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von Dr. Judit Falk - Pikler Hengstenberg

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VON DEN ANFÄNGEN<br />

<strong>von</strong> <strong>Dr</strong>. <strong>Judit</strong> <strong>Falk</strong><br />

Das LÓCZY-Institut, das seit seinem vierzigjährigen Bestehen den Namen seiner Gründerin Emmi <strong>Pikler</strong><br />

trägt, wurde 1946 als eines der Säuglingsheime Budapests eröffnet. Es liegt inmitten eines großen Gartens<br />

in einer kleinen Villa am Rosenhügel, einer schönen alten Gegend <strong>von</strong> Budapest. Im Laufe ihres Lebens<br />

träumte Emmi <strong>Pikler</strong> immer wieder <strong>von</strong> einem zweckmäßig gebauten und eingerichteten<br />

Forschungsinstitut, das - ebenfalls in der Mitte eines großen Gartens gelegen - sich an eine geräumige<br />

Einrichtung für Säuglinge und Kleinkinder anschließen würde. Statt dessen hat sie in dem seinerzeit für<br />

eine <strong>Dr</strong>eipersonenfamilie ansehnlichen, für eine öffentliche Einrichtung aber recht bescheidenen Haus jene<br />

komplexe Institution verwirklicht, auf deren Erziehungskonzeption, innere Organisation und Funktion man<br />

sich in der internationalen Fachliteratur immer häufiger als auf das „Lóczy-Modell“ beruft. Heute fungiert<br />

es darüber hinaus als „Staatliches Methodologisches Institut für Säuglingsheime“, das auf seinem<br />

Fachgebiet die maßgebliche Einrichtung des ungarischen Gesundheitsministeriums für<br />

Grundlagenforschung in methodisch-organisatorischen und Fortbildungsfragen ist. Zur Zeit der Gründung<br />

des Säuglingsheimes beruhten seine leitenden Prinzipien bereits auf den Erfahrungen einer<br />

vorangegangenen Entwicklungszeit <strong>von</strong> fast zwei Jahrzehnten.<br />

Emmi <strong>Pikler</strong> studierte im Wien der zwanziger Jahre Medizin und erwarb ihre kinderärztliche Qualifikation<br />

an der Universitäts-Kinderklinik bei Prof. v. Pirquet. Als ihre wichtigsten Lehrer bezeichnete sie immer<br />

Prof. v. Pirquet selbst und den Kinderchirurgen des Mauthner Markhof Krankenhauses, Prof. Salzer. Durch<br />

diese beiden hervorragenden Kinderärzte gelangte sie zu jener Anschauung der Physiologie und<br />

Prävention, die ihre ganze spätere Tätigkeit wesentlich mitbestimmt hat.<br />

Physiologische Forschung bestand für Emmi <strong>Pikler</strong> nicht in erster Linie aus Laborversuchen, wenngleich<br />

sie auch im Experimentieren Erfahrungen gesammelt hatte. Vielmehr war sie daran interessiert, zu<br />

beobachten, wie der lebendige Organismus in seiner natürlichen Umgebung funktioniert und sich<br />

entwickelt. Ebenso stand für sie in der Gesundheitsvorsorge nicht die auf einzelne Krankheiten gerichtete<br />

Anwendung konkreter vorbeugender Maßnahmen im Mittelpunkt, sondern die Gesamtheit und Harmonie<br />

der sorgfältig ausgearbeiteten Bedingungen für eine gesunde Lebensweise und Entwicklung. In Emmi<br />

<strong>Pikler</strong>s Denken und Tätigkeit verband sich das Bewusstsein der Wechselwirkung <strong>von</strong> Individuum und<br />

Umgebung sowie der Untrennbarkeit der körperlichen und seelischen Gesundheit und Entwicklung <strong>von</strong><br />

Anfang an mit Selbstverständlichkeit zu einem Ganzen. Dabei war der Begriff „Psychosomatik“ damals<br />

noch unbekannt und auch die <strong>von</strong> der Welt-Gesundheits-Organisation (WHO) gegebene Definition <strong>von</strong><br />

„Gesundheit“ ließ noch mehr als 30 Jahre auf sich warten.


In der Pirquet-Klinik wappnete Emrni <strong>Pikler</strong> sich für ihr ganzes Leben gegen jede Form der ärztlichen<br />

Polypragmasie'. Neben Pathologie, Diagnostik und Therapie beeindruckte sie vor allem das Interesse, mit<br />

dem Prof. v Pirquet sich der Lebensweise der Kinder zuwandte und wie er auch die Aufmerksamkeit seiner<br />

Schüler und Mitarbeiter auf diese zu lenken wußte. Außer dem Zubereiten und Kochen der Nahrung im<br />

Sinne einer Reforrnkinderküche, lernten die jungen Ärzte vor allem, die Kinderkrankenpflege so<br />

auszuführen, dass sich die Säuglinge und Kleinkinder dabei möglichst wohlfühlen konnten. Schon bei v.<br />

Pirquet war es streng verboten, einem Säugling, selbst einem kranken, auch nur ein Löffelchen mehr zu<br />

essen zu geben, als er gerne zu sich nahm.<br />

Ein noch heute in vielen Kinderkliniken bestehendes Problem wurde dort bereits gelöst: Die kranken<br />

Kinder wurden - abhängig <strong>von</strong> ihrer Krankheit und ihrem Zustand - nicht angehalten, tagsüber im Bett zu<br />

bleiben. Sogar für die Kleinsten wurden Spielecken eingerichtet. Auch die Kleidung der Säuglinge<br />

unterschied sich <strong>von</strong> der damals und noch lange Zeit später üblichen, in der die Kinder sich kaum bewegen<br />

konnten: So wurden die unteren Gliedmaßen z. B. nicht in Windeln gewickelt, sondern die Windeln<br />

wurden, wie heute selbstverständlich, hosenartig gebunden. Die Kinder - auch die Säuglinge - verbrachten,<br />

selbst im Winter, täglich mehrere Stunden im Freien auf dem Balkon oder bei weit geöffneten Fenstern,<br />

warm eingehüllt, aber nicht in Decken, sondern in Schlafsäcken.<br />

Schon in der Pirquet-Klinik empfand Emmi <strong>Pikler</strong>, dass die Kooperation mit den Kleinkindern beispielhaft<br />

gelöst worden war. In noch höherem Maße empfand sie dies bei dem „ersten Gebot“ der Salzerschen<br />

chirurgischen Abteilung, das besagte, dass auch eine unangenehme Untersuchung oder Behandlung an<br />

einem Säugling oder Kleinkind so ausgeführt werden kann, dass das Kind nicht zum Weinen gebracht<br />

wird. Die Voraussetzung dafür ist, dass es mit der erforderlichen Behutsamkeit und dem nötigen Mitgefühl<br />

berührt wird und dass der Arzt sich immer vor Augen hält, dass er ein lebendiges, empfindsames und<br />

reaktionsfähiges Kind vor sich hat.<br />

Noch etwas fiel Emmi <strong>Pikler</strong> in der chirurgischen Abteilung auf - die Unfallstatistik. Unter den Kindern,<br />

die in der Vorstadt auf der Straße spielten und auf Bäume und Eisenbahnpuffer kletterten, kamen<br />

Knochenbrüche und Gehirnerschütterungen viel seltener vor als unter Kindern wohlhabender Familien aus<br />

anderen Stadtteilen. Diese meistens <strong>von</strong> eifrigen Gouvernanten streng erzogenen und überbehüteten Kinder<br />

kamen häufig wegen Unfällen, die sich in der Wohnung oder auf harmlosen Spielplätzen ereignet hatten,<br />

zu dem angesehenen Chirurgen. Emmi <strong>Pikler</strong> schrieb das schon damals dem Umstand zu, dass ein Kind,<br />

das sich frei bewegen kann, umsichtiger ist und eher lernt, gut zu fallen, als ein in seinen Bewegungen<br />

eingeschränktes und überbehütetes Kind, das seine eigenen Fähigkeiten und Grenzen nicht kennt und<br />

deshalb leichter in Gefahr gerät.<br />

Diese Unterschiede bei den verschiedenen Gesellschaftsschichten in den ihr zu dieser Zeit bekannten<br />

Ländern Ungarn, Österreich und Italien entstanden ihrer Beobachtung nach aber erst, wenn die Kinder


schon gehen konnten. Denn es war damals allgemein der Brauch - unabhängig <strong>von</strong> der Gesellschaftsschicht<br />

- , die Säuglinge monatelang in Wickelkissen, enge Wiegen oder winzige Betten zu legen, später auf dem<br />

Arm herumzutragen, zum Sitzen hochzuziehen und die Kinder in die Ecke des Bettes oder in hohe<br />

Kinderstühle zu setzen, „damit sie die Welt besser sehen können“. Sie wurden „aufgestellt“ und das Gehen<br />

wurde ihnen „beigebracht“. Der Unterschied bestand höchstens darin, dass Familien, die sich<br />

fortschrittlicher dünkten, mit dem Säugling zusätzlich jeden Tag einige Minuten lang Turnübungen<br />

durchführten: seine Arme und Beine beugten und schwangen oder damit Radfahrbewegungen ausführten<br />

und ähnliches.<br />

Emmi <strong>Pikler</strong> bezweifelte <strong>von</strong> Anfang an, dass der Säugling Sitzen, Stehen und Gehen vom Erwachsenen<br />

lernen und zum Üben angeregt werden müsse. Auch zweifelte sie daran, dass solch ein Eingriff die<br />

Entwicklung beschleunige oder - angenommen, eine solche Beschleunigung erfolge tatsächlich - diese sich<br />

günstig auf seine gesamte Lebensweise und Entwicklung auswirken würde.<br />

Außer auf ihre fachlichen Erfahrungen stützte sich Emmi <strong>Pikler</strong> auch auf die fortschrittlichen<br />

pädagogischen Ansichten ihres Mannes, als sie sich zu Beginn der dreißiger Jahre nach der Geburt ihres<br />

ersten Kindes entschloß, seine Entwicklung nicht zu forcieren, sondern deren individuellen Rhythmus zu<br />

respektieren und ihrer Tochter <strong>von</strong> Anfang an jede Möglichkeit zu eigener Initiative, selbstständiger<br />

Bewegung und freiem Spiel zu bieten. Sie wurde nie in Positionen gebracht, die sie <strong>von</strong> sich aus nicht hätte<br />

einnehmen oder wieder verlassen können. Sie wurde nie angeregt, bestimmte Bewegungen auszuführen.<br />

Statt dessen schafften die Eltern Bedingungen, dass die Tage ihrer Tochter heiter und ausgeglichen<br />

verlaufen konnten, dass ihr immer genügend Raum zur Verfügung stand - immer etwas mehr, als sie gerade<br />

ausnutzen konnte - und dass sie durch die Kleidung in ihrer Bewegung nicht behindert wurde. In ihrer<br />

Umgebung gab es genügend adäquates Spielmaterial, mit dem sie selbstständig umgehen und eigene<br />

Erfahrungen sammeln konnte. Liebevoll <strong>von</strong> ihren Eltern versorgt, konnte sie sich sicher und geborgen<br />

fühlen und unternahm so die unterschiedlichsten Versuche, sich selbst und die Welt kennenzulernen.<br />

Natürlich hätte sich Emmi <strong>Pikler</strong> nie zu dieser Vorgehensweise entschlossen, wäre sie nicht <strong>von</strong> der<br />

Richtigkeit ihrer Hypothese überzeugt gewesen - da<strong>von</strong> nämlich, dass ein Kind unter den oben genannten<br />

Umständen das Sitzen, Stehen, Gehen, Spielen, Sprechen und Denken weit besser erlernt, als ein Kind, das<br />

zum Erreichen bestimmter Entwicklungsstufen angeleitet und angespornt wird.<br />

Die Kinderärztin Emmi <strong>Pikler</strong><br />

In diesem Sinne begleitete sie als Familienärztin die Entwicklung <strong>von</strong> mehr als 100 Säuglingen und<br />

Kleinkindern. Die kontinuierliche Unterstützung und ihre konkreten Ratschläge, die sie alle aufgrund <strong>von</strong><br />

regelmäßig ausgeführten und gründlich reflektierten Beobachtungen anbot, hatten den Eltern vor allem


geholfen, der Entwicklungsfähigkeit ihrer Kinder Vertrauen zu schenken und den Eigenrhythmus dieser<br />

Entwicklung zu respektieren.<br />

Die Eltern lernten gleichzeitig, ohne sich in die Spielaktivität ihres Kindes und seine<br />

Bewegungsentwicklung einzumischen, wie sie - selbst in einer kleinen Wohnung - die Umgebung für die<br />

vom Kind selbst ausgehende und ständig zunehmende Aktivität gestalten und verändern konnten. In<br />

Einklang mit den Bedürfnissen des Kindes haben sie ihm einen ruhigen und ausgewogenen Lebensstil<br />

ermöglicht, seinen Wach- und Schlafrhythmus respektiert und seinen Appetit mit einfacher und<br />

ausgewogener Kost gestillt. Jeden Tag, im Sommer wie im Winter, konnte das Kind an der frischen Luft<br />

sein. Gelegenheit für ein regelmäßiges, spielerisches und gelöstes Zusammensein bot sich auf natürliche<br />

Weise vor allem bei den Mahlzeiten, dem Wechseln der Windeln, dem Baden und Anziehen. Die Pflege<br />

wurde ruhig und ohne Hast ausgeführt, die Bedürfnisse und Reaktionen des Kindes respektiert. Immer<br />

wieder ließ man es "helfen", auch wenn dies Zeit brauchte, und alle Beteiligten hatten ihre Freude daran.<br />

Das Dokument dieser Jahre ist Emmi <strong>Pikler</strong>s erstes Buch Mit tud mär a baba? Neben dem Ungarischen<br />

erschien es in neun weiteren Sprachen - zuletzt auf Deutsch im Jahre 1982 unter dem Titel: Friedliche<br />

Babys - zufriedene Mütter. Emmi <strong>Pikler</strong> konnte feststellen, dass die Kinder im allgemeinen heiter,<br />

interessiert und sehr rege und aktiv waren. Sie entwickelten sich harmonisch und hatten eine gute<br />

Beziehung zu ihren Eltern und ihrer Umgebung. Auch die Eltern wurden zunehmend aufgeschlossener und<br />

zufriedener. Sie haben die Ratschläge gerne angenommen und verwirklicht, obwohl die <strong>von</strong> Emmi <strong>Pikler</strong><br />

empfohlene Vorgehensweise hohe Ansprüche an sie stellte, denn sie erforderte eine viel eingehendere<br />

Organisation des Lebens und der Umgebung als üblich. Schon bald erlebten die Eltern, dass ihr Kind durch<br />

seine selbstständigen Aktivitäten wertvolle Erfahrungen sammelte. Die mit ihren eigenen Aktivitäten und<br />

Versuchen beschäftigten Kinder beanspruchten nicht die ständige Anwesenheit und Hilfe oder gar<br />

„Animation“ ihrer EItern. Wenn diese ihre heiteren und ausgeglichenen Kinder sahen und sich des Wertes<br />

ihrer unabhängigen Aktivität bewusst waren, konnten sie sich ohne Gewissensbisse ihrer übrigen Arbeit, ja<br />

sogar einer Freizeitbeschäftigung widmen - vorausgesetzt, sie blieben in Seh- oder Hörweite. Auf diese<br />

Weise fühlten sie sich nicht als Gefangene ihres Kindes und betrachteten auch das Kind nicht als ihr<br />

Spielzeug, sondern freuten sich an seiner Aktivität und Entwicklung. Gerne erwarteten und verbrachten sie<br />

die Zeit ihres Zusammenseins bei der Pflege und wurden nicht ungeduldig, wenn das Kind die ihm<br />

zugedachte Zeit schelmisch spielend verlängern wollte.<br />

Die damals <strong>von</strong> Emmi <strong>Pikler</strong> betreuten Kinder sind heute schon längst erwachsen und haben mit ihrem<br />

Leben, ihrer Arbeit und der Erziehung ihrer eigenen Kinder bewiesen, dass ihren Eltern seinerzeit gute<br />

Unterstützung zuteil geworden ist.

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