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von Dr. Judit Falk - Pikler Hengstenberg

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In der Pirquet-Klinik wappnete Emrni <strong>Pikler</strong> sich für ihr ganzes Leben gegen jede Form der ärztlichen<br />

Polypragmasie'. Neben Pathologie, Diagnostik und Therapie beeindruckte sie vor allem das Interesse, mit<br />

dem Prof. v Pirquet sich der Lebensweise der Kinder zuwandte und wie er auch die Aufmerksamkeit seiner<br />

Schüler und Mitarbeiter auf diese zu lenken wußte. Außer dem Zubereiten und Kochen der Nahrung im<br />

Sinne einer Reforrnkinderküche, lernten die jungen Ärzte vor allem, die Kinderkrankenpflege so<br />

auszuführen, dass sich die Säuglinge und Kleinkinder dabei möglichst wohlfühlen konnten. Schon bei v.<br />

Pirquet war es streng verboten, einem Säugling, selbst einem kranken, auch nur ein Löffelchen mehr zu<br />

essen zu geben, als er gerne zu sich nahm.<br />

Ein noch heute in vielen Kinderkliniken bestehendes Problem wurde dort bereits gelöst: Die kranken<br />

Kinder wurden - abhängig <strong>von</strong> ihrer Krankheit und ihrem Zustand - nicht angehalten, tagsüber im Bett zu<br />

bleiben. Sogar für die Kleinsten wurden Spielecken eingerichtet. Auch die Kleidung der Säuglinge<br />

unterschied sich <strong>von</strong> der damals und noch lange Zeit später üblichen, in der die Kinder sich kaum bewegen<br />

konnten: So wurden die unteren Gliedmaßen z. B. nicht in Windeln gewickelt, sondern die Windeln<br />

wurden, wie heute selbstverständlich, hosenartig gebunden. Die Kinder - auch die Säuglinge - verbrachten,<br />

selbst im Winter, täglich mehrere Stunden im Freien auf dem Balkon oder bei weit geöffneten Fenstern,<br />

warm eingehüllt, aber nicht in Decken, sondern in Schlafsäcken.<br />

Schon in der Pirquet-Klinik empfand Emmi <strong>Pikler</strong>, dass die Kooperation mit den Kleinkindern beispielhaft<br />

gelöst worden war. In noch höherem Maße empfand sie dies bei dem „ersten Gebot“ der Salzerschen<br />

chirurgischen Abteilung, das besagte, dass auch eine unangenehme Untersuchung oder Behandlung an<br />

einem Säugling oder Kleinkind so ausgeführt werden kann, dass das Kind nicht zum Weinen gebracht<br />

wird. Die Voraussetzung dafür ist, dass es mit der erforderlichen Behutsamkeit und dem nötigen Mitgefühl<br />

berührt wird und dass der Arzt sich immer vor Augen hält, dass er ein lebendiges, empfindsames und<br />

reaktionsfähiges Kind vor sich hat.<br />

Noch etwas fiel Emmi <strong>Pikler</strong> in der chirurgischen Abteilung auf - die Unfallstatistik. Unter den Kindern,<br />

die in der Vorstadt auf der Straße spielten und auf Bäume und Eisenbahnpuffer kletterten, kamen<br />

Knochenbrüche und Gehirnerschütterungen viel seltener vor als unter Kindern wohlhabender Familien aus<br />

anderen Stadtteilen. Diese meistens <strong>von</strong> eifrigen Gouvernanten streng erzogenen und überbehüteten Kinder<br />

kamen häufig wegen Unfällen, die sich in der Wohnung oder auf harmlosen Spielplätzen ereignet hatten,<br />

zu dem angesehenen Chirurgen. Emmi <strong>Pikler</strong> schrieb das schon damals dem Umstand zu, dass ein Kind,<br />

das sich frei bewegen kann, umsichtiger ist und eher lernt, gut zu fallen, als ein in seinen Bewegungen<br />

eingeschränktes und überbehütetes Kind, das seine eigenen Fähigkeiten und Grenzen nicht kennt und<br />

deshalb leichter in Gefahr gerät.<br />

Diese Unterschiede bei den verschiedenen Gesellschaftsschichten in den ihr zu dieser Zeit bekannten<br />

Ländern Ungarn, Österreich und Italien entstanden ihrer Beobachtung nach aber erst, wenn die Kinder

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