoriekern K T konsistent vere<strong>in</strong>baren<br />
lassen. Diese Gesamtheit ist die Menge D T der denkmöglichen Anwendungen d T der Theorie T.<br />
E<strong>in</strong>e denkmögliche Theorieanwendung d T ist stets mit Hilfe des term<strong>in</strong>ologischen Apparats der<br />
Theorie T, also mit formalsprachlichen Konstrukten aus ihrer potenziellen Modellmenge M p(T) formuliert.<br />
Zwecks komplikationsfreier empirischer Überprüfung der Theorie T müssen jedoch noch<br />
die T-theoretischen Konstrukte elim<strong>in</strong>iert werden (sofern solche überhaupt existieren). Daher darf<br />
e<strong>in</strong>e denkmögliche Anwendung der Theorie T nur mithilfe ihrer partiellen potenziellen Modelle aus<br />
der Menge M pp(T) formuliert se<strong>in</strong>. Darüber h<strong>in</strong>aus stellt e<strong>in</strong>e denkmögliche Theorieanwendung im<br />
Allgeme<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e nicht-leere Menge von partiellen potenziellen Modellen m pp(T) dar, d.h., sie kann<br />
sich über mehrere partielle potenzielle Modelle der Theorie T erstrecken. Die Menge D T aller<br />
denkmöglichen Theorieanwendungen ist somit die Potenzklasse der Menge M pp(T) aller partiellen<br />
potenziellen Theoriemodelle (ohne die leere Menge): D T = pot + (M pp(T) ). Da die <strong>in</strong>tendierten Anwendungen<br />
i T der Theorie T aus der Menge D T aller denkmöglichen Theorieanwendungen stammen<br />
müssen, gilt für jede Menge I T von <strong>in</strong>tendierten Anwendungen der Theorie T: I T ⊆ D T <strong>und</strong><br />
I T ⊆ pot + (M pp(T) ).<br />
Die Anforderung I T ⊆ pot + (M pp(T) ) an jeden <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T , der sich mit Kern<br />
K T e<strong>in</strong>er strukturalistisch wohlgeformten Theorie T konsistent vere<strong>in</strong>baren lässt, drückt – kurz ge-<br />
1) Der Zusatz „+“ zum Potenzmengenoperator pot + vereist darauf, dass durch die Operatoranwendung nur die nichtleeren<br />
Teilmengen der jeweils zugr<strong>und</strong>e gelegten Referenzmenge erzeugt werden.<br />
211
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 10<br />
fasst – aus, dass jede <strong>in</strong>tendierte Theorieanwendung e<strong>in</strong>e nicht-leere Menge aus partiellen potenziellen<br />
Modellen der Theorie T darstellen muss. Dies bedeutet, dass e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tendierte Theorieanwendung<br />
e<strong>in</strong>erseits mit Hilfe des term<strong>in</strong>ologischen Apparats der Theorie T formuliert se<strong>in</strong> muss <strong>und</strong> andererseits<br />
ke<strong>in</strong>e T-theoretischen Konstrukte enthalten darf.<br />
Die erste Teilanforderung sche<strong>in</strong>t zunächst trivial zu se<strong>in</strong>. Sie lenkt aber die Aufmerksamkeit auf<br />
den Umstand, dass es zu den Gr<strong>und</strong>lagen e<strong>in</strong>er wohlgeformten Theorie gehört, zunächst ihren term<strong>in</strong>ologischen<br />
Apparat formalsprachlich präzise zu explizieren, bevor über ihre <strong>in</strong>tendierten Anwendungen<br />
„s<strong>in</strong>nvoll“ geredet werden kann. Diese Explizierung beruht auf der Menge M p(T) der potenziellen<br />
Modelle der betroffenen Theorie, aus der durch die Elim<strong>in</strong>ierung aller T-theoretischen<br />
Konstrukte die Menge M pp(T) ihrer partiellen potenziellen Modelle hervorgegangen ist.<br />
Die zweite Teilanforderung rückt die T-theoretischen Konstrukte als e<strong>in</strong>en zentralen epistemischen<br />
Aspekt des strukturalistischen Theorienkonzepts <strong>in</strong> den Vordergr<strong>und</strong>. In der hier gebotenen Kürze<br />
kann auf die herausragende Bedeutung, aber auch die <strong>in</strong>härente Problematik dieser T-theoretischen<br />
Konstrukte nicht näher e<strong>in</strong>gegangen werden. Daher müssen an dieser Stelle e<strong>in</strong>ige kurze Anmerkungen<br />
ausreichen.<br />
E<strong>in</strong> formalsprachliches Konstrukt verhält sich T-theoretisch <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e realwissenschaftliche<br />
Theorie T, falls sich se<strong>in</strong>e konkreten Ausprägungen nur dann messen lassen, wenn vorausgesetzt<br />
wird, dass m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tendierte Anwendung dieser Theorie T existiert, <strong>in</strong> der alle gesetzesartigen<br />
Aussagen dieser Theorie erfüllt s<strong>in</strong>d. Etwas vere<strong>in</strong>facht ausgedrückt, zeichnen sich die T-<br />
theoretischen Konstrukte e<strong>in</strong>er Theorie T dadurch aus, die empirische Geltung aller gesetzesartigen<br />
Aussagen dieser Theorie implizit vorauszusetzen.<br />
Sofern e<strong>in</strong>e Theorie T m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> solches T-theoretisches Konstrukt enthält, unterliegt sie e<strong>in</strong>em<br />
gravierenden Überprüfungsdefekt: Der empirische Geltungsanspruch der Theorie T lässt sich<br />
nicht überprüfen, ohne sich entweder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em „circulus vitiosus“ oder aber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>f<strong>in</strong>iten Regress<br />
zu verfangen, weil jeder Überprüfungsversuch implizit die empirische Geltung m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er<br />
Anwendung der Theorie voraussetzt.<br />
Dieser Überprüfungsdefekt bedeutet e<strong>in</strong>e „Bankrotterklärung“ des konventionellen Theorienverständnisses,<br />
sofern es den Anspruch auf empirische Überprüfbarkeit – <strong>und</strong> Falsifizierbarkeit – der<br />
Geltungsansprüche realwissenschaftlicher Theorien erhebt. Dieser empirischer Überprüfbarkeits<strong>und</strong><br />
Falsifizierbarkeitsanspruch wird zum<strong>in</strong>dest für alle realwissenschaftlichen Theorien vertreten,<br />
die sich dem derzeit dom<strong>in</strong>ierenden Empirischen Paradigma zuordnen lassen, das wesentlich vom<br />
Kritischen Rationalismus (Realismus) POPPERS geprägt wurde. Das trifft <strong>in</strong>sbesondere auch auf<br />
wirtschaftswissenschaftliche Theorien zu, für die <strong>in</strong> der Regel proklamiert wird, empirisch überprüfbare<br />
realwissenschaftliche Theorien darzustellen <strong>und</strong> die methodologischen Maximen des Kritischen<br />
Rationalismus zu befolgen. Daher bedroht das strukturalistische Theorienkonzept mit se<strong>in</strong>er<br />
gravierenden Vorhaltung e<strong>in</strong>es pr<strong>in</strong>zipiellen Überprüfungsdefekts massiv das Selbstverständnis<br />
konventioneller realwissenschaftlicher Theoriebildung. Um so überraschender mag es anmuten,<br />
dass sich die Anhänger des Empirischen Paradigmas noch kaum mit der F<strong>und</strong>amentalkritik des<br />
„non statement view“ ause<strong>in</strong>andergesetzt haben, dem zuvor skizzierten Überprüfungsdefekt unvermeidlich<br />
ausgeliefert zu se<strong>in</strong>, sobald e<strong>in</strong>e Theorie m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> T-theoretisches Konstrukt umfasst.<br />
Den Ausgangspunkt der Entwicklung des strukturalistischen Theorienkonzepts bildete die Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />
mit dem Überprüfungsdefekt konventionell formulierter Theorien. Es führte zu der<br />
hier vorgestellten Struktur wohlgeformter Theorien im S<strong>in</strong>ne des strukturalistischen Theorienkonzepts.<br />
Diese Theoriestruktur gestattet es, die Komplikationen aufgr<strong>und</strong> des Überprüfungsdefekts realwissenschaftlicher<br />
Theorien trotz Existenz T-theoretischer Konstrukte zu vermeiden. Die Kernidee<br />
hierzu liefert die oben angesprochene RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung T-theoretischer Konstrukte. Sie<br />
besitzt die besondere Eigenschaft, e<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong>tendierte Theorieanwendungen ohne Verwendung T-<br />
theoretischer Konstrukte zu formulieren <strong>und</strong> andererseits – trotz dieser Elim<strong>in</strong>ierung der T-theoreti-<br />
212
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 11<br />
schen Konstrukte – den empirischen Gehalt der jeweils betroffenen Theorie T nicht zu verändern.<br />
Daher ist es mithilfe der RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung aller T-theoretischen Konstrukte möglich, die Geltungsansprüche<br />
realwissenschaftlicher Theorien unabhängig von der Existenz T-theoretischer Konstrukte<br />
empirisch zu überprüfen, ohne hierbei schon implizit die Gültigkeit der jeweils überprüften<br />
Theorien vorauszusetzen.<br />
Nachdem mithilfe der RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung alle T-theoretischen Konstrukte aus den potenziellen<br />
Modellen m p(T) e<strong>in</strong>er Theorie T elim<strong>in</strong>iert wurden, liegen empirisch äquivalente, jedoch partielle potenzielle<br />
Modelle m pp(T) der Theorie T vor. Sie werden <strong>in</strong> der Menge M pp(T) zusammengefasst, die<br />
bereits oben als e<strong>in</strong>e der vier Komponenten des Theoriekerns K T e<strong>in</strong>geführt wurde. Da partielle potenzielle<br />
Modelle e<strong>in</strong>er Theorie aus ihren potenziellen Modellen ausschließlich durch Anwendung<br />
der RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung hervorgehen, lässt sich mit ram als Operator für die Anwendung der<br />
RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung T-theoretischer Konstrukte die Menge M pp(T) aller partiellen potenziellen<br />
Modelle der Theorie T durch M pp(T) = ram(M p(T) ) festlegen.<br />
Die Menge Z S(T) aller zulässigen Anwendungen z T e<strong>in</strong>er Theorie T mit der Struktur S(T) umfasst alle<br />
denkmöglichen Theorieanwendungen, die sowohl alle gesetzesartigen Aussagen dieser Theorie als<br />
auch alle ihre Restriktionen erfüllen. E<strong>in</strong>erseits besteht die Menge D T der denkmöglichen Theorieanwendungen<br />
aus allen nicht-leeren Mengen partieller potenzieller Modelle der Theorie T. Dies<br />
wurde bereits oben durch die Bed<strong>in</strong>gung D T = pot + (M pp(T) ) ausgedrückt. Andererseits beziehen sich<br />
die Modelle e<strong>in</strong>er Theorie, <strong>in</strong> denen per def<strong>in</strong>itionem alle gesetzesartigen Aussagen dieser Theorie<br />
erfüllt werden, <strong>und</strong> ihre Restriktionenmenge auf potenzielle Modelle der Theorie T. Darüber h<strong>in</strong>aus<br />
unterscheiden sich die Modelle e<strong>in</strong>er Theorie <strong>und</strong> ihre Restriktionenmenge noch dadurch, dass jedes<br />
Modell der Theorie T e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnes potenzielles Modell dieser Theorie darstellt (<strong>in</strong> dem alle gesetzesartigen<br />
Aussagen erfüllt werden), während es sich bei den strukturalistischen Restriktionen um<br />
Anforderungen handelt, die von mehreren potenziellen Modellen derselben Theorie geme<strong>in</strong>sam erfüllt<br />
werden müssen. Dieser unterschiedliche Bezug von Modellen auf jeweils e<strong>in</strong>zelne <strong>und</strong> von Restriktionen<br />
auf jeweils mehrere potenzielle Modelle wird im strukturalistischen Theorienkonzept<br />
durch die bereits e<strong>in</strong>geführten Bed<strong>in</strong>gungen M S(T) ⊆ M p(T) bzw. C S(T) ⊆ pot + (M p(T) ) ausgedrückt. Zur<br />
Def<strong>in</strong>ition der zulässigen Anwendungen e<strong>in</strong>er Theorie T verbleibt also die Aufgabe, e<strong>in</strong>e zweifache<br />
formalsprachliche Diskrepanz zu überw<strong>in</strong>den. Erstens muss die Diskrepanz zwischen dem Bezug<br />
auf e<strong>in</strong>zelne potenzielle Modelle bzw. nicht-leere Mengen aus mehreren potenziellen Modellen ü-<br />
berbrückt werden. Dies geschieht im strukturalistischen Theorienkonzept dadurch, dass zulässige<br />
Theorieanwendungen von vornhere<strong>in</strong> auf nicht-leere Mengen potenzieller Modelle bezogen werden,<br />
<strong>in</strong> denen zugleich alle gesetzesartigen Aussagen der Theorie als auch alle Elemente aus ihrer<br />
Restriktionenmenge erfüllt werden. Es werden also nur Elemente aus der charakteristischen Menge<br />
pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) als Kandidaten für zulässige Theorieanwendungen <strong>in</strong> Betracht gezogen. Zweitens<br />
gilt es die Lücke zu schließen, die noch zwischen den vorgenannten nicht-leeren Mengen potenzieller<br />
Modelle e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> den nicht-leeren Mengen partieller potenzieller Modelle für denkmögliche<br />
Theorieanwendungen andererseits besteht. Diese zweite Diskrepanz wird durch Anwendung der<br />
RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung auf alle T-theoretischen Konstrukte <strong>in</strong> den potenziellen Modellen der Theorie<br />
T überw<strong>und</strong>en. Daraus resultiert schließlich als Def<strong>in</strong>ition für die Menge Z S(T) aller zulässigen<br />
Anwendungen z T e<strong>in</strong>er Theorie T: Z S(T) = ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ).<br />
Bislang wurde e<strong>in</strong>e wohlgeformte strukturalistische Theorie auf zwei Ebenen spezifiziert: e<strong>in</strong>erseits<br />
auf der ersten Ebene ihres Theoriekerns K T durch die charakteristischen Komponenten M p(T) , M pp(T) ,<br />
M S(T) <strong>und</strong> C S(T) sowie andererseits auf der zweiten Ebene ihres <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs I T .<br />
Auf der dritten <strong>und</strong> letzten Ebene, die den beiden vorgenannten Ebenen hierarchisch untergeordnet<br />
ist, werden der Theoriekern K T <strong>und</strong> der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise zusammengeführt,<br />
die für das strukturalistische Theorienkonzept charakteristisch ist. Sie f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong><br />
ke<strong>in</strong>em anderen Theorienkonzept <strong>in</strong> dieser besonderen Form. Die Zusammenführung von Theoriekern<br />
K T <strong>und</strong> <strong>in</strong>tendiertem Anwendungsbereich I T geschieht mithilfe der Menge Z S(T) aller zulässigen<br />
Theorieanwendungen, die e<strong>in</strong>erseits aus den Komponenten M p(T) <strong>und</strong> C S(T) des Theoriekerns ab-<br />
213
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 12<br />
geleitet wurde <strong>und</strong> andererseits wie der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T auf der RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung<br />
aller T-theoretischen Konstrukte beruht. Konkret erfolgt diese Zusammenführung durch die<br />
e<strong>in</strong>e empirische Gesamthypothese der Theorie T. Die empirische Gesamthypothese jeder strukturalistisch<br />
formulierten Theorie T besteht aus der „schlichten“ Behauptung: I T ⊆ Z S(T) . Sie drückt aus,<br />
dass jede <strong>in</strong>tendierte Anwendung der Theorie T zugleich e<strong>in</strong>e zulässige Anwendung dieser Theorie<br />
darstellt. Unter Rückgriff auf die oben e<strong>in</strong>geführte Def<strong>in</strong>ition Z S(T) = ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ) lässt<br />
sich die empirische Gesamthypothese auch <strong>in</strong> der folgenden, äquivalenten Weise explizieren, die<br />
aufgr<strong>und</strong> ihrer größeren Transparenz allgeme<strong>in</strong> üblich ist:<br />
I T ⊆ ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) )<br />
Anhand dieser äquivalenten Darstellungsweise lässt sich unmittelbar die „Essenz“ der empirischen<br />
Gesamthypothese jeder strukturalistisch formulierten Theorie T erkennen: Jede <strong>in</strong>tendierte Anwendung<br />
der Theorie T soll sowohl alle gesetzesartigen Aussagen als auch alle Restriktionen der Theorie<br />
erfüllen, nachdem alle T-theoretischen Konstrukte aus der (nicht-leeren Potenzmenge der) Modellmenge<br />
M S(T) <strong>und</strong> der Restriktionenmenge C S(T) elim<strong>in</strong>iert worden s<strong>in</strong>d. Diese Gesamthypothese<br />
gilt es dann durch Betrachtung von Elementen aus dem Bereich I T <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen<br />
empirisch zu überprüfen.<br />
Die empirische Gesamthypothese e<strong>in</strong>er wohlgeformten, strukturalistisch formulierten Theorie erweist<br />
sich <strong>in</strong> m<strong>in</strong>destens dreifacher H<strong>in</strong>sicht als e<strong>in</strong>zigartig, <strong>und</strong> zwar im Vergleich zu alternativen<br />
Theoriekonzepten, <strong>in</strong>sbesondere zum e<strong>in</strong>gangs skizzierten konventionellen Theorienkonzept. Erstens<br />
nimmt nur diese empirische Gesamthypothese Bezug auf typische Konstrukte des strukturalistischen<br />
Theorienkonzepts, wie die Restriktionenmenge C S(T) <strong>und</strong> den Operator ram für die RAMSEY-<br />
Elim<strong>in</strong>ierung T-theoretischer Konstrukte. Diese E<strong>in</strong>zigartigkeitsfacette erweist sich jedoch als trivial,<br />
weil es nicht überraschen wird, dass andere Theoriekonzepte auf diese Spezifika des strukturalistischen<br />
Theorienkonzepts nicht zurückgreifen. Zweitens besitzt die empirische Gesamthypothese<br />
e<strong>in</strong>en eigentümlichen holistischen Charakter. Denn für jede Theorie T existiert aus strukturalistischer<br />
Perspektive nur genau e<strong>in</strong>e empirische Gesamthypothese, die sich auf die gesamte Theorie T<br />
erstreckt. Die empirische Bestätigung oder Widerlegung dieser empirischen Gesamthypothese<br />
schlägt somit sofort auf die betroffene Theorie T als Ganzes durch; ihr Geltungsanspruch lässt sich<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich nicht <strong>in</strong> Teilen empirisch überprüfen. Dies kontrastiert auffällig mit alternativen Theoriekonzepten,<br />
die im Allgeme<strong>in</strong>en zulassen, für e<strong>in</strong>e Theorie beliebig viele empirische Thesen aufzustellen,<br />
die jeweils isoliert vone<strong>in</strong>ander empirisch überprüft werden können. Drittens besitzt die<br />
empirische Gesamthypothese für jede Theorie T dieselbe formale Gestalt: Unabhängig davon, wie<br />
der term<strong>in</strong>ologische Apparat, die gesetzesartigen Aussagen <strong>und</strong> die Restriktionen e<strong>in</strong>er Theorie T<br />
im E<strong>in</strong>zelnen formuliert se<strong>in</strong> mögen, besitzt die empirische Gesamthypothese immer dieselbe Form<br />
I T ⊆ ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ).<br />
Durch empirische Überprüfungen der Theorie T gew<strong>in</strong>nt man schließlich Auskunft darüber, ob e<strong>in</strong>e<br />
jeweils überprüfte <strong>in</strong>tendierte Anwendung i T aus dem <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T entweder<br />
durch Erfüllung aller gesetzesartigen Aussagen <strong>und</strong> aller Restriktionen der Theorie T bestätigt oder<br />
aber <strong>in</strong>folge Verstoßes gegen m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e gesetzesartige Aussage oder gegen m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e<br />
Restriktion widerlegt wird. Entsprechend wachsen die Extensionen der Menge B T aller bestätigten<br />
bzw. der Menge W T aller widerlegten Theorieanwendungen im Zeitablauf an, wenn die Anzahl der<br />
empirischen Theorieüberprüfungen zunimmt. Für die Mengen aller bestätigten bzw. widerlegten<br />
Theorieanwendungen gelten e<strong>in</strong>erseits die Beziehungen B T ⊆ I T bzw. W T ⊆ I T , weil nur die <strong>in</strong>tendierten<br />
Theorieanwendungen i T mit i T ∈ I T auf ihre empirische Geltung h<strong>in</strong>sichtlich der Erfüllung<br />
aller gesetzesartigen Aussagen <strong>und</strong> aller Restriktionen untersucht werden. Andererseits unterscheiden<br />
sich die <strong>in</strong>tendierten Theorieanwendungen i T im Falle entweder der Bestätigung oder aber der<br />
Widerlegung des Geltungsanspruchs der Theorie T genau dadurch, dass sie die empirische Gesamthypothese<br />
I T ⊆ ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ) dieser Theorie erfüllen bzw. verletzen. Folglich müssen die<br />
Beziehungen i T ∈ ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ) für e<strong>in</strong>e Bestätigung der Theorie T durch ihre <strong>in</strong>tendierte<br />
Anwendung i T <strong>und</strong> i T ∉ ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ) für e<strong>in</strong>e Bestätigung der Theorie T durch ihre <strong>in</strong>-<br />
214
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 13<br />
tendierte Anwendung i T gelten. Mithilfe der Def<strong>in</strong>ition Z S(T) = ram(pot + (M S(T) ) ∩ C S(T) ) für die Menge<br />
Z S(T) aller zulässigen Theorieanwendungen lassen sich die beiden Mengen B T <strong>und</strong> W T aller bestätigten<br />
bzw. widerlegten Theorieanwendungen kompakt wie folgt def<strong>in</strong>ieren: B T ⊆ I T <strong>und</strong> B T ⊆ Z T<br />
– also B T ⊆ (I T ∩ Z T ) – für die Menge aller bestätigten Theorieanwendungen sowie W T ⊆ I T <strong>und</strong><br />
W T ∩ Z T = ∅ – also W T ⊆ (I T / Z T ) – für die Menge aller widerlegten Theorieanwendungen.<br />
Nun stehen alle formalsprachlichen Konstrukte zur Verfügung, mit deren Hilfe sich sowohl e<strong>in</strong>e<br />
wohlgeformte strukturalistische Theorie darstellen lässt als auch e<strong>in</strong> Konzept für theoretischen Fortschritt<br />
entfaltet werden kann. Zunächst wird darauf e<strong>in</strong>gegangen, wie diese charakteristischen Theoriekomponenten<br />
des strukturalistischen Theorienkonzepts mite<strong>in</strong>ander zusammenhängen. Im anschließenden<br />
Kapitel steht h<strong>in</strong>gegen die Erarbeitung e<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts auf der Basis des<br />
strukturalistischen Theorienkonzepts im Vordergr<strong>und</strong>.<br />
Abb. 1 gibt die typische Struktur e<strong>in</strong>er Theorie T wieder, wie sie aus den Vorgaben des strukturalistischen<br />
Theorienkonzepts für wohlgeformte Theorien resultiert. Es handelt sich um e<strong>in</strong> „generisches“<br />
Strukturschema, das für jede konkrete Theorie T durch formalsprachliche Konkretisierungen<br />
der Theoriekomponenten M p(T) , M pp(T) , M S(T) , C S(T) <strong>und</strong> I T zu <strong>in</strong>stanziieren ist. Alle übrigen Beziehungen<br />
<strong>in</strong>nerhalb dieses Strukturschemas, <strong>in</strong>sbesondere die formale Gestalt der empirischen Gesamthypothese,<br />
liegen im strukturalistischen Theorienkonzept für jede Theorie T von vornhere<strong>in</strong><br />
fest. Abb. 1 verdeutlicht auch die vertikale Gliederung der strukturalistischen Theorieformulierung<br />
<strong>in</strong> drei Ebenen mit jeweils ebenenspezifischen formalsprachlichen Konstrukten. H<strong>in</strong>zu kommt auf<br />
der zweiten Ebene des Theoriekerns noch e<strong>in</strong>e zusätzliche horizontale Ausdifferenzierung <strong>in</strong> die<br />
vier Komponenten M p(T) , M pp(T) , M S(T) <strong>und</strong> C S(T) .<br />
Theorie: T = <br />
Theoriekern: K = <br />
T p(T) pp(T) S(T) S(T)<br />
<strong>in</strong>tendierter Anwendungsbereich: I T ⊆ pot+ (M pp(T) )<br />
empirische Gesamthypothese: I ⊆ ram( pot (M ) ∩ C )<br />
T + S(T) S(T)<br />
Abb. 1: Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien<br />
Die Abb. 2 auf der nächsten Seite lässt <strong>in</strong>sbesondere die „Zwei-Ebenen-Struktur“ erkennen, die für<br />
das strukturalistische Theorienkonzept charakteristisch ist. Sie entsteht dadurch, dass auf der e<strong>in</strong>en<br />
– „theoretischen“ – Ebene die (mögliche) Existenz T-theoretischer Konstrukte zu beachten ist. Auf<br />
der anderen – „empirischen“ – Ebene spielen die T-theoretischen Konstrukte h<strong>in</strong>gegen ke<strong>in</strong>e Rolle<br />
mehr, weil sie mittels der RAMSEY-Operation elim<strong>in</strong>iert wurden.<br />
215
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 14<br />
theoretische Ebene<br />
pot +<br />
(M S(T)<br />
) C S(T)<br />
pot +<br />
S(T)<br />
(M ) ∩ C S(T)<br />
pot + p(T)<br />
(M )<br />
RAMSEY-<br />
Elim<strong>in</strong>ierung aller<br />
T-theoretischen<br />
Konstrukte<br />
Erweiterung<br />
durch<br />
T-theoretische<br />
Konstrukte<br />
D<br />
T<br />
= pot+ (M<br />
pp(T)<br />
)<br />
empirische Ebene<br />
Abb. 2: Zwei-Ebenen-Struktur des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />
216
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 15<br />
3.2 Das strukturalistische Fortschrittskonzept<br />
3.2.1 Mengentheoretische Inklusionsbeziehungen<br />
Das strukturalistische Theorienkonzept stellt e<strong>in</strong> „meta-theoretisches Forschungsprogramm“ dar,<br />
das e<strong>in</strong> bemerkenswertes Potenzial zur Konzeptualisierung <strong>und</strong> konkreten Messung wissenschaftlichen<br />
Fortschritts bietet. Gegenüber allen anderen <strong>Fortschrittskonzepte</strong>n zeichnet sich das strukturalistische<br />
Fortschrittskonzept dadurch aus, dass es an mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen<br />
anknüpft. Als solche Inklusionsbeziehungen lassen sich sowohl Unter- oder Teilmengenbeziehungen<br />
(⊆ <strong>und</strong> ⊂) als auch Obermengenbeziehungen (⊇ <strong>und</strong> ⊃) verwenden.<br />
Der Ansatz des strukturalistischen Theorienkonzepts, Urteile über die Fortschrittlichkeit von Theorien<br />
auf mengentheoretische Inklusionsbeziehungen zurückzuführen, lässt sich durch fünf Besonderheiten<br />
charakterisieren:<br />
Die Fortschrittlichkeit von Theorien kann im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />
nur durch Rückgriff auf die charakteristischen Theoriekomponenten beurteilt werden, die im<br />
voranstehenden Kapitel e<strong>in</strong>geführt, erläutert sowie <strong>in</strong> der Abb. 1 des Strukturschemas für die<br />
Formulierung wohlgeformter strukturalistischer Theorien zusammengefasst wurden. Das strukturalistische<br />
Fortschrittskonzept stellt also e<strong>in</strong> Konzept dar, das sich nur <strong>in</strong>nerhalb des metatheoretischen<br />
Rahmens des strukturalistischen Theorienkonzepts anwenden lässt. Daher setzt es<br />
voraus, dass alle Theorien, deren Fortschrittlichkeit anhand des strukturalistischen Fortschrittskonzepts<br />
beurteilt werden sollen, als strukturalistisch wohlgeformte Theorien vorliegen.<br />
Die Fortschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie lässt sich nicht absolut, d.h. unabhängig von anderen Theorien<br />
beurteilen. Vielmehr nehmen die mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen, auf denen<br />
alle strukturalistischen Fortschrittlichkeitsurteile beruhen, stets Bezug auf charakteristische, jeweils<br />
gleichartige Theoriekomponenten aus jeweils zwei unterschiedlichen Theorien. Daher<br />
kann im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts nur die relative Fortschrittlichkeit<br />
e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e andere Theorie, die Referenztheorie, beurteilt werden.<br />
Zwei gleichartige Theoriekomponenten aus jeweils zwei unterschiedlichen Theorien können,<br />
müssen aber nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er mengentheoretischen Inklusionsbeziehung zue<strong>in</strong>ander stehen. Daher<br />
kann das strukturalistische Fortschrittskonzept auf e<strong>in</strong>er Menge von strukturalistisch formulierten<br />
Theorien ke<strong>in</strong>e vollständige, sondern nur e<strong>in</strong>e partielle Fortschrittsrelation def<strong>in</strong>ieren. Auf<br />
der Menge aller Theorien, die h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Fortschrittlichkeit mite<strong>in</strong>ander verglichen werden,<br />
wird daher mittels der mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen im Allgeme<strong>in</strong>en nur<br />
e<strong>in</strong>e Halbordnung errichtet. Diese Halbordnung bildet das „strukturelle E<strong>in</strong>fallstor“ für die Inkommensurabilitäts-These.<br />
Dieser These zufolge können manche Theorien h<strong>in</strong>sichtlich ihrer<br />
Fortschrittlichkeit pr<strong>in</strong>zipiell nicht mite<strong>in</strong>ander verglichen werden.<br />
Mengentheoretische Inklusionsbeziehungen zwischen gleichartigen charakteristischen Komponenten<br />
aus zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien stellen das „härteste“ zurzeit bekannte Instrument<br />
dar, um die relative Fortschrittlichkeit von Theorien zu beurteilen. Denn E<strong>in</strong>wände der<br />
„Unvergleichbarkeit“ unterschiedlicher Theorien, die gegen diverse, <strong>in</strong>sbesondere numerische<br />
Fortschrittlichkeitskonzepte vorgetragen werden, lassen sich nicht aufrechterhalten, wenn zwischen<br />
zwei Theoriekomponenten e<strong>in</strong>e Teil- oder Obermengenbeziehung besteht. Dieser zentrale<br />
Aspekt von mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen beruht auf e<strong>in</strong>em charakteristischen<br />
Überschussgehalt im H<strong>in</strong>blick auf Modelle oder Anwendungen e<strong>in</strong>er Theorie: Wenn für zwei<br />
Theoriekomponenten TK 1 <strong>und</strong> TK 2 für zwei mite<strong>in</strong>ander verglichene Theorien T 1 bzw. T 2 beispielsweise<br />
festgestellt wird, dass TK 1 ⊆ TK 2 gilt, dann folgt daraus: Alle für die Fortschrittlichkeitsbeurteilung<br />
relevanten Aspekte, die auf Modelle oder Anwendungen aus der Theoriekomponente<br />
TK 1 der Theorie T 1 zutreffen, gelten auch für die Theorie T 2 . Denn wegen <strong>und</strong><br />
TK 1 ⊆ TK 2 ist jedes Modell oder jede Anwendung aus der Theoriekomponente TK 1 notwendig<br />
217
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 16<br />
auch e<strong>in</strong> Modell bzw. e<strong>in</strong>e Anwendung aus der Theoriekomponente TK 2 . Aber die Theorie T 2<br />
besitzt (abgesehen vom Grenzfall der Gleichheit TK 1 = TK 2 ) e<strong>in</strong>en Überschussgehalt h<strong>in</strong>sichtlich<br />
der für die Fortschrittlichkeitsbeurteilung relevanten Aspekte, weil sie noch weitere Modelle<br />
oder Anwendungen <strong>in</strong> der Theoriekomponente TK 2 umfasst, die qua Voraussetzung<br />
TK 1 ⊆ TK 2 (<strong>und</strong> TK 1 ≠ TK 2 ) <strong>in</strong> der Theoriekomponente TK 1 der Theorie T 1 nicht enthalten se<strong>in</strong><br />
können. Folglich gibt es ke<strong>in</strong> rationales Argument, an der Fort- oder Rückschrittlichkeit der<br />
Theorie T 2 gegenüber der Theorie T 1 bezüglich der Theoriekomponenten TK 1 <strong>und</strong> TK 2 zu zweifeln.<br />
Dabei richtet sich die Fort- oder Rückschrittlichkeit der Theorie T 2 gegenüber der Theorie<br />
T 1 jeweils danach, ob die zur Fortschrittlichkeitsbeurteilung relevanten Aspekte, die auf Modelle<br />
oder Anwendungen aus den Theoriekomponenten TK 1 <strong>und</strong> TK 2 zutreffen, beim Vorliegen der<br />
Inklusionsbeziehung „⊆“ für e<strong>in</strong>en theoretischen Fortschritt bzw. für e<strong>in</strong>en theoretischen Rückschritt<br />
sprechen.<br />
Das strukturalistische Fortschrittskonzept auf der Basis von mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen<br />
liefert als „Nebenprodukt“ zugleich e<strong>in</strong>en Ansatz für die <strong>Fortschrittsmessung</strong>. Als<br />
Fortschrittsmaß dient hierbei die relative Mächtigkeit derjenigen Mengen von Modellen oder<br />
Anwendungen e<strong>in</strong>er Theorie, die zu den gleichartigen Theoriekomponenten aus zwei mite<strong>in</strong>ander<br />
verglichenen Theorien gehören. Diese relativen Mengenmächtigkeiten s<strong>in</strong>d durch die mengentheoretischen<br />
Inklusionsbeziehungen, auf denen das hier entfaltete strukturalistische Fortschrittskonzept<br />
beruht, unmittelbar gegeben: Wenn zwei gleichartige Theoriekomponenten TK 1<br />
<strong>und</strong> TK 2 für zwei mite<strong>in</strong>ander verglichene Theorien T 1 bzw. T 2 die Inklusionsbeziehungen<br />
TK 1 ⊂ TK 2 , TK 1 ⊆ TK 2 , TK 1 = TK 2 , TK 1 ⊇ TK 2 oder TK 1 ⊃ TK 2 erfüllen, dann erweist sich die<br />
Theorie T 1 h<strong>in</strong>sichtlich der Theorie T 2 im H<strong>in</strong>blick auf die betrachteten Theoriekomponenten<br />
als weniger mächtig, als höchstens gleich mächtig, als gleich mächtig, als m<strong>in</strong>destens gleich<br />
mächtig bzw. als mächtiger. Diese Mächtigkeitsaussagen erlauben es, die relative Fortschrittlichkeit<br />
der Theorie T 1 im H<strong>in</strong>blick auf die Referenztheorie T 2 auf e<strong>in</strong>er Ord<strong>in</strong>alskala präzise zu<br />
messen. Dadurch wird das e<strong>in</strong>leitend aufgestellte Messbarkeitspostulat erfüllt.<br />
Das strukturalistische Theorienkonzept erweist sich h<strong>in</strong>sichtlich des Bestrebens, e<strong>in</strong> Fortschrittskonzept<br />
für den Vergleich zwischen Theorien auf der Basis von mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen<br />
zu entfalten, aus zwei Gründen als besonders fruchtbar.<br />
Erstens umfasst das strukturalistische Theorienkonzept e<strong>in</strong>e Vielzahl charakteristischer Theoriekomponenten<br />
TK, zwischen denen sich mengentheoretische Inklusionsbeziehungen def<strong>in</strong>ieren lassen,<br />
die „s<strong>in</strong>nvolle“ Urteile über die Fortschrittlichkeit von jeweils zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen<br />
Theorien gestatten. Dies betrifft zum<strong>in</strong>dest fünf Theoriekomponenten: die Menge M p(T) der potenziellen<br />
Modelle, die Menge M pp(T) der partiellen potenziellen Modelle, die Menge M S(T) der Modelle,<br />
die Restriktionenmenge C S(T) <strong>und</strong> die Menge I T der <strong>in</strong>tendierten Anwendungen für jede der beiden<br />
Theorien. Darüber h<strong>in</strong>aus wartet das strukturalistische Theorienkonzept mit weiter führenden<br />
Theoriekomponenten auf, welche die komb<strong>in</strong>atorische Vielfalt von verschiedenartigen Fortschrittsurteilen<br />
noch auszuweiten vermögen. Dazu gehören die Mengen B T <strong>und</strong> W T aller bestätigten bzw.<br />
aller widerlegten Theorieanwendungen. Mit ihrer Hilfe lassen sich zusätzliche Fortschrittsurteile<br />
def<strong>in</strong>ieren, auf die später zurückgekommen wird.<br />
Zweitens hat das strukturalistische Theorienkonzept h<strong>in</strong>sichtlich der F<strong>und</strong>ierung von Urteilen über<br />
theoretischen Fortschritt e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Fortentwicklung erfahren. Den konzeptionellen Ausgangspunkt<br />
bilden zwar weiterh<strong>in</strong> die mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen, auf die bislang ausschließlich<br />
e<strong>in</strong>gegangen wurde. Sie lassen sich jedoch nur <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er bestimmten strukturalistisch<br />
def<strong>in</strong>ierten „Makrostruktur“ anwenden, die als Theoriennetz bezeichnet wird. Darauf wird <strong>in</strong><br />
Kürze zurückgekommen. Schon bald zeigte sich bei der Anwendung des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />
auf die Rekonstruktion von <strong>und</strong> den Vergleich zwischen realwissenschaftlichen Theorien,<br />
dass die Grenzen e<strong>in</strong>zelner Theoriennetze gesprengt wurden. Allerd<strong>in</strong>gs konnten andere <strong>in</strong>tertheoretische<br />
Beziehungen identifiziert werden, die sich ebenso zur Beurteilung der relativen Fortschrittlichkeit<br />
von Theorien eignen. Sie verhalten sich bei „h<strong>in</strong>reichend abstrakter Betrachtungswei-<br />
218
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 17<br />
se“ analog zu den bisher betrachteten mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen. In der hier gebotenen<br />
Kürze kann nicht detailliert auf das komplexe, stark ausdifferenzierte Geflecht der <strong>in</strong>tertheoretischen<br />
Beziehungen des strukturalistischen Theorienkonzepts e<strong>in</strong>gegangen werden. Gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
lassen sich im strukturalistischen Theorienkonzept jedoch <strong>in</strong>ter-theoretische Beziehungen<br />
zwei verschiedenen „makrostrukturellen“ Ebenen zuordnen:<br />
Die Beziehungen 1. Stufe s<strong>in</strong>d durch mengentheoretische Inklusionsbeziehungen def<strong>in</strong>iert, die<br />
zwischen „korrespondierenden“ Theoriekomponenten aus zwei strukturalistisch formulierten<br />
Theorien bestehen. Es handelt sich entweder um Unter- oder Teilmengenbeziehungen oder um<br />
Obermengenbeziehungen zwischen den Theoriekomponenten, die im strukturalistischen Theorienkonzept<br />
ihrerseits ebenso als Mengen ausgedrückt werden. Theorien, deren Theoriekomponenten<br />
mittels solcher Beziehungen 1. Stufe untere<strong>in</strong>ander „vernetzt“ s<strong>in</strong>d, bilden im strukturalistischen<br />
Theorienkonzept e<strong>in</strong>e besondere „Makrostruktur“, die als e<strong>in</strong> Theoriennetz bezeichnet<br />
wird.<br />
Die Beziehungen 2. Stufe umfassen alle mit formalen – mathematischen oder logischen –<br />
Hilfsmitteln ausdrückbaren Beziehungen, die zwischen gleichartigen Komponenten strukturalistisch<br />
formulierter Theorien bestehen <strong>und</strong> sich <strong>in</strong>haltlich als e<strong>in</strong> Ableitungszusammenhang<br />
zwischen den betroffenen Theorien <strong>in</strong>terpretieren lassen. Dazu gehört vor allem die Beziehung<br />
der Theoriereduktion: e<strong>in</strong>e „reduzierte“ Theorie wird auf e<strong>in</strong>e „reduzierende“ Theorie zurückgeführt.<br />
Aber es kommen auch andere Relationen <strong>in</strong> Betracht, wie z.B. Approximations-, Evidenz-<br />
<strong>und</strong> Theoretisierungsrelationen. Theorien, deren Theoriekomponenten nur mittels solcher<br />
Beziehungen 2. Stufe untere<strong>in</strong>ander verknüpft s<strong>in</strong>d (zwischen deren Theoriekomponenten also<br />
ke<strong>in</strong>e Beziehungen 1. Stufe bestehen), bilden im strukturalistischen Theorienkonzept e<strong>in</strong>e besondere<br />
„Makrostruktur“, die als e<strong>in</strong> Theorie-Holon bezeichnet wird.<br />
Für die Beurteilung der Fort- oder Rückschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e Referenztheorie<br />
existieren im strukturalistischen Theorienkonzept gr<strong>und</strong>sätzlich zwei Ansätze. Beim ersten Ansatz<br />
partieller Fortschrittsurteile wird nur geprüft, ob sich mengentheoretische Inklusionsbeziehungen<br />
zwischen e<strong>in</strong>em Paar korrespondierender Theoriekomponenten aus zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen<br />
Theorien feststellen lassen. Beim zweiten Ansatz vollständiger Fortschrittsurteile wird h<strong>in</strong>gegen<br />
für die fünf charakteristischen Theoriekomponenten e<strong>in</strong>er strukturalistisch formulierten Theorie<br />
– die Menge M p(T) der potenziellen Modelle, die Menge M pp(T) der partiellen potenziellen Modelle,<br />
die Menge M S(T) der Modelle, die Restriktionenmenge C S(T) <strong>und</strong> die Menge I T der <strong>in</strong>tendierten Anwendungen<br />
– geprüft, ob sich mengentheoretische Inklusionsbeziehungen zwischen jedem Paar korrespondierender<br />
Theoriekomponenten aus zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien feststellen lassen.<br />
3.2.2 Partielle Fortschrittsurteile<br />
Zunächst wird auf den Ansatz partieller Fortschrittsurteile (oder Rückschrittsurteile) e<strong>in</strong>gegangen.<br />
Aus dieser Perspektive lässt sich jeder Inklusionsbeziehung zwischen e<strong>in</strong>em Paar korrespondierender<br />
Theoriekomponenten von zwei Theorien aus demselben Theoriennetz e<strong>in</strong>deutig e<strong>in</strong> Beitrag zum<br />
wissenschaftlichen Fort- oder Rückschritt zuordnen. Es handelt sich allerd<strong>in</strong>gs nur um e<strong>in</strong>en Beitrag<br />
zum wissenschaftlichen Fort- oder Rückschritt. Daher wird nur von partiellen Fort- oder Rückschrittsurteilen<br />
gesprochen, wenn ausschließlich auf e<strong>in</strong> Paar korrespondierender Theoriekomponenten<br />
von zwei Theorien aus demselben Theoriennetz Bezug genommen wird. Denn wenn diese<br />
Betrachtungsweise auf mehrere Paare jeweils korrespondierender Theoriekomponenten ausgeweitet<br />
wird, kann e<strong>in</strong> „gemischter“ Fall e<strong>in</strong>treten, <strong>in</strong> dem sowohl m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Beitrag zum wissenschaftlichen<br />
Fortschritt <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong> Paar korrespondierender Theoriekomponenten als auch<br />
m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Beitrag zum wissenschaftlichen Rückschritt <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong> anderes Paar korrespondierender<br />
Theoriekomponenten vorliegen. In diesem „gemischten“ Fall lässt sich ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>deuti-<br />
219
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 18<br />
ges Urteil über den Fort- oder Rückschritt beim Übergang von der e<strong>in</strong>en zur anderen Theorie fällen,<br />
weil sich entgegengesetzte Fortschrittsurteile auf der Basis von mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen<br />
nicht gegenseitig „aufrechnen“ lassen.<br />
Ob der Übergang von e<strong>in</strong>er Theorie T 1 zu e<strong>in</strong>er Theorie T 2 e<strong>in</strong>en Beitrag entweder zum theoretischen<br />
Fortschritt oder aber zum theoretischen Rückschritt <strong>in</strong> Bezug auf korrespondierende Theoriekomponenten<br />
aus den beiden mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 bedeutet, hängt von den<br />
Kriterien wissenschaftlichen Fort- bzw. Rückschritts ab, die im H<strong>in</strong>blick auf die jeweils korrespondierenden<br />
Theoriekomponenten def<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d. Da <strong>in</strong>sgesamt fünf charakteristische Theoriekomponenten<br />
aus dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien zur Verfügung stehen,<br />
lassen sich daraus fünf mengentheoretische Inklusionsbeziehungen gew<strong>in</strong>nen, für die sich auch zum<br />
Teil, aber nicht vollständig entsprechende partielle Fortschritts- oder Rückschrittsurteile aufstellen<br />
lassen. Im Folgenden wird der Kürze halber nur auf drei <strong>in</strong>teressant ersche<strong>in</strong>ende Fälle e<strong>in</strong>gegangen:<br />
Wenn e<strong>in</strong>e Theorie T 2 mit e<strong>in</strong>er Referenztheorie T 1 nur h<strong>in</strong>sichtlich der korrespondierenden<br />
Mengen M S(T1 ) bzw. M S(T2 ) ihrer Modelle verglichen wird <strong>und</strong> M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) gilt, dann liegt e<strong>in</strong><br />
Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt vor, mit dem e<strong>in</strong> partielles Fortschrittsurteil korrespondiert.<br />
Denn die Tatsache, dass die Modellmenge M S(T2 ) der Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Teilmenge<br />
der Modellmenge M S(T1 ) der Referenztheorie T 1 darstellt, muss auf folgendem Sachverhalt beruhen:<br />
E<strong>in</strong>erseits dienen zur Spezifizierung der Modellmenge M S(T2 ) alle gesetzesartigen Aussagen,<br />
die auch an der Spezifizierung der Modellmenge M S(T1 ) beteiligt s<strong>in</strong>d, aber andererseits<br />
trägt zur Spezifizierung der Modellmenge M S(T2 ) m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e weitere gesetzesartige Aussage<br />
bei, die an der Spezifizierung der Modellmenge M S(T1 ) nicht beteiligt ist. Folglich besitzt die<br />
Theorie T 2 h<strong>in</strong>sichtlich der Referenztheorie T 1 e<strong>in</strong>en „nomischen Überschuss“, der die zulässigen<br />
Anwendungen der Theorie T 2 stärker e<strong>in</strong>schränkt als die zulässigen Anwendungen der Referenztheorie<br />
T 1 , weil die zulässigen Anwendungen der Theorie T 2 e<strong>in</strong>e umfangreichere Menge<br />
gesetzesartiger Aussagen erfüllen müssen als die zulässigen Anwendungen der Referenztheorie<br />
T 1 . Dies bedeutet e<strong>in</strong>e Zunahme der Präzision der Theorie T 2 gegenüber der Referenztheorie T 1 .<br />
Folglich liegt e<strong>in</strong> Beitrag zum theoretischen Fortschritt vor. Die mengentheoretische Inklusionsbeziehung<br />
M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) zwischen den Modellmengen der Theorien T 2 <strong>und</strong> T 1 begründet<br />
e<strong>in</strong> partielles Fortschrittsurteil zugunsten der Theorie T 2 , weil der empirische Gehalt der Theorie<br />
T 2 gegenüber ihrer Referenztheorie durch e<strong>in</strong>e Zunahme der Theoriepräzision angestiegen<br />
ist.<br />
Wenn e<strong>in</strong>e Theorie T 2 mit e<strong>in</strong>er Referenztheorie T 1 nur h<strong>in</strong>sichtlich der korrespondierenden<br />
Restriktionenmengen C S(T1 ) bzw. C S(T2 ) verglichen wird <strong>und</strong> C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) gilt, dann liegt e<strong>in</strong><br />
Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt vor, mit dem e<strong>in</strong> partielles Fortschrittsurteil korrespondiert.<br />
Zwar lässt sich aus der Tatsache, dass die Restriktionenmenge C S(T2 ) der Theorie T 2<br />
e<strong>in</strong>e echte Teilmenge der Restriktionenmenge C S(T1 ) der Referenztheorie T 1 darstellt, ke<strong>in</strong> unmittelbarer<br />
Schluss auf e<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Fortschritt im konventionellen Wissenschaftsverständnis<br />
ziehen, weil im konventionellen Theorienkonzept ke<strong>in</strong> Pendant zu den strukturalistischen<br />
Restriktionen existiert. Aber die Restriktionen des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />
besitzen wie gesetzesartige Aussagen die epistemische Qualität, die zulässigen Anwendungen<br />
e<strong>in</strong>er Theorie e<strong>in</strong>zuschränken. Daher kann analog zur o.a. Argumentation für Modellmengen<br />
(gesetzesartige Aussagen) gefolgert werden: Weil die Restriktionenmenge C S(T2 ) der Theorie T 2<br />
e<strong>in</strong>e echte Teilmenge der Restriktionenmenge C S(T1 ) der Referenztheorie T 1 darstellt, müssen<br />
e<strong>in</strong>erseits zur Spezifizierung der Restriktionenmenge C S(T2 ) alle Restriktionen dienen, die auch<br />
an der Spezifizierung der Restriktionenmenge C S(T1) beteiligt s<strong>in</strong>d, während andererseits zur<br />
Spezifizierung der Restriktionenmenge C S(T2 ) m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e weitere Restriktion beiträgt, die<br />
220
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 19<br />
an der Spezifizierung der Restriktionenmenge C S(T1 ) nicht beteiligt ist. Folglich besitzt die Theorie<br />
T 2 h<strong>in</strong>sichtlich der Referenztheorie T 1 e<strong>in</strong>en „restriktiven Überschuss“, der die zulässigen<br />
Anwendungen der Theorie T 2 stärker e<strong>in</strong>schränkt als die zulässigen Anwendungen der Referenztheorie<br />
T 1 , weil die zulässigen Anwendungen der Theorie T 2 e<strong>in</strong>e umfangreichere Restriktionenmenge<br />
erfüllen müssen als die zulässigen Anwendungen der Referenztheorie T 1 . Dies bedeutet<br />
e<strong>in</strong>e Zunahme der Präzision der Theorie T 2 gegenüber der Referenztheorie T 1 . Folglich<br />
liegt e<strong>in</strong> Beitrag zum theoretischen Fortschritt vor. Die mengentheoretische Inklusionsbeziehung<br />
C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) zwischen den Restriktionenmengen der Theorien T 2 <strong>und</strong> T 1 begründet e<strong>in</strong><br />
partielles Fortschrittsurteil zugunsten der Theorie T 2 , weil der empirische Gehalt der Theorie T 2<br />
gegenüber ihrer Referenztheorie durch e<strong>in</strong>e Zunahme der Theoriepräzision angestiegen ist.<br />
Wenn e<strong>in</strong>e Theorie T 2 mit e<strong>in</strong>er Referenztheorie T 1 nur h<strong>in</strong>sichtlich der korrespondierenden<br />
Mengen I T1 bzw. I T2 ihrer <strong>in</strong>tendierten Anwendungen verglichen wird <strong>und</strong> I T2 ⊂ I T1 gilt, dann<br />
liegt e<strong>in</strong> Beitrag zum wissenschaftlichen Rückschritt vor, mit dem e<strong>in</strong> partielles Rückschrittsurteil<br />
korrespondiert. Denn die Tatsache, dass der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T2 der Theorie<br />
T 2 e<strong>in</strong>e echte Teilmenge des <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs I T1 der Referenztheorie T 1 darstellt,<br />
muss darauf beruhen, dass e<strong>in</strong>erseits alle <strong>in</strong>tendierten Anwendungen der Theorie T 2 , die<br />
zu ihrem <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T2 gehören, auch im <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich<br />
I T1 der Theorie T 1 enthalten s<strong>in</strong>d, aber andererseits der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich der<br />
Theorie T 1 m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e weitere <strong>in</strong>tendierte Anwendung umfasst, die nicht zum <strong>in</strong>tendierten<br />
Anwendungsbereich I T2 der Theorie T 2 gehört. Folglich besitzt die Theorie T 2 h<strong>in</strong>sichtlich der<br />
Referenztheorie T 1 e<strong>in</strong>en reduzierten <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich. Dies bedeutet e<strong>in</strong>e Verr<strong>in</strong>gerung<br />
der Anwendungsbreite der Theorie T 2 gegenüber der Referenztheorie T 1 . Folglich<br />
liegt e<strong>in</strong> Beitrag zum theoretischen Rückschritt vor. Die mengentheoretische Inklusionsbeziehung<br />
I T2 ⊂ I T1 zwischen den Modellmengen der Theorien T 2 <strong>und</strong> T 1 begründet e<strong>in</strong> partielles<br />
Rückschrittsurteil zulasten der Theorie T 2 , weil der empirische Gehalt der Theorie T 2 gegenüber<br />
ihrer Referenztheorie durch e<strong>in</strong>e Verr<strong>in</strong>gerung der Anwendungsbreite der Theorie abgenommen<br />
hat.<br />
Anhand der voranstehenden mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen lassen sich bereits erste<br />
E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> das Fortschrittskonzept des „non statement view“ gew<strong>in</strong>nen:<br />
Das Postulat der Anschlussfähigkeit an weit verbreitete Fortschrittsvorstellungen aus der erkenntnis-<br />
<strong>und</strong> wissenschaftstheoretischen Fachliteratur wird zum Teil erfüllt: Mittels der strukturalistischen<br />
Kriterien für wissenschaftlichen Fort- oder Rückschritt, die sich jeweils nur auf<br />
e<strong>in</strong> Paar korrespondierender Theoriekomponenten aus zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien<br />
erstrecken, können partielle Fort- oder Rückschrittsurteile h<strong>in</strong>sichtlich des empirischen Gehalts<br />
von Theorien gefällt werden. Sie decken sowohl den Unterfall des theoretischen Fortschritts<br />
(Rückschritts) durch e<strong>in</strong>e Zunahme (Abnahme) der Präzision e<strong>in</strong>er Theorie ab als auch den Unterfall<br />
des theoretischen Fortschritts (Rückschritts) durch e<strong>in</strong>e Vergrößerung (Verr<strong>in</strong>gerung) der<br />
Anwendungsbreite e<strong>in</strong>er Theorie.<br />
Im H<strong>in</strong>blick auf die empirische Bewährung von Theorien besteht jedoch noch e<strong>in</strong>e Lücke:<br />
Diesbezüglich lassen sich durch mengentheoretische Inklusionsbeziehungen zwischen den fünf<br />
charakteristischen Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte<br />
Theorien ke<strong>in</strong>e Kriterien für wissenschaftlichen Fort- oder Rückschritt gew<strong>in</strong>nen. Diese<br />
Lücke gilt es später mithilfe der Mengen entweder bestätigter oder aber widerlegter <strong>in</strong>tendierter<br />
Theorieanwendungen zu schließen.<br />
Die e<strong>in</strong>gangs aufgestellte Forderung, e<strong>in</strong> Fortschrittskonzept solle e<strong>in</strong>en Überschussgehalt gegenüber<br />
konventionellen Fortschrittsvorstellungen aufweisen, wird <strong>in</strong> Bezug auf die strukturalistische<br />
Restriktionenmenge C S(T) erfüllt: Sie erlaubt es, Fort- oder Rückschrittlichkeitsurteile<br />
221
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 20<br />
h<strong>in</strong>sichtlich der Theoriepräzision zu fällen, die sich nach heutigem Kenntnisstand nur <strong>in</strong>nerhalb<br />
des strukturalistischen Theorienkonzepts begründen lassen. Dadurch hebt sich das strukturalistische<br />
Fortschrittskonzept h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>er Aussagekraft von alternativen <strong>Fortschrittskonzepte</strong>n<br />
ab; das Differenzierungspostulat wird erfüllt.<br />
Diese ersten E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> das Fortschrittskonzept des „non statement view“ erweisen sich zwar als<br />
„ermutigend“, lassen jedoch <strong>in</strong> zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht erhebliche Wünsche offen: Es lassen sich<br />
nur partielle Urteile über die Fort- oder Rückschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie im Vergleich zu e<strong>in</strong>er Referenztheorie<br />
fällen, weil jeweils nur e<strong>in</strong> Paar von korrespondierenden Theoriekomponenten aus<br />
dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien berücksichtigt wird. Im Wissenschaftsbetrieb<br />
besteht jedoch vermutlich ger<strong>in</strong>ger Bedarf für solche partiellen Urteile, sondern es <strong>in</strong>teressiert<br />
vielmehr, ob sich mit dem Übergang von e<strong>in</strong>er Referenztheorie zu e<strong>in</strong>er „neuen“ oder<br />
„anderen“ Theorie <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong> wissenschaftlicher Fortschritt erzielen lässt – oder aber e<strong>in</strong> wissenschaftlicher<br />
Rückschritt zu befürchten ist.<br />
3.2.3 Vollständige Fortschrittsurteile<br />
Der zweite Ansatz vollständiger Fortschrittsurteile erweist sich für die Beurteilung der relativen<br />
Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien gegenüber dem Ansatz partieller Fortschrittsurteile als<br />
<strong>in</strong>teressanter. Er ermöglicht def<strong>in</strong>itive Aussagen darüber, ob sich e<strong>in</strong>e Theorie im Vergleich zu ihrer<br />
Referenztheorie als fort- oder rückschrittlich erweist, <strong>in</strong>dem jeweils alle Paare von korrespondierenden<br />
Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien berücksichtigt<br />
werden. Dabei wird für jede der fünf charakteristischen Theoriekomponenten e<strong>in</strong>er<br />
strukturalistisch formulierten Theorie – die Menge M p(T) der potenziellen Modelle, die Menge M pp(T)<br />
der partiellen potenziellen Modelle, die Menge M S(T) der Modelle, die Restriktionenmenge C S(T) <strong>und</strong><br />
die Menge I T der <strong>in</strong>tendierten Anwendungen – geprüft, ob sich mengentheoretische Inklusionsbeziehungen<br />
zwischen jeweils e<strong>in</strong>em Paar korrespondierender Theoriekomponenten aus zwei mite<strong>in</strong>ander<br />
verglichenen Theorien feststellen lassen.<br />
Die Gr<strong>und</strong>lage für diesen zweiten Ansatz des strukturalistischen Theorienkonzepts für vollständige<br />
Fortschrittsurteile bildet das Konzept der Spezialisierungsrelationen. Zweistellige Spezialisierungsrelationen<br />
SP – <strong>und</strong> ihre jeweils <strong>in</strong>versen Relationen, die zweistelligen Erweiterungsrelationen ER,<br />
– bilden das Rückgrat von Theoriennetzen. Jedes Element aus e<strong>in</strong>er Spezialisierungsrelation SP ist<br />
e<strong>in</strong>e Spezialisierungsbeziehung zwischen zwei Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 : (T 1 ,T 2 ) ∈ SP. Sie wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Theoriennetz als e<strong>in</strong>e Kante dargestellt, die vom (Ursprungs-) Knoten, der die Theorie T 1 repräsentiert,<br />
zum (Ziel-) Knoten gerichtet ist, der die Theorie T 2 repräsentiert. In dem geordneten Paar<br />
(T 1 ,T 2 ) e<strong>in</strong>er Spezialisierungsbeziehung zwischen den beiden Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 heißt T 1 die spezialisierte<br />
Theorie <strong>und</strong> T 2 die spezialisierende Theorie.<br />
Das strukturalistische Fortschrittskonzept baut auf diesen Spezialisierungsrelationen – <strong>und</strong> den <strong>in</strong>versen<br />
Erweiterungsrelationen – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweistufigen Analyseraster auf: Auf der ersten Stufe wird<br />
zunächst die Vielfalt möglicher Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsrelationen identifiziert, die zwischen<br />
den jeweils korrespondierenden Theorienkomponenten von strukturalistisch formulierten<br />
Theorien <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Theoriennetzes bestehen können. Alsdann werden auf der zweiten Stufe<br />
diejenigen Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsrelationen herausgefiltert, die e<strong>in</strong> relatives Fort- oder<br />
Rückschrittlichkeitsurteil für die jeweils mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 aus e<strong>in</strong>er<br />
Spezialisierungsbeziehung (T 1 ,T 2 ) ∈ SP oder Erweiterungsbeziehung (T 1 ,T 2 ) ∈ ER zulassen.<br />
Auf diesem zweistufigen Analyseraster beruhen auch die nachfolgenden Ausführungen. Der Übersichtlichkeit<br />
<strong>und</strong> Kürze halber wird auf zwei Vere<strong>in</strong>fachungen zurückgegriffen, weil die Ausführungen<br />
andernfalls wegen der komb<strong>in</strong>atorischen Vielfalt der strukturalistischen Spezialisierungs<strong>und</strong><br />
Erweiterungsrelationen „explodieren“ würden. Erstens wird – mit zwei Ausnahmen zum Zweck<br />
222
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 21<br />
der exemplarischen Veranschaulichung – nur auf Spezialisierungsrelationen e<strong>in</strong>gegangen, weil es<br />
e<strong>in</strong>e „fruchtlose“ Argumentationsverdopplung darstellen würde, die jeweils <strong>in</strong>versen Erweiterungsrelationen<br />
ebenso zu behandeln. Zweitens werden aus der Fülle der komb<strong>in</strong>atorisch möglichen Spezialisierungsrelationen<br />
nur e<strong>in</strong>ige wenige herausgegriffen, um das Pr<strong>in</strong>zip dieser Spezialisierungsrelationen<br />
zu veranschaulichen. Zugleich handelt es sich um diejenigen Spezialisierungsrelationen,<br />
mit deren Hilfe sich anschließend – auf der zweiten Analysestufe – Urteile über die relative Fortoder<br />
Rückschrittlichkeit von Theorien gew<strong>in</strong>nen lassen.<br />
Innerhalb des strukturalistischen Theorienkonzepts ist zunächst nur e<strong>in</strong>e notwendige 1) Bed<strong>in</strong>gung<br />
dafür def<strong>in</strong>iert, dass e<strong>in</strong>e Theorie T 2 die Spezialisierung e<strong>in</strong>er Referenztheorie T 1 darstellen kann.<br />
Für e<strong>in</strong>e Spezialisierungsbeziehung (T 1 ,T 2 ) ∈ SP zwischen den zwei Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 müssen folgende<br />
drei Teilbed<strong>in</strong>gungen geme<strong>in</strong>sam erfüllt se<strong>in</strong>:<br />
Die Modellmenge der spezialisierenden Theorie T 2 ist e<strong>in</strong>e Teilmenge der Modellmenge der<br />
spezialisierten Theorie T 1 .<br />
Die Restriktionenmenge der spezialisierenden Theorie T 2 ist e<strong>in</strong>e Teilmenge der Restriktionenmenge<br />
der spezialisierten Theorie T 1 .<br />
Der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich der spezialisierenden Theorie T 2 ist e<strong>in</strong>e Teilmenge des <strong>in</strong>tendierten<br />
Anwendungsbereichs der spezialisierten Theorie T 1 .<br />
Formalsprachlich lässt sich diese dreigliedrige, notwendige Bed<strong>in</strong>gung für die Spezialisierung e<strong>in</strong>er<br />
Theorie T 1 durch e<strong>in</strong>e andere Theorie T 2 spezifizieren, <strong>in</strong>dem für jede Spezialisierungsrelation SP<br />
gefordert wird:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP<br />
⇒ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 ⊆ I T1<br />
Diese notwendige Bed<strong>in</strong>gung wird von allen nachfolgenden Spezialisierungsrelationen erfüllt. Die<br />
Spezialisierungsrelationen unterscheiden sich aber vone<strong>in</strong>ander durch zusätzliche, relationsspezifische<br />
Spezialisierungsbed<strong>in</strong>gungen. Die Gesamtheit aus der o.a. notwendigen Spezialisierungsbed<strong>in</strong>gung<br />
e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> h<strong>in</strong>zutretenden Spezialisierungsbed<strong>in</strong>gungen andererseits bildet dann e<strong>in</strong>e<br />
notwendige <strong>und</strong> h<strong>in</strong>reichende Bed<strong>in</strong>gung für die jeweils betrachtete Spezialisierungsrelation.<br />
Der Übersichtlichkeit halber wird im Folgenden der Spielraum aller komb<strong>in</strong>atorisch möglichen<br />
Spezialisierungsrelationen bei weitem nicht ausgeschöpft. Stattdessen werden nur e<strong>in</strong>ige gr<strong>und</strong>legende<br />
Spezialisierungsrelationen vorgestellt. Sie reichen aus, um auf ihrer Gr<strong>und</strong>lage Kriterien für<br />
die relative Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien zu def<strong>in</strong>ieren.<br />
1) Theoriespezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP T<br />
:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊆ M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 ⊆ I T1<br />
∧ ( M p(T2 ) ⊂ M p(T1 ) ∨ M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∨ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) ∨ I T2 ⊂ I T1 )<br />
Die Theoriespezialisierung stellt die allgeme<strong>in</strong>ste Variante der Spezialisierungsrelationen dar.<br />
1) Vgl. STEGMÜLLER (1980), S. 110 u. 184 f.<br />
223
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 22<br />
2) Kernspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP K<br />
:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊆ M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 ⊆ I T1<br />
∧ ( M p(T2 ) ⊂ M p(T1 ) ∨ M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∨ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) )<br />
E<strong>in</strong>e Kernspezialisierung stellt e<strong>in</strong>e Theoriespezialisierung dar, bei der auf jeden Fall der Theoriekern<br />
der spezialisierten Theorie e<strong>in</strong>geschränkt wird. Se<strong>in</strong> <strong>in</strong>tendierter Anwendungsbereich ist nicht<br />
präziser festgelegt, als es bereits von der der Theoriespezialisierung gefordert wird.<br />
3) Anwendungsspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP A<br />
:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊆ M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 ⊂ I T1<br />
E<strong>in</strong>e Anwendungsspezialisierung ist e<strong>in</strong>e Variante der Theoriespezialisierung, bei der auf jeden Fall<br />
der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich der spezialisierten Theorie e<strong>in</strong>geschränkt wird. Für den Theoriekern<br />
erfolgt h<strong>in</strong>gegen ke<strong>in</strong>e weiter reichende Festlegung, als sie bereits <strong>in</strong> der Def<strong>in</strong>ition der<br />
Theoriespezialisierung geschehen ist. Die Anwendungsspezialisierung stellt daher das Komplement<br />
zur Kernspezialisierung im geme<strong>in</strong>samen Rahmen der Theoriespezialisierung dar.<br />
4) Re<strong>in</strong>e Kernspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rK<br />
:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊆ M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />
∧ ( M p(T2 ) ⊂ M p(T1 ) ∨ M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∨ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) )<br />
E<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Kernspezialisierung erfolgt, <strong>in</strong>dem der term<strong>in</strong>ologische Apparat, die Modellmenge oder<br />
die Restriktionenmenge der spezialisierten Theorie e<strong>in</strong>geschränkt wird. Der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich<br />
wird dagegen unverändert beibehalten. E<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Kernspezialisierung geht aus e<strong>in</strong>er<br />
Kernspezialisierung hervor, <strong>in</strong>dem die Möglichkeit der Verengung des <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs<br />
ausgeschlossen wird.<br />
5) Re<strong>in</strong>e Anwendungsspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rA<br />
:⇔ M pp(T2 ) = M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) = M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) = M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 ⊂ I T1<br />
224
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 23<br />
Der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T2 der Theorie T 2 wird gegenüber dem <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich<br />
I T1 der Theorie T 1 verkle<strong>in</strong>ert. Zugleich bleibt der Theoriekern unverändert. E<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e<br />
Anwendungsspezialisierung resultiert aus e<strong>in</strong>er Anwendungsspezialisierung, <strong>in</strong>dem die Möglichkeit<br />
der Verengung des Theoriekerns ausgegrenzt wird. Die re<strong>in</strong>e Anwendungsspezialisierung verhält<br />
sich daher komplementär zur re<strong>in</strong>en Kernspezialisierung.<br />
6) Term<strong>in</strong>ologiespezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP Te<br />
:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊂ M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />
Der term<strong>in</strong>ologische Apparat – also die Menge der potenziellen Modelle – der Theorie T 2 wird gegenüber<br />
dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat der Theorie T 1 e<strong>in</strong>geschränkt. Die term<strong>in</strong>ologische Verengung<br />
kann z.B. darauf beruhen, dass T-theoretische Konstrukte aus dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat<br />
der spezialisierten Theorie T 1 entfernt werden. Ebenso ist es möglich, red<strong>und</strong>ante oder ab<strong>und</strong>ante<br />
Konstrukte aus der spezialisierten Theorie T 1 zu elim<strong>in</strong>ieren.<br />
7) Re<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologiespezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rTe<br />
:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊂ M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) = M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />
Die re<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologiespezialisierung geht aus der Term<strong>in</strong>ologiespezialisierung dadurch hervor,<br />
dass ke<strong>in</strong>e Verengung der Modellmenge oder der Restriktionenmenge stattf<strong>in</strong>det. Die Spezialisierung<br />
kann deshalb nur darauf beruhen, dass aus dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat red<strong>und</strong>ante oder ab<strong>und</strong>ante<br />
Konstrukte entfernt werden. Alle anderen Komponenten aus den formalen Strukturbeschreibungen<br />
der beiden <strong>in</strong>volvierten Theorien bleiben unverändert.<br />
8) Gesetzesspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP G<br />
:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊆ M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />
Entweder fallen die gesetzesartigen Aussagen bei der Theorie T 2 strenger als bei der Theorie T 1 aus<br />
oder die Theorie T 2 umfasst gegenüber der Theorie T 1 zusätzliche gesetzesartige Aussagen (oder<br />
beide Effekte treten mite<strong>in</strong>ander komb<strong>in</strong>iert auf). Dadurch wird der Umfang der Menge der Modelle,<br />
<strong>in</strong> denen alle gesetzesartigen Aussagen erfüllt s<strong>in</strong>d, beim Übergang von der Theorie T 1 zur Theorie<br />
T 2 verkle<strong>in</strong>ert. Der term<strong>in</strong>ologische Apparat der Theorie kann erhalten bleiben oder auch verengt<br />
werden. Daher bleibt es offen, ob die Gesetzesspezialisierung von e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schränkung des term<strong>in</strong>ologischen<br />
Apparats begleitet wird. Gleiches gilt für die Restriktionenmenge. Der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich<br />
wird dagegen auf ke<strong>in</strong>en Fall verändert.<br />
225
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 24<br />
9) Term<strong>in</strong>ologiebegleitete Gesetzesspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP tbG<br />
:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊂ M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />
Die gesetzesartigen Aussagen s<strong>in</strong>d bei der Theorie T 2 gegenüber dem Theorie T 1 wie im Fall der<br />
„e<strong>in</strong>fachen“ Gesetzesspezialisierung verschärft. Die E<strong>in</strong>engung der Menge der Modelle, <strong>in</strong> denen<br />
alle gesetzesartigen Aussagen erfüllt s<strong>in</strong>d, wird von e<strong>in</strong>er entsprechenden E<strong>in</strong>schränkung der potenziellen<br />
Modellmenge von Theorie T 1 begleitet. Dies bedeutet, dass auch der term<strong>in</strong>ologische Apparat<br />
der Theorie T 2 gegenüber dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat der Theorie T 1 verkle<strong>in</strong>ert wird.<br />
10) Re<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rG<br />
:⇔ M pp(T2 ) = M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) = M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />
Die term<strong>in</strong>ologischen Apparate der beiden Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 unterscheiden sich nicht. Daher besitzen<br />
die Theorien die gleichen potenziellen Modellmengen. Die Verschärfung der gesetzesartigen<br />
Aussagen, die beim Übergang von der Theorie T 1 zur Theorie T 2 e<strong>in</strong>tritt, kann niemals auf e<strong>in</strong>e term<strong>in</strong>ologische<br />
Verengung zurückgeführt werden. Daher liegt auf jeden Fall e<strong>in</strong>e „echte“ Gesetzesverschärfung<br />
im <strong>in</strong>tuitiven S<strong>in</strong>ne vor.<br />
11) Restriktionsspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP R<br />
:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊆ M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />
Die Restriktionen der Theorie T 2 s<strong>in</strong>d strenger als bei der Theorie T 1 formuliert. Dadurch wird die<br />
Restriktionenmenge C S(T) verengt, wenn von der Theorie T 1 zur Theorie T 2 übergegangen wird.<br />
12) Re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rR<br />
:⇔ M pp(T2 ) = M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) = M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) = M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />
Die re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierung geht aus der Restriktionsspezialisierung dadurch hervor, dass<br />
zusätzlich die Invarianz von term<strong>in</strong>ologischem Apparat <strong>und</strong> der Menge der Modelle, <strong>in</strong> denen alle<br />
gesetzesartigen Aussagen erfüllt s<strong>in</strong>d, gefordert wird.<br />
226
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 25<br />
13) Term<strong>in</strong>ologiebegleitete Restriktionsspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP tbR<br />
:⇔ M pp(T2 ) ⊆ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊂ M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) = M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />
Die term<strong>in</strong>ologiebegleitete Restriktionsspezialisierung ist das Spiegelbild zur term<strong>in</strong>ologiebegleiteten<br />
Gesetzesspezialisierung. Beide unterscheiden sich lediglich dadurch, dass e<strong>in</strong>mal die Restriktionenmenge<br />
bei <strong>in</strong>varianter Modellmenge verengt wird, während das andere Mal die Modellmenge<br />
bei <strong>in</strong>varianter Restriktionenmenge e<strong>in</strong>geschränkt wird.<br />
14) Term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante Kernspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP tiK<br />
:⇔ M pp(T2 ) = M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) = M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) ⊆ M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) ⊆ C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />
∧ ( M S(T2 ) ⊂ M S(T1 ) ∨ C S(T2 ) ⊂ C S(T1 ) )<br />
E<strong>in</strong>e term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante Kernspezialisierung unterscheidet sich von der re<strong>in</strong>en Kernspezialisierung<br />
nur dadurch, dass E<strong>in</strong>schränkungen des term<strong>in</strong>ologischen Apparats ausgeschlossen werden.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus ist es möglich, wechselseitige (Meta-) Beziehungen zwischen den 14 Spezialisierungsrelationen<br />
durch echte Teil- <strong>und</strong> Obermengenbeziehungen „⊃“ bzw. „⊂“ zu identifizieren.<br />
Dadurch manifestiert sich e<strong>in</strong> weiteres Mal die besondere Bedeutung, die mengentheoretische Inklusionsbeziehungen<br />
für das strukturalistische Theorienkonzept besitzen. Die Teil- <strong>und</strong> Obermengenbeziehungen,<br />
die zwischen je zwei Spezialisierungsrelationen bestehen, können für die o.a. 14<br />
Spezialisierungsrelationen unmittelbar aus dem Vergleich ihrer Spezifikationen gewonnen werden.<br />
Daher werden die charakteristischen Inklusionsbeziehungen, die zwischen den hier vorgestellten 14<br />
Spezialisierungsrelationen bestehen, ohne weitere Herleitung <strong>in</strong> der nachfolgenden Abb. 3 präsentiert:<br />
⎧<br />
⎧<br />
⎪<br />
⎪<br />
⎪ ⎪ SPTe<br />
⊃ SP<br />
⎪<br />
rTe<br />
⎪<br />
⎪<br />
⎪<br />
⎪ ⎪ ⎪⎧<br />
SPtbG<br />
⎪<br />
SPK ⊃ SPrK ⊃ ⎨ SPG<br />
⊃ ⎨<br />
SPT ⊃ ⎨<br />
⎪<br />
⎪⎩<br />
SPrG ⊂ SPtiK<br />
⎪<br />
⎪<br />
⎪<br />
⎪<br />
SPrR<br />
⊂ SPtiK<br />
⎪ ⎪<br />
⎧⎪<br />
SPR<br />
⊃ ⎨<br />
⎪<br />
⎪<br />
SP<br />
⎪<br />
⎩<br />
⎪⎩ tbR<br />
⎪<br />
⎪⎩ SPA<br />
⊃ SPrA<br />
Abb. 3: Inklusionsbeziehungen zwischen den strukturalistischen Spezialisierungsrelationen<br />
227
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 26<br />
Die voranstehende Abb. 3 verdeutlicht, dass sich auf der (Meta-) Ebene des Vergleichs zwischen<br />
den unterschiedlichen Spezialisierungsrelationen des strukturalistischen Theorienkonzepts „Spezialisierungsbeziehungen<br />
2. Stufe“ e<strong>in</strong>führen lassen: Sie beruhen auf den Obermengenbeziehungen<br />
„⊃“, die <strong>in</strong> der Abb. 3 zwischen der Relation SP T der Theoriespezialisierung e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> den<br />
nachfolgenden Spezialisierungsrelationen – mit Ausnahme der Relation der term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>varianten<br />
Kernspezialisierung – andererseits bestehen. Die Kern- <strong>und</strong> die Anwendungsspezialisierung SP K<br />
bzw. SP A s<strong>in</strong>d z.B. spezielle, zue<strong>in</strong>ander komplementäre Ausformungen der Theoriespezialisierung<br />
SP T . Die Gesetzes- <strong>und</strong> die Restriktionsspezialisierung SP G bzw. SP R stellen spezielle Varianten der<br />
re<strong>in</strong>en Kernspezialisierung SP rK dar. Die re<strong>in</strong>e <strong>und</strong> die term<strong>in</strong>ologiebegleitete Gesetzesspezialisierung<br />
SP rG bzw. SP tbG bilden wiederum spezielle Varianten der Gesetzesspezialisierung SP G usw.<br />
Zugleich werde auf der Ebene des Vergleichs zwischen unterschiedlichen Spezialisierungsrelationen<br />
auch „Erweiterungsbeziehungen 2. Ordnung“ e<strong>in</strong>geführt. Sie beruhen auf den Teilmengenbeziehungen<br />
„⊂“, die sich <strong>in</strong> der Abb. 3 zwischen den Relationen der re<strong>in</strong>en Gesetzes- <strong>und</strong> der<br />
re<strong>in</strong>en Restriktionsspezialisierung SP rG bzw. SP rR e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> der Relation der term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>varianten<br />
Kernspezialisierung SP tiK andererseits erstrecken. Durch diese Erweiterungsbeziehungen<br />
werden frühere Spezialisierungsbeziehungen, die zur re<strong>in</strong>en Gesetzes- bzw. zur re<strong>in</strong>en Restriktionsspezialisierung<br />
geführt haben, zum Teil wieder aufgehoben.<br />
Zu jeder von den 14 vorgestellten Spezialisierungsrelationen SP a lässt sich e<strong>in</strong>e gleichartige, aber<br />
<strong>in</strong>verse Erweiterungsrelation ER a def<strong>in</strong>ieren. Als verdeutlichendes Beispiel wird die Relation ER rA<br />
der re<strong>in</strong>en Anwendungserweiterung betrachtet. Bei ihr wird der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T1<br />
e<strong>in</strong>er Theorie T 1 zum größeren <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T2 der Theorie T 2 erweitert. Alle<br />
anderen Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien<br />
bleiben unverändert. Die Spezifikation dieser re<strong>in</strong>en Anwendungserweiterung lässt sich unmittelbar<br />
aus der Spezifikation der re<strong>in</strong>en Anwendungsspezialisierung gew<strong>in</strong>nen. Zu diesem Zweck reicht es<br />
aus, die Teilmengenbeziehung zwischen den <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichen der beiden Theorien<br />
durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>verse Obermengenbeziehung zu substituieren. Somit resultiert für die Relation<br />
ER rA der re<strong>in</strong>en Anwendungserweiterung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ ER rA<br />
:⇔ M pp(T2 ) = M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) = M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) = M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 ⊃ I T1<br />
In der gleichen Weise lassen sich auch zu den übrigen 13 Spezialisierungsrelationen, die oben vorgestellt<br />
wurden, gleichartige Erweiterungsrelationen def<strong>in</strong>ieren. Dadurch würden aber ke<strong>in</strong>e neuartigen<br />
Erkenntnisse vermittelt. Stattdessen wird auf zwei besondere Erweiterungsrelationen näher<br />
e<strong>in</strong>gegangen, die sich nicht <strong>in</strong>vers zu den o.a. 14 Spezialisierungsrelationen verhalten.<br />
Die erste der beiden Erweiterungsrelationen erweist sich als besonders komplex. Sie lässt sich beispielsweise<br />
benutzen, um die E<strong>in</strong>beziehung unerwünschter <strong>und</strong> neutraler Güter <strong>in</strong> produktionswirtschaftliche<br />
Theorien zu erfassen. Diese Erweiterungsrelation ER tbG + stellt e<strong>in</strong>e verschärfte Variante<br />
der Relation ER tbG term<strong>in</strong>ologiebegleiteter Gesetzeserweiterungen dar. Diese Erweiterungsrelation<br />
beruht zunächst darauf, den term<strong>in</strong>ologischen Apparat <strong>und</strong> die Menge der Modelle e<strong>in</strong>er Theorie T 1 ,<br />
von denen alle gesetzesartigen Aussagen erfüllt werden, beim Übergang auf die Theorie T 2 auszudehnen.<br />
In dieser H<strong>in</strong>sicht besteht noch ke<strong>in</strong> Unterschied zur gewöhnlichen Relation ER tbG term<strong>in</strong>ologiebegleiteter<br />
Gesetzeserweiterungen. Zusätzlich werden aber zwei Anforderungen erhoben:<br />
Erstens soll der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich der Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Erweiterung des <strong>in</strong>tendierten<br />
Anwendungsbereichs der Theorie T 1 darstellen. Dies hat zur Folge, dass aus der term<strong>in</strong>ologiebegleiteten<br />
Gesetzeserweiterung ER tbG e<strong>in</strong>e term<strong>in</strong>ologiebegleitete Gesetzes- <strong>und</strong><br />
Anwendungserweiterung ER tbG + wird.<br />
228
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 27<br />
Zweitens soll die Gesetzeserweiterung so erfolgen, dass die gesetzesartigen Aussagen der Theorie<br />
T 1 lediglich an das vergrößerte Ausdrucksvermögen angepasst werden, das vom erweiterten<br />
term<strong>in</strong>ologischen Apparat der Theorie T 2 angeboten wird. Diese zweite Anforderung berücksichtigt,<br />
dass e<strong>in</strong>e Gesetzeserweiterung – entgegen dem ersten Ansche<strong>in</strong> ihres Namens – zumeist<br />
e<strong>in</strong>e Abschwächung der gesetzesartigen Aussagen e<strong>in</strong>er Theorie bedeutet. Hier wird jedoch<br />
gefordert, dass ke<strong>in</strong>e solche Abschwächung der gesetzesartigen Aussagen erfolgen soll,<br />
solange nur der enger gefasste term<strong>in</strong>ologische Apparat der Theorie T 1 zur Verfügung steht.<br />
Dieses Postulat stellt sicher, dass beim Übergang zur erweiterten Theorie T 2 die Modellmenge<br />
nur wegen des vergrößerten term<strong>in</strong>ologischen Apparats, nicht aber als Folge von abgeschwächten<br />
gesetzesartigen Aussagen anwächst. Formal lässt sich die zweite Anforderung dadurch ausdrücken,<br />
dass der Durchschnitt aus der vergrößerten Modellmenge der erweiternden Theorie T 2<br />
<strong>und</strong> aus der potenziellen Modellmenge der erweiterten Theorie T 1 mit der Modellmenge der<br />
Theorie T 1 übere<strong>in</strong>stimmen soll.<br />
Aufgr<strong>und</strong> der beiden zusätzlichen Anforderungen erhält die Relation ER tbG + der term<strong>in</strong>ologiebegleiteten<br />
Gesetzes- <strong>und</strong> Anwendungserweiterung e<strong>in</strong>en besonderen Charakter: Sie beruht auf e<strong>in</strong>er Erweiterung<br />
des term<strong>in</strong>ologischen Apparats, die e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e echte Ausdehnung des Bereichs <strong>in</strong>tendierter<br />
Anwendungen ermöglicht, jedoch andererseits die gesetzesartigen Aussagen der erweiterten<br />
Theorie – sofern sie auch schon im Rahmen des noch nicht erweiterten term<strong>in</strong>ologischen Apparats<br />
gegolten haben – nicht abschwächt. Diese Eigenart der Erweiterungsrelation ER tbG + wird formal<br />
durch folgende Spezifikation präzisiert:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ ER tGA +<br />
:⇔ M pp(T2 ) ⊃ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊃ M p(T1 ) ∧ M S(T2 ) ⊃ M S(T1 )<br />
∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 ⊃ I T1 ∧ M S(T2 ) ∩ M p(T1 ) = M S(T1 )<br />
Als zweites Beispiel dient die re<strong>in</strong>e Erweitung des term<strong>in</strong>ologischen Apparats e<strong>in</strong>er Theorie durch<br />
die Erweiterungsrelation ER rTe +. Sie stellt e<strong>in</strong>e verschärfte Variante der Relation ER rTe re<strong>in</strong>er Term<strong>in</strong>ologieerweiterungen<br />
dar, die sich ihrerseits <strong>in</strong>vers zur Spezialisierungsrelation SP rTe verhält.<br />
E<strong>in</strong>e solche verschärfte Erweiterungsbeziehung besteht zwischen zwei Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 , wenn<br />
der term<strong>in</strong>ologische Apparat der Theorie T 1 so zum term<strong>in</strong>ologischen Apparat der Theorie T 2 erweitert<br />
wird, dass nach der RAMSEY-Elim<strong>in</strong>ierung aller T 1 -theoretischen <strong>und</strong> aller T 2 -theoretischen<br />
Konstrukte aus beiden Theorien für deren Mengen partieller potenzieller Modelle gilt:<br />
M pp(T2 ) ⊃ M pp(T1 ). Unter dieser Voraussetzung resultiert als verschärfte Relation ER rTe + der re<strong>in</strong>en<br />
Term<strong>in</strong>ologieerweiterung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ ER rTe +<br />
:⇔ M pp(T2 ) ⊃ M pp(T1 ) ∧ M p(T2 ) ⊃ M p(T1 )<br />
∧ M S(T2 ) = M S(T1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T1 ) ∧ I T2 = I T1<br />
Aus der Beziehung M pp(T2 ) ⊃ M pp(T1 ) folgt unmittelbar, dass für die Mengen D T2 <strong>und</strong> D T1 aller denkmöglichen<br />
Anwendungen der beiden Theorien T 2 bzw. T 1 gilt: pot + (M pp(T2 )) ⊃ pot + (M pp(T1 )), also<br />
D T2 ⊃ D T1 . Darüber h<strong>in</strong>aus lässt sich elementar zeigen, dass es bei e<strong>in</strong>er solchen term<strong>in</strong>ologischen<br />
Erweiterung bleibt, ohne dass die Mengen der zulässigen <strong>und</strong> der <strong>in</strong>tendierten Theorieanwendungen<br />
verändert werden. Daher muss gelten: Z S(T2 ) = Z S(T1 ) <strong>und</strong> I T2 = I T1 . Darauf wird an späterer Stelle zurückgekommen,<br />
um die Fortschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie bei e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> term<strong>in</strong>ologischen Erweiterung<br />
beurteilen zu können.<br />
229
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 28<br />
Mit den voranstehenden Ausführungen wurde belegt, dass sich im strukturalistischen Theorienkonzept<br />
e<strong>in</strong>e Vielfalt von Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsrelationen zwischen korrespondierenden<br />
Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien spezifizieren<br />
lässt. Allerd<strong>in</strong>gs bilden die Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsrelationen nur das F<strong>und</strong>ament –<br />
die erste Stufe – des strukturalistischen Fortschrittskonzepts. Denn aus dem Vorliegen e<strong>in</strong>er Spezialisierungs-<br />
oder e<strong>in</strong>er Erweiterungsbeziehung zwischen zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien<br />
kann nicht zwangsläufig gefolgert werden, dass sich e<strong>in</strong>e der beiden Theorien als fort- oder rückschrittlich<br />
gegenüber der jeweils anderen Theorie erweist. Vielmehr bedarf es auf der zweiten Stufe<br />
des strukturalistischen Fortschrittskonzepts e<strong>in</strong>er zusätzlichen Verknüpfung von theoretischem Fortoder<br />
Rückschritt mit der Erfüllung von Spezialisierungs- oder Erweiterungsbeziehungen. Diese<br />
Verknüpfung wird im Folgenden erörtert.<br />
Um die Anschlussfähigkeit an „weit verbreitete“ Fortschrittsvorstellungen aus der erkenntnis- <strong>und</strong><br />
wissenschaftstheoretischen Fachliteratur zu wahren (Anschlussfähigkeitspostulat), wird im strukturalistischen<br />
Fortschrittskonzept von zwei Basisüberlegungen h<strong>in</strong>sichtlich des empirischen Gehalts<br />
von Theorien ausgegangen:<br />
Die Anwendungsbreite e<strong>in</strong>er Theorie T wird <strong>in</strong> ihrer strukturalistischen Formulierung durch ihren<br />
<strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T vollständig bestimmt. Folglich f<strong>in</strong>det beim Übergang<br />
von e<strong>in</strong>er Theorie T 1 zu e<strong>in</strong>er Theorie T 2 (ceteris paribus) e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt durch<br />
Vergrößerung der Anwendungsbreite statt, wenn der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich I T2 der<br />
Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Obermenge des <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs I T1 der Theorie T 1 ist<br />
(<strong>und</strong> die Theoriepräzision bei diesem Theorieübergang nicht abnimmt).<br />
Die Präzision e<strong>in</strong>er Theorie T wird <strong>in</strong> ihrer strukturalistischen Formulierung durch ihre Menge<br />
U T unzulässiger Theorieanwendungen vollständig bestimmt, d.h., e<strong>in</strong>e Theorie ist umso präziser,<br />
je mehr denkmögliche Theorieanwendungen von ihr ausgeschlossen werden. Folglich f<strong>in</strong>det<br />
beim Übergang von e<strong>in</strong>er Theorie T 1 zu e<strong>in</strong>er Theorie T 2 (ceteris paribus) e<strong>in</strong> theoretischer<br />
Fortschritt durch Zunahme der Präzision statt, wenn die Menge U T2 unzulässiger Theorieanwendungen<br />
der Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Obermenge der Menge U T1 unzulässiger Theorieanwendungen<br />
der Theorie T 1 ist (<strong>und</strong> die Theorieanwendungsbreite bei diesem Theorieübergang nicht<br />
verr<strong>in</strong>gert wird).<br />
Die beiden voranstehenden Basisüberlegungen lassen sich ohne Schwierigkeiten <strong>in</strong> die formalen<br />
Ausdrucksmittel des strukturalistischen Theorienkonzepts übersetzen: Der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich<br />
I T e<strong>in</strong>er Theorie T ist im strukturalistischen Theorienkonzept unmittelbar gegeben. Die<br />
Menge U T unzulässiger Theorieanwendungen e<strong>in</strong>er Theorie T lässt sich als Differenzmenge D T / Z T<br />
zwischen der Menge aller denkmöglichen D T <strong>und</strong> der Menge Z T aller zulässigen Anwendungen der<br />
betroffenen Theorie T ermitteln.<br />
Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage lässt sich für das hier entfaltete strukturalistische Fortschrittskonzept die erste<br />
Fortschrittsrelation e<strong>in</strong>führen: Es handelt sich um die Fortschrittsrelation FS eG . Sie gestattet relative<br />
Urteile über die Fortschrittlichkeit von Theorien im H<strong>in</strong>blick auf ihren empirischen Gehalt, d.h. ihre<br />
Präzision <strong>und</strong> ihre Anwendungsbreite. Sie wird mithilfe zweier zusätzlicher Fortschrittsrelationen<br />
FS A <strong>und</strong> FS P def<strong>in</strong>iert, mit denen auf analoge Weise relative Urteile über e<strong>in</strong>en Fortschritt durch<br />
Vergrößerung der Anwendungsbreite bzw. durch Zunahme der Präzision e<strong>in</strong>er Theorie ausgedrückt<br />
werden. Mit der Notation (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG für das Vorliegen e<strong>in</strong>es theoretischen Fortschritts h<strong>in</strong>sichtlich<br />
des empirischen Gehalts beim Übergang von e<strong>in</strong>er Theorie T 1 zu e<strong>in</strong>er Theorie T 2 – <strong>und</strong> analogen<br />
Notationen (T 1 ,T 2 ) ∈ FS A <strong>und</strong> (T 1 ,T 2 ) ∈ FS P für die beiden Hilfsrelationen – können die beiden<br />
voranstehenden Basisüberlegungen <strong>und</strong> formalsprachlich wie folgt präzisiert werden:<br />
mit:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG :⇔ ((T 1 ,T 2 ) ∈ FS A ∨ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS P )<br />
230
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 29<br />
a) Fortschritt durch Vergrößerung der Anwendungsbreite e<strong>in</strong>er Theorie<br />
(ohne Abnahme der Theoriepräzision):<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ FS A :⇔ (I T2 ⊃ I T1 ∧ U T2 ⊇ U T1 )<br />
b) Fortschritt durch Zunahme der Präzision e<strong>in</strong>er Theorie<br />
(ohne Verr<strong>in</strong>gerung der Theorieanwendungsbreite):<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ FS P :⇔ (U T2 ⊃ U T1 ∧ I T2 ⊇ I T1 )<br />
Im Folgenden wird vorwiegend nur auf Fortschrittsrelationen näher e<strong>in</strong>gegangen, weil sich die<br />
komplementären Rückschrittsrelationen daraus ohne pr<strong>in</strong>zipielle Schwierigkeiten gew<strong>in</strong>nen lassen.<br />
Nur zuweilen wird auf die Rückschrittsrelationen ausdrücklich h<strong>in</strong>gewiesen, wenn sie im aktuellen<br />
Argumentationskontext von besonderem Interesse s<strong>in</strong>d.<br />
Die beiden Fortschrittsrelationen FS A <strong>und</strong> FS P für das Vorliegen e<strong>in</strong>es Fortschritts durch Vergrößerung<br />
der Anwendungsbreite bzw. durch Zunahme der Präzision e<strong>in</strong>er Theorie lassen sich <strong>in</strong> äquivalenter<br />
Weise def<strong>in</strong>ieren, <strong>in</strong>dem nicht mit den Mengen U T unzulässiger Theorienanwendungen, sondern<br />
mit den Mengen D T <strong>und</strong> Z T denkmöglicher bzw. zulässiger Theorieanwendungen gearbeitet<br />
wird. Hierzu braucht lediglich auf die Substitution U T = D T / Z T zurückgegriffen zu werden:<br />
a) Fortschritt durch Vergrößerung der Anwendungsbreite e<strong>in</strong>er Theorie<br />
(ohne Abnahme der Theoriepräzision):<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ FS A ⇔ (I 2 ⊃ I 1 ∧ D T2 /Z T2 ⊇ D T1 /Z T1 )<br />
b) Fortschritt durch Zunahme der Präzision e<strong>in</strong>er Theorie<br />
(ohne Verr<strong>in</strong>gerung der Theorieanwendungsbreite):<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ FS P ⇔ (D T2 /Z T2 ⊃ D T1 /Z T1 ∧ I 2 ⊇ I 1 )<br />
Diese zuletzt angeführte Darstellungsweise besitzt den Vorzug, mit den Mengen D T <strong>und</strong> Z T nur auf<br />
Konstrukte zurückzugreifen, die auf „orig<strong>in</strong>äre“ Weise im strukturalistischen Theorienkonzept e<strong>in</strong>geführt<br />
wurden (vgl. Abb. 2).<br />
Die Fortschrittsrelation FS eG <strong>und</strong> ihre beiden Hilfsrelationen FS A <strong>und</strong> FS P wurden so spezifiziert,<br />
dass e<strong>in</strong> Fortschritt durch Vergrößerung der Anwendungsbreite (Zunahme der Präzision) e<strong>in</strong>er Theorie<br />
nicht durch e<strong>in</strong>e entgegengesetzt gerichtete, rückschrittliche Abnahme der Präzision (Verr<strong>in</strong>gerung<br />
der Anwendungsbreite) derselben Theorie konterkariert werden konnte. Dies entspricht e<strong>in</strong>em<br />
ganzheitlichen Fortschrittsverständnis. Ihm zufolge tritt e<strong>in</strong> Fortschritt – hier: h<strong>in</strong>sichtlich des empirischen<br />
Gehalts e<strong>in</strong>er Theorie – nur dann e<strong>in</strong>, wenn für alle <strong>in</strong>volvierten Fortschrittsdeterm<strong>in</strong>anten –<br />
hier: die Anwendungsbreite <strong>und</strong> die Präzision e<strong>in</strong>er Theorie – gilt: H<strong>in</strong>sichtlich jeder Fortschrittsdeterm<strong>in</strong>ante<br />
tritt ke<strong>in</strong> Rückschritt e<strong>in</strong> <strong>und</strong> h<strong>in</strong>sichtlich m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er Fortschrittsdeterm<strong>in</strong>ante tritt<br />
e<strong>in</strong> Fortschritt e<strong>in</strong>.<br />
Die voranstehend e<strong>in</strong>geführten Fortschrittsrelationen FS eG , FS A <strong>und</strong> FS P spezifizieren das strukturalistische<br />
Fortschrittsverständnis auf „generische“ Weise. Alle weiter führenden Überlegungen beziehen<br />
sich auf Spezialfälle der vorgenannten generischen Fortschrittsrelationen. Diese Spezialfälle<br />
kommen dadurch zustande, dass mithilfe der früher spezifizierten Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsbeziehungen<br />
zwischen charakteristischen Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für<br />
strukturalistisch formulierte Theorien h<strong>in</strong>reichende Bed<strong>in</strong>gungen dafür spezifiziert werden, dass e<strong>in</strong><br />
theoretischer Fortschritt im S<strong>in</strong>ne der o.a. Fortschrittsrelationen erfolgt.<br />
Beispielsweise führt e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierung, bei der die Modellmenge der spezialisierenden<br />
Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Teilmenge der Modellmenge der Referenztheorie T 1 darstellt, zu ei-<br />
231
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 30<br />
nem theoretischen Fortschritt durch e<strong>in</strong>e Zunahme des empirischen Gehalts. Die Präzision der spezialisierenden<br />
Theorie T 2 nimmt gegenüber ihrer Referenztheorie T 1 zu, ohne dass die Anwendungsbreite<br />
der Theorie verr<strong>in</strong>gert wird (die Anwendungsbreite bleibt sogar unverändert). Folglich<br />
gilt für die re<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rG ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rG ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS P<br />
Auch e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierung, bei der die Restriktionenmenge der spezialisierenden<br />
Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Teilmenge der Restriktionenmenge der Referenztheorie T 1 darstellt, führt zu<br />
e<strong>in</strong>em theoretischen Fortschritt durch e<strong>in</strong>e Zunahme des empirischen Gehalts. Die Präzision der<br />
spezialisierenden Theorie T 2 gegenüber ihrer Referenztheorie T 1 nimmt zu, ohne dass die Anwendungsbreite<br />
der Theorie verr<strong>in</strong>gert wird (die Anwendungsbreite bleibt sogar unverändert). Folglich<br />
gilt für die re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rR ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rR ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS P<br />
Dagegen bedeutet z.B. e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Anwendungsspezialisierung, bei welcher der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich<br />
der spezialisierenden Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Teilmenge des <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs<br />
der Referenztheorie T 1 darstellt, e<strong>in</strong>en theoretischen Rückschritt durch e<strong>in</strong>e Abnahme des<br />
empirischen Gehalts. Die Anwendungsbreite der spezialisierenden Theorie T 2 wird gegenüber ihrer<br />
Referenztheorie verr<strong>in</strong>gert, ohne dass die Präzision der Theorie zunimmt (die Präzision bleibt sogar<br />
unverändert). Folglich gilt für die re<strong>in</strong>e Anwendungsspezialisierung mit RS als Reduktionsrelation:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rA ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ RS eG<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ SP rA ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ RS A<br />
Aus der Fortschrittsperspektive erweist sich h<strong>in</strong>gegen der <strong>in</strong>verse Fall e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Anwendungserweiterung<br />
als <strong>in</strong>teressanter. Hierbei stellt der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich der erweiternden<br />
Theorie T 2 e<strong>in</strong>e echte Obermenge des <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs der Referenztheorie T 1 dar,<br />
sodass es zu e<strong>in</strong>em theoretischen Fortschritt durch e<strong>in</strong>e Zunahme des empirischen Gehalts kommt.<br />
Die Anwendungsbreite der erweiternden Theorie T 2 wird gegenüber ihrer Referenztheorie vergrößert,<br />
ohne dass die Präzision der Theorie abnimmt (die Präzision bleibt sogar unverändert). Folglich<br />
gilt für die re<strong>in</strong>e Anwendungserweiterung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ ER rA ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ ER rA ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS A<br />
Der theoretische Fortschritt durch e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierung oder durch e<strong>in</strong>e term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante<br />
Kernspezialisierung stellen e<strong>in</strong>en Überschussgehalt des strukturalistischen Fortschrittskonzepts<br />
gegenüber alternativen <strong>Fortschrittskonzepte</strong>n dar. Denn nur im strukturalistischen<br />
Theorienkonzept s<strong>in</strong>d Restriktionenmengen <strong>und</strong> Theoriekerne def<strong>in</strong>iert, auf die sich die beiden vorgenannten<br />
Spezialisierungsrelationen beziehen. Dadurch wird das e<strong>in</strong>gangs aufgestellte Differenzierungspostulat<br />
vom strukturalistischen Fortschrittskonzept erfüllt.<br />
E<strong>in</strong>en weiteren Überschussgehalt des strukturalistischen Fortschrittskonzepts bildet e<strong>in</strong>e Fortschrittsursache<br />
sui generis. Sie betrifft e<strong>in</strong>en theoretischen „Fortschritt“, der als Folge e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en<br />
Term<strong>in</strong>ologieerweiterung durch die verschärfte Erweiterungsrelation ER rTe + auftritt. Diese spezielle<br />
Erweiterungsrelation ER rTe + wurde bereits an früherer Stelle def<strong>in</strong>iert. Bei e<strong>in</strong>er solchen re<strong>in</strong>en<br />
Term<strong>in</strong>ologieerweiterung wird der term<strong>in</strong>ologische Apparat M p(T2 ) der Theorie T 2 gegenüber dem<br />
232
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 31<br />
term<strong>in</strong>ologischen Apparat M p(T1 ) der Referenztheorie T 1 so vergrößert, dass nach der RAMSEY-<br />
Elim<strong>in</strong>ierung aller T 1 - <strong>und</strong> T 2 -theoretischen Konstrukte für die Mengen D T2 <strong>und</strong> D T1 der denkmöglichen<br />
Anwendungen der beiden Theorien T 1 bzw. T 2 gilt: M pp(T2 ) ⊃ M pp(T1 ). Daraus folgt unmittelbar<br />
pot + (M pp(T2 )) ⊃ pot + (M pp(T1 )), also auch D T2 ⊃ D T1 . Da die Def<strong>in</strong>ition der verschärften Erweiterungsrelation<br />
ER rTe + des Weiteren die Komponente M S(T2 ) = M S(T 1 ) ∧ C S(T2 ) = C S(T 1 ) ∧ I T2 = I T1 umfasst, bleiben<br />
die Mengen der zulässigen <strong>und</strong> der <strong>in</strong>tendierten Theorieanwendungen beim Übergang von der<br />
Theorie T 1 auf die Theorie T 2 unverändert: Z T2 = Z T1 <strong>und</strong> I T2 = I T1 . Wegen D T2 ⊃ D T1 <strong>und</strong> Z T2 = Z T1<br />
gilt D T2 / Z T2 ⊃ D T1 / Z T1 , also auch U T2 ⊃ U T1 . Da für die Mengen U T2 <strong>und</strong> U T1 unzulässiger Anwendungen<br />
der Theorien T 2 bzw. T 1 die Beziehung U T2 ⊃ U T1 gilt, ist der Umfang der potenziellen Falsifikatoren<br />
der Theorie T 2 gegenüber ihrer Referenztheorie T 1 als Folge des erweiterten term<strong>in</strong>ologischen<br />
Apparats der Theorie T 2 angestiegen. Dadurch nimmt die Präzision der Theorie T 2 gegenüber<br />
ihrer Referenztheorie T 1 zu. Zugleich bleibt die Anwendungsbreite der beiden Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2<br />
wegen I T2 = I T1 unverändert. Deshalb kommt es <strong>in</strong>sgesamt zu e<strong>in</strong>em theoretischen Fortschritt durch<br />
e<strong>in</strong>e Zunahme des empirischen Gehalts. Folglich gilt für die re<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologieerweiterung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ ER rTe + ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ ER rTe + ⇒ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS P<br />
E<strong>in</strong> theoretischen „Fortschritt“, der <strong>in</strong>folge e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong>ologieerweiterung durch die verschärfte<br />
Erweiterungsrelation ER rTe + auftritt, wird im Allgeme<strong>in</strong>en auf erhebliche Bedenken stoßen.<br />
Dafür sprechen im Wesentlichen drei Gründe. Erstens entspricht e<strong>in</strong> solcher „Fortschritt“, der ausschließlich<br />
auf Erweiterungen des term<strong>in</strong>ologischen Apparats e<strong>in</strong>er Theorie beruht, nicht dem <strong>in</strong>tuitiven<br />
Fortschrittsverständnis. Stattdessen wird e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt gewöhnlich an die größere<br />
Präzision, die größere Anwendungsbreite oder die größere empirische Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie<br />
geknüpft. Zweitens dürfte kaum e<strong>in</strong> Interesse daran bestehen, die Term<strong>in</strong>ologie e<strong>in</strong>er Theorie<br />
um ihrer selbst willen zu erweitern. Stattdessen wird – <strong>und</strong> dies lässt sich als e<strong>in</strong> dritter Gr<strong>und</strong> auffassen<br />
– e<strong>in</strong>e Ausdehnung des term<strong>in</strong>ologischen Apparats e<strong>in</strong>er Theorie zumeist von Veränderungen<br />
ihrer gesetzesartigen Aussagen oder ihrer Restriktionen begleitet se<strong>in</strong>. Diese Veränderungen<br />
führen wiederum dazu, dass sich die Menge der zulässigen Theorieanwendungen <strong>in</strong> der Regel verändert.<br />
Dies verstößt gegen die Beziehung Z T2 = Z T1 , die aus e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong>ologieerweiterung<br />
durch die verschärfte Erweiterungsrelation ER rTe + zwangsläufig resultiert. Aus den vorgenannten<br />
Gründen erachtet der Verfasser e<strong>in</strong>en theoretischen „Fortschritt“ <strong>in</strong>folge e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong>ologieerweiterung<br />
als e<strong>in</strong>en Grenzfall. Zwar verdeutlicht er exemplarisch die <strong>in</strong>haltliche Breite des strukturalistischen<br />
Fortschrittskonzepts, jedoch dürfte er für die Beurteilung der Fortschrittlichkeit von<br />
Theorien im praktischen Wissenschaftsbetrieb ke<strong>in</strong>e nennenswerte Rolle spielen.<br />
3.2.4 Erweiterung um Evidenzaspekte<br />
Das strukturalistische Fortschrittskonzept bleibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er bislang entfalteten Form darauf beschränkt,<br />
die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien h<strong>in</strong>sichtlich ihres empirischen Gehalts –<br />
also im H<strong>in</strong>blick auf ihre Anwendungsbreite <strong>und</strong> ihre Präzision – zu beurteilen. Die Spezialisierungs-<br />
<strong>und</strong> Erweiterungsrelationen zwischen korrespondierenden Theoriekomponenten aus dem<br />
Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien lassen sich aber nicht dazu benutzen, die<br />
Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien h<strong>in</strong>sichtlich ihrer empirischen Bewährung (Evidenz) zu<br />
beurteilen. Diese „Bewährungslücke“ lässt sich strukturalistischen Theorienkonzept jedoch ohne<br />
Schwierigkeiten schließen.<br />
233
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 32<br />
Den Ausgangspunkt bilden die Mengen B T <strong>und</strong> W T aller bestätigten bzw. aller widerlegten Anwendungen<br />
e<strong>in</strong>er Theorie T. Wie schon mehrfach verdeutlicht, wird wiederum nur auf mengentheoretische<br />
Inklusionsbeziehungen zurückgegriffen. Sie reichen aus, um e<strong>in</strong>en theoretischen Fort- oder<br />
Rückschritt durch Vergrößerung bzw. Verr<strong>in</strong>gerung der empirischen Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie –<br />
oder synonym: durch Erhöhung bzw. Verr<strong>in</strong>gerung der Theorieevidenz – präzise zu spezifizieren.<br />
Die empirische Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie T nimmt zu, wenn die Menge B T ihrer bestätigten Anwendungen<br />
anwächst, ohne dass die Menge W T ihrer widerlegten Anwendungen an Umfang zunimmt.<br />
Dagegen nimmt die empirische Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie T ab, wenn die Menge W T ihrer<br />
widerlegten Anwendungen anwächst, ohne dass die Menge B T ihrer bestätigten Anwendungen an<br />
Umfang zunimmt. Mit FS eB - als Relation für e<strong>in</strong>en theoretischen Fortschritt durch Vergrößerung der<br />
empirischen Theoriebewährung <strong>und</strong> RS eB - als Relation für e<strong>in</strong>en theoretischen Rückschritt durch<br />
Verr<strong>in</strong>gerung der empirischen Theoriebewährung lassen sich die zugehörigen strukturalistischen<br />
Fort- bzw. Rückschrittsbeziehungen wie folgt spezifizieren:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ FS eB - :⇔ (B T2 ⊃ B T1 ∧ W T2 ⊆ W T1 )<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ RS eB - :⇔ (W T2 ⊃ W T1 ∧ B T2 ⊆ B T1 )<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus ist es möglich, die voranstehenden Fort- <strong>und</strong> Rückschrittsrelationen FS eB - bzw.<br />
RS eB - dadurch zu verallgeme<strong>in</strong>ern, dass auch folgende Fälle zugelassen werden, die nicht unmittelbar<br />
auf der Hand liegen, aber dem <strong>in</strong>tuitiven Fort- bzw. Rückschrittsverständnis ebenso gerecht<br />
werden: E<strong>in</strong>erseits kann e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt durch Zunahme der empirischen Bewährung<br />
e<strong>in</strong>er Theorie T auch dadurch e<strong>in</strong>treten, dass die Menge B T ihrer bestätigten Anwendungen unverändert<br />
bleibt <strong>und</strong> die Menge W T ihrer widerlegten Anwendungen schrumpft. Andererseits kann e<strong>in</strong><br />
theoretischer Rückschritt durch Abnahme der empirischen Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie T auch dadurch<br />
stattf<strong>in</strong>den, dass die Menge W T ihrer widerlegten Anwendungen unverändert bleibt <strong>und</strong> die<br />
Menge B T ihrer bestätigten Anwendungen schrumpft. Werden diese beiden letztgenannten Fälle e-<br />
benso berücksichtigt, so gilt für die verallgeme<strong>in</strong>erten Fort- bzw. Rückschrittsrelationen FS eB bzw.<br />
RS eB des strukturalistischen Theorienkonzepts im H<strong>in</strong>blick auf die empirische Theoriebewährung:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ FS eB :⇔ ((B T2 ⊃ B T1 ∧ W T2 ⊆ W T1 ) ∨ (B T2 = B T1 ∧ W T2 ⊂ W T1 ))<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ RS eB :⇔ ((W T2 ⊃ W T1 ∧ B T2 ⊆ B T1 ) ∨ (W T2 = W T1 ∧ B T2 ⊂ B T1 ))<br />
Von den verallgeme<strong>in</strong>erten Fort- <strong>und</strong> Rückschrittsrelationen FS eB bzw. RS eB wird im Folgenden<br />
ausgegangen. Sie schließen die oben angeführte „Bewährungslücke“ des strukturalistischen Fortschrittskonzepts.<br />
Sie werden auch als Evidenzrelationen bezeichnet, weil sie sich auf die empirische<br />
Bewährung von Theorien – oder kurz: ihre Evidenz – beziehen.<br />
Auf der Gr<strong>und</strong>lage der bislang entfalteten Fortschrittsrelationen lässt sich das strukturalistische<br />
Fortschrittskonzept <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er – vorläufigen – Fortschrittsrelation FS zusammenfassen. Sie berücksichtigt<br />
sowohl den theoretischen Fortschritt aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Zunahme des empirischen Gehalts als<br />
auch aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er Zunahme der empirischen Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie. Für den Übergang e<strong>in</strong>er<br />
Theorie T 1 zu e<strong>in</strong>er Theorie T 2 ist diese „umfassende“ strukturalistische Fortschrittsrelation FS wie<br />
folgt def<strong>in</strong>iert:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ FS :⇔ ((T 1 ,T 2 ) ∈ FS eG ∨ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eB )<br />
mit:<br />
⇔ ((T 1 ,T 2 ) ∈ FS A ∨ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS P ∨ (T 1 ,T 2 ) ∈ FS eB )<br />
234
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 33<br />
a) Fortschritt durch Vergrößerung der Anwendungsbreite e<strong>in</strong>er Theorie<br />
(ohne Abnahme der Theoriepräzision):<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ FS A :⇔ (I 2 ⊃ I 1 ∧ U T2 ⊇ U T1 )<br />
b) Fortschritt durch Zunahme der Präzision e<strong>in</strong>er Theorie<br />
(ohne Verr<strong>in</strong>gerung der Theorieanwendungsbreite):<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ FS P :⇔ (U T2 ⊃ U T1 ∧ I 2 ⊇ I 1 )<br />
c) Fortschritt durch Zunahme der empirischen Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ FS eB :⇔ ((B T2 ⊃ B T1 ∧ W T2 ⊆ W T1 ) ∨ (B T2 = B T1 ∧ W T2 ⊂ W T1 ))<br />
Die strukturalistische Fortschrittsrelation FS geht sowohl h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Präzision als auch h<strong>in</strong>sichtlich<br />
ihres Inhalts bereits deutlich über das h<strong>in</strong>aus, was <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>schlägigen Fachliteratur zu<br />
<strong>Fortschrittskonzepte</strong>n üblich ist.<br />
3.2.5 Zwischenfazit für das strukturalistische Fortschrittskonzept<br />
Im Folgenden werden die wesentlichen Aspekte zusammengefasst, die <strong>in</strong> den voranstehenden Ausführungen<br />
entwickelt wurden, um die Fort- oder Rückschrittlichkeit 1) von Theorien zu beurteilen,<br />
die im Rahmen des strukturalistischen Theorienkonzepts (re-) konstruiert wurden.<br />
Als Fortschrittsursachen gelten die Spezialisierungs- <strong>und</strong> die Erweiterungsbeziehungen, die zwischen<br />
Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für strukturalistisch formulierte Theorien oder<br />
daraus abgeleiteten Theoriekomponenten bestehen. Denn der Übergang zwischen zwei Theorien,<br />
die h<strong>in</strong>sichtlich ihrer relativen Fort- oder Rückschrittlichkeit beurteilt werden, wird im strukturalistischen<br />
Theorienkonzept durch diejenigen Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsbeziehungen bewirkt,<br />
die an früherer Stelle ausführlich erläutert wurden. Je nachdem, wie diese Spezialisierungs- <strong>und</strong><br />
Erweiterungsbeziehungen entweder isoliert oder aber auch mite<strong>in</strong>ander komb<strong>in</strong>iert werden, kann im<br />
strukturalistischen Theorienkonzept e<strong>in</strong>e breite Palette verschiedenartiger Fortschrittsrelationen<br />
spezifiziert werden. Jede dieser Fortschrittsrelationen def<strong>in</strong>iert e<strong>in</strong>e relationsspezifische Fortschrittsart<br />
im strukturalistischen Theorienkonzept.<br />
Die Fortschrittsdimensionen s<strong>in</strong>d die drei – „trichotomen“ – Bereiche des Theoriekerns, der Theorieanwendung<br />
<strong>und</strong> der Theorieüberprüfung. 2) Sie durchziehen das strukturalistische Theorienkonzept<br />
wie e<strong>in</strong> „roter Faden“. Sie bieten sich an, um die Vielfalt strukturalistisch identifizierbarer<br />
Fortschrittsursachen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> übersichtliches, drei-dimensionales Schema e<strong>in</strong>zuordnen:<br />
Fortschrittsdimension des Theoriekerns: E<strong>in</strong> Fortschritt durch re<strong>in</strong>e Präzisionserhöhung knüpft<br />
ausschließlich an Spezialisierungen von Komponenten des Theoriekerns an. Als drei „normale“<br />
Beispiele wurden Fortschritte durch re<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierung, re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierung<br />
<strong>und</strong> term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante Kernspezialisierung vorgestellt. Daneben kommt auch e<strong>in</strong>e<br />
re<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologieerweiterung als präzisionserhöhende Fortschrittsursache <strong>in</strong> Betracht. Sie<br />
stellt jedoch e<strong>in</strong>e Sonderform dar, über deren epistemische Relevanz sich streiten lässt.<br />
1) Der Übersichtlichkeit halber ist im Folgenden nur noch von Fortschrittsaspekten explizit die Rede. Rückschrittsaspekte<br />
werden hierbei implizit mitgedacht.<br />
2) Die gleichen drei Fortschrittsdimensionen heben als Arten des normalwissenschaftlichen – oder synonym: evolutionären<br />
– Fortschritts hervor: STEGMÜLLER (1979), S. 33 u. 95; STEGMÜLLER (1983), S. 1072; GADENNE (1984), S.<br />
153, sowie STEGMÜLLER (1986), S. 114 f.<br />
235
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 34<br />
Fortschrittsdimension der Theorieanwendung: E<strong>in</strong> Fortschritt durch re<strong>in</strong>e Varianzerhöhung beruht<br />
ausschließlich auf Erweiterungen des <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereichs e<strong>in</strong>er Theorie. Er<br />
resultiert aus der re<strong>in</strong>en Anwendungserweiterung e<strong>in</strong>er Theorie.<br />
Fortschrittsdimension der Theorieüberprüfung: E<strong>in</strong> Fortschritt durch re<strong>in</strong>e Evidenzerhöhung<br />
kann bei empirischen Theorieüberprüfungen e<strong>in</strong>treten. Er lässt sich auf Erweiterungen der<br />
Menge bestätigter <strong>und</strong> auf Spezialisierungen der Menge widerlegter Theorieanwendungen zurückführen,<br />
die so mite<strong>in</strong>ander verknüpft s<strong>in</strong>d, dass die empirische Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie<br />
zunimmt.<br />
In der nachfolgenden Abb. 4 wird verdeutlicht, wie sich die Fortschrittsursachen des strukturalistischen<br />
Theorienkonzepts <strong>in</strong> die charakteristische Trichotomie aus den Fortschrittsdimensionen Theoriekern,<br />
Theorieanwendung <strong>und</strong> Theorieüberprüfung e<strong>in</strong>betten lassen.<br />
Aus der Abb. 4 wird deutlich, dass der „non statement view“ h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>es Fortschrittskonzepts<br />
mit den konventionellen Fortschrittsauffassungen des „statement view“ weit gehend übere<strong>in</strong>stimmt.<br />
Dies gilt zum<strong>in</strong>dest bei e<strong>in</strong>er ersten, groben Annäherung an die Fortschrittsauffassungen der<br />
beiden Theorienkonzepte. Der e<strong>in</strong>zige offensichtliche Unterschied besteht dar<strong>in</strong>, dass aus der Perspektive<br />
des „statement view“ zunächst e<strong>in</strong>e dichotome Differenzierung erfolgt: 1) Es wird zwischen<br />
e<strong>in</strong>em Fortschritt durch Vergrößerung des empirischen Gehalts <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em Fortschritt durch Vergrößerung<br />
der empirischen Bewährung unterschieden. Erst danach wird der gehaltsbezogene Fortschritt<br />
<strong>in</strong> zwei Aspekte aufgespalten. E<strong>in</strong>erseits kann er sich durch e<strong>in</strong>e Vergrößerung der Präzision<br />
e<strong>in</strong>er Theorie e<strong>in</strong>stellen. Andererseits kommt ebenso e<strong>in</strong>e Vergrößerung der Anwendungsbreite e<strong>in</strong>er<br />
Theorie <strong>in</strong> Betracht. Sobald diese Aufspaltung vollzogen ist, bietet die Fortschrittskonzeption<br />
des „statement view“ das gleiche trichotome Ersche<strong>in</strong>ungsbild, wie es von den drei Fortschrittsdimensionen<br />
des „non statement view“ aufgespannt wird. Aufgr<strong>und</strong> dieser großen Ähnlichkeit lässt<br />
sich e<strong>in</strong> weiteres Mal die Anschlussfähigkeit des strukturalistischen Theorienkonzepts an das konventionelle<br />
Theorienverständnis unterstreichen.<br />
Die Eigenarten des strukturalistischen Theorienkonzepts zeigen sich im H<strong>in</strong>blick auf die Konzeptualisierung<br />
wissenschaftlichen Fortschritts erst bei genauerem H<strong>in</strong>sehen. Sie lassen sich im Wesentlichen<br />
<strong>in</strong> zweifacher H<strong>in</strong>sicht identifizieren.<br />
Erstens weist das strukturalistische Theorienkonzept e<strong>in</strong> beträchtlich größeres Potenzial zur Differenzierung<br />
wissenschaftlichen Fortschritts auf. Im konventionellen Theorienkonzept wird nur zwischen<br />
drei Fortschrittsarten unterschieden: Zunahme der Theoriepräzision, Vergrößerung der Anwendungsbreite<br />
<strong>und</strong> Vergrößerung der empirischen Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie. Spezielle Ursachen<br />
dieser Fortschrittsarten werden im Allgeme<strong>in</strong>en nicht explizit thematisiert.<br />
Das strukturalistische Theorienkonzept übernimmt diese drei Fortschrittsarten zwar als drei Fortschrittsdimensionen,<br />
verfe<strong>in</strong>ert diese jedoch durch e<strong>in</strong>e größere Anzahl von Fortschrittsarten, die<br />
jeweils durch e<strong>in</strong>e strukturalistische Fortschrittsrelation def<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d. Als Beispiele für diese Fortschrittsrelationen<br />
wurden hier vor allem die Fortschritte durch re<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierungen,<br />
durch re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierungen, durch term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante Kernspezialisierungen,<br />
durch re<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologieerweiterungen, durch re<strong>in</strong>e Anwendungserweiterungen sowie durch Zunahme<br />
der empirischen Bewährung thematisiert. Es wurde jedoch zuvor gezeigt, dass sich im strukturalistischen<br />
Theorienkonzept e<strong>in</strong>e weitaus größere Anzahl von Fortschrittsrelationen spezifizieren<br />
lässt, die jeweils andere Fortschrittsarten def<strong>in</strong>ieren.<br />
1) Die Fortschrittsdichotomie zwischen Vergrößerung des empirischen Gehalts <strong>und</strong> Vergrößerung der empirischen<br />
Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie wird besonders deutlich bei POPPER (1984), S. 77 ff. („Grade der Prüfbarkeit“, die als<br />
empirischer Theoriegehalt konkretisiert werden) versus S. 198 ff. („Bewährung“). Ebenso klar hebt POPPER (1984)<br />
diese Dichotomie auf S. 347 hervor: „Ich glaube, daß diese beiden Begriffe – der des Gehaltes <strong>und</strong> der des Grades<br />
der Bewährung – die wichtigsten logischen Werkzeuge s<strong>in</strong>d, die <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Buch entwickelt wurden.“<br />
236
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 35<br />
Präzision<br />
der Theorie<br />
Anwendungsbreite<br />
der Theorie<br />
re<strong>in</strong>e Gesetzes-/<br />
Restriktionsspezialisierung,<br />
term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante<br />
Kernspezialisierung<br />
re<strong>in</strong>e<br />
Term<strong>in</strong>ologieerweiterung<br />
re<strong>in</strong>e<br />
Anwendungserweiterung<br />
Fortschritt durch<br />
re<strong>in</strong>e Präzisionserhöhung<br />
(Bestimmtheit)<br />
Fortschritt durch<br />
re<strong>in</strong>e Varianzerhöhung<br />
(Allgeme<strong>in</strong>heit)<br />
Vergrößerung des empirischen Gehalts<br />
Fortschritt<br />
Vergrößerung der empirischen Bewährung<br />
Fortschritt durch re<strong>in</strong>e Evidenzerhöhung<br />
empirische<br />
Überprüfung<br />
empirische Gesamthypothese<br />
der Theorie<br />
Abb. 4: Fortschrittsursachen <strong>und</strong> -dimensionen des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />
237
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 36<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus bietet das strukturalistische Fortschrittskonzept die Gelegenheit, nicht nur Fortschrittsarten<br />
auf den Phänomenebene zu identifizieren, sondern diese auch auf Spezialisierungs<strong>und</strong><br />
Erweiterungsbeziehungen als Fortschrittsursachen zurückzuführen. Zwar wurde oben schon<br />
angedeutet, dass bei weitem nicht alle Spezialisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsrelationen zu e<strong>in</strong>em theoretischen<br />
Forschritt führen. Aber selbst dann, wenn dieser Sachverhalt berücksichtigt wird, stellt das<br />
strukturalistische Theorienkonzept noch weit mehr – sogar explizit thematisierte – Fortschrittsursachen<br />
<strong>und</strong> darauf aufbauende Fortschrittsarten zur Verfügung, als im konventionellen Theorienkonzept<br />
bekannt s<strong>in</strong>d. Beispielsweise s<strong>in</strong>d im konventionellen Theorienkonzept Fortschritte, die durch<br />
re<strong>in</strong>e Restriktionsspezialisierungen, durch term<strong>in</strong>ologie<strong>in</strong>variante Kernspezialisierungen oder durch<br />
re<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologieerweiterungen verursacht werden, überhaupt nicht bekannt.<br />
Folglich zeichnet sich das strukturalistische Fortschrittskonzept durch e<strong>in</strong>en Überschussgehalt gegenüber<br />
dem konventionellen Theorienkonzept aus. Er betrifft sowohl die Varietät von Fortschrittsarten<br />
als auch die explizite Berücksichtigung von Fortschrittsursachen. Damit verfügt das strukturalistische<br />
Theorienkonzept über e<strong>in</strong> größeres Differenzierungspotenzial für die Reflexion wissenschaftlichen<br />
Fortschritts, das weit über die drei üblichen Fortschrittsarten des konventionellen Theorienkonzepts<br />
h<strong>in</strong>ausweist.<br />
Zweitens ermöglicht das strukturalistische Theorienkonzept e<strong>in</strong>e präzise Messung der Fortschrittlichkeit<br />
e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e Referenztheorie. Die <strong>Fortschrittsmessung</strong> beruht auf der I-<br />
dee, sämtliche Urteile über die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien ausschließlich auf mengentheoretische<br />
Inklusionsbeziehungen zwischen Komponente aus den jeweils mite<strong>in</strong>ander verglichenen<br />
Theorien zurückzuführen. Mittels dieser Inklusionsbeziehungen kann genau dann e<strong>in</strong> relatives<br />
Urteil über die Fort- oder Rückschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie gefällt werden, wenn diese Theorie<br />
<strong>und</strong> ihre Referenztheorie die mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen „⊂“, „⊆“, „=“, „⊇“ oder<br />
„⊃“ aus der Spezifikation e<strong>in</strong>er strukturalistischen Fort- bzw. Rückschrittsrelation erfüllen. Die<br />
Messung der Fort- oder Rückschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf ihre Referenztheorie erfolgt<br />
dadurch, dass überprüft wird, ob die spezifizierten Inklusionsbeziehungen erfüllt s<strong>in</strong>d oder nicht.<br />
Diese besondere Art der relativen, mengentheoretisch f<strong>und</strong>ierten Messung ermöglicht zwar ke<strong>in</strong>e<br />
Abbildung der Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien auf absolute, numerische Werte e<strong>in</strong>er<br />
Kard<strong>in</strong>alskala. Aber sie erweist sich als ausdrucksstark genug, um die Fort- oder Rückschrittlichkeit<br />
von Theorien durch relative, mengenwertige Urteile auf e<strong>in</strong>er Ord<strong>in</strong>alskala auszudrücken.<br />
Durch diesen zwar eigentümlichen, aber nichtsdestoweniger formalsprachlich präzisen Ansatz zur<br />
Messung der Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien unterscheidet sich das strukturalistische<br />
Fortschrittskonzept abermals deutlich von den meisten Fortschrittsauffassungen des „statement<br />
view“. Seitens jener Fortschrittsauffassungen wird die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien<br />
zumeist nur natürlichsprachlich im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Zunahme der Theoriepräzision, e<strong>in</strong>er Vergrößerung<br />
der Anwendungsbreite oder e<strong>in</strong>er Vergrößerung der empirischen Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie beschrieben.<br />
Formalsprachliche Konkretisierungen für die Theoriepräzision, die Anwendungsbreite<br />
<strong>und</strong> die empirische Bewährung e<strong>in</strong>er Theorie unterbleiben jedoch im Allgeme<strong>in</strong>en. Noch seltener<br />
werden Ansätze zur präzisen Messung der Zunahme bzw. Vergrößerung der vorgenannten Konstrukte<br />
vorgelegt. Folglich wird das e<strong>in</strong>gangs aufgestellte Messbarkeitspostulat durch das strukturalistische<br />
Fortschrittskonzept – nach derzeitigem Kenntnisstand – durch das strukturalistische Theorienkonzept<br />
noch am besten erfüllt.<br />
238
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 37<br />
3.2.6 Erweiterung um komplexere <strong>in</strong>ter-theoretische Relationen<br />
3.2.6.1 Überblick<br />
E<strong>in</strong>e wesentliche E<strong>in</strong>schränkung des bislang entfalteten strukturalistischen Fortschrittskonzepts besteht<br />
dar<strong>in</strong>, dass (relative) Urteile über die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien ausschließlich<br />
auf mengentheoretische Inklusionsbeziehungen zurückgeführt wurden. Diese Inklusionsbeziehungen<br />
bestehen entweder direkt zwischen Theoriekomponenten aus dem Strukturschema für strukturalistisch<br />
formulierte Theorien oder zwischen daraus abgeleiteten Theoriekomponenten. Erstes<br />
betrifft die charakteristischen Theoriekomponenten M p(T) , M pp(T) , M S(T) , C S(T) <strong>und</strong> I T , die vor allem <strong>in</strong><br />
den Spezialisierungs- <strong>und</strong> von Erweiterungsrelationen verwendet werden. Die daraus abgeleiteten<br />
Theoriekomponenten D T , Z T <strong>und</strong> U T sowie B T <strong>und</strong> W T fließen dagegen – neben dem <strong>in</strong>tendierten<br />
Anwendungsbereich I T – vornehmlich <strong>in</strong> die Spezifikationen der Fort- <strong>und</strong> Rückschrittsrelationen<br />
des strukturalistischen Theorienkonzepts e<strong>in</strong>.<br />
Zwar erweisen sich diese mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen wegen ihrer e<strong>in</strong>fachen Def<strong>in</strong>ition<br />
<strong>und</strong> unmittelbaren Transparenz als „erste Wahl“ für die Beurteilung der Fort- oder Rückschrittlichkeit<br />
von Theorien. Aber sie schöpfen das Potenzial für wohlbegründete Fort- oder Rückschrittlichkeitsurteile<br />
nicht aus. Denn es lassen sich auch komplexere Beziehungsstrukturen zwischen<br />
Theorien spezifizieren, die weiterh<strong>in</strong> wohlbegründete Urteile über die Fort- oder Rückschrittlichkeit<br />
von Theorien zulassen. Hierzu dienen die so genannten Relationen 2. Stufe, die schon an<br />
früherer Stelle erwähnt wurden. Ihre Bezeichnung weist darauf h<strong>in</strong>, dass es sich im Gegensatz zu<br />
den mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen, die <strong>in</strong> diesem Argumentationszusammenhang<br />
auch als Relationen 1. Stufe angesprochen werden, um Konstrukte höherer Komplexität handelt.<br />
Die Relationen 2. Stufe weisen e<strong>in</strong>en ambivalenten Charakter auf. E<strong>in</strong>erseits s<strong>in</strong>d sie mathematisch<br />
komplexer formuliert <strong>und</strong> auch schwerer zu überprüfen als die Relationen 1. Stufe, weil die Relationen<br />
2. Stufe das „sichere“ F<strong>und</strong>ament e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> mengentheoretischen Analyse <strong>in</strong>ter-theoretischer<br />
Abhängigkeiten verlassen. Aus diesem Gr<strong>und</strong> wird auf die Relationen 2. Stufe im Allgeme<strong>in</strong>en erst<br />
dann zurückgegriffen, wenn die Anwendung von Relationen 1. Stufe zu ke<strong>in</strong>en zufrieden stellenden<br />
Erkenntnissen über die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien führt. Andererseits erweisen<br />
sich die Relationen 2. Stufe als e<strong>in</strong> bemerkenswertes „Sammelbecken“ für <strong>in</strong>ter-theoretische Relationen,<br />
die sich aus wissenschaftstheoretischer Perspektive nicht nur als besonders diffizil, sondern<br />
auch als besonders <strong>in</strong>teressant erweisen. Wesentliche Beiträge zur Fortentwicklung des strukturalistischen<br />
Theorienkonzepts erfolgen zurzeit auf diesem Gebiet der Relationen 2. Stufe, wie etwa bei<br />
der Analyse von <strong>in</strong>ter-theoretischen <strong>und</strong> Approximations-, Reduktions- <strong>und</strong> Theoretisierungsrelationen.<br />
Des Weiteren bieten sich die Relationen 2. Stufe an, um „Licht <strong>in</strong>s Dunkel“ von revolutionären,<br />
„Paradigma sprengenden“ Theorieentwicklungen zu br<strong>in</strong>gen. Denn sie greifen – aus der Perspektive<br />
des strukturalistischen Theorienkonzepts – erst dort, wo sich die <strong>in</strong>ner-paradigmatischen Inklusionsbeziehungen<br />
zwischen den Theorien e<strong>in</strong>es Theoriennetzes nicht mehr anwenden lassen. Da die<br />
Relationen 2. Stufe ebenso präzise def<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d wie die Relationen 1. Stufe, gestatten sie <strong>in</strong> dem<br />
Ausmaß, wie sie sich tatsächlich anwenden lassen, die revolutionären „Paradigmen-Wechsel“ im<br />
S<strong>in</strong>ne von KUHN formalsprachlich zu rekonstruieren <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er rationalen Betrachtungsweise zuzuführen.<br />
Insbesondere leisten sie e<strong>in</strong>en Beitrag dazu, die Inkommensurabilitätsthese im S<strong>in</strong>ne von<br />
FEYERABEND, die vor allem im kulturwissenschaftlichen Bereich zahlreiche Anhänger f<strong>in</strong>det, partiell<br />
<strong>in</strong> die Schranken zu verweisen. Dies gel<strong>in</strong>gt so weit, wie sich <strong>in</strong>ter-theoretische Relationen 2.<br />
Stufe <strong>und</strong> damit verknüpfte Kriterien der wissenschaftlichen Fort- oder Rückschrittlichkeit auf zwei<br />
Theorien anwenden lassen, die zu unterschiedlichen Theoriennetzen gehören <strong>und</strong> somit den Ansche<strong>in</strong><br />
erwecken, sich wegen ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Paradigmen zue<strong>in</strong>ander <strong>in</strong>kommensurabel<br />
zu verhalten.<br />
239
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 38<br />
Aus den voranstehenden, skizzenhaften Erläuterungen sollte zweierlei deutlich geworden se<strong>in</strong>. Erstens<br />
stellen die Relationen 2. Stufe im strukturalistischen Theorienkonzept das zwar wissenschaftstheoretisch<br />
<strong>in</strong>teressantere, jedoch sowohl formal als auch <strong>in</strong>haltlich schwerer zu handhabende Instrumentarium<br />
für die Analyse der Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien dar. Das Potenzial<br />
für die Spezifikation solcher Relationen 2. Stufe erweist sich als „offen“ – se<strong>in</strong>e Grenze hängt nur<br />
davon ab, welche Beziehungsstrukturen zwischen Theorien <strong>und</strong> ihren Komponenten noch als „überzeugende“<br />
Indikatoren für theoretischen Fort- oder Rückschritt anerkannt werden. Diese Grenze<br />
lässt sich nicht objektiv bestimmen, sondern hängt von subjektiv wertenden Entscheidungen im Basisbereich<br />
e<strong>in</strong>er Wissenschaftlergeme<strong>in</strong>schaft ab, unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong> Theorienübergang<br />
noch – oder nicht mehr – als theoretischer Fort- oder Rückschritt anerkannt wird. Als Beispiel<br />
für solche komplexeren Beziehungsstrukturen wird im Folgenden nur kurz auf die <strong>in</strong>ter-theoretische<br />
Reduktionsrelation e<strong>in</strong>gegangen.<br />
3.2.6.2 Theoriereduktionen<br />
Es existiert e<strong>in</strong>e Vielzahl unterschiedlicher Ansätze für die Spezifikation von Reduktionsrelationen.<br />
1) Trotz dieser Vielfalt wird im Folgenden nur e<strong>in</strong>e exemplarisch ausgewählte Reduktionsrelation<br />
behandelt. Sie ersche<strong>in</strong>t dem Verfasser als besonders transparent. Im generischen S<strong>in</strong>ne wird sie<br />
kurz als die Reduktionsrelation angesprochen. Wenn zwei Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 diese Reduktionsrelation<br />
RED erfüllen, so wird dies als (T 1 ,T 2 ) ∈ RED notiert. Es wird dann davon gesprochen, dass sich<br />
die Theorie T 1 auf die Theorie T 2 reduzieren lässt. Theorie T 1 heißt <strong>in</strong> diesem Fall die reduzierte,<br />
Theorie T 2 die reduzierende Theorie.<br />
E<strong>in</strong>e Theorie T 1 lässt sich genau dann auf e<strong>in</strong>e andere Theorie T 2 reduzieren, wenn zwei Bed<strong>in</strong>gungen<br />
erfüllt s<strong>in</strong>d. Erstens muss m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e zweistellige, „bedeutungserhaltende“ Übersetzungsrelation<br />
tr bekannt se<strong>in</strong>, die es gestattet, jedes potenzielle Modell der Theorie T 1 durch m<strong>in</strong>destens<br />
e<strong>in</strong> potenzielles Modell der Theorie T 2 auszudrücken. Zweitens ist es erforderlich, dass alle gesetzesartigen<br />
Aussagen der Theorie T 1 als logische Konsequenzen der gesetzesartigen Aussagen aus<br />
der Theorie T 2 rekonstruiert werden können, wenn e<strong>in</strong>e entsprechende Übersetzung zwischen den<br />
unterschiedlichen term<strong>in</strong>ologischen Apparaten der beiden Theorien erfolgt. Dies bedeutet, dass jedes<br />
Modell der Theorie T 2 , das alle gesetzesartigen Aussagen der Theorie T 2 erfüllt, nach e<strong>in</strong>er bedeutungserhaltenden<br />
Übersetzung se<strong>in</strong>er Konstrukte zugleich auch e<strong>in</strong> Modell der Theorie T 1 se<strong>in</strong><br />
muss, das alle gesetzesartigen Aussagen der Theorie T 1 erfüllt. Unter diesen Annahmen lässt sich<br />
die Reduktionsrelation RED wie folgt spezifizieren:<br />
(T 1 ,T 2 ) ∈ RED<br />
:⇔ ∃ tr: (tr ⊆ (M p(T1 ) x M p(T2 )))<br />
∧ (∀m p(T1 ) ∃m p(T2 ): (m p(T1 ),m p(T2 )) ∈ tr)<br />
∧ (∀m p(T1 ) ∀m p(T2 ):<br />
(m p(T1 ) ∈ M p(T 1 ) ∧ m p(T2 ) ∈ M p(T 2 ) ∧ m p(T2 ) ∈ M S(T 2 ) ∧ (m p(T1 ),m p(T2 )) ∈ tr)<br />
→ m p(T1 ) ∈ M S(T 1 ) )<br />
1) Vgl. zu Reduktionsrelationen im H<strong>in</strong>blick auf strukturalistisch formulierte Theorien <strong>und</strong> Theoriennetze STEGMÜL-<br />
LER (1973), S. 144 ff.; STEGMÜLLER (1979), S. 36 ff., 68 f., 71 f., 78 u. 96 ff.; STEGMÜLLER (1980), S. 48 ff., 79 ff.,<br />
101 f., 130 f., 161 ff. u. 190 f.; BALZER/MOULINES/SNEED (1987), S. 252 ff. u. 306 ff.; MANHART (1998), S. 318<br />
ff.; NIEBERGALL (2002), S. 147 ff.; BICKLE (2002), S. 123 ff.<br />
240
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 39<br />
Der Übergang von e<strong>in</strong>er Theorie T 1 auf e<strong>in</strong>e Theorie T 2 stellt aus dieser Perspektive genau dann e<strong>in</strong>en<br />
theoretischen Fortschritt durch Theoriereduktion dar, wenn sich die Theorie T 1 auf die Theorie<br />
T 2 reduzieren lässt, die Umkehrung jedoch nicht zutrifft. Die Essenz dieses Fortschritts liegt dar<strong>in</strong>,<br />
dass alle gesetzesartigen Aussagen der reduzierten Theorie T 1 als logische Konsequenzen der gesetzesartigen<br />
Aussagen der reduzierenden Theorie T 2 rekonstruiert werden können. Die fortschrittlichere,<br />
reduzierende Theorie T 2 deckt daher den nomischen Gehalt der reduzierten Theorie T 1 vollständig<br />
ab. Die reduzierende Theorie T 2 besitzt zugleich e<strong>in</strong>en nomischen Überschussgehalt, der <strong>in</strong><br />
der reduzierten Theorie T 1 nicht enthalten ist. Es handelt sich dabei um jene gesetzesartigen Aussagen,<br />
die zwar zur reduzierenden Theorie T 2 , nicht aber zur reduzierten Theorie T 1 gehören. Daher<br />
lässt sich die Reduktionsbeziehung zwischen den beiden Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 nicht umkehren, falls<br />
der Übergang von der Theorie T 1 zur Theorie T 2 e<strong>in</strong>en theoretischen Fortschritt darstellt. Da sich bei<br />
diesem Theorienübergang alle gesetzesartigen Aussagen der reduzierten Theorie T 1 als logische<br />
Konsequenzen aus den gesetzesartigen Aussagen der reduzierenden Theorie T 2 gew<strong>in</strong>nen lassen, die<br />
Umkehrung jedoch nicht zutrifft, wird oftmals auch davon gesprochen, dass die reduzierende, fortschrittliche<br />
Theorie T 2 e<strong>in</strong>e größere Erklärungskraft als die reduzierte Theorie T 1 besitzt.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs ist die Charakterisierung des Fortschritts durch Theoriereduktion noch unvollständig.<br />
Denn es ist möglich, alle gesetzesartigen Aussagen e<strong>in</strong>er Theorie T 1 als logische Konsequenzen der<br />
gesetzesartigen Aussagen e<strong>in</strong>er Theorie T 2 abzuleiten, ohne dabei auf das Konzept der Theoriereduktion<br />
zurückzugreifen. Stattdessen ist es ebenso möglich, die beiden Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 als Theorien<br />
aufzufassen, die aus demselben Theoriennetz stammen. Das logische Konsequenzverhältnis<br />
zwischen den gesetzesartigen Aussagen der beiden Theorien T 1 <strong>und</strong> T 2 ist auch dann erfüllt, wenn<br />
die Theorie T 2 wegen (T 1 ,T 2 ) ∈ SP G e<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierung der Theorie T 1 darstellt.<br />
Daher kommt bei der Theoriereduktion zum logischen Konsequenzverhältnis zwischen wesentlichen<br />
gesetzesartigen Aussagen e<strong>in</strong> weiterer Aspekt h<strong>in</strong>zu: Von e<strong>in</strong>em Reduktionsverhältnis zwischen<br />
zwei Theorien wird erst dann gesprochen, wenn es sich um Theorien handelt, die zu verschiedenen<br />
Theoriennetzen gehören. Zwischen den beiden Theorien kann wegen ihrer Zugehörigkeit<br />
zu unterschiedlichen Theoriennetzen ke<strong>in</strong>e Spezialisierungsbeziehung, <strong>in</strong>sbesondere auch ke<strong>in</strong>e<br />
Gesetzesspezialisierung bestehen. Das schließt alle Erweiterungsbeziehungen e<strong>in</strong>, die stets Umkehrungen<br />
von Spezialisierungsbeziehungen darstellen. Wegen der Nichtexistenz von Spezialisierungsoder<br />
Erweiterungsbeziehungen ist es ausgeschlossen, dass zwischen den beiden betrachteten Theorien<br />
e<strong>in</strong> evolutionärer Übergang erfolgt. Vielmehr bedeutet ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen<br />
Theoriennetzen, dass e<strong>in</strong> Wechsel von e<strong>in</strong>er Theorie zur jeweils anderen Theorie nur <strong>in</strong> revolutionärer<br />
Weise möglich ist. Daher eignet sich die Reduktionsrelation vor allem für die Aufgabe zu untersuchen,<br />
ob sich trotz e<strong>in</strong>es revolutionären Theorienwandels die <strong>in</strong>volvierten Theorien h<strong>in</strong>sichtlich<br />
ihrer Fort- oder Rückschrittlichkeit mite<strong>in</strong>ander vergleichen lassen. Infolgedessen steht die Reduktionsrelation<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er engen <strong>in</strong>haltlichen Beziehung zur Inkommensurabilitäts-These.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus wird hier lediglich der Regelfall betrachtet, <strong>in</strong> dem die term<strong>in</strong>ologischen Apparate<br />
zweier Theorien, die aus unterschiedlichen Theoriennetzen stammen, weder gleich s<strong>in</strong>d noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Spezialisierungsbeziehung zue<strong>in</strong>ander stehen. Es darf also für die term<strong>in</strong>ologischen Apparate<br />
der beiden mite<strong>in</strong>ander verglichenen Theorien weder M p(T2 ) ⊂ M p(T1 ) noch M p(T2 ) ⊃ M p(T1 ) gelten. In<br />
diesem Fall wird auch kurz davon geredet, dass die beiden Theorien <strong>in</strong>kompatible – oder synonym:<br />
unverträgliche – term<strong>in</strong>ologische Apparate besitzen. Aufgr<strong>und</strong> dieser term<strong>in</strong>ologischen Inkompatibilität<br />
scheidet es von vornhere<strong>in</strong> aus, alle gesetzesartigen Aussagen der reduzierten Theorie T 1 wie<br />
bei e<strong>in</strong>er Gesetzesspezialisierung unmittelbar als logische Konsequenzen aus den gesetzesartigen<br />
Aussagen der reduzierenden Theorie T 2 abzuleiten. Stattdessen ist nur e<strong>in</strong>e mittelbare Rekonstruktion<br />
dieses Konsequenzenverhältnisses möglich. Die Vermittlung stiftet die Übersetzungsrelation tr.<br />
Sie transformiert Ausdrücke aus dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat der e<strong>in</strong>en Theorie <strong>in</strong> entsprechende,<br />
d.h. bedeutungserhaltende Ausdrücke aus dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat der jeweils anderen Theorie.<br />
241
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 40<br />
Zu den wesentlichen Schwierigkeiten des Konzepts der Theoriereduktion gehört es, <strong>in</strong>haltlich festzulegen,<br />
unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen Ausdrücke aus <strong>in</strong>kompatiblen term<strong>in</strong>ologischen Apparaten<br />
e<strong>in</strong>ander so entsprechen, dass e<strong>in</strong>e bedeutungserhaltende Übersetzung vorliegt. 1) Denn jeder term<strong>in</strong>ologische<br />
Apparat e<strong>in</strong>er Theorie lässt sich „irgendwie“ auf den term<strong>in</strong>ologischen Apparat e<strong>in</strong>er<br />
anderen Theorie abbilden. E<strong>in</strong>e derart unkontrollierte Term<strong>in</strong>ologieabbildung liegt dem Übersetzungsbegriff<br />
des Reduktionskonzepts aber nicht zugr<strong>und</strong>e. Stattdessen werden unterschiedliche Kriterien<br />
für die Adäquanz von Übersetzungsrelationen diskutiert. 2) Die Adäquanzkriterien sollen sicherstellen,<br />
dass ke<strong>in</strong>e „unvernünftigen“ oder „absurden“ Übersetzungen zwischen <strong>in</strong>kompatiblen<br />
term<strong>in</strong>ologischen Apparaten erfolgen. Von solchen speziellen Adäquanzkriterien wird im Folgenden<br />
abgesehen. Stattdessen wird nur die allgeme<strong>in</strong>e Anforderung aufrecht erhalten, dass sich jede<br />
Übersetzungsrelation tr als bedeutungserhaltend erweisen muss.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs stehen dem Konzept bedeutungserhaltender Übersetzungsrelationen erhebliche Probleme<br />
entgegen. Diese Probleme s<strong>in</strong>d zunächst pr<strong>in</strong>zipieller Natur. Sie beruhen <strong>in</strong>sbesondere auf sprachanalytischen<br />
Arbeiten von QUINE zur gr<strong>und</strong>sätzlichen Unbestimmtheit von Übersetzungen. 3) Aufgr<strong>und</strong><br />
dieser Übersetzungsunbestimmtheit lässt sich streng genommen am Postulat bedeutungserhaltender<br />
Übersetzungsrelationen zwischen <strong>in</strong>kompatiblen term<strong>in</strong>ologischen Apparaten von Theorien<br />
aus verschiedenen Theoriennetzen nicht festhalten. Aber <strong>in</strong> wirtschaftswissenschaftlichen Argumentationskontexten<br />
wirken sich die pr<strong>in</strong>zipiellen Übersetzungsunbestimmtheiten nach E<strong>in</strong>schätzung<br />
des Verfassers – bis zum Beweis des Gegenteils – nicht so stark aus, dass sie alle Bemühungen<br />
um „näherungsweise“ bedeutungserhaltende Übersetzungsrelationen für Theoriereduktionen<br />
von vornhere<strong>in</strong> scheitern lassen würden.<br />
Immerh<strong>in</strong> existieren bereits e<strong>in</strong>ige wenige Ansätze, die Hoffnung schöpfen lassen: Sie zeigen für<br />
Spezialfälle auf, wie bedeutungserhaltende Übersetzungen – unter den zuvor geäußerten pr<strong>in</strong>zipiellen<br />
E<strong>in</strong>schränkungen – zwischen Theorien verwirklicht werden können. 4) Aber die ger<strong>in</strong>ge Anzahl<br />
von Arbeiten auf diesem Gebiet lässt erkennen, dass die gravierenden Schwierigkeiten, die durch<br />
bedeutungserhaltende Übersetzungen aufgeworfen werden, bei weitem noch nicht beherrscht werden.<br />
3.2.2 Exemplarische Anwendung des Fortschrittskonzepts<br />
auf die Theorie der Aktivitätsanalyse<br />
3.2.2.1 E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die erforderliche Theorie-Rekonstruktion<br />
Um die Vorgehensweise bei der Anwendung des strukturalistischen Fortschrittskonzepts <strong>und</strong> se<strong>in</strong><br />
Erkenntnispotenzial exemplarisch zu verdeutlichen, wird im Folgenden exemplarisch auf die ausschnittsweise<br />
Rekonstruktion e<strong>in</strong>es aktivitätsanalytischen Theoriennetzes e<strong>in</strong>gegangen. Für die<br />
Auswahl dieses Beispiels sprechen im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens stellt „die“ Theorie der<br />
Aktivitätsanalyse 5) e<strong>in</strong>e der „modernsten“ <strong>und</strong> <strong>in</strong>teressantesten F<strong>und</strong>amente der Produktionstheorie<br />
1) Ausführlicher wird das Verhältnis zwischen Theoriereduktionen <strong>und</strong> Übersetzungsrelationen behandelt bei<br />
PEARCE (1982), S. 311 ff.; STEGMÜLLER (1986), S. 299 ff.; BALZER/MOULINES/SNEED (1987), S. 309 ff.<br />
2) Vgl. STEGMÜLLER (1986), S. 129 f. u. 244; PEARCE (1987), S. 11, 55 ff., 64 ff. (<strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit S. 44), 110 ff. u.<br />
189.<br />
3) Vgl. zur These der Übersetzungsunbestimmtheit QUINE (2002), S. 56 f., 59 ff., 66 ff., 101 ff., 129 ff. u. 137 ff.<br />
(<strong>in</strong>sbesondere S. 61, 136, 138 u. 146 f.).<br />
4) Vgl. MANHART (1995), S. 273 ff.; SOWA (2000), S. 288 ff.<br />
5) WITTMANN (1979), S. 280 ff.; SHEPHARD/FÄRE (1980), S. 8 ff.; FÄRE (1988), S. 3 ff.; KISTNER (1993), S. 3 ff., 54<br />
ff. u. 238 ff.; DYCKHOFF (2003), S. 26 ff., 54 ff., 83 ff., 137 ff. u. 162 ff.<br />
242
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 41<br />
dar, weil sie es – im Gegensatz zu klassischen Produktionsfunktionen – gestattet, produktionswirtschaftliche<br />
Theorien über e<strong>in</strong>er präzisen, formalsprachlich explizierten <strong>und</strong> axiomatischen Basis zu<br />
errichten. Zweitens bildet die Aktivitätsanalyse e<strong>in</strong> viel versprechendes Untersuchungsobjekt für<br />
Studien über die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorieentwicklungen. Denn die Debatte über<br />
die „richtige“ Ausformulierung des Effizienzkriteriums der Aktivitätsanalyse hat seit Beg<strong>in</strong>n der<br />
neunziger Jahre zu verschiedenen, noch heute kontrovers diskutierten Fortentwicklungen aktivitätsanalytischer<br />
Theorien geführt.<br />
In der hier gebotenen Kürze können diese Fortentwicklungen aktivitätsanalytischer Theorien weder<br />
systematisch noch vollständig nachgezeichnet werden. Stattdessen wird nur e<strong>in</strong> Teil dieser Entwicklungen<br />
<strong>in</strong> der Form e<strong>in</strong>es (partiellen) Theoriennetzes mithilfe des strukturalistischen Theorienkonzepts<br />
rekonstruiert. Der Ausschnitt ist so bemessen, dass er ausreicht, um wesentliche Kriterien des<br />
strukturalistischen Fortschrittskonzepts für theoretischen Fort- <strong>und</strong> auch Rückschritt anhand konkreter<br />
Theorieübergänge zu veranschaulichen.<br />
E<strong>in</strong> zentrales Erkenntnis<strong>in</strong>strument der Aktivitätsanalyse stellt das Effizienzkriterium dar. Es bezieht<br />
sich auf Aktivitäten a e<strong>in</strong>es oder mehrerer Produzenten. Diese Produktions-Aktivitäten werden <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em N-dimensionalen Güterraum durch Vektoren a = (x 1 ,...,x N ) T mit entsprechenden Gütere<strong>in</strong>satzmengen<br />
x n < 0 <strong>und</strong> Güterausbr<strong>in</strong>gungsmengen x n > 0 dargestellt (jeweils für n ∈ {1,...,N}).<br />
Das Effizienzkriterium hilft, e<strong>in</strong>e große Anzahl technisch zulässiger Aktivitäten aus weiter führenden<br />
Untersuchungen auszuschließen, weil sie sich aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong> mengenmäßigen Betrachtung<br />
als ökonomisch un<strong>in</strong>teressant herausstellen. Für jede dieser „dom<strong>in</strong>ierten“ Aktivitäten a gilt, dass<br />
m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e andere, technisch ebenso zulässige Aktivität a* = (x 1 *,...,x N *) T mit x n * ≥ x n für alle<br />
n ∈ {1,...,N} <strong>und</strong> x n * > x n für m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> n ∈ {1,...,N} existiert, d.h., dass die Aktivität a* m<strong>in</strong>destens<br />
die gleichen Güterausbr<strong>in</strong>gungsmengen mit höchstens den gleichen Gütere<strong>in</strong>satzmengen zu<br />
realisieren vermag <strong>und</strong> von m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er Güterart e<strong>in</strong>e echt größere Ausbr<strong>in</strong>gungsmenge hervorbr<strong>in</strong>gt<br />
oder von m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er Güterart e<strong>in</strong>e echt kle<strong>in</strong>ere E<strong>in</strong>satzmenge verzehrt. Es ersche<strong>in</strong>t<br />
zw<strong>in</strong>gend rational, alle derart dom<strong>in</strong>ierten (<strong>in</strong>effizienten) Aktivitäten a nicht weiter zu würdigen<br />
<strong>und</strong> sich stattdessen nur noch auf die Restmenge aller nicht-dom<strong>in</strong>ierten Aktivitäten zu konzentrieren.<br />
Diese werden auch als effiziente Aktivitäten bezeichnet.<br />
Mit Hilfe des Effizienzkriteriums gel<strong>in</strong>gt es nicht nur, die Menge der ökonomisch <strong>in</strong>teressanten<br />
Produktions-Aktivitäten drastisch zu reduzieren. Vielmehr bestätigt es auch das klassische Dogma<br />
der Produktionstheorie, dass gehaltreiche produktionstheoretische Aussagen ohne jeglichen Wertbezug<br />
ausschließlich auf der Basis von Mengengrößen getroffen werden können. Erst für die Aggregation<br />
von oder die Auswahl zwischen mehreren effizienten Aktivitäten werden – jenseits der<br />
klassischen Produktionstheorie – Wertgrößen erforderlich, die der Kostenwerttheorie entnommen<br />
oder <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er komb<strong>in</strong>ierten Produktions- <strong>und</strong> Kostentheorie betrachtet werden.<br />
Angesichts der <strong>in</strong>tuitiv leichten Verständlichkeit <strong>und</strong> zugleich formalen Präzision des Effizienzkriteriums<br />
überraschte es umso mehr, als die formalsprachliche Behandlung von ökologischen Problemstellungen<br />
mit Mitteln der Aktivitätsanalyse zu der verblüffenden E<strong>in</strong>sicht führte, dass besonders<br />
stark Umwelt verschmutzende Produktionsanlagen im Vergleich mit ähnlichen, aber (relativ)<br />
umweltschonenden Anlagen als effizient e<strong>in</strong>gestuft werden müssen: Produzieren z.B. zwei Kraftwerke<br />
ceteris paribus die gleichen Leistungsmengen, wie etwa elektrischen Strom <strong>und</strong> Heizwärme,<br />
mit gleich hohen Faktore<strong>in</strong>satzmengen <strong>und</strong> unterscheiden sie sich lediglich dadurch, dass das erste<br />
Kraftwerk e<strong>in</strong>e größere Schadstoffmenge – wie etwa Diox<strong>in</strong> – als das zweite an se<strong>in</strong>e Umwelt abgibt,<br />
so wird das zweite vom ersten Kraftwerk gemäß dem o.a. Effizienzkriterium dom<strong>in</strong>iert. Falls<br />
alle weiteren Kraftwerke entweder für die Erzeugung von m<strong>in</strong>destens gleichen Leistungs- <strong>und</strong><br />
Schadstoffmengen von m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er Faktorart e<strong>in</strong>e größere E<strong>in</strong>satzmenge aufwenden müssen<br />
oder bei höchstens gleichen Faktore<strong>in</strong>satzmengen von m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er Leistungs- oder Schadstoffart<br />
e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>ere Ausbr<strong>in</strong>gungsmenge hervorbr<strong>in</strong>gen, gilt das erste Kraftwerk sogar per def<strong>in</strong>itionem<br />
als e<strong>in</strong>e „effiziente“ Produktionsanlage.<br />
243
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 42<br />
Sachlich etwas verkürzt, aber prägnanter ausgesprochen bedeutet das zuvor skizzierte Phänomen:<br />
Kraftwerke verhalten sich bei sonst gleichen Faktore<strong>in</strong>satz- <strong>und</strong> Leistungsausbr<strong>in</strong>gungsmengen umso<br />
„effizienter“, je größere Schadstoffmengen sie an ihre Umwelt abgeben. Dieses Resultat widerspricht<br />
zwar völlig dem „ges<strong>und</strong>en Menschenverstand“. Aber es ergibt sich zwangsläufig aus der<br />
Anwendung des e<strong>in</strong>gangs vorgestellten, zunächst völlig e<strong>in</strong>leuchtend ersche<strong>in</strong>enden Effizienzkriteriums<br />
der Aktivitätsanalyse.<br />
Folglich besteht e<strong>in</strong>e tiefe Kluft zwischen der E<strong>in</strong>beziehung ökologischer Aspekte <strong>in</strong> die Produktionstheorie<br />
aus der Perspektive des ges<strong>und</strong>en Menschenverstands e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> dem etablierten axiomatischen<br />
F<strong>und</strong>ament der Produktionstheorie <strong>in</strong> Gestalt der Aktivitätsanalyse mit ihrem Effizienzkriterium<br />
andererseits. Diesen Bruch zu heilen stellte seit Beg<strong>in</strong>n der neunziger Jahre e<strong>in</strong>e wesentliche<br />
Herausforderung an die produktionswirtschaftliche Theoriebildung dar. Sie führte zu alternativen<br />
Ansätzen für e<strong>in</strong>e theoretische Fortentwicklung der Aktivitätsanalyse, die bis heute noch zu<br />
ke<strong>in</strong>em produktionstheoretischen Konsens geführt haben. Allen Ansätzen ist das Bemühen geme<strong>in</strong>sam,<br />
die formalsprachliche, axiomatisch f<strong>und</strong>ierte Formulierung der Theorie der Aktivitätsanalyse<br />
so zu überarbeiten, dass sie sich auch bei Berücksichtigung der oben skizzierten ökologischen Aspekte<br />
wieder mit den <strong>in</strong>tuitiven E<strong>in</strong>sichten des ges<strong>und</strong>en Menschenverstands vere<strong>in</strong>baren lässt. Diese<br />
Bemühungen stehen im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen zur Rekonstruktion der aktivitätsanalytischen<br />
Theorie aus strukturalistischer Perspektive.<br />
Es wird im Folgenden gezeigt werden, dass „marg<strong>in</strong>ale“ Reparaturen der Theorie der Aktivitätsanalyse<br />
nicht ausreichen, um ökologische Aspekte <strong>in</strong> das aktivitätsanalytische Effizienzkriterium erfolgreich<br />
zu <strong>in</strong>tegrieren. Stattdessen s<strong>in</strong>d gravierende E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> die formale Theoriestruktur, also<br />
<strong>in</strong> den Kern K T der aktivitätsanalytischen Theorie T, erforderlich, um Umweltschutzaspekte so zu<br />
repräsentieren, dass sie mit empirisch vorgef<strong>und</strong>enen Produktionsverhältnissen <strong>und</strong> dem ges<strong>und</strong>en<br />
Menschenverstand wieder übere<strong>in</strong>stimmen. Dies gilt zum<strong>in</strong>dest dann, wenn das Versagen des konventionellen<br />
Effizienzkriteriums der Aktivitätsanalyse <strong>und</strong> die Ausdifferenzierung des Güterbegriffs<br />
<strong>in</strong> die drei wertgeladenen Kategorien der erwünschten, der unerwünschten <strong>und</strong> der neutralen Güter<br />
<strong>in</strong> die Theorieformulierung e<strong>in</strong>bezogen werden sollen. Daher bedeuten die beiden vorgenannten<br />
Schwierigkeiten <strong>in</strong> der Tat „echte“ Herausforderungen an die produktionswirtschaftliche Theoriebildung:<br />
Sie lassen sich nicht mehr durch marg<strong>in</strong>ale Adjustierungen im Bereich <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen<br />
bewältigen, sondern erzw<strong>in</strong>gen tief schneidende E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> die formale Theoriestruktur.<br />
Folgende E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> den Kern K T der aktivitätsanalytischen Theorie T s<strong>in</strong>d erforderlich:<br />
Der term<strong>in</strong>ologische Apparat der Theorie T muss so erweitert werden, dass er e<strong>in</strong>e Differenzierung<br />
zwischen den präferenzabhängigen Kategorien der erwünschten, der unerwünschten <strong>und</strong><br />
der neutralen Güter erlaubt. Dies bedeutet e<strong>in</strong>e Modifizierung der Menge M p(T) der potenziellen<br />
Modelle der aktivitätsanalytischen Theorie T.<br />
Das konventionell formulierte Effizienzkriterium der Aktivitätsanalyse muss so erweitert werden,<br />
dass es zwischen den Fällen erwünschter, unerwünschter <strong>und</strong> neutraler Güter zu unterscheiden<br />
vermag. Da das Effizienzkriterium die Qualität e<strong>in</strong>er nomischen Hypothese besitzt,<br />
führt dies zu e<strong>in</strong>er Veränderung der Modellmenge M S(T) der aktivitätsanalytischen Theorie T.<br />
Bei e<strong>in</strong>er näheren Befassung mit aktivitätsanalytischen Theorieformulierungen zeigt sich jedoch,<br />
dass ihr Effizienzkriterium ke<strong>in</strong>e atomare gesetzesartige Aussage darstellt. Vielmehr handelt es sich<br />
um e<strong>in</strong> Kompositum aus e<strong>in</strong>er generellen nomischen Rationalitäts-Hypothese, e<strong>in</strong>er nomischen Effizienz-Hypothese<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er nomischen Präferenz-Hypothese. Zur Bewältigung der o.a. ökologischen<br />
Herausforderungen reicht es aus, „nur“ die nomische Präferenz-Hypothese durch <strong>in</strong>verse Präferenzen<br />
für die Kategorie unerwünschter Güter <strong>und</strong> „Nicht“-Präferenzen für die Kategorie neutraler<br />
Güter zu erweitern.<br />
244
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 43<br />
3.2.2.2 Strukturalistische Rekonstruktion der Theorie der Aktivitätsanalyse<br />
im Rahmen e<strong>in</strong>er Neuformulierung des aktivitätsanalytischen Effizienzkriteriums<br />
In der hier gebotenen Kürze ist es nicht möglich, die strukturalistische Formulierung aktivitätsanalytischer<br />
Theorien im Detail zu erläutern. Stattdessen wird e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache aktivitätsanalytische<br />
(Basis-) Theorie T 0 präsentiert, die an die früheren Erläuterungen zum strukturalistischen Theorienkonzept<br />
im Kapitel 3.1 unmittelbar anknüpft. Sie wird mit Hilfe e<strong>in</strong>es sortierten prädikatenlogischen<br />
Kalküls ausformuliert, weil sich auf diese Weise die nomischen Hypothesen der Aktivitätsanalyse<br />
<strong>in</strong> besonders klarer Form als allquantifizierte Subjugatformeln darstellen lassen.<br />
Unter den Randbed<strong>in</strong>gungen dieser Theorie T 0 werden die Axiome aufgeführt, die für aktivitätsanalytische<br />
Theorieformulierungen charakteristisch s<strong>in</strong>d. Die Axiome schränken den Bereich <strong>in</strong>tendierter<br />
Theorieanwendungen gr<strong>und</strong>sätzlich auf solche denkmöglichen Anwendungen e<strong>in</strong>, die allen axiomatisch<br />
vorausgesetzten Anforderungen gerecht werden. Die ersten sechs Axiome stellen Standardanforderungen<br />
der Aktivitätsanalyse dar. Die beiden letztgenannten Axiome wurden h<strong>in</strong>gegen<br />
ergänzt. Sie besitzen die Qualität von Plausibilitätsanforderungen, die sich aus der erweiterten Ausdrucksmächtigkeit<br />
der prädikatenlogischen Theorieformulierung ergeben. Anschließend wird skizziert,<br />
wie sich aus der Basistheorie T 0 durch sukzessive Transformationen e<strong>in</strong>e modifizierte Theorie<br />
T 6 gew<strong>in</strong>nen lässt, die den e<strong>in</strong>gangs diskutierten ökologischen Herausforderungen an die produktionswirtschaftliche<br />
Theoriebildung mittels e<strong>in</strong>er Neuformulierung des aktivitätsanalytischen Effizienzkriteriums<br />
– oder präziser: der zugehörigen nomischen Präferenz-Hypothese – gerecht wird.<br />
In diesem Kapitel werden zunächst nur diejenigen formalen Aspekte hervorgehoben, die beim<br />
Übergang zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Stufen der Theorieentwicklung jeweils e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle<br />
spielen. Erst im nächsten Kapitel werden diese Theorieübergänge materiell <strong>in</strong>terpretiert <strong>und</strong> h<strong>in</strong>sichtlich<br />
ihrer theoretischen Fort- oder Rückschrittlichkeit näher erläutert. Der Leser, der an re<strong>in</strong><br />
formalsprachlichen Theorieformulierungen weniger <strong>in</strong>teressiert ist, kann daher direkt zum nächsten<br />
Kapitel überwechseln.<br />
Aktivitätsanalytische Theorie T 0 :<br />
a) Term<strong>in</strong>ologischer Apparat (potenzielle Modellmenge):<br />
aa) Relevante Objektklassen (Sorten):<br />
sorts:<br />
gütermenge_1<br />
• • •<br />
gütermenge_N<br />
aktivität<br />
artefakt<br />
produzent<br />
ab)<br />
Objektzusammensetzungen <strong>und</strong> Objektbeziehungen<br />
(Funktionssymbole):<br />
funs: akt: gütermenge_1 ... gütermenge_N → aktivität<br />
prod: gütermenge_1 ... gütermenge_N → artefakt<br />
245
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 44<br />
ac) Urteile über Objekte (Prädikatssymbole):<br />
Präs: EFF: aktivität produzent<br />
PRÄF: aktivität produzent aktivität<br />
RAND: aktivität<br />
RAT: aktivität produzent<br />
REAL: aktivität produzent<br />
TECH: aktivität<br />
TECH_BEK: aktivität produzent<br />
ad)<br />
Def<strong>in</strong>itorische Beziehungen für Urteile,<br />
Objektzusammensetzungen <strong>und</strong> Objektbeziehungen:<br />
equs: ∀x 1 ... ∀x N ∀x N+1 : ...<br />
( x 1 ∈TERM gütermenge_1 ∧ ... ∧ x N ∈TERM gütermenge_N ∧ x N+1 ∈TERM aktivität<br />
∧ akt(x 1 ,...,x N ) = x N+1 )<br />
→ x N+1 = (x 1 ,...,x N )<br />
∀a ∀p: EFF(a,p) ...<br />
↔ (TECH_BEK(a,p) ∧ ( ¬(∃a*: TECH_BEK(a*,p) ∧ PRÄF(a*,p,a) )))<br />
∀a ∀x 1 ... ∀x N : a = akt(x 1 ,...,x N ) → ...<br />
( RAND(a)<br />
↔ (( TECH(a) → (∀ε∈R + ∃a* ∃x 1 * ... ∃x N *: a* = akt(x 1 *,...,x N *)<br />
∧ (∀n∈{1,...,N}: x n -ε ≤ x n ≤ x n +ε) ∧ ¬TECH(a*) ))<br />
∧ ( ¬TECH(a) → (∀ε∈R + ∃a* ∃x 1 * ... ∃x N *: a* = akt(x 1 *,...,x N *)<br />
∧ (∀n∈{1,...,N}: x n -ε ≤ x n ≤ x n +ε) ∧ TECH(a*) ))))<br />
b) Wesentliche gesetzesartige Aussagen (Modellmenge):<br />
ba)<br />
Nomische Rationalitäts-Hypothese:<br />
GES_RAT :⇔ ∀a ... ∀p: REAL(a,p) → RAT(a,p)<br />
bb)<br />
Nomische Effizienz-Hypothese (i.e.S.):<br />
GES_EFF :⇔ ∀a ... ∀p: RAT(a,p) → EFF(a,p)<br />
246
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 45<br />
bc)<br />
Nomische Präferenz-Hypothese:<br />
GES_PRÄ :⇔ ...<br />
∀a 1 ∀p ∀a 2 ∀x 1.1 ... ∀x 1.N ∀x 2.1 ... ∀x 2.N : ...<br />
( a 1 = akt(x 1.1 ,...,x 1.N ) ∧ a 2 = akt(x 2.1 ,...,x 2.N ) )<br />
→ ( PRÄF(a 1 ,p,a 2 ) ↔ (∀n∈{1,...,N}: x 1.n ≥ x 2.n ∧ ∃n∈{1,...,N}: x 1.n > x 2.n ))<br />
bd)<br />
Nomische Produktionsmöglichkeiten-Hypothese:<br />
GES_PRO :⇔ ...<br />
∀a ∀x 1 ... ∀x N : (TECH(a) ∧ a = akt(x 1 ,...,x N )) → prod(x 1 ,...,x N ) = 0<br />
c) Anwendungsbed<strong>in</strong>gungen (<strong>in</strong>tendierter Anwendungsbereich):<br />
ca)<br />
caa)<br />
DBs:<br />
Interpretationsbed<strong>in</strong>gungen<br />
für die formalen Konstrukte aus dem term<strong>in</strong>ologischen Apparat:<br />
Def<strong>in</strong>itionsbereiche der Sorten:<br />
DB gütermenge_1 = R<br />
• • •<br />
DB gütermenge_N = R<br />
DB aktivität<br />
= R N<br />
DB artefakt = {0}<br />
DB produzent = {P 1 ,...,P Q }<br />
Korrespondenzregeln:<br />
• Jeder positive Term der Sorte „gütermenge_n“ mit n∈{1,...,N}<br />
repräsentiert die Netto-Ausbr<strong>in</strong>gungsmenge (den Output) des Guts „n“.<br />
• Jeder negative Term der Sorte „gütermenge_n“ mit n∈{1,...,N}<br />
repräsentiert die Netto-E<strong>in</strong>satzmenge (den Input) des Guts „n“.<br />
• Der Term „0“ der Sorte „gütermenge_n“ mit n∈{1,...,N} drückt entweder aus, dass das<br />
Gut „n“ weder e<strong>in</strong>gesetzt noch ausgebracht wird. Oder er stellt <strong>in</strong> Netto-Notationsweise dar,<br />
dass vom Gut „n“ dieselben Mengen sowohl e<strong>in</strong>gesetzt als auch ausgebracht werden.<br />
cab)<br />
Abbildungsvorschriften der Funktionen,<br />
die aus den Funktionssymbolen hervorgehen:<br />
funs: akt: DB gütermenge_1 x ... x DB gütermenge_N → DB aktivität<br />
(x 1 ,...x N ) → akt(x 1 ,...x N ) = x = (x 1 ,...x N ) T<br />
prod: DB gütermenge_1 x ... x DB gütermenge_N → DB artefakt<br />
(x 1 ,...x N ) → prod(x 1 ,...x N ) = 0<br />
247
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 46<br />
Anmerkung: Für den schematischen Ausdruck prod(x 1 ,...x N ) muss <strong>in</strong> jeder konkreten Theorieanwendung<br />
die Abbildungsvorschrift für den Funktor „prod“ der impliziten Produktionsfunktion<br />
ergänzt werden, die hier noch nicht spezifiziert ist. Daher wird durch die hier<br />
vorgelegte Theorierekonstruktion streng genommen noch ke<strong>in</strong>e strukturalistische Theorie<br />
der Aktivitätsanalyse festgelegt, sondern nur e<strong>in</strong> Theorieschema, das durch e<strong>in</strong>e beliebig –<br />
im Pr<strong>in</strong>zip unendlich – große Menge konkreter Theorien ausgefüllt werden kann. Diese<br />
Theorien unterscheiden sich durch jeweils verschiedene Abbildungsvorschriften für die<br />
implizite Produktionsfunktion.<br />
cac)<br />
Extensionen der atomaren Prädikate, die aus den Prädikatssymbolen hervorgehen:<br />
Präs: EXT PRÄF = M 1<br />
EXT RAT = M 2<br />
EXT REAL = M 3<br />
EXT TECH = M 4<br />
EXT TECH_BEK = M 5<br />
Anmerkungen:<br />
a) Die noch unspezifizierten Mengen M 1 bis M 5 für die Prädikatsextensionen müssen <strong>in</strong><br />
jeder konkreten Theorieanwendung ergänzt werden. Daher wird durch die hier vorgelegte<br />
Darstellung abermals streng genommen noch ke<strong>in</strong>e strukturalistische Theorie spezifiziert,<br />
sondern nur e<strong>in</strong> Theorieschema, das durch e<strong>in</strong>e beliebig – im Pr<strong>in</strong>zip unendlich – große<br />
Menge konkreter Theorien ausgefüllt werden kann.<br />
b) Die Prädikatsextensionen EXT EFF <strong>und</strong> EXT RAND brauchen dagegen nicht ergänzt zu werden,<br />
weil sie durch die Abbildungsvorschrift der Produktionsfunktion <strong>und</strong> durch die übrigen<br />
Prädikatsextensionen über def<strong>in</strong>itorische Beziehungen vollständig determ<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d.<br />
cb)<br />
Randbed<strong>in</strong>gungen (Axiome):<br />
cba)<br />
Technische Möglichkeit der Null-Aktivität (Möglichkeit des Produktionsstillstands):<br />
RB NA :⇔ TECH(akt(0 1 ,...,0 N ))<br />
cbb)<br />
Technische Möglichkeit von Aktivitäten, <strong>in</strong> denen E<strong>in</strong>satzgüter verschwendet<br />
oder Ausbr<strong>in</strong>gungsgüter vernichtet werden:<br />
RB VV :⇔ ∀x 1.1 ... ∀x 1.N ∀x 2.1 ... ∀x 2.N : ...<br />
(TECH(akt(x 1.1 ,...,x 1.N )) ∧ ( ∀n∈{1,...,N}: x 2.n ≤ x 1.n ))<br />
→ TECH(akt(x 2.1 ,...,x 2.N ))<br />
cbc)<br />
Existenz m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er technisch möglichen Aktivität,<br />
<strong>in</strong> der m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Gut ausgebracht wird:<br />
RB AA :⇔ ∃x 1 ... ∃x N : TECH(akt(x 1 ,...,x N )) ∧ (∃n∈{1,...,N}: x n > 0)<br />
248
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 47<br />
cbd)<br />
Technische Unmöglichkeit von reversiblen Aktivitäten:<br />
RB UR :⇔ ∀x 1 ... ∀x N : ...<br />
(TECH(akt(x 1 ,...,x N )) ∧ (x 1 ,...,x N ) ≠ (0 1 ,...,0 N ) ))<br />
→ (¬TECH(akt(-x 1 ,...,-x N )))<br />
cbe)<br />
Technische Unmöglichkeit des „Schlaraffenlandes“:<br />
RB US :⇔ ∀x 1 ... ∀x N : ((x 1 ,...,x N ) ≠ (0 1 ,...,0 N ) ∧ ( ∀n∈{1,...,N}: x k ≥ 0 ))<br />
→ (¬TECH(akt(x 1 ,...,x N )))<br />
cbf)<br />
Abgeschlossenheit der Menge aller technisch möglichen Aktivitäten:<br />
RB AB :⇔ ∀x 1 ... ∀x N : RAND(akt(x 1 ,...,x N )) → TECH(akt(x 1 ,...,x N ))<br />
cbg)<br />
Irrtumsfreiheit des <strong>in</strong>dividuellen Produzenten-Wissens<br />
über technisch mögliche Aktivitäten:<br />
RB IR :⇔ ∀a ∀p: TECH_BEK(a,p) → TECH(a)<br />
cbh)<br />
Realitätskonformität des allgeme<strong>in</strong> verfügbaren Wissens<br />
über technisch mögliche Aktivitäten:<br />
RB RK :⇔ ∀a ∀p: REAL(a,p) → TECH(a)<br />
Erläuterung der nicht logisch-mathematischen Symbolbedeutungen:<br />
aktivität<br />
akt<br />
artefakt<br />
DB<br />
DBs<br />
EFF<br />
EXT<br />
funs<br />
funs<br />
GES_EFF<br />
GES_PRÄ<br />
GES_PRO<br />
GES_RAT<br />
gütermenge_n<br />
n<br />
P<br />
PRÄF<br />
Präs<br />
Präs<br />
Sorte für Aktivitäten<br />
aktivitätsgenerierende Funktion<br />
Sorte für den Funktionswert „0“ e<strong>in</strong>er implizit notierten Produktionsfunktion<br />
Def<strong>in</strong>itionsbereich<br />
Sektion für Def<strong>in</strong>itionsbereiche<br />
Effizienz e<strong>in</strong>er Aktivität bezüglich des Wissens e<strong>in</strong>es Produzenten<br />
über ihm bekannte technisch mögliche Aktivitäten<br />
Extension e<strong>in</strong>es atomaren Prädikats<br />
Sektion für Funktionssymbole<br />
Sektion für Funktionskonstanten (kurz: Funktionen) mit Abbildungsvorschriften<br />
nomische Effizienz-Hypothese (i.e.S.)<br />
nomische Präferenz-Hypothese<br />
nomische Produktionsmöglichkeiten-Hypothese<br />
nomische Rationalitäts-Hypothese<br />
Sorte für die Mengen e<strong>in</strong>es Guts „n“<br />
Index für Güter mit n ∈{1,...,N}<br />
Produzent<br />
Präferenz e<strong>in</strong>es Produzenten für e<strong>in</strong>e von zwei mite<strong>in</strong>ander verglichenen Aktivitäten<br />
Sektion für Prädikatssymbole<br />
Sektion für Prädikatskonstanten (kurz: Prädikate) mit Extensionen<br />
249
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 48<br />
prod<br />
Produktionsfunktion<br />
produzent Sorte für Produzenten<br />
q<br />
Index für Produzenten mit q ∈{1,...,Q}<br />
RAND<br />
e<strong>in</strong>e Aktivität gehört zum Rand der Menge aller technisch möglichen Aktivitäten<br />
RAT<br />
Rationalität der Entscheidung e<strong>in</strong>es Produzenten zugunsten e<strong>in</strong>er Aktivität<br />
RB AA<br />
Randbed<strong>in</strong>gung für die Existenz m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>er technisch möglichen Aktivität,<br />
<strong>in</strong> der m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Gut ausgebracht wird<br />
RB AB<br />
Randbed<strong>in</strong>gung für die Abgeschlossenheit der Menge aller technisch möglichen Aktivitäten<br />
RB IF<br />
Randbed<strong>in</strong>gung für die Irrtumsfreiheit des <strong>in</strong>dividuellen Produzenten-Wissens<br />
über technisch mögliche Aktivitäten<br />
RB NA<br />
Randbed<strong>in</strong>gung für die technische Möglichkeit der Null-Aktivität<br />
RB RK<br />
Randbed<strong>in</strong>gung für die Realitätskonformität des allgeme<strong>in</strong> verfügbaren Wissens<br />
über technisch mögliche Aktivitäten<br />
RB UR<br />
Randbed<strong>in</strong>gung für die technische Unmöglichkeit von reversiblen Aktivitäten<br />
RB US<br />
Randbed<strong>in</strong>gung für die technische Unmöglichkeit des „Schlaraffenlandes“<br />
RB VV<br />
Randbed<strong>in</strong>gung für die technische Möglichkeit von Aktivitäten,<br />
<strong>in</strong> denen E<strong>in</strong>satzgüter verschwendet oder Ausbr<strong>in</strong>gungsgüter vernichtet werden<br />
REAL<br />
von e<strong>in</strong>em Produzenten realisierte (<strong>und</strong> empirisch beobachtete) Aktivität<br />
sorts<br />
Sektion für Sorten<br />
TECH<br />
technisch mögliche (<strong>und</strong> empirisch beobachtbare) Aktivität<br />
TECH_BEK technisch mögliche (<strong>und</strong> empirisch beobachtbare) Aktivität, die e<strong>in</strong>em Produzenten bekannt ist<br />
TERM<br />
Termmenge<br />
(x 1 ,...,x N ) Produktionsverhältnisse mit den Mengen x n der Güter „n“ mit n ∈{1,...,N}<br />
zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung<br />
für den Übergang zur Theorie T 1 :<br />
∀a ∀p ∀x 1 ... ∀x N : (REAL(a,p) ∧ a = akt(x 1 ,...,x N ))<br />
→ (TECH_BEK(a,p) ∧<br />
(∀a* ∀x 1 * ... ∀x N *: (TECH_BEK(a*,p) ∧ a* = akt(x 1 *,...,x N *) )<br />
→ ((∃n∈{1,...,N}: x n * < x n ) ∨ ( ∀n∈{1,...,N}: x n * ≤ x n ) )))<br />
Übersetzungsrelation<br />
für den Übergang zur Theorie T 2 :<br />
Die Übersetzungsrelation tr zwischen potenziellen Modellen m p(T1 ) der Theorie T 1 <strong>und</strong> potenziellen<br />
Modellen m p(T2 ) der Theorie T 2 wird mittels e<strong>in</strong>er Schar von N umkehrbar e<strong>in</strong>deutigen Übersetzungsfunktionen<br />
üf n mit n∈{1,...,N} <strong>und</strong> mithilfe von N neuen Gütersorten good_n mit DB good_n = R<br />
<strong>und</strong> n∈{1,...,N} für die Mengen von erwünschten Gütern wie folgt def<strong>in</strong>iert:<br />
250
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 49<br />
üf n : gütermenge_n → good_n<br />
üf n : DB gütermenge_n → DB good_n<br />
x n → üf n (x n ) = x n<br />
üf -1 n : good_n → gütermenge_n<br />
üf -1 n : DB good_n → DB gütermenge_n<br />
x n → üf -1 n (x n ) = x n<br />
Sorten für erwünschte <strong>und</strong> neutrale Güter<br />
für den Übergang zur Theorie T 3 :<br />
Analog zu den Gütersorten good_n mit DB good_n = R <strong>und</strong> n∈{1,...,N} für die Mengen von erwünschten<br />
Gütern werden M neue Gütersorten bad_m mit DB bad_m = R <strong>und</strong> m∈{1,...,M} für die<br />
Mengen von unerwünschten Gütern sowie K neue Gütersorten neut_k mit DB neut_k = R <strong>und</strong><br />
k∈{1,...,K} für die Mengen von neutralen Gütern e<strong>in</strong>geführt. Des Weiteren werden sortenspezifische<br />
Variablen x i.n , y i.m <strong>und</strong> z i.k für Gütermengen aus Aktivitäten a i e<strong>in</strong>geführt, die jeweils nur<br />
durch Mengen von erwünschten, von unerwünschten bzw. von neutralen Gütern ersetzt werden<br />
können.<br />
Nomische Präferenz-Hypothese<br />
für den Übergang zur Theorie T 4 :<br />
Mit den formalsprachlichen Ausdrucksmitteln der Theorie T 3 lässt sich der Übergang zu e<strong>in</strong>er aktivitätsanalytischen<br />
Theorie T 4 vollziehen, deren nomische Präferenz-Hypothese die wesentliche<br />
Fallunterscheidung zwischen den schwachen ord<strong>in</strong>alen Präferenzen für erwünschte Gütermengen<br />
e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> für unerwünschte Gütermengen andererseits aufweist. Die dritte Kategorie der neutralen<br />
Güter manifestiert sich nur mittelbar <strong>in</strong> der Gestalt e<strong>in</strong>er „Nicht“-Präferenz, d.h., die Mengen<br />
neutraler Güter bee<strong>in</strong>flussen die Produzentenpräferenzen h<strong>in</strong>sichtlich zweier mite<strong>in</strong>ander verglichener<br />
Produktions-Aktivitäten a 1 <strong>und</strong> a 2 <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise:<br />
∀a 1 ∀p ∀a 2 ∀x 1.1 ... ∀x 1.N ∀y 1.1 ... ∀y 1.M ∀z 1.1 ... ∀z 1.K<br />
∀x 2.1 ... ∀x 2.N ∀y 2.1 ... ∀y 2.M ∀z 2.1 ... ∀z 2.K : ...<br />
( a 1 = akt(x 1.1 ,...,x 1.N ;y 1.1 ,...,y 1.M ;z 1.1 ,...,z 1.K )<br />
∧ a 2 = akt(x 2.1 ,...,x 2.N ;y 2.1 ,...,y 2.M ;z 2.1 ,...,z 2.K ))<br />
→ ( PRÄF(a 1 ,p,a 2 ) ↔ ...<br />
( (∀n∈{1,...,N}: x 1.n ≥ x 2.n ) ∧ (∀m∈{1,...,M}: y 1.m ≤ y 2.m )<br />
∧ ((∃n∈{1,...,N}: x 1.n > x 2.n ) ∨ ( ∃m∈{1,...,M}: y 1.m < y 2.m ))))<br />
251
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 50<br />
Übergänge zu den Theorien T 5 <strong>und</strong> T 6 :<br />
Die Elim<strong>in</strong>ierung der zusätzlichen Randbed<strong>in</strong>gung, die oben für den Übergang von der Theorie T 0<br />
zur Theorie T 1 e<strong>in</strong>geführt worden war, wird jetzt beim Übergang von der Theorie T 4 zur Theorie T 5<br />
zurückgenommen. Für den Übergang von der Theorie T 5 zur Theorie T 6 s<strong>in</strong>d schließlich die Produktionsfunktion<br />
<strong>und</strong> alle <strong>in</strong> der Theorie T 0 bereits aufgeführten Randbed<strong>in</strong>gungen zu prüfen, <strong>in</strong>wiefern<br />
sie an die Existenz unerwünschter <strong>und</strong> neutraler Güter anzupassen s<strong>in</strong>d.<br />
3.2.2.3 Beurteilung der Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorieübergängen<br />
Zwischen der Theorie T 0 , die e<strong>in</strong>e „konventionelle“ aktivitätsanalytische Theorie darstellt, <strong>und</strong> der<br />
Theorie T 6 , die aus der Theorie T 0 als Reaktion auf die e<strong>in</strong>gangs diskutierten ökologischen Herausforderungen<br />
mittels Neuformulierung des aktivitätsanalytischen Effizienzkriteriums hervorgegangen<br />
ist, klafft zunächst – bei oberflächlicher Betrachtung – e<strong>in</strong> unüberw<strong>in</strong>dbar ersche<strong>in</strong>ender Abgr<strong>und</strong><br />
der Inkommensurabilität. Denn beide Theorien s<strong>in</strong>d mit unterschiedlichen term<strong>in</strong>ologischen<br />
Apparaten formuliert: Die Theorie T 0 kennt nur <strong>und</strong>ifferenzierte Gütermengen, während die Theorie<br />
T 6 e<strong>in</strong>e kategoriale Unterscheidung zwischen den Mengen der erwünschten, der unerwünschten <strong>und</strong><br />
der neutralen Güter voraussetzt. Infolge dieser gr<strong>und</strong>sätzlichen Verschiedenartigkeit, die <strong>in</strong> den<br />
term<strong>in</strong>ologischen Apparaten der beiden Theorien verankert ist, lassen sie sich nicht unmittelbar<br />
mite<strong>in</strong>ander vergleichen.<br />
Das strukturalistische Theorienkonzept zeigt jedoch e<strong>in</strong>en Weg auf, wie sich mittels schrittweiser<br />
formalsprachlicher Rekonstruktion des Übergangs von Theorie T 0 zu Theorie T 6 die sche<strong>in</strong>bare Inkommensurabilität<br />
beider Theorien überw<strong>in</strong>den lässt. Die hierfür erforderlichen Transformationsschritte<br />
wurden im voranstehenden Kapitel so weit skizziert, wie sie wesentliche Modifizierungen<br />
der formalsprachlichen Theorieformulierung betrafen.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus besitzt der „non statement view“ den Vorzug, die formalsprachlich rekonstruierten<br />
Übergänge zwischen zwei aufe<strong>in</strong>ander folgenden Theorien h<strong>in</strong>sichtlich ihrer epistemischen Qualität<br />
beurteilen zu können. Denn das strukturalistische Theorienkonzept stellt operational formulierte<br />
Kriterien zur Verfügung, mit deren Hilfe sich die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorieentwicklungen<br />
messen lässt. Diese Kriterien wurden bereits <strong>in</strong> früheren Kapiteln anhand der strukturalistischen<br />
Fort- bzw. Rückschrittsrelationen ausführlich vorgestellt. Sie gelangen nun zur Anwendung,<br />
um die Transformationsschritte zwischen jeweils zwei aufe<strong>in</strong>ander folgenden Theorien, die<br />
im voranstehenden Kapitel zwecks Neuformulierung des aktivitätsanalytischen Effizienzkriteriums<br />
skizziert wurden, h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Auswirkungen auf die Fort- oder Rückschrittlichkeit des Theorienübergangs<br />
zu beurteilen. Abb. 5 gewährt e<strong>in</strong>en Überblick über die Beurteilungsresultate, die im<br />
Folgenden näher erläutert werden.<br />
Die Transformationswirkungen, die <strong>in</strong> Abb. 5 fett hervorgehoben s<strong>in</strong>d, stellen diejenigen Auswirkungen<br />
auf die Fort- oder Rückschrittlichkeit der Theorienübergänge dar, die nach <strong>in</strong>tuitiver E<strong>in</strong>schätzung<br />
des Verfassers für die Entwicklung der Theorie der Aktivitätsanalyse am „wichtigsten“<br />
s<strong>in</strong>d. Die übrigen Transformationswirkungen geben dagegen lediglich untergeordnete Effekte wieder.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs gestattet die ord<strong>in</strong>ale Skala, auf der die relativen Urteile über die Fort- oder Rückschrittlichkeit<br />
von Theorienübergängen „gemessen“ werden, streng genommen ke<strong>in</strong>en Vergleich<br />
der relativen Ausmaße von verschiedenartigen Transformationswirkungen. Daher können die hier<br />
angesprochenen E<strong>in</strong>schätzungen des Verfassers nicht str<strong>in</strong>gent gerechtfertigt werden. Sie können<br />
allenfalls auf e<strong>in</strong>e ähnlich gerichtete Intuition der Rezipienten setzen.<br />
252
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 51<br />
Schritte der Theorietransformation<br />
bei Erweiterung des Effizienzkriteriums<br />
a)<br />
Zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung:<br />
• E<strong>in</strong>schränkung des <strong>in</strong>tendierten<br />
Anwendungsbereichs der Theorie<br />
• Erhöhung der Theoriebewährung<br />
b)<br />
Übersetzungsrelation für<br />
Mengen erwünschter Güter<br />
c) E<strong>in</strong>führung unerwünschter/neutraler Güter:<br />
• Erweiterung des term<strong>in</strong>ologischen Apparats<br />
• Erweiterung des <strong>in</strong>tendierten Anw.bereichs<br />
d)<br />
Gesetzesspezialisierung durch Erweiterung<br />
der nomischen Präferenz-Hypothese<br />
e) Elim<strong>in</strong>ieren der Randbed<strong>in</strong>gung aus a):<br />
• Erweiterung des <strong>in</strong>tendierten Anw.bereichs<br />
• Erhöhung der Theorieevidenz<br />
f)<br />
Veränderung des <strong>in</strong>tend. Anwendungsbereichs<br />
durch Produktionsfunkt. <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen<br />
auch für unerwünschte <strong>und</strong> neutrale Güter<br />
Transformationswirkung<br />
"+": Fortschritt "-": Rückschritt<br />
"0”: weder Fort- noch Rückschritt (Indifferenz)<br />
-<br />
+<br />
Zunahme der Theoriebewährung<br />
durch Ausschluss widerlegter<br />
Theorieanwendungen<br />
o<br />
o o<br />
+<br />
Konstanz der Theoriepräzision<br />
Vergrößerung der Anwendungsbreite<br />
+<br />
Zunahme der Theoriepräzision<br />
+<br />
+<br />
Zunahme der Theoriebewährung<br />
durch E<strong>in</strong>schluss bestätigter<br />
Theorieanwendungen<br />
+/-<br />
Abb. 5: Beurteilung der Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorietransformationen<br />
aus Anlass der Neuformulierung des aktivitätsanalytischen Effizienzkriteriums<br />
253
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 52<br />
Beim Übergang von der Theorie T 0 zur Theorie T 1 wird der Bereich <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen<br />
durch e<strong>in</strong>e zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung vorübergehend e<strong>in</strong>geschränkt [Schritt a) <strong>in</strong> Abb. 5]. Diese<br />
Randbed<strong>in</strong>gung erfüllt den Zweck, zunächst alle „pathologischen“ Theorieanwendungen als<br />
nicht-<strong>in</strong>tendierte Anwendungen auszugrenzen. Es handelt sich um denkmögliche Anwendungen der<br />
Theorie T 0 , die zwar alle Interpretations- <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen der Theorie T 0 erfüllen, jedoch aufgr<strong>und</strong><br />
der Relevanz von Umweltschutzaspekten zu e<strong>in</strong>er Verletzung des aktivitätsanalytischen Effizienzkriteriums<br />
– oder präziser: der nomischen Präferenz-Hypothese – führen würden.<br />
Zur Erläuterung wird e<strong>in</strong>e exemplarische Theorieanwendung herausgegriffen, die zwei Aktivitäten<br />
a <strong>und</strong> a* umfasst. Der E<strong>in</strong>fachheit halber wird im Folgenden davon ausgegangen, dass sich die beiden<br />
Aktivitäten bis auf e<strong>in</strong>e ökologisch relevante Güterart n, die für x n > 0 bzw. x n * > 0 e<strong>in</strong>e emittierte<br />
Schadstoffart (oder für x n < 0 bzw. x n * < 0 e<strong>in</strong>e beseitigte Müllart) darstellt, nicht unterscheiden.<br />
Beide Aktivitäten s<strong>in</strong>d dem betrachteten Produzenten als technisch realisierbar bekannt.<br />
Tatsächlich hat der Produzent die Aktivität a realisiert, weil er weiß, dass seitens der Aktivität a*<br />
e<strong>in</strong>e größere Schadstoffmenge emittiert (e<strong>in</strong>e dem Betrage nach kle<strong>in</strong>ere Müllmenge e<strong>in</strong>gesetzt)<br />
würde als bei der Aktivität a. Diese Realisierungsentscheidung entspricht zwar dem ges<strong>und</strong>en Menschenverstand,<br />
würde aber das konventionell formulierte Effizienzkriterium der Aktivitätsanalyse,<br />
das der Theorie T 0 zugr<strong>und</strong>e liegt, verletzen. Folglich führt die empirisch beobachtete Realisierung<br />
der Alternative a – solange sie wegen Erfüllung aller Interpretations- <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen zu den<br />
<strong>in</strong>tendierten Theorieanwendungen gehört – zur Widerlegung der Theorie T 0 .<br />
E<strong>in</strong> solcher pathologischer Fall, <strong>in</strong> dem realistische Produktionsentscheidungen aufgr<strong>und</strong> der Eigenarten<br />
von ökologisch unerwünschten Gütermengen zu formal korrekten, aber materiell <strong>in</strong>plausiblen<br />
Theoriewiderlegungen führen, wird durch die zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung der Theorie T 1 ausgeschlossen.<br />
Diese Randbed<strong>in</strong>gung stellt sicher, dass alle denkmöglichen Theorieanwendungen, die<br />
zwei Aktivitäten mit den zuvor geschilderten Eigenschaften umfassen, gr<strong>und</strong>sätzlich nicht zum Bereich<br />
<strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen gehören. Denn sie gestattet nicht, dass dem Produzenten,<br />
der e<strong>in</strong>e Aktivität a realisiert, e<strong>in</strong>e alternative Aktivität a* bekannt ist, die ceteris paribus zu e<strong>in</strong>er<br />
höheren Schadstoffemission (e<strong>in</strong>em betragsmäßig ger<strong>in</strong>geren Mülle<strong>in</strong>satz) führen würde. Dies entspricht<br />
der Intuition des ges<strong>und</strong>en Menschenverstandes, ke<strong>in</strong>e Produktions-Aktivitäten mit unnötig<br />
hohem Schadstoffausstoß (dem Betrage nach unnötig ger<strong>in</strong>gem Mülle<strong>in</strong>satz) zu verwirklichen.<br />
Da die zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung die vorgenannten zwar denkmöglichen, aber pathologischen<br />
Theorieanwendungen aus dem Bereich I T1 <strong>in</strong>tendierter Anwendungen der Theorie T 1 ausschließt,<br />
s<strong>in</strong>kt die Theorieanwendungsbreite beim Übergang von Theorie T 0 zu Theorie T 1 auf I T1 mit<br />
I T1 ⊂ I T0 . Aus dieser Perspektive stellt sich e<strong>in</strong> Rückschritt <strong>in</strong> der Theorieentwicklung durch Reduzierung<br />
der Anwendungsbreite e<strong>in</strong>. Er entspricht der negativen Heuristik von LAKATOS. Sie empfiehlt,<br />
im Falle e<strong>in</strong>er „unbequemen“ empirischen Datenlage – hier konkretisiert durch die o.a. pathologischen<br />
Fälle – e<strong>in</strong>e Theorie dadurch zu retten, dass ihre Hülle <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen<br />
„abgeschmolzen“ wird.<br />
Zugleich tritt aber auch e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt e<strong>in</strong>, weil die Theoriebewährung re<strong>in</strong> rechnerisch<br />
zugenommen hat. Dieses Resultat mag auf den ersten Blick verblüffen, weil die zuvor skizzierten<br />
Pathologien eher gegen als für die empirische Evidenz e<strong>in</strong>er Theorie sprechen. Die Zunahme<br />
der Theoriebewährung beruht aber nicht auf diesen pathologischen Fällen selbst, sondern auf deren<br />
Ausschluss durch die zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung. Dieser Ausschluss führt dazu, dass – bei konstanter<br />
Menge von bestätigten Theorieanwendungen (B T1 = B T0 ) – die Menge W T1 der widerlegten Theorieanwendungen<br />
um die bereits beobachteten pathologischen Fälle schrumpft: W T1 ⊂ W T0 . Dadurch<br />
wird die Fortschrittsrelation FS eB h<strong>in</strong>sichtlich der zweiten Komponente aus dem Adjugat ihrer Spezifikation<br />
erfüllt. Also ist e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt durch Zunahme der Theoriebewährung e<strong>in</strong>getreten.<br />
254
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 53<br />
Der theoretische Fortschritt durch Zunahme der Theoriebewährung kann nicht mit dem zuvor dargelegten<br />
theoretischen Rückschritt durch Verr<strong>in</strong>gerung der Theorieanwendungsbreite „verrechnet“<br />
werden. Denn beide relativen Urteile s<strong>in</strong>d auf e<strong>in</strong>er ord<strong>in</strong>alen Skala gemessen, sodass über ihr Verhältnis<br />
zue<strong>in</strong>ander ke<strong>in</strong>e klare Aussage getroffen werden kann. Stattdessen werden hier „ansatzweise“<br />
– <strong>und</strong> messtheoretisch weiterh<strong>in</strong> unzulässige – Kompensationen von Fort- <strong>und</strong> Rückschritten bei<br />
der Theorieentwicklung nur dann im S<strong>in</strong>ne grober Tendenzaussagen zugelassen, wenn sich die relativen<br />
Urteile über die Fort- <strong>und</strong> Rückschrittlichkeit von Theorieübergängen jeweils auf dieselbe<br />
Fortschrittsdimension beziehen, also jeweils entweder nur auf die Theoriepräzision oder nur auf die<br />
Theorieanwendung oder nur auf die Theoriebewährung. Darauf wird später zurückgekommen.<br />
Der Übergang von der Theorie T 1 zur Theorie T 2 wird durch die E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>er formalen Übersetzungsrelation<br />
tr vollzogen [Schritt b) <strong>in</strong> Abb. 5]. Sie vermittelt zwischen der alten Theorie T 1 , <strong>in</strong><br />
der <strong>und</strong>ifferenzierte Gütermengen der Sorte gütermenge_n für jede Güterart n verwendet werden,<br />
<strong>und</strong> der neuen Theorie T 2 , <strong>in</strong> der nur noch die speziellen Mengen erwünschter Güter der Sorte<br />
good_n für jede Güterart n benutzt werden. Die Übersetzungsrelation leistet e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>-e<strong>in</strong>deutige Zuordnung<br />
zwischen allen Termen für Gütermengen <strong>in</strong> den beiden Theorien, sodass jede Theorie –<br />
e<strong>in</strong>schließlich ihrer nomischen Hypothesen – auf die jeweils andere reduziert werden kann. Beide<br />
Theorien erweisen sich daher trotz ihrer unterschiedlichen formalsprachlichen Konstrukte als äquivalent.<br />
Aufgr<strong>und</strong> dieser Äquivalenzbeziehung hat dieser Transformationsschritt weder zu e<strong>in</strong>em<br />
Fort- noch zu e<strong>in</strong>em Rückschritt der Theorieentwicklung geführt.<br />
Aus der Theorie T 2 geht Theorie T 3 hervor, <strong>in</strong>dem die Sorten bad_m <strong>und</strong> neut_k für die Mengen der<br />
beiden Kategorien der unerwünschten bzw. neutralen Güter e<strong>in</strong>geführt werden [Schritt c) <strong>in</strong> Abb.<br />
5]. Es handelt sich um e<strong>in</strong>e Erweiterung des term<strong>in</strong>ologischen Apparats der Theorie T 2 , da die Theorie<br />
T 3 über die zwei neuartigen formalsprachlichen Konstrukte der Sorten bad_m <strong>und</strong> neut_k (sowie<br />
aller davon abhängigen Konstrukte) verfügt. Diese term<strong>in</strong>ologische Erweiterung lässt die Menge<br />
D T3 der denkmöglichen Theorieanwendungen <strong>in</strong> Theorie T 3 gegenüber Theorie T 2 stark ansteigen.<br />
Denn zu jeder denkmöglichen Anwendung von Theorie T 2 lässt sich e<strong>in</strong>e im Pr<strong>in</strong>zip beliebig<br />
große Anzahl zusätzlicher denkmöglicher Anwendungen der Theorie T 3 gew<strong>in</strong>nen, die sich von den<br />
erstgenannten Theorieanwendungen nur durch zusätzliche unerwünschte oder neutrale Gütermengen<br />
unterscheiden. In dem gleichen Ausmaß wächst auch die Menge Z T3 der zulässigen Anwendungen<br />
der Theorie T 3 , weil sich die gesetzesartigen Aussagen (nomischen Hypothesen) <strong>in</strong> der Theorie<br />
T 3 weiterh<strong>in</strong> nur auf erwünschte Gütermengen beziehen. Die gesetzesartigen Aussagen können also<br />
ke<strong>in</strong>e der neu h<strong>in</strong>zugekommenen denkmöglichen Theorieanwendungen mit zusätzlichen unerwünschten<br />
oder neutralen Gütermengen als unzulässig ausgrenzen. Da die Mengen D T3 <strong>und</strong> Z T3 aller<br />
denkmöglichen bzw. zulässigen Theorieanwendungen im gleichen Ausmaß vergrößert wurden,<br />
hat sich die Menge U T3 der unzulässigen Theorieanwendungen gegenüber der Theorie T 2 nicht verändert.<br />
Wegen U T3 = U T2 ist die Theoriepräzision also konstant geblieben. Aus dieser Perspektive<br />
stellt sich <strong>in</strong>folge der term<strong>in</strong>ologischen Erweiterung von Theorie T 2 also weder e<strong>in</strong> theoretischer<br />
Fort- noch e<strong>in</strong> theoretischer Rückschritt e<strong>in</strong>.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs bedeutet die Vergrößerung der Menge D T3 denkmöglicher Anwendungen von Theorie T 3<br />
bei unveränderten Interpretations- <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen, dass der Bereich I T3 <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen<br />
im gleichen Ausmaß größer wird. Denn die Interpretations- <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen<br />
bleiben vorerst noch auf die erwünschten Gütermengen beschränkt, sodass sie ke<strong>in</strong>e denkmöglichen<br />
Theorieanwendungen als nicht-<strong>in</strong>tendierte Anwendungen aus der Theorie T 3 auszugrenzen vermögen.<br />
Folglich nimmt die Anwendungsbreite der Theorie T 3 , die durch den <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich<br />
I T3 def<strong>in</strong>iert ist, ebenso stark zu. Es entsteht also e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt durch<br />
Vergrößerung der Anwendungsbreite der aktivitätsanalytischen ohne Abnahme der Theoriepräzision.<br />
255
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 54<br />
Im Zentrum der sukzessiven Theorietransformationen steht der Übergang von der Theorie T 3 zur<br />
Theorie T 4 [Schritt d) <strong>in</strong> Abb. 5]. Er f<strong>in</strong>det statt, <strong>in</strong>dem die alte nomische Präferenz-Hypothese, die<br />
nur auf erwünschte Güter bezogen war, durch e<strong>in</strong>e neue nomische Präferenz-Hypothese ersetzt<br />
wird, die sich ebenso auf unerwünschte Güter erstreckt. Hierdurch <strong>und</strong> im Zusammenwirken mit<br />
der unverändert bleibenden nomischen Effizienz-Hypothese (i.e.S.) werden zahlreiche der denkmöglichen<br />
Theorieanwendungen, die beim Übergang zur Theorie T 3 neu h<strong>in</strong>zugekommen waren,<br />
als unzulässig ausgeschlossen, weil Aktivitäten aus diesen Theorieanwendungen mit den nunmehr<br />
<strong>in</strong>versen Präferenzen für unerwünschte Güter die nomische Effizienz-Hypothese (i.e.S.) nicht mehr<br />
erfüllen. Auf diese Weise erfolgt e<strong>in</strong>e „Reparatur“ des strukturalistisch formulierten Theoriekerns,<br />
<strong>in</strong>dem jene Aktivitäten mit unerwünschten Gütern, die zum „Versagen“ des konventionell formulierten<br />
Effizienzkriteriums führten, nun nicht mehr effizient se<strong>in</strong> können.<br />
Durch diese Ausgrenzung früher zulässiger Theorieanwendungen aus der Menge Z T3 , die nun zur<br />
Menge U T4 unzulässiger Anwendungen der Theorie T 4 gehören, geschieht e<strong>in</strong>e Gesetzesspezialisierung.<br />
Sie bewirkt e<strong>in</strong>e Reduzierung der Menge M S(T4 ) aller Modelle der Theorie T 4 <strong>und</strong> lässt dadurch<br />
ihre Menge Z T4 zulässiger Theorieanwendungen schrumpfen. Die Menge U T4 unzulässiger<br />
Anwendungen der Theorie T 4 wurde gegenüber der Menge U T3 unzulässiger Anwendungen der<br />
Theorie T 3 so vergrößert, dass U T4 ⊃ U T3 gilt, ohne dass der <strong>in</strong>tendierte Anwendungsbereich beider<br />
Theorien verändert wurde (I T4 = I T3 ). Folglich ist e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt durch Zunahme der<br />
Theoriepräzision e<strong>in</strong>getreten.<br />
Der Übergang von der Theorie T 4 zur Theorie T 5 [Schritt e) <strong>in</strong> Abb. 5] entspricht spiegelbildlich<br />
dem früheren Übergang von der Theorie T 0 zur Theorie T 1 . Denn die Theorie T 5 geht aus der Theorie<br />
T 4 dadurch hervor, dass die frühere zusätzliche Randbed<strong>in</strong>gung nachträglich zurückgenommen<br />
wird. H<strong>in</strong>sichtlich der Theorieanwendungsbreite tritt deshalb der genau entgegengesetzte Effekt<br />
zum Übergang von der Theorie T 0 zur Theorie T 1 auf: Das Fortlassen der zusätzlichen Randbed<strong>in</strong>gung<br />
lässt denkmögliche Theorieanwendungen, die früher kraft dieser artifiziellen Randbed<strong>in</strong>gung<br />
aus dem Bereich <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen vorläufig ausgeschlossen worden waren, jetzt zu<br />
zulässigen Anwendungen der Theorie T 5 werden. Folglich wächst der Bereich I T5 <strong>in</strong>tendierter Theorieanwendungen<br />
gegenüber der Theorie T 4 an: I T5 ⊃ I T4 . Die Mengen denkmöglicher, zulässiger<br />
<strong>und</strong> unzulässiger Theorieanwendungen werden dagegen durch die Rücknahme der Randbed<strong>in</strong>gung<br />
nicht bee<strong>in</strong>flusst, weil sich Randbed<strong>in</strong>gungen im strukturalistischen Theorienkonzept nur auf den<br />
<strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich e<strong>in</strong>er Theorie auszuwirken vermögen. Folglich bleibt die Theoriepräzision<br />
unverändert. Daher ist e<strong>in</strong> theoretischer Fortschritt durch Vergrößerung der Anwendungsbreite<br />
der aktivitätsanalytischen Theorie (ohne Abnahme der Theoriepräzision) e<strong>in</strong>getreten. Da dieses<br />
Anwachsen der Theoriebreite aufgr<strong>und</strong> der Elim<strong>in</strong>ierung der zusätzlichen Randbed<strong>in</strong>gung genauso<br />
groß ist wie die frühere E<strong>in</strong>schränkung der Theoriebreite anlässlich der E<strong>in</strong>führung jener zusätzlichen<br />
Randbed<strong>in</strong>gung, können die beiden entgegengesetzt gleichen Auswirkungen auf die Theoriebreite<br />
mite<strong>in</strong>ander verrechnet werden. Per Saldo ergibt sich daraus weder e<strong>in</strong> Fort- noch e<strong>in</strong><br />
Rückschritt der Theorieentwicklung. Vgl. dazu die Andeutung dieser Saldierung <strong>in</strong> Abb. 5 mittels<br />
der Notation „0“ für die komplementären Rück- <strong>und</strong> Fortschrittswirkungen aus den Schritten a)<br />
bzw. e).<br />
Immerh<strong>in</strong> nimmt die Bewährung der Theorie T 5 gegenüber der Theorie T 4 zu, sofern empirische<br />
Prüfungen der Theorie T 5 anhand solcher Theorieanwendungen unternommen werden, die früher als<br />
pathologische Fälle ausgeschlossen waren. Diese Theorieanwendungen gehören seit Elim<strong>in</strong>ierung<br />
der zusätzlichen Randbed<strong>in</strong>gung zum <strong>in</strong>tendierten Anwendungsbereich I T5 der Theorie T 5 . Da beim<br />
Übergang von der Theorie T 3 zur Theorie T 4 bereits die nomische Präferenz-Hypothese so modifiziert<br />
wurde, dass die ehemals pathologischen Fälle nun alle nomischen Hypothesen der Theorie T 5<br />
erfüllen, handelt es sich nicht nur um <strong>in</strong>tendierte, sondern auch um zulässige Theorieanwendungen.<br />
256
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 55<br />
Sobald sie erfolgreich empirisch überprüft wurden, vergrößern sie die Menge B T5 der bestätigten<br />
Anwendungen von Theorie T 5 : B T5 ⊃ B T4 . Die Menge W T5 der widerlegten Theorieanwendungen<br />
bleibt dagegen unverändert, weil durch das Elim<strong>in</strong>ieren der zusätzlichen Randbed<strong>in</strong>gung ke<strong>in</strong>e neuen<br />
<strong>in</strong>tendierten Theorieanwendungen h<strong>in</strong>zukommen können, die m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e der nomischen<br />
Hypothesen von Theorie T 5 verletzen würden: W T5 = W T4 . Dadurch wird die Fortschrittsrelation<br />
FS eB h<strong>in</strong>sichtlich der ersten Komponente aus dem Adjugat ihrer Spezifikation erfüllt. Also ist e<strong>in</strong><br />
theoretischer Fortschritt durch Zunahme der Theoriebewährung e<strong>in</strong>getreten.<br />
Schließlich kann e<strong>in</strong> Übergang von der Theorie T 5 zur Theorie T 6 erforderlich werden, um Produktions-<br />
oder Verbrauchsfunktionen oder Randbed<strong>in</strong>gungen an die Existenz unerwünschter <strong>und</strong> neutraler<br />
Güter anzupassen [Schritt f) <strong>in</strong> Abb. 5]. Ob e<strong>in</strong>e solche Anpassung tatsächlich erforderlich ist,<br />
muss anhand der nomischen Produktionsmöglichkeiten-Hypothese <strong>und</strong> anhand jeder Randbed<strong>in</strong>gung<br />
jeweils im E<strong>in</strong>zelfall überprüft werden. Beispielsweise lässt sich vorstellen, dass die nomische<br />
Produktionsmöglichkeiten-Hypothese erweitert wird, <strong>in</strong>dem erwünschte Güter, die vormals <strong>in</strong> Produktionsprozessen<br />
e<strong>in</strong>gesetzt wurden (wie z.B. Prozessenergie), durch unerwünschte Güter als Prozess<strong>in</strong>puts<br />
(etwa thermisch verwertbare Kunststoffe) substituiert werden. Die Erfassung solcher<br />
Substitutionsmöglichkeiten würde die Menge zulässiger Theorieanwendungen ausweiten <strong>und</strong> damit<br />
die Theoriepräzision s<strong>in</strong>ken lassen, weil die Menge denkmöglicher Theorieanwendungen nicht verändert<br />
wird <strong>und</strong> <strong>in</strong>folgedessen die Menge unzulässiger Theorieanwendungen schrumpft. Durch die<br />
Präzisionsabnahme träte e<strong>in</strong> theoretischer Rückschritt e<strong>in</strong>. Zugleich können solche Substitutionseffekte<br />
aber auch empirisch beobachtet werden <strong>und</strong> dadurch die Menge der bestätigter Theorieanwendungen<br />
anwachsen lassen. Auf diese Weise käme es zu e<strong>in</strong>em theoretischen Fortschritt durch<br />
Zunahme der Theoriebewährung. Da es vom jeweils betrachteten E<strong>in</strong>zelfall der Anpassung von<br />
nomischen Hypothesen <strong>und</strong> Randbed<strong>in</strong>gungen abhängt, ob sich dabei entweder e<strong>in</strong> theoretischer<br />
Fort- oder e<strong>in</strong> theoretischer Rückschritt (oder beides zusammen) e<strong>in</strong>stellt, kann die epistemische<br />
Qualität des Übergangs von der Theorie T 5 zur Theorie T 6 hier nicht abschließend beurteilt werden.<br />
In Abb. 5 wurde daher die Transformationswirkung mit e<strong>in</strong>em unentschiedenen „+/-“ gekennzeichnet.<br />
4 Zusammenfassende Würdigung<br />
des strukturalistischen Fortschrittskonzepts<br />
Das strukturalistische Theorienkonzept des „non statement view“ erlaubt es, den Begriff des theoretischen<br />
Fortschritts <strong>in</strong>haltlich präzise zu bestimmen. Zur Beurteilung der Fort- oder Rückschrittlichkeit<br />
e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e Referenztheorie werden formalsprachliche Kriterien <strong>in</strong> der<br />
Gestalt von Fort- bzw. Rückschrittsrelationen angeboten. Diese Relationen basieren auf e<strong>in</strong>er 1.<br />
Stufe ausschließlich auf mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen, deren Überprüfung im strukturalistischen<br />
Theorienkonzept relativ e<strong>in</strong>fach möglich ist. Sofern diese Relationen 1. Stufe ke<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>deutiges Urteil zulassen, kann auf der 2. Stufe auch auf komplexere Beziehungsstrukturen zwischen<br />
Theorien zurückgegriffen werden, wie z.B. die Relation der Theoriereduktion.<br />
Das strukturalistische Fortschrittskonzept zeichnet sich <strong>in</strong> dem Ausmaß, wie es im hier vorgelegten<br />
Beitrag entwickelt wurde, durch m<strong>in</strong>destens vier wesentliche Eigenschaften aus. Erstens stellt es<br />
sich als anschlussfähig gegenüber konventionellen Fortschrittsverständnissen heraus, weil Aspekte<br />
wie der empirische Gehalt (Theoriepräzision <strong>und</strong> -Anwendungsbreite) <strong>und</strong> die empirische Bewährung<br />
von Theorien <strong>in</strong> den strukturalistischen Fortschrittskriterien unmittelbar berücksichtigt werden.<br />
Zweitens besitzt das strukturalistische Fortschrittskonzept e<strong>in</strong>en signifikanten Überschussgehalt. Er<br />
gestattet es, e<strong>in</strong>e größere Vielfalt von Ursachen <strong>und</strong> Arten theoretischen Fortschritts zu identifizieren,<br />
als es im konventionellen Theorienkonzept des „statement view“ möglich ist. Drittens erlauben<br />
257
Zelewski: Theoretischer Fortschritt Seite 56<br />
sowohl die mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen als auch die komplexeren Beziehungsstrukturen<br />
(wie z.B. auf der Basis von Reduktionsrelationen) e<strong>in</strong>e konkrete Messung der Fort- oder<br />
Rückschrittlichkeit e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e Referenztheorie. Schließlich – <strong>und</strong> viertens –<br />
erweist sich das strukturalistische Fortschrittskonzept als „praktikabel“, wie anhand der Rekonstruktion<br />
e<strong>in</strong>er aktivitätsanalytischen Theorieentwicklung skizziert wurde.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs beruht das strukturalistische Fortschrittskonzept auch auf m<strong>in</strong>destens zwei f<strong>und</strong>amentalen<br />
Prämissen, die se<strong>in</strong>e Anwendung im Wissenschaftsbetrieb beh<strong>in</strong>dern können. Erstens setzt es<br />
die Bereitschaft voraus, realwissenschaftliche Theorien entweder von vornhere<strong>in</strong> formalsprachlich<br />
zu formulieren oder zum<strong>in</strong>dest nachträglich formalsprachlich zu rekonstruieren. Zweitens müssen<br />
die Theorien nach den Maßgaben des strukturalistischen Theorienkonzepts formuliert bzw. rekonstruiert<br />
werden. Wenn diese beiden Prämissen für die eigenen Theorien für unerfüllbar gehalten<br />
oder aus anderen Gründen – wie etwa e<strong>in</strong>er „Formalisierungsphobie“ – abgelehnt werden, kann das<br />
strukturalistische Fortschrittskonzept gr<strong>und</strong>sätzlich nicht zum E<strong>in</strong>satz gelangen.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus müssen e<strong>in</strong>ige wenige gravierende E<strong>in</strong>schränkungen des strukturalistischen Fortschrittskonzepts<br />
beachtet werden. Erstens gestattet es nur relative Urteile über die Fort- oder Rückschrittlichkeit<br />
e<strong>in</strong>er Theorie <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>e jeweils betrachtete Referenztheorie. Dadurch kann<br />
nur e<strong>in</strong>e fortschrittsbezogene Halbordnung über der Menge aller Theorien e<strong>in</strong>er Wissenschaftsdiszipl<strong>in</strong><br />
– wie etwa der Betriebswirtschaftslehre oder der Wirtschafts<strong>in</strong>formatik – errichtet werden.<br />
Die „absolute“ Beurteilung der Fort- oder Rückschrittlichkeit e<strong>in</strong>er isoliert untersuchten Theorie T<br />
ist dagegen nicht möglich. Zweitens lassen sich die mengentheoretischen Inklusionsbeziehungen<br />
des strukturalistischen Fortschrittskonzepts nur <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Theoriennetzes unmittelbar anwenden,<br />
zwischen dessen Knoten wohldef<strong>in</strong>ierte Spezialisierungs- oder Erweiterungsbeziehungen bestehen.<br />
Wenn die Grenzen e<strong>in</strong>es solchen Theoriennetzes überschritten werden, bietet das strukturalistische<br />
Fortschrittskonzept zwar durch se<strong>in</strong>e Relationen 2. Stufe, wie etwa die Reduktionsrelation,<br />
noch weiter führende Fortschrittskriterien an. Aber diese Relationen 2. Stufe s<strong>in</strong>d kompliziert anzuwenden<br />
– <strong>und</strong> es lässt sich im E<strong>in</strong>zelfall darüber streiten, ob solche Relationen 2. Stufe akzeptable<br />
Rückschlüsse auf die Fort- oder Rückschrittlichkeit von Theorien gestatten. In dieser H<strong>in</strong>sicht bef<strong>in</strong>det<br />
sich die Forschung zum strukturalistischen Theorienkonzept noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Stadium der<br />
„Selbstf<strong>in</strong>dung“. Drittens leidet das strukturalistische Theorienkonzept derzeit noch unter erheblichen<br />
Akzeptanzproblemen, zum<strong>in</strong>dest im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich. Zwar liegen erste<br />
strukturalistische Theorieformulierungen im Bereich der Betriebswirtschaftslehre <strong>und</strong> Wirtschafts<strong>in</strong>formatik<br />
vor, wie e<strong>in</strong>leitend dokumentiert wurde. Aber die Mehrheit wirtschaftswissenschaftlicher<br />
Forscher steht dem strukturalistischen Theorienkonzept derzeit noch distanziert gegenüber.<br />
Dies mag daran liegen, dass die strukturalistische (Re-) Konstruktion von Theorien erheblichen <strong>in</strong>tellektuellen<br />
Aufwand bereitet <strong>und</strong> auch e<strong>in</strong>e Aufgeschlossenheit gegenüber formalsprachlichen<br />
Theorieformulierungen erfordert.<br />
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