Zur Behindertenpolitik der LINKSPARTEI.PDS Heft 7 - Die Linke
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<strong>Zur</strong> <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> <strong>der</strong> <strong>LINKSPARTEI</strong>.<strong>PDS</strong><br />
<strong>Heft</strong> 7<br />
<strong>Die</strong> 5. Behin<strong>der</strong>tenpolitische Konferenz <strong>der</strong><br />
<strong>LINKSPARTEI</strong>.<strong>PDS</strong><br />
vom 11. bis 13. November 2005<br />
1
INHALT<br />
Ein Wort davor - also ein Vorwort<br />
Christian Schrö<strong>der</strong>........................................................................... 03<br />
Selbstbestimmung braucht Nachteilsausgleiche<br />
Christian Schrö<strong>der</strong>........................................................................... 05<br />
Quantitative und qualitative Entwicklungstrends<br />
<strong>der</strong> Versorgungssituation<br />
hörgeschädigter Menschen in Thüringen<br />
Prof. Dr. Karl-Heinz Stange ............................................................. 09<br />
<strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> unter <strong>der</strong> Großen Koalition -<br />
Großes Ziel und kleine Schritte<br />
Dr. Ilja Seifert, MdB.......................................................................... 25<br />
Der Sozialabbau und seine Auswirkungen<br />
auf Selbstbestimmung und Teilhabe<br />
von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung<br />
Torsten Koplin.................................................................................. 35<br />
Bericht aus Thüringen<br />
und linke <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> in Deutschland<br />
Maik Nothnagel, MdL Thüringen ..................................................... 41<br />
Probleme von hörbehin<strong>der</strong>ten Menschen<br />
Bärbel Baumann .............................................................................. 47<br />
Probleme <strong>der</strong> Gehörlosen<br />
Elke Kittelmann................................................................................ 55<br />
Gleichstellungs- und/o<strong>der</strong><br />
Antidiskriminierungsgesetze –<br />
Garanten für Selbstbestimmung<br />
Peter Och......................................................................................... 61<br />
5
Ein Wort davor –<br />
also ein Vorwort Christian Schrö<strong>der</strong><br />
Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,<br />
liebe Leserinnen und Leser!<br />
Vom 11. bis 13. November 2005 trafen sich, auf Einladung <strong>der</strong><br />
AG Selbstbestimmte <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> <strong>der</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong>,<br />
Interessierte und MitstreiterInnen zur 5. Behin<strong>der</strong>tenpolitischen<br />
Konferenz in Oberhof.<br />
Seit 1995 ist es uns gelungen, alle zwei Jahre eine Konferenz<br />
auszurichten, und je<strong>der</strong> Konferenz folgte eine Broschüre.<br />
In <strong>der</strong> vorliegenden sind nicht alle gehaltenen Beiträge enthalten,<br />
lei<strong>der</strong>, aber die, die bis zum Redaktionsschluß vorlagen,<br />
machen deutlich, daß <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> sich nicht nur mit<br />
sichtbaren Behin<strong>der</strong>ungen beschäftigt.<br />
Am Beispiel von Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit wurde die<br />
Dringlichkeit wirksamer Nachteilsausgleiche dargestellt und<br />
nachgewiesen.<br />
Daß eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe am<br />
gesamten gesellschaftlichen Leben für Menschen mit Einschränkungen<br />
und Behin<strong>der</strong>ungen, also mit objektiv vorhandenen<br />
Nachteilen, akzeptable Voraussetzungen benötigt, daß<br />
solche Voraussetzungen von Seiten des Gesetzgebers gewollt<br />
und geschaffen werden müssen, zumal, wenn dem Grundgedanken<br />
des Grundgesetzes für Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit<br />
Rechnung getragen werden sollte, haben Organisationen<br />
<strong>der</strong> Selbsthilfe und Interessenvertretungen von<br />
Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen, psychisch und chronisch Kranken,<br />
aber auch Senioren-, Kin<strong>der</strong>-, Frauen-, Migranten-, einfach<br />
gesagt, von allen, die den Status „Min<strong>der</strong>heiten“ besitzen,<br />
gefor<strong>der</strong>t.<br />
Seit Gründung <strong>der</strong> <strong>PDS</strong> ist Selbstvertretung ein wichtiger Baustein<br />
im Parteiprogramm. Seit dem Parteitagsbeschluß von<br />
3
1991 gehört die AG Selbstbestimmte <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> zum<br />
nicht mehr wegzudenkenden Bild <strong>der</strong> <strong>PDS</strong>, nunmehr <strong>der</strong><br />
<strong>LINKSPARTEI</strong>.<strong>PDS</strong>.<br />
<strong>Die</strong> Verantwortung, die damit verbunden ist, die Verpflichtungen,<br />
die daraus erwachsen, werden von denen repräsentiert,<br />
die in den kommunalen und Landesparlamenten und im Bundestag<br />
für Teilhabe und Chancengleichheit streiten.<br />
Wenn wir nun in eine neue Phase von Gemeinsamkeit eintreten,<br />
wenn <strong>der</strong> Zusammenschluß sozial engagierter Kräfte eine<br />
neue Partei hervorbringt, so wollen auch wir, die AG, diesen<br />
zukunftweisenden Prozeß unterstützen. Das wie<strong>der</strong>um heißt,<br />
daß wir, also Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen, psychischen und<br />
chronischen Erkrankungen, uns nicht wie<strong>der</strong> an den Rand gedrängt<br />
sehen wollen, geschweige denn über uns ohne uns<br />
entschieden wird.<br />
Das bisher Erreichte gilt nicht nur zu erhalten son<strong>der</strong>n weiter<br />
auszubauen.<br />
<strong>Die</strong>ses ist ein Signal, welches auch aus und von <strong>der</strong> 5. Behin<strong>der</strong>tenpolitischen<br />
Konferenz ausgeschickt wurde.<br />
An dieser Stelle und zum Schluß des „Vorworts“ danken wir:<br />
Torsten Koplin, <strong>der</strong> den Parteivorstand auf unserer Konferenz<br />
vertrat, somit also auch dem Parteivorstand für seine Unterstützung;<br />
ebenso Professor Karl-Heinz Stange für seinen, in die Broschüre<br />
aufgenommenen, ausführlichen Beitrag zur Problematik<br />
hörgeschädigter Menschen.<br />
Ein beson<strong>der</strong>er Dank gilt <strong>der</strong> Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern,<br />
Dr. Marianne <strong>Linke</strong>, die sich, trotz <strong>der</strong> Erarbeitung<br />
des Gleichstellungsgesetzes für M.-V., die Zeit genommen<br />
hat, an unserer Konferenz teilzunehmen.<br />
Von dieser Stelle aus herzlichen Glückwunsch, denn dieses<br />
Gesetz hat das Kabinett passiert und wartet nun darauf, im<br />
Parlament verabschiedet zu werden.<br />
4
Selbstbestimmung<br />
braucht Nachteilsausgleiche Christian Schrö<strong>der</strong><br />
Allein die Begriffe „Selbstbestimmung“ und „Nachteilsausgleiche“<br />
könnten Konferenzen ausfüllen, denn was heißt Selbstbestimmung<br />
und was Nachteilsausgleiche?<br />
Viel wichtiger erscheint mir jedoch, daß wir uns darüber einig<br />
sein können, daß Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen objektive<br />
Nachteile aufweisen, und diese Nachteile müssen ausgeglichen<br />
werden, um Chancengleichheit und uneingeschränkte<br />
Teilhabe am gesamten gesellschaftlichen Leben herzustellen.<br />
Hierfür werden seit Jahren Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetze<br />
gefor<strong>der</strong>t, in <strong>der</strong> Hoffnung und Annahme, daß<br />
solche Gesetze dazu beitragen, Nachteile auszugleichen.<br />
Am Bundesgleichstellungsgesetz sowie den Entwürfen von<br />
Landesgleichstellungsgesetzen, am Beispiel Berlin, wo es eine<br />
Art Gleichstellungsgesetz bereits gibt, läßt sich nachweisen,<br />
diese Gesetze und Entwürfe tragen nur im geringen Maße dazu<br />
bei, Nachteile auszugleichen, bzw. Barrieren zu überwinden.<br />
<strong>Die</strong> Diskussionen um das, als Entwurf vorliegende und noch<br />
immer nicht verabschiedete, Antidiskriminierungsgesetz machen<br />
deutlich, Legislative wie Exekutive wollen keine Schritte<br />
in die Richtung gehen, die allen Menschen tatsächlich gleiche<br />
Chancen eröffnet.<br />
Im Bundesgleichstellungsgesetz, ich nehme dieses Beispiel<br />
als Aufhänger, steht, daß die Gebärdensprache anerkannt<br />
wird, jedoch nur vor und bei Behörden.<br />
<strong>Die</strong> For<strong>der</strong>ungen waren und sind, die Gebärdensprache als<br />
eigenständige Muttersprache generell anzuerkennen und die<br />
begleitende Gebärde gleichzustellen.<br />
5
<strong>Die</strong> abgespeckten Varianten von Gleichstellung und Antidiskriminierung,<br />
die die letzte Bundesregierung vorlegte, lassen<br />
nur zu gut erkennen, daß mit gespreizten Fingern das Thema<br />
aufgegriffen wurde und die Kosten-Nutzen-Rechnung als Maßstab<br />
zur Anwendung kam. Natürlich kosten Gleichstellung und<br />
Antidiskriminierung etliches.<br />
Wer aber ernstgemeinte Gesetze erarbeitet und vorlegt, <strong>der</strong><br />
muß damit rechnen, daß nach den Ausführungen gefragt wird<br />
und diese sind in unserem Sinne eben Leistungen, die den<br />
Nachteil ausgleichen.<br />
Am Beispiel hörbehin<strong>der</strong>ter Menschen hieße das, daß Gebärdendolmetscher,<br />
auch in begleiten<strong>der</strong> Gebärde, so zur Verfügung<br />
stehen, daß Betroffene auch im normalen Alltag mit Hörenden<br />
uneingeschränkt kommunizieren können, ohne, daß<br />
sie nach den Kosten und <strong>der</strong> Bezahlbarkeit dieser Leistungen<br />
fragen müssen.<br />
Wenn von Integration gesprochen wird, und das wird ja<br />
mannigfaltig in den verschiedensten gesellschaftlichen Bezügen<br />
getan, so scheint es, wird immer die kostengünstigste, am<br />
besten kostenlose, Variante gemeint.<br />
Es ist auch eine Form <strong>der</strong> Integration, wenn es zur Selbstverständlichkeit<br />
wird, daß Hörende und Nichthörende miteinan<strong>der</strong><br />
sich austauschen, miteinan<strong>der</strong> reden, die bestehenden Distanzen<br />
überwinden.<br />
<strong>Die</strong> dabei und dafür entstehenden Kosten, wenn wir schon<br />
darüber reden, müssen aus einem Nachteilsausgleich beglichen<br />
werden.<br />
An dieser Stelle verweise ich auf den von <strong>der</strong> <strong>PDS</strong>-Fraktion<br />
1999 gestellten Antrag an die Bundesregierung, ein Teilhabesicherungsgesetz<br />
zu erarbeiten.<br />
Teilhabesicherungsgesetz heißt, daß zum einen die Rechte<br />
zur gleichberechtigten Teilhabe festgeschrieben und die dafür<br />
notwendigen Leistungen bereitgestellt und abgesichert werden.<br />
6
Aber auch, daß Barrieren abgebaut und unter Androhung von<br />
Sanktionen keine neuen Barrieren errichtet werde dürfen.<br />
Interessant und gleichzeitig irreführend ist, daß von <strong>der</strong> letzten<br />
Bundesregierung Begriffe benutzt wurden und werden, die aus<br />
dem Sprachgebrauch <strong>der</strong> emanzipatorischen Behin<strong>der</strong>tenbewegung<br />
stammen.<br />
Interessant deswegen, weil erkannt wurde, daß mit Begriffen<br />
wie Teilhabe, Selbstbestimmung, Arbeitsassistenz usw. sich<br />
die Gruppen angesprochen fühlen, die mit diesen Begriffen<br />
Lebenssituationen beschreiben.<br />
Irreführend, weil Begriffe nur ausgetauscht wurden, also bestehende<br />
Gesetzes- und Ausführungstexte nur minimal verän<strong>der</strong>t<br />
und mit emanzipatorischen Begriffen versehen wurden.<br />
Am Beispiel „Arbeitsassistenz“ läßt sich dieses beson<strong>der</strong>s<br />
deutlich nachweisen.<br />
Assistenz soll eigentlich bedeuten, daß Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung,<br />
gleich welcher Art, die Unterstützung und Begleitung<br />
im Alltag benötigen, ihre Assistenz selbst wählen und den Umfang<br />
des Einsatzes bestimmen können. Somit auch entsprechende<br />
Mittel zur Verfügung gestellt bekommen, um die Assistenzleistungen<br />
zu bezahlen.<br />
<strong>Die</strong>ser Anspruch wurde soweit reduziert, daß <strong>der</strong> Begriff „Arbeitsassistenz“<br />
eingeführt und hierfür Kriterien sogar gesetzlich<br />
festgelegt wurden.<br />
Einige Hintergedanken liegen diesem Verfahren zu Grunde:<br />
Zum einen will <strong>der</strong> Gesetzgeber einen emanzipatorischen Begriff<br />
verwenden, <strong>der</strong> äußerlich sogar eine Aufwertung erfährt.<br />
„Arbeitsassistenz“ impliziert unter an<strong>der</strong>em, daß Menschen mit<br />
Behin<strong>der</strong>ungen in Lohn und Brot stehen o<strong>der</strong> kommen.<br />
Geschickt ausgetüftelt, von Vertretern <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenbewegung<br />
unterstützt und schließlich so auch akzeptiert, wird „Arbeitsassistenz“<br />
denjenigen gewährt, die in Lohn und Brot stehen.<br />
Bei Beantragung muß von den Betroffenen nachgewiesen<br />
werden, daß sie einer dauerhaften Tätigkeit nachgehen<br />
und somit ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.<br />
7
Damit ist <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong>jenigen, die tatsächlich Arbeitsassistenz<br />
beantragen können eingegrenzt und überschaubar.<br />
An diesem Beispiel wird <strong>der</strong> Sparkurs offensichtlich.<br />
Nehmen wir an, ein Mensch mit Behin<strong>der</strong>ung will arbeiten, ist<br />
aber nicht in <strong>der</strong> Lage, sich den Bewerbungsmodalitäten zu<br />
unterwerfen, da er einer ständigen Begleitung bedarf. Also beantragt<br />
er o<strong>der</strong> sie eine Arbeitsassistenz, annehmend, daß eine<br />
solche Leistung auch dann verfügbar ist, wenn er o<strong>der</strong> sie<br />
sich auf den Bewerbungsweg begibt.<br />
Selbstverständlich wird ein solcher Antrag abgelehnt, denn die<br />
Voraussetzungen, also <strong>der</strong> Nachweis einer dauerhaften Beschäftigung,<br />
kann nicht o<strong>der</strong> noch nicht erbracht werden.<br />
Im Übrigen, wer kann heute schon den Nachweis einer dauerhaften<br />
Beschäftigung erbringen?<br />
Und wie heißt nun <strong>der</strong> Kreislauf?: Kein Nachweis einer dauerhaften<br />
Arbeit - keine Arbeitsassistenz; keine Assistenz - keine<br />
Arbeit.<br />
Noch deutlicher kann <strong>der</strong> Mißbrauch von Begriffen nicht aufgezeigt<br />
werden.<br />
Unsere Konferenz wird diesen Gordischen Knoten nicht<br />
durchlagen.<br />
Was wir aber wollen ist, aus den Erfahrungen, Referaten, Einzelbeiträgen<br />
unseren Politikansatz, also Inhalte <strong>Linke</strong>r <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>,<br />
so zusammenzufassen, daß nicht nur For<strong>der</strong>ungen<br />
gestellt, son<strong>der</strong>n Aufträge an die Partei und die Fraktionen<br />
formuliert werden, die nach innen wie nach außen das Finden<br />
von Möglichkeiten <strong>der</strong> praktikablen Umsetzungen anregen.<br />
Nur das gemeinsame Agieren hilft, den schwierigen, steinigen,<br />
schmierigen und glitschigen Weg zu gehen, um Schritt für<br />
Schritt vorwärts zu kommen. Hierbei müssen auch wir zwischen<br />
Wunsch und Realität abwägen.<br />
Und das, so meine ich, ist wohl das Schwerste.<br />
8
Quantitative und qualitative<br />
Entwicklungstrends <strong>der</strong> Versorgungssituation<br />
hörgeschädigter<br />
Menschen in Thüringen Prof. Dr. Karl-Heinz Stange<br />
1. Einleitung<br />
Mein Thema ist ein Hinterfragen <strong>der</strong> Versorgungssituation für<br />
Menschen mit Hörschädigungen in Thüringen. Natürlich haben<br />
nicht nur in Thüringen, son<strong>der</strong>n bundesweit, viele Betroffenen<br />
nach dem Inkrafttreten des SGB IX 2001, des Bundesgleichstellungsgesetzes<br />
2002 und <strong>der</strong> danach folgenden Gleichstellungsgesetze<br />
<strong>der</strong> Län<strong>der</strong>, auf eine nachhaltige Verbesserung<br />
ihrer bisher oft benachteiligten Lebenssituation gehofft. Und in<br />
<strong>der</strong> Tat haben sich durchaus auch - zumindest bei <strong>der</strong> Bereitstellung<br />
und Bezahlung von GebärdensprachdolmetscherInnen<br />
- einige Verbesserungen ergeben. <strong>Die</strong> Integrationsaufgaben<br />
und Probleme sind bei <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> Hörgeschädigten<br />
Menschen jedoch so vielfältig und komplex, dass hierin aber<br />
nur ein - natürlich sehr wichtiger - Teil <strong>der</strong> Unterstützungsnotwendigkeiten<br />
liegt. Genauso wichtig sind die Schaffung beruflicher,<br />
sozialer und kultureller Integrationsmöglichkeiten, die<br />
von den Betroffenen bei Bedarf selbständig genutzt werden<br />
können. In diesen Bereichen sehe ich lei<strong>der</strong> wenig Verbesserungen,<br />
ja sogar - wie sich am Beispiel Thüringens zeigen wird<br />
- rückläufige Tendenzen. Thüringen hat übrigens auch, nach<br />
meiner Kenntnis als einzigstes Bundesland, bisher kein Landesgleichstellungsgesetz<br />
für behin<strong>der</strong>te Menschen verabschiedet.<br />
Nach meinem Verständnis sind Hörschädigungen am ehesten<br />
als Kommunikations- und Beziehungsbehin<strong>der</strong>ung zu verstehen.<br />
Daher will ich zunächst einige grundsätzliche Ausführungen<br />
hierzu machen. Danach nenne ich einige Zahlen zum<br />
Ausmaß und den Arten von Hörschädigungen und will anschließend<br />
auf Lebenslagen und Versorgungsnotwendigkeiten<br />
9
eingehen. Am Beispiel Thüringens zeige ich dann die aktuelle<br />
Versorgungssituation und Anfor<strong>der</strong>ungen an die <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />
auf. Konkrete Zahlen zur Situation in den an<strong>der</strong>en Bundeslän<strong>der</strong>n<br />
sind mir nicht bekannt. Meiner Kenntnis nach liegt<br />
das an Forschungsdefiziten, d. h. es fehlt sowohl an <strong>der</strong> Bereitschaft,<br />
Mittel für entsprechende Forschungsprojekte zur<br />
Verfügung zu stellen wie auch an ForscherInnen, die sich lebensweltorientiert<br />
mit dem Thema Hörschädigung auseinan<strong>der</strong>setzen<br />
wollen. Es gibt jedoch Indizien und Praxiserfahrungen,<br />
die annehmen lassen, dass die Versorgungssituation<br />
bzw. die Versorgungsdefizite in den an<strong>der</strong>en Bundeslän<strong>der</strong>n<br />
ähnlich sind.<br />
2. Hörschädigung als Kommunikationsbehin<strong>der</strong>ung<br />
Hörschädigung ist eine unsichtbare Behin<strong>der</strong>ung. Sie wird erst<br />
in <strong>der</strong> Kommunikation mit Hörenden deutlich. Das Hauptmerkmal<br />
einer Hörschädigung ist die Störung <strong>der</strong> Kommunikation, die<br />
gleichzeitig eine Beziehungsstörung sein kann. Durch die Hörschädigung<br />
sind nicht nur die Hörgeschädigten selbst, son<strong>der</strong>n<br />
auch diejenigen betroffen, mit denen interagiert wird. Da Informationen<br />
auf sprachlichem Wege nicht o<strong>der</strong> nur bedingt erfahrbar<br />
sind, ist die Interaktion stark eingeschränkt. Hörgeschädigte<br />
sind in <strong>der</strong> ständigen Gefahr, eine Situation falsch einzuschätzen<br />
und sich entgegen den Erfor<strong>der</strong>nissen <strong>der</strong> Situation o<strong>der</strong><br />
entgegen den Erwartungen ihrer Interaktionspartner zu verhalten.<br />
Hörgeschädigte haben deshalb oft Schwierigkeiten, unmissverständliche<br />
Beziehungsangebote zu machen o<strong>der</strong> die<br />
Angebote zu verstehen, die von Hörenden gemacht werden.<br />
Große Beeinträchtigungen entstehen vor allem dann, wenn eine<br />
frühkindliche Hörschädigung vorliegt, da ein gestörter Spracherwerbprozess<br />
die Folge ist. Weil keine Sprachkontrollmöglichkeit<br />
über den Gehörsinn besteht, bleibt die Lautsprache<br />
auch nach langem Training oft unverständlich.<br />
Hörgeschädigte sind nicht selten sozial isoliert. Es gibt negative<br />
und ablehnende Einstellungen, die eine lange Tradition<br />
10
haben. Im Mittelalter war es ihnen verboten, Ehen zu<br />
schließen o<strong>der</strong> Geschäfte zu tätigen. Sie galten als<br />
min<strong>der</strong>wertig und konnten ihren Lebensunterhalt in <strong>der</strong> Regel<br />
nur durch Betteln bestreiten. Obwohl massive Vorurteile gegenüber<br />
Hörgeschädigten in <strong>der</strong> Öffentlichkeit nicht nachweisbar<br />
sind, ist dennoch - wenn auch in <strong>der</strong> Regel latent - mit<br />
verständnislosen o<strong>der</strong> sogar diskriminierenden Einstellungen<br />
zu rechnen.<br />
<strong>Die</strong> soziale Isolierung wird durch die Tatsache verschärft, dass<br />
Hörgeschädigte - und beson<strong>der</strong>s Gehörlose - aufgrund <strong>der</strong><br />
Kommunikationsbarrieren mit <strong>der</strong> hörenden Umwelt oft vom<br />
kulturellen und politischen Leben ausgeschlossen sind. Sie<br />
haben bisher völlig unzureichende Bildungs-, Qualifizierungs-<br />
und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten. Es wird geschätzt,<br />
dass von den 80.000 Gehörlosen in <strong>der</strong> Bundesrepublik bisher<br />
lediglich 300 (!) die Schriftsprache in <strong>der</strong>selben Qualität wie<br />
Hörende beherrschen. Ein Hauptgrund dafür ist <strong>der</strong><br />
„Sprachenstreit“ zwischen Befürwortern <strong>der</strong> Laut- und<br />
Gebärdensprache.<br />
<strong>Die</strong> „Oralisten“ sehen ausschließlich den Lautspracheerwerb<br />
als Voraussetzung für eine Identitätsentwicklung und Integration<br />
hörgeschädigter Menschen an. Dahinter steht das Bestreben,<br />
das Defizit <strong>der</strong> Hörschädigung durch eine weitgehende<br />
Anpassung an die hörende Welt beheben bzw. kompensieren<br />
zu wollen. Deshalb wurde - und wird - aus dieser Sicht auf<br />
lautsprachbegleitende Gebärden o<strong>der</strong> die Gebärdensprache in<br />
<strong>der</strong> Erziehung und Bildung gehörloser und höhergradig<br />
schwerhöriger Kin<strong>der</strong> verzichtet. Dabei wird angenommen,<br />
dass kein an<strong>der</strong>es Symbolsystem die Funktion <strong>der</strong> Lautsprache<br />
gleichwertig ersetzen kann.<br />
Mittlerweile wird jedoch von vielen gegen die Annahme einer<br />
engen Verknüpfung von Lautsprache und Denken plädiert. Es<br />
ist hinreichend belegt, dass die Gebärdensprache ein vollwertiges<br />
Sprachsystem ist, das dieselben Funktionen übernimmt<br />
wie die Lautsprache für Hörende. Der Erwerb von Sprachkompetenz<br />
ist ein zentraler Bestandteil des Sozialisationspro-<br />
11
zesses. Sprache hat viele Funktionen: <strong>Die</strong> <strong>der</strong> Kommunikation,<br />
das Übermitteln von Botschaften o<strong>der</strong> Ausdruck von Gedanken<br />
und Gefühlen. <strong>Die</strong> Identitätsbildung und das Selbstwertgefühl<br />
Hörgeschädigter kann durch die Anwendung <strong>der</strong><br />
Gebärdensprache wesentlich günstiger beeinflusst werden als<br />
durch die ausschließliche Konzentration auf eine lautsprachliche<br />
Sozialisation.<br />
Hörgeschädigte leiden oft unter zahlreichen Versorgungsdefiziten.<br />
Viele Einrichtungen und Institutionen <strong>der</strong> psychosozialen<br />
Versorgung, des Gesundheitswesens und <strong>der</strong> Rehabilitation<br />
können aufgrund <strong>der</strong> Kommunikationsbarrieren von Hörgeschädigten<br />
nicht o<strong>der</strong> nur mit großen Einschränkungen genutzt<br />
werden. Sie benötigen spezialisierte Hilfen und Unterstützungsangebote.<br />
In diesem Zusammenhang hat die professionelle<br />
Sozialarbeit eine große Bedeutung. <strong>Die</strong> Komplexität<br />
<strong>der</strong> psychosozialen Situation vieler Betroffener macht ein umfangreiches<br />
Wissen über ihre Sozialisationsbedingungen und<br />
<strong>der</strong>en praktische Auswirkungen notwendig und erfor<strong>der</strong>t<br />
Kenntnisse über methodische Varianten <strong>der</strong> Sozialen Arbeit<br />
(Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit, Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit,<br />
Sozialplanung, Case-Management etc.). <strong>Die</strong> Schwerhörigen-<br />
und Gehörlosenverbände und an<strong>der</strong>e Betroffeneninitiativen<br />
sind sich daher in ihrer For<strong>der</strong>ung nach dem verstärkten<br />
Einsatz von professioneller Sozialer Arbeit weitgehend einig.<br />
3. Ausmaß und Arten von Hörschädigungen<br />
Bei 19 % <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung über 14 Jahre liegt eine<br />
Hörschädigung vor. Das entspricht einer Gesamtzahl von etwa<br />
13,4 Mill. Betroffenen. Da die Kin<strong>der</strong> nicht erfasst werden, liegt<br />
die Gesamtzahl noch höher. Von den 13,4 Mill. Hörgeschädigten<br />
sind:<br />
⇒ 7,51 Mill. leicht schwerhörig (56,0 %)<br />
⇒ 4,68 Mill. mittelgradig schwerhörig (34,9 %)<br />
⇒ 958.000 hochgradig schwerhörig (7,1 %)<br />
⇒ 213.000 an Taubheit grenzend schwerhörig (1,6 %)<br />
⇒ 80.000 Gehörlose (0,4%)<br />
12
Einen Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweis besitzen ca. 250.000 Hörgeschädigte.<br />
Dabei ist von einer Untererfassung aufgrund von<br />
Arbeitsplatzängsten, Informationsdefiziten und Abwehrhaltungen<br />
<strong>der</strong> Betroffenen auszugehen. Jährlich kommen 1500 bis<br />
2000 Kin<strong>der</strong> mit einer Hörschädigung zur Welt.<br />
Der folgenden Tabelle ist die Anzahl <strong>der</strong> offiziell registrierten<br />
hörgeschädigten Menschen in Thüringen zu entnehmen.<br />
Anzahl hörgeschädigter Menschen in Thüringen (2001):<br />
Sprach- o<strong>der</strong> Sprechstörungen 299<br />
Taubheit 892<br />
Taubheit kombiniert mit Störungen <strong>der</strong> Sprachentwicklung<br />
und entsprechenden Störungen <strong>der</strong> geistigen<br />
Entwicklung<br />
Schwerhörigkeit, auch kombiniert<br />
mit Gleichgewichtsstörungen<br />
594<br />
6.605<br />
Gleichgewichtsstörungen 64<br />
Insgesamt: 8.454<br />
Merkzeichen „GL“ im Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweis (2003):<br />
1.568<br />
Das Merkzeichen „GL“ können sich gehörlose Menschen, bei<br />
denen Taubheit bei<strong>der</strong> Ohren vorliegt, sowie hörgeschädigte<br />
Menschen mit einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit<br />
bei<strong>der</strong>seits, wenn zusätzlich schwere Sprachstörungen vorliegen,<br />
in den Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweis eintragen lassen.<br />
13
Über die Unterschiede bzw. Varianten von Hörschädigungen<br />
gibt Abbildung 1 Auskunft:<br />
Abb. 1: Unterschiede <strong>der</strong> Hörschädigung<br />
Gehörlose<br />
• Geburtstaub<br />
• keine Hörerfahrung<br />
• Ausschluss aus <strong>der</strong><br />
lautsprachlichen<br />
Kommunikation<br />
• Künstliches Sprechen<br />
lernen<br />
• Absehen<br />
• Gebärdensprache<br />
Spätertaubte<br />
• nach dem 3. Lebensjahr<br />
ertaubt<br />
• Hör- und Sprecherfahrung<br />
• Grammatikalischer<br />
Spracherwerb erfolgt<br />
• Absehen<br />
• Gebärdensprache<br />
Schwerhörige /<br />
CI – Träger<br />
• Eingeschränktes Hörvermögen<br />
• Hörgerät unterstützt<br />
Kommunikation<br />
• lautsprachliche Kommunikation<br />
• Absehen u. Restgehör<br />
• Lautsprache<br />
Eine gute Aussprache kann über das Hörvermögen hinwegtäuschen!<br />
Bei <strong>der</strong> Altersverteilung von Hörschäden zeigt sich eindeutig<br />
eine Zunahme mit steigendem Alter:<br />
14<br />
Abb. 2: Altersverteilung von Hörschädigungen<br />
bis 20 Jahre<br />
21 – 40 Jahre<br />
41 – 60 Jahre<br />
über 60 Jahre<br />
4 %<br />
11 %<br />
40 %<br />
45 %
<strong>Die</strong> folgenden Abbildungen verdeutlichen die Höreindrücke<br />
schwerhöriger Menschen:<br />
Abb. 3:<br />
Normalhören<strong>der</strong> in einer<br />
schallarmen Umgebung<br />
Abb. 4:<br />
Leicht-Schwerhöriger in einer<br />
schallarmen Umgebung<br />
Abb. 5:<br />
Hochgradig Schwerhöriger in einer<br />
schallarmen Umgebung<br />
Abb. 6:<br />
Normalhören<strong>der</strong> in einer<br />
schallreichen Umgebung<br />
Abb. 7:<br />
Leicht-Schwerhöriger in einer<br />
schallreichen Umgebung<br />
Abb. 8:<br />
Hochgradig Schwerhöriger in einer<br />
schallreichen Umgebung<br />
<strong>Die</strong> Abbildungen veranschaulichen, dass höhergradig schwerhörige<br />
Menschen und gehörlose Menschen auf Kommunikationshilfen<br />
mit <strong>der</strong> hörenden Welt angewiesen sind. Hier sind<br />
natürlich zunächst einmal die technischen Hörhilfen zu erwäh-<br />
15
nen, die bis zu einem bestimmten Grad den Hörverlust ausgleichen<br />
können. Da dies jedoch nicht bei allen möglich ist,<br />
sind viele Betroffene auf an<strong>der</strong>e Kommunikationshilfen angewiesen.<br />
<strong>Die</strong> wichtigsten sind:<br />
⇒ das Absehen<br />
⇒ die Deutsche Gebärdensprache<br />
⇒ die Lautsprachbegleitende Gebärdensprache<br />
⇒ das Lormen<br />
⇒ das Fingeralphabet<br />
Beson<strong>der</strong>s betreffs „Absehen“ werden die Informationsaufnahmemöglichkeiten<br />
übrigens immer wie<strong>der</strong> überschätzt: Nur<br />
max. 30 Prozent <strong>der</strong> Laute lassen sich anhand <strong>der</strong> Mundbewegung<br />
erkennen, die restlichen 70 Prozent müssen kombiniert<br />
werden und es ist kaum möglich, sich länger als 15 Minuten<br />
auf das Absehen zu konzentrieren.<br />
4. Hörschädigung als psychosoziales Problem<br />
Eine gravierende Hörschädigung berührt fast alle Bereiche<br />
des Lebens und erfor<strong>der</strong>t spezielle Unterstützungsleistungen.<br />
Für Hörende gibt es zahlreiche mehr o<strong>der</strong> weniger spezialisierte<br />
Beratungsdienste (Familien-, Schuldner-, Drogenberatung,<br />
Psychotherapie etc.), die von Hörgeschädigten aufgrund<br />
<strong>der</strong> Kommunikationsbarrieren und <strong>der</strong> fehlenden Fachkenntnisse<br />
<strong>der</strong> Beratungsfachkräfte nur unzureichend in Anspruch<br />
genommen werden können.<br />
In <strong>der</strong> Beratung von Hörgeschädigten stellt sich u. a. die Aufgabe<br />
<strong>der</strong> Vermittlung von Weltwissen (über Traditionen, unsichtbare<br />
Normen, Wertvorstellungen etc.). Es geht außerdem<br />
um Motivationshilfen bei <strong>der</strong> Entwicklung von Lebensentwürfen,<br />
die Erläuterung aktueller gesellschaftlicher Verän<strong>der</strong>ungen<br />
(Gesundheitswesen, Politik, Gesetze etc.), Informationen<br />
über zustehende Hilfen o<strong>der</strong> das Übersetzen/Verfassen von<br />
Briefen bzw. amtlichen Schreiben.<br />
16
Folgend ein typisches Faxbeispiel einer ratsuchenden Gehörlosen<br />
mit Problemen am Arbeitsplatz (an eine Sozialarbeiterin<br />
in einer Beratungsstelle für Hörgeschädigte):<br />
„Ja, habe ich heute auch auf Arbeit. Nicht schlimm, dass treffen<br />
wir nächste mal bis ich dir bescheid. Also brauche ich ja<br />
<strong>der</strong> Handy. Warum?, wenn ich Urlaub gemeldet, dass z.B.<br />
wenn ich vor dem Urlaub mein Firma gefaxt, ob ich will wissen,<br />
wo soll ich nach Urlaub arbeiten. Ich habe nur 1 Tag gemeldet,<br />
aber ich 4x Fax geschickt, aber kein Antwort. Ich mag<br />
nicht Fax, beson<strong>der</strong>s Handy, weil Chef hat auch Handy hat.<br />
Du kannst gleich <strong>der</strong> meinen Chef telefoniert. Wenn du fertig<br />
<strong>der</strong> Chef telefoniert, bitte meldet mir <strong>der</strong> Rückantwort an... Ich<br />
brauche wissen, ob mein Firma noch weiter läuft.“<br />
Hier droht die Kündigung, weil die Betroffene keine Kenntnis<br />
darüber hatte, dass <strong>der</strong> Urlaub rechtzeitig eingereicht werden<br />
muss.<br />
Hörgeschädigte sind beson<strong>der</strong>s in den Bereichen Arbeit und<br />
Beruf benachteiligt. Sie sind bisher überwiegend im Handwerk<br />
und in <strong>der</strong> Maschinenbedienung berufstätig. Hörgeschädigte<br />
verdienen durchschnittlich 25 Prozent weniger als Hörende.<br />
Nur wenige arbeiten in Bereichen mit relativ großem Entscheidungsspielraum,<br />
wie beispielsweise in <strong>der</strong> Schwerbehin<strong>der</strong>tenvertretung<br />
von Betrieben, dem Auftragsmanagement o<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Computerprogrammierung. Schwerhörige, die in <strong>der</strong> Regel<br />
über bessere Möglichkeiten <strong>der</strong> Verständigung mit Hörenden<br />
verfügen, haben die qualifizierteren Arbeitsplätze und größere<br />
Entscheidungs- und Handlungsspielräume als Gehörlose<br />
(Bromme / Klamann / Kremer 1998, S. 23f.).<br />
Oft sind beson<strong>der</strong>s Gehörlose an ihren Arbeitsplätzen mit<br />
doppelten Belastungen konfrontiert: Einerseits haben sie ihre<br />
Rolle als ArbeitnehmerInnen zu bewältigen, zusätzlich führen<br />
die Kommunikationsprobleme im Arbeitsalltag aber nicht selten<br />
zu erheblichen psychosozialen Belastungen. <strong>Die</strong> Kommunikationsprobleme<br />
mit den hörenden KollegInnen können so<br />
groß werden, dass sich die Verständigung auf das Notwendig-<br />
17
ste beschränkt. Gehörlose bemühen sich um eine kommunikative<br />
Anpassung, in dem sie versuchen, bei den hörenden KollegInnen<br />
vom Mund abzusehen. Der Alltag wird in <strong>der</strong> Regel<br />
mit schriftlichen Notizen, Skizzen und Gesten gestaltet. Eine<br />
Verständigung durch einzelne Gebärdenvokabeln o<strong>der</strong> Gebärdensprache<br />
ist sehr selten. <strong>Die</strong> Möglichkeiten des Mundabsehens<br />
werden in <strong>der</strong> Regel überschätzt und die Auswirkungen<br />
<strong>der</strong> Kommunikationsprobleme unterschätzt. Das führt<br />
häufig zur Isolation. Hörgeschädigte werden relativ selten hinreichend<br />
in die betrieblichen Informationsflüsse einbezogen.<br />
Formale und fachliche Informationen können aufgrund von Defiziten<br />
in <strong>der</strong> Schriftsprache nicht ausreichend aufgenommen<br />
werden. Dadurch entstehen u. a. Unklarheiten betreffs sozialer<br />
Normen und Leistungsanfor<strong>der</strong>ungen, Verhaltensunsicherheiten<br />
o<strong>der</strong> es kommt zu einem unangemessenen Verhalten am<br />
Arbeitsplatz (unentschuldigtes Fehlen, Aggressionen, Arbeitsverweigerung<br />
etc.). <strong>Die</strong>s kann wie<strong>der</strong>um - möglicherweise ohnehin<br />
vorhandene latente o<strong>der</strong> offene Vorurteile - verstärken<br />
und Konflikte produzieren.<br />
So entsteht bei vielen Hörgeschädigten eine kontraproduktive<br />
psychosoziale Stresssituation (Piel 1996, S. 333f.). Abbildung<br />
9 fasst die Hauptprobleme Hörgeschädigter im Arbeitsleben<br />
zusammen:<br />
Hauptprobleme hörgeschädigter Menschen im Arbeitsleben<br />
Kommunikationsprobleme <br />
Informationsdefizite<br />
Quelle:Erstellt nach Bungard / Kupke 1995, S. 39f.<br />
Fehlende Fortbildungsmöglichkeiten <br />
Fehlverhalten<br />
am Arbeitsplatz<br />
Für Thüringen hat bereits Mitte <strong>der</strong> neunziger Jahre eine Studie<br />
bestätigt, dass Probleme in Arbeit und Beruf zu den häufigsten<br />
18
Gründen gehören, warum die Betroffenen im erwerbsfähigen<br />
Alter Rat und Unterstützung nachfragen (Stange 1995).<br />
Das Ziel <strong>der</strong> Beratung Hörgeschädigter sollte grundsätzlich die<br />
Kompetenzerhaltung bzw. die Erlangung neuer Kompetenzen<br />
sein. <strong>Die</strong> För<strong>der</strong>ung von Unabhängigkeit, Hilfe zur Selbsthilfe<br />
und Achtung <strong>der</strong> Subjektfunktion müssen im Mittelpunkt stehen.<br />
<strong>Die</strong> Arbeit mit Hörgeschädigten erfor<strong>der</strong>t eine hohe Frustrationstoleranz,<br />
da Hörgeschädigte zwar oft Zufriedenheit und<br />
Einverständnis zu erkennen geben, an<strong>der</strong>erseits dies aber nicht<br />
in Handeln umsetzen o<strong>der</strong> ohne einen Grund anzugeben, sich<br />
nicht wie<strong>der</strong> melden (Stange/Oelze 2005).<br />
5. Versorgungssituation in Thüringen<br />
Seit 1997 wurden durch das Hörmobil hörgeschädigte Menschen<br />
in den Regionen professionell beraten, in denen keine<br />
Beratungsstelle existiert. Im Jahr 2004 erfolgten thüringenweit<br />
1600 Beratungen. Schwerpunktmäßige Beratungsthemen waren<br />
Fragen zur technischen Ausstattung von schwerhörigen<br />
Menschen, Arbeitsplatzprobleme und Hilfen beim Umgang mit<br />
Ämtern und Behörden. Obwohl das Thüringer Hörmobil gut<br />
frequentiert bzw. angenommen wurde, musste dieses Projekt<br />
aufgrund mangeln<strong>der</strong> Bezuschussung durch den Freistaat<br />
Thüringen zum 31.12.2004 aufgegeben werden.<br />
Der Schwerhörigenbund Landesverband Thüringen kann aufgrund<br />
<strong>der</strong> Kürzung von finanziellen Zuschüssen zur Zeit keine<br />
weitergehenden Beratungen mehr zusichern bzw. durchführen.<br />
Momentan finden lediglich telefonische Beratungen statt<br />
o<strong>der</strong> Anfragen <strong>der</strong> Betroffenen werden per Mail beantwortet.<br />
In <strong>der</strong> Gehörlosenberatung mussten im Laufe <strong>der</strong> vergangenen<br />
Jahre Beratungseinrichtungen wegen fehlen<strong>der</strong> finanzieller<br />
Unterstützung geschlossen werden. Dazu zählte u. a. die<br />
Einrichtung in Zeulenroda, die den Beratungsbedarf in Ostthüringen<br />
abdeckte. Sie musste 1996 aufgegeben werden. Außerdem<br />
wurde zum 31.07.2005 die Beratungsstelle in Suhl<br />
geschlossen. Fast <strong>der</strong> gesamte Südthüringer Raum ist damit<br />
zur Zeit unversorgt.<br />
19
Der Landesverband <strong>der</strong> Gehörlosen in Erfurt unterhält eine<br />
Beratungsstelle für Hörgeschädigte und ihre Angehörigen sowie<br />
eine Gebärdensprachdolmetschervermittlung. Darüber<br />
hinaus werden Fahr- und Betreuungsdienste geleistet, Gebärdensprachkurse<br />
durchgeführt, Selbsthilfegruppen unterstützt<br />
sowie Veranstaltungen im Kultur und Freizeitbereich organisiert.<br />
Ab 01.08.2005 wurde die Beratungsstelle des Landesverbandes<br />
<strong>der</strong> Gehörlosen in Erfurt für Südthüringen zuständig. Aufgrund<br />
<strong>der</strong> unzureichenden personellen Situation kann jedoch<br />
keine kontinuierliche Beratungsarbeit bzw. eine Kompensation<br />
<strong>der</strong> fehlenden Versorgung in Südthüringen geleistet werden.<br />
Weiterhin ist auch <strong>der</strong> Erhalt <strong>der</strong> Beratungsmöglichkeiten in<br />
Nordhausen, Mühlhausen und Gera momentan in Frage gestellt.<br />
6. Zusammenfassung<br />
Aufgrund <strong>der</strong> Schließung von Beratungseinrichtungen muss<br />
lei<strong>der</strong> von einer dramatischen Verschlechterung <strong>der</strong> psychosozialen<br />
Versorgung von hörgeschädigten Menschen in Thüringen<br />
ausgegangen werden.<br />
Der Bedarf an Unterstützung und Hilfsangeboten für die betroffenen<br />
Personengruppen ist eindeutig nicht abgedeckt. Aufgrund<br />
<strong>der</strong> immer weiter werdenden Anfahrtswege zur nächsten<br />
Beratungsstelle, müssen viele Betroffene auf eine notwendige<br />
Kontaktaufnahme verzichten.<br />
Perspektivisch ist momentan keine Verbesserung <strong>der</strong> Versorgungssituation<br />
zu erwarten. <strong>Die</strong> „weißen Flecken“ in <strong>der</strong> Versorgungslandschaft<br />
werden höchstwahrscheinlich noch zunehmen.<br />
Außerdem fehlen in Thüringen spezialisierte Angebote<br />
für Hörgeschädigte betreffs Suchtproblemen, Schuldnerberatung<br />
sowie Ehe- und Familieberatung und Psychotherapie.<br />
Hinsichtlich <strong>der</strong> Versorgungsnotwendigkeiten und For<strong>der</strong>ungen<br />
an die <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> <strong>der</strong> Landesregierung sind weiterhin<br />
zu nennen:<br />
20
⇒ Neben den „stationären“ Beratungsstellen ist aufgrund <strong>der</strong><br />
sehr guten Erfahrungen mit dem Thüringer Hörmobil eine<br />
Ausweitung <strong>der</strong> mobilen Beratungsdienste notwendig.<br />
⇒ <strong>Die</strong> professionellen Fachkräfte in den noch bestehenden<br />
Beratungsstellen können sich nicht ausschließlich auf die<br />
Beratung <strong>der</strong> Betroffenen konzentrieren, da sie zusätzliche<br />
Verwaltungsarbeiten leisten müssen. Eine Beschäftigung<br />
von Verwaltungsfachkräften würde zur besseren Ressourcennutzung<br />
beitragen.<br />
⇒ Einige MitarbeiterInnen <strong>der</strong> Beratungseinrichtungen<br />
kommen aus fachfremden Berufen. Selbstbetroffenheit<br />
kann bekanntlich keine professionelle Kompetenz ersetzen,<br />
son<strong>der</strong>n lediglich ergänzen. Daher besteht für diese<br />
Personengruppe ein Weiterbildungs- und Qualifizierungsbedarf.<br />
⇒ <strong>Die</strong> Betroffenenverbände, Fachleute und Wissenschaft<br />
sind sich einig darin, dass die vielfältigen und komplexen<br />
Aufgaben in <strong>der</strong> Hörgeschädigtenberatung am ehesten<br />
von studierten SozialarbeiterInnen mit entsprechenden<br />
Zusatzqualifikationen in Kommunikationstechniken geleistet<br />
werden können. Hierauf ist bei Neueinstellungen<br />
bzw. <strong>der</strong> Weiterentwicklung <strong>der</strong> Hörgeschädigten-beratung<br />
zu achten.<br />
⇒ Es sollten zudem mehr selbstbetroffene Hörgeschädigte<br />
hauptamtlich in die Beratungsstrukturen integriert werden.<br />
Erfreulicherweise haben mittlerweile einige Gehörlose/Schwerhörige<br />
ein Sozialarbeit- o<strong>der</strong> Psychologiestudium<br />
absolvieren können.<br />
<strong>Die</strong> Hauptnotwendigkeit in <strong>der</strong> Versorgung Hörgeschädigter in<br />
Thüringen besteht jedoch darin, neue Beratungsstellen bedarfsorientiert<br />
einzurichten und die bestehenden Beratungsstellen<br />
dauerhaft abzusichern. Momentan sind mindestens drei<br />
Vollzeitstellen erfor<strong>der</strong>lich, um den Beratungsbedarf in Thüringen<br />
zu decken.<br />
21
Zusammenfassend bestätigt <strong>der</strong> Blick auf die Thüringer Versorgungssituation<br />
bzw. die in den letzten Jahren erfolgten Mittelkürzungen,<br />
die Auffassung, dass Gleichstellungspostulate<br />
ohne konkrete Nachteilsausgleiche und Leistungsgesetze lediglich<br />
den Charakter eines „Gerechtigkeits-Placebos“ haben.<br />
Literatur:<br />
Bromme, Rainer/Klamann, Michaela/ Kremer, Antje (1998): Evaluation des<br />
Einsatzes von Bildtelefonie am Arbeitsplatz von gehörlosen Mitarbeitern<br />
und Mitarbeiterinnen <strong>der</strong> Deutschen Telekom AG, Münster<br />
Bungard, Walter/Kupke, Sylvia (1995): Gehörlose Menschen in <strong>der</strong> Arbeitswelt,<br />
Weinheim<br />
Piel, Petra (1996): Ich denke, gehörlose Sozialarbeiterinnen und -arbeiter<br />
werden teilweise an<strong>der</strong>s arbeiten, vielleicht nicht besser o<strong>der</strong> schlechter,<br />
aber eben an<strong>der</strong>s, in: Das Zeichen 37, S. 333-345<br />
Stange, Karl-Heinz (1995): Versorgungssituation Hörbehin<strong>der</strong>ter in Thüringen,<br />
Erfurt 1995<br />
Stange, Karl-Heinz/Oelze, Claudia (2005): Hörschädigung. Eine Einführung<br />
für Sozial- und Gesundheitsberufe, Nürnberg (im Erscheinen)<br />
Karl-Heinz Stange, Prof. Dr. phil., Diplom-Sozialwissenschaftler, Diplom-<br />
Pädagoge und Diplom-Sozialarbeiter (FH), Professor für Rehabilitation im<br />
Fachbereich Sozialwesen <strong>der</strong> Fachhochschule Erfurt, Veröffentlichungen zur<br />
Sozial- und Gesundheitspolitik und zu Rehabilitationsthemen, Arbeitsschwerpunkte:<br />
Krankenkassen- und Versorgungsforschung, Sozialarbeit im<br />
Gesundheitswesen, Rehabilitation von psychisch Kranken, Hörbehin<strong>der</strong>ung,<br />
<strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />
22
Anhang<br />
Anzahl <strong>der</strong> als schwerbehin<strong>der</strong>t anerkannten Hörgeschädigten in Prozent<br />
<strong>der</strong> Bevölkerung nach Landkreisen und Kreisfreien Städten (31.12.2003)<br />
Stadt<br />
Bevölkerungsanzahl<br />
Hörgeschädigte<br />
Menschen<br />
Anzahl <strong>der</strong> Hörgeschädigten<br />
in %<br />
Erfurt 202.450 823 0,40<br />
Gera 105.153 383 0,36<br />
Jena 102.442 344 0,33<br />
Suhl 43.652 148 0,34<br />
Weimar 64.491 230 0,36<br />
Eisenach 43.915 191 0,43<br />
Eichsfeld 110.843 418 0,38<br />
Nordhausen 94.519 297 0,31<br />
Wartburgkreis 139.805 505 0,36<br />
Unstrut-<br />
Hainich-Kreis<br />
115.100 315 0,27<br />
Kyffhäuserkreis 89.517 290 0,32<br />
Schmalkalden-<br />
Meiningen<br />
138,642 556 0,40<br />
Gotha 144.833 445 0,31<br />
Sömmerda 77.831 203 0,26<br />
Hildburghausen 71.521 187 0,26<br />
Ilmkreis 118.112 392 0,33<br />
Weimarer Land 88.862 215 0,24<br />
Sonneberg 64.983 185 0,28<br />
Saalfeld-<br />
Rudolstadt<br />
Saale-<br />
Holzland-Kreis<br />
Saale<br />
Orla-Kreis<br />
126.692 396 0,31<br />
91.470 218 0,24<br />
94.501 313 0,33<br />
Greiz 118.053 349 0,29<br />
Altenburgerland 107.893 372 0,34<br />
Thüringen gesamt<br />
2.355.280 7.775 0,33<br />
23
Beratungsstelle<br />
Deutscher Schwerhörigenbund,<br />
Landesverband Thüringen<br />
e. V.<br />
Buttelstedter Str. 19<br />
99427 Weimar<br />
Landesverband <strong>der</strong><br />
Gehörlosen<br />
Thüringen e. V.<br />
Hans – Grundig – Str. 25<br />
99099 Erfurt<br />
Caritas Regionalstelle<br />
Erfurt<br />
Regierungsstraße 55<br />
99084 Erfurt<br />
Beratungsstelle für Hörgeschädigte,<br />
Suhl<br />
Auenstr. 32<br />
98527 Suhl<br />
Caritas Regionalstelle<br />
Eichsfeld/ Unstrut- Hainich<br />
Caritasverband für das<br />
Bistrum Erfurt e. V.<br />
Bonifatiusweg 2<br />
37327 Leinefelde<br />
Diakonie – Kreisstelle<br />
Fachdienst für<br />
Hörbehin<strong>der</strong>te<br />
Saalbahnhofstr. 12<br />
07743 Jena<br />
Schwerhörigen-Verein<br />
Eisenach e.V.<br />
Rot-Kreuz-Weg 01<br />
99817 Eisenach<br />
24<br />
Bemerkung<br />
Führen seit Januar 2005,<br />
aufgrund von mangeln<strong>der</strong><br />
Finanzierung keine<br />
persönliche Beratung<br />
durch. Es wird lediglich<br />
eine nie<strong>der</strong>schwellige<br />
Beratungstätigkeit per<br />
Telefon und e-mail geleistet<br />
Bestand bis 31.07.2005,<br />
danach Auflösung <strong>der</strong><br />
Beratungsstelle aufgrund<br />
nicht gesicherter Finanzierung<br />
Der weitere Fortbestand<br />
dieser Einrichtung ist unklar,<br />
da eine Finanzierung<br />
durch den Freistaat<br />
Thüringen seit dem<br />
01.01.2005 nicht mehr<br />
geleistet wird<br />
<strong>Die</strong> Beratung wird<br />
ausschließlich von ehrenamtlichen<br />
Kräften geleistet<br />
Zuständig für folgende<br />
Landkreise<br />
Weimar, Weimarer Umland<br />
Aufgrund <strong>der</strong> Kürzungsproblematik,<br />
mittlerweile für den<br />
gesamten Thüringer Raum,<br />
allerdings kann Beratung nur<br />
in „Extremfällen“ gewährleistet<br />
werden<br />
Stadt und Landkreis Erfurt<br />
Wartburgkreis, Hildburghausen,<br />
Schmalkalden-<br />
Meiningen, Sonneberg,<br />
Ilmkreis<br />
Eichsfeld,<br />
Unstrut-Hainich-Kreis<br />
Jena, Saale-Holzland-Kreis,<br />
Saale-Orla-Kreis<br />
Stadt Eisenach, Wartburgkreis
<strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />
unter <strong>der</strong> Großen Koalition -<br />
Großes Ziel und kleine Schritte Ilja Seifert<br />
In den sieben Jahren <strong>der</strong> rosa-oliven Koalition dominierte ein<br />
Begriff die <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>: Paradigmenwechsel. Das klang<br />
bedeutend. Hinzugefügt wurde, daß es sich um einen Wechsel<br />
von bevormunden<strong>der</strong> Fürsorge hin zu selbstbestimmter Teilhabe<br />
handele. Das klingt fortschrittlich. Untersetzt wurde das<br />
im wesentlichen mit zwei Gesetzen: dem Neunten Sozialgesetzbuch<br />
(SGB IX), das 2001 in Kraft trat, und dem Bundes-<br />
Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetz (BBG), dessen in-Krafttreten<br />
am 1. Mai 2002 gefeiert wurde.<br />
Daß sich diese Gesetze – o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong> vielbeschworene „Paradigmenwechsel“<br />
– im realen Leben von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />
und/o<strong>der</strong> chronischen o<strong>der</strong> psychischen Erkrankungen<br />
sowie <strong>der</strong>en Angehörigen beson<strong>der</strong>s positiv ausgewirkt<br />
hätten, läßt sich beim besten Willen nicht belegen. Immerhin<br />
darf ihnen eine gewisse orientierende Wirkung, eine<br />
gute Absicht, ein Wille zur Gestaltung unterstellt werden. Vielleicht<br />
lassen sich in einigen Jahrzehnten – rückblickend – sogar<br />
wirklich nachhaltige Einstellungsän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung<br />
nachweisen? Von mitleidigem Wegsehen<br />
zum tolerierendem Akzeptieren? Womöglich gar zum Miteinan<strong>der</strong>?<br />
Das wären wirkliche Erfolge. Momentan sind es höchstens<br />
Wünsche.<br />
Dürftige Koalitionsaussagen<br />
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD hat immerhin<br />
im Kapitel IV: „Soziale Sicherheit verläßlich und gerecht<br />
gestalten“ einen Unterpunkt 5 „Gesellschaftliche Teilhabe<br />
von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen“. Dürfen wir also auf<br />
Fortschritte hoffen?<br />
25
<strong>Die</strong> Erfahrung lehrt: Wohl eher nicht. Der Text des Koalitionspapiers<br />
kann nur auf den allerersten Blick über die Dürftigkeit<br />
seines Inhalts hinwegtäuschen. Von „Paradigmenwechsel“ ist<br />
schon gar nicht mehr die Rede. Er müßte ja auch – sollte er<br />
tatsächlich mehr als einen Placebo-Effekt haben – wesentlich<br />
weiter gefaßt werden. Etwa <strong>der</strong>gestalt, daß vom „Sparen um<br />
jeden Preis“ zum „Erhöhen <strong>der</strong> Lebensqualität für alle“<br />
(insbeson<strong>der</strong>e die „Schwachen“, darunter Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />
und chronischen Erkrankungen sowie <strong>der</strong>en Angehörige)<br />
übergegangen werden soll. Das ist mit dieser Großkoalition<br />
nicht in Sicht.<br />
Daß ein solcher Paradigmenwechsel nicht auf das Verhältnis<br />
<strong>der</strong> (Mehrheits)Gesellschaft zu ihren behin<strong>der</strong>ten Mitglie<strong>der</strong>n<br />
begrenzt bleiben könnte, liegt auf <strong>der</strong> Hand. Es zeigt sich also<br />
abermals, daß die Verbesserung <strong>der</strong> Lebensbedingungen für<br />
Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen nicht losgelöst von <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Entwicklung vonstatten gehen kann. Aber das bestätigt<br />
auch, daß sich in <strong>der</strong> Lebenssituation behin<strong>der</strong>ter Menschen<br />
allgemeine Defizite brennpunktartig bündeln. Und daß<br />
Lösungswege, die „Schwachen“ gangbar sind, allen an<strong>der</strong>en<br />
zumindest nicht verschlossen bleiben. Im Gegenteil wird sich –<br />
wie häufig gesehen – beweisen, daß sie auch von sehr Vielen<br />
(nicht unmittelbar Betroffenen) gern benutzt werden.<br />
„Nutzen-für alle-Prinzip“ zum Konzept machen<br />
Was sich zunächst als „positiver Nebeneffekt“ zeigte, erweist<br />
sich zunehmend als innovativer Hebel, mit dessen Hilfe tatsächlich<br />
anhaltende Verbesserungen zugunsten Vieler – tendenziell<br />
aller – möglich werden: Das „Nutzen-für-alle-Prinzip“.<br />
Es sollte zum Grundkonzept politischen Handelns, verwalterischer<br />
Aktivitäten, technischer Erneuerung, städtebaulicher<br />
Gestaltung, designerischen Schaffens und möglichst auch des<br />
alltäglichen Miteinan<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> persönlichen Nachbarschaft<br />
werden. In etlichen Wahlprüfsteinen bekannte sich die Linkspartei.<strong>PDS</strong><br />
zu diesem Prinzip. Es ist eine <strong>der</strong> Aufgaben des<br />
AG „Selbstbestimmte <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>“, dieser Selbstverpflichtung<br />
Gestalt geben zu helfen.<br />
26
Lei<strong>der</strong> ist davon in <strong>der</strong> großen Koalitionsvereinbarung so gar<br />
nichts zu finden.<br />
Dafür umsomehr Gemeinplätze:<br />
Beispielsweise: „Der bereits eingeleitete Prozeß einer umfassenden<br />
Teilhabe am Gemeinschaftsleben soll fortgesetzt werden“.<br />
Ja, was heißt denn das? Wenn das den Koalitionären<br />
wirklich <strong>der</strong> Erwähnung wert ist – noch dazu als ersten Satz –<br />
muß man ja befürchten, daß zwischenzeitlich ernsthaft darüber<br />
diskutiert worden sein könnte, diesen Prozeß zu stoppen<br />
o<strong>der</strong> ihn gar rückgängig zu machen! Immerhin fällt auf, daß<br />
zwar von „dem bereits eingeleiteten Prozeß“ die Rede ist, <strong>der</strong><br />
„fortgesetzt werden“ solle, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> rot-grünen Vorgängerkoalition<br />
so geliebte Begriff des „Paradigmenwechsels“ jedoch<br />
tunlichst vermieden wird.<br />
Dann scheint die Koalition mutig zu werden. Sie definiert „die<br />
Unterstützung von Selbstständigkeit, Selbsthilfe und Selbstbestimmung<br />
. . . als gesellschaftliche Aufgabe“. Immerhin. Das<br />
klingt positiv. Da aber jegliche finanzielle o<strong>der</strong> strukturelle Untersetzung<br />
dieser Definition ausbleibt, ist zu befürchten, daß<br />
nur noch mehr Aufgaben auf das – eh überfor<strong>der</strong>te – Ehrenamt<br />
abgewälzt werden sollen. Hier bietet sich also <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenbewegung<br />
– und uns, <strong>der</strong> Linksfraktion, als ihr wichtigster<br />
parlamentarischer Arm – eine Chance, die Regierung<br />
beim Wort zu nehmen. Es kommt in diesem Punkte darauf an,<br />
sie „zum Jagen zu tragen“. Wenn es uns gelingt, ihr an dieser<br />
Stelle mehr als bloße Ankündigungen zu entlocken, können<br />
wir vielleicht zu kleinen Fortschritten beitragen. <strong>Die</strong> Linkspartei<br />
darf sich auch für solche Aufgaben nie zu schade sein.<br />
Daß wir die Perspektive einer gerechteren Weltordnung nicht<br />
aus den Augen verlieren wollen, darf uns nicht daran hin<strong>der</strong>n,<br />
schon jetzt die gröbsten Ungerechtigkeiten etwas mil<strong>der</strong>n zu<br />
helfen. Wer einen demokratischen Sozialismus anstrebt – und<br />
diesen als Weg, Ziel und Wertesystem beschreibt –, muß jedes<br />
Schrittchen hin zu einer etwas weniger undemokratische-<br />
27
en Erscheinungsform des herrschenden Kapitalismus begrüßen.<br />
Und wo immer es geht, aktiv darauf zu arbeiten.<br />
Teilhabe braucht bedarfsdeckende Nachteilsausgleiche<br />
Wo die Betroffenen, ihre Verbände und auch wir klare Worte<br />
zu einem Leistungsgesetz erhofft hätten, spricht die Koalitionsvereinbarung<br />
davon, daß die Leistungsstrukturen <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ungshilfe<br />
so weiterentwickelt werden sollen, daß „auch<br />
künftig ein effizientes und leistungsfähiges System zur Verfügung<br />
steht“. Das klingt eher bedrohlich: „Leistungsfähigkeit“<br />
deutet immerhin auf nicht vollständige Zerschlagung hin, „Effizienz“<br />
jedoch auf Einsparungen. Gebraucht würde aber ein<br />
Nachteilsausgleichs-Gesetz, das Assistenz im erfor<strong>der</strong>lichen<br />
Umfang sichert. An<strong>der</strong>s ist gesellschaftliche Teilhabe nicht<br />
wirklich herstellbar.<br />
<strong>Die</strong>sbezüglich stehen wir im Wort. Zahlreiche Wahlanfragen<br />
zu diesem Thema beantworteten wir eindeutig: „Seit langem<br />
unterstützt die Linkspartei.<strong>PDS</strong> das in <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ten-<br />
Bewegung entwickelte Konzept eines Nachteilsausgleichsgesetzes<br />
mit Assistenzsicherungscharakter (NAGAS). Inhaltliche<br />
Hauptkomponenten sind:<br />
28<br />
- konsequente Umstellung auf das Finalitätsprinzip (gleiche<br />
Leistung bei vergleichbarer Beeinträchtigung; unabhängig<br />
von Art und Ursache)<br />
- bundesweit einheitlicher Rechtsanspruch auf die erfor<strong>der</strong>lichen<br />
Leistungen (Bedarfsdeckungsprinzip)<br />
- Anspruch als Nachteilsausgleich, also unabhängig von<br />
Einkommen und Vermögen (keine Bedürftigkeitsprüfung)<br />
- Leistungsgewährung aus einer Hand<br />
- Bedarf wird von den Betroffenen benannt (Umkehr <strong>der</strong><br />
Beweislast; bei Verdacht auf ungerechtfertigte Ansprüche<br />
muß die Behörde dies nachweisen)
Es gäbe mehrere Wege, auf denen dieses Ziel erreicht werden<br />
könnte. Einer davon wäre, die Einglie<strong>der</strong>ungshilfe aus dem<br />
SGB XII heraus zu lösen, sie von <strong>der</strong> Bedürftigkeitsprüfung<br />
(SGB II) zu befreien und als Nachteilsausgleichs-Anspruch<br />
neu zu etablieren. Dazu soll es aus dem Etat <strong>der</strong> Kommunen<br />
in eine Bundesbehörde verlagert werden. Damit ginge eine –<br />
dringend erfor<strong>der</strong>liche – Entlastung <strong>der</strong> kommunalen Haushalte<br />
einher, ohne daß Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen weiter gegen<br />
an<strong>der</strong>e kommunale Aufgaben – Kultur, Kin<strong>der</strong>betreuung,<br />
ehrenamtliches Engagement, Straßenausbau usw. – ausgespielt<br />
würden.<br />
Ein an<strong>der</strong>er – noch besserer – Weg wäre, alle bisherigen Leistungen<br />
für Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen und/o<strong>der</strong> chronischen<br />
und psychischen Erkrankungen (vom Bundesversorgungsgesetz<br />
über Einglie<strong>der</strong>ungshilfe, Beamtenversorgung,<br />
Pflegeversicherung usw.) in einem neuen NAGAS zusammen<br />
zu fassen. Daß es durchaus schwierig ist, unterschiedliche<br />
Ansprüche (z.T. steuerfinanzierte, z.T. Versicherungs-, z.T.<br />
Schadensersatz-, z.T. Fürsorgeansprüche usw.) unter einen<br />
Hut zu bekommen, ist uns klar. Das verlangt großen politischen<br />
Willen, klare Konzepte, sinnvolle Übergangs- und Bestandsschutzregelungen<br />
sowie pfiffige Lösungen. Deshalb halten<br />
wir es nicht nur für möglich, son<strong>der</strong>n für sinnvoll und notwendig,<br />
den in Behin<strong>der</strong>tenorganisationen versammelten<br />
Sachverstand in allen Phasen <strong>der</strong> Erarbeitung, Diskussion,<br />
Erprobung und schließlich Anwendung dieses Gesetzes einzubeziehen.<br />
Das sollte bis dahin gehen, dauerhafte Begleit-<br />
und Unterstützungsangebote nach dem Prinzip „Betroffene<br />
helfen Betroffenen“ zu etablieren.“<br />
„ambulant vor stationär“? – Taten vor Ankündigungen!<br />
Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ soll – laut Koalitionsvertrag<br />
zwischen CDU/CSU und SPD – einen „zentralen Stellenwert“<br />
erhalten. Das hören wir schon seit Jahren. Es steht<br />
auch in verschiedenen Gesetzen so. Aber we<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> „Verzahnung<br />
ambulanter und stationärer <strong>Die</strong>nste“ noch bei <strong>der</strong><br />
„Leistungserbringung `aus einer Hand´“ noch bei <strong>der</strong> „Umset-<br />
29
zung <strong>der</strong> Einführung des Persönlichen Budgets“ sind irgendwelche<br />
konkreten Maßnahmen erwähnt. Es ist also zu befürchten,<br />
daß weitergewurstelt wird und immer <strong>der</strong> „Spareffekt“<br />
im Vor<strong>der</strong>grund steht, nicht die Steigerung <strong>der</strong> Lebensqualität<br />
behin<strong>der</strong>ter Menschen.<br />
<strong>Die</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong> – und hier wie<strong>der</strong>um unsere AG „Selbstbestimmte<br />
<strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>“ – steht also vor <strong>der</strong> Aufgabe,<br />
diese Schlagworte mit machbaren Konzepten zu untersetzen.<br />
<strong>Die</strong>se müssen – über unsere Parteistrukturen (also auch über<br />
die sich bildenden neuen) – z.B. in Kommunen und/o<strong>der</strong> auf<br />
Län<strong>der</strong>ebene in praktische Politik überführt werden. Es ist eine<br />
unserer Aufgaben im Parteibildungsprozeß, solche Fragen<br />
immer wie<strong>der</strong> auf die Agenda zu setzen. Ansonsten besteht<br />
die Gefahr, daß sie „vergessen“ werden. Dem dürfen wir keinen<br />
Raum bieten. Nur getragen von klaren Parteitagsorientierungen<br />
– und unterstützt durch praktische Erfahrungen aus<br />
Städten und Län<strong>der</strong>n – bleibt unsere diesbezügliche Position<br />
glaubwürdig.<br />
Ansonsten ergeht es uns wie dem Großkoalitionsvertrag, <strong>der</strong><br />
zum x-ten Male die „effektive Zusammenarbeit <strong>der</strong> Sozialleistungsträger“<br />
beschwört. <strong>Die</strong> Erfahrung lehrt, daß irgendeine<br />
Wirkung, die von solchen Ankündigungen ausgehen könnte,<br />
eher unwahrscheinlich ist. Es sei denn – und dagegen müßten<br />
wir gemeinsam mit den Betroffenen energisch Wi<strong>der</strong>stand leisten<br />
–, daß die „effektive Zusammenarbeit“ im Zusammenstreichen<br />
von Leistungen bestehen soll. Erste – sehr ernstzunehmende<br />
– Anzeichen dafür gibt es bereits. Und diese „effektive<br />
Zusammenarbeit“ reicht sogar weit über die Sozialleistungsträger<br />
hinaus: Beispielsweise gilt seit April d.J. <strong>der</strong> neue<br />
Rundfunkgebührenstaatsvertrag. Er sieht die Befreiung von<br />
<strong>der</strong> Rundfunkgebühren-Pflicht wegen geringen Einkommens<br />
nicht mehr vor. Befreiung erhält nur noch, wer einen entsprechenden<br />
Leistungsbescheid nachweisen kann. <strong>Die</strong> Kriterien<br />
dafür beziehen sich auf Hilfe zum Lebensunterhalt (SGB XII),<br />
Grundsicherung (SGBXII), Sozialgeld o<strong>der</strong> Arbeitslosengeld II,<br />
Leistungen nach dem Asylbewerberleistungs-Gesetz und<br />
Bundesausbildungsför<strong>der</strong>ungsgesetz sowie – Menschen mit<br />
30
Behin<strong>der</strong>ungen betreffend – auf beson<strong>der</strong>e Merkmale (Merkzeichen<br />
„RF“ im Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweis).<br />
Menschen mit geringem Einkommen (z.B. Erwerbsunfähigkeits-Rentner/innen,<br />
die knapp über <strong>der</strong> Grundsicherung liegen)<br />
werden nicht mehr berücksichtigt.<br />
Wer also beispielsweise 700,- €uro Erwerbsunfähigkeitsrente<br />
erhält, 300,- €uro Miete und 50,- €uro Heizkosten pro Monat<br />
bezahlt, hat keinen Anspruch auf Grundsicherung, da das Einkommen<br />
rein rechnerisch 5,- €uro oberhalb <strong>der</strong> Bedarfsgrenze<br />
liegt. RF-Befreiung erfolgt wegen <strong>der</strong> vorgegebenen Befreiungsgründe<br />
nicht. <strong>Die</strong> Höhe des überschreitenden Einkommens<br />
deckt jedoch nicht die monatliche Gebührenfor<strong>der</strong>ung.<br />
Aber es geht noch weiter! Ohne RF-Befreiung gibt es auch<br />
keine Ermäßigung <strong>der</strong> Telekom-Grundgebühr. Eins greift ins<br />
an<strong>der</strong>e. So wird die kostenlose Wertmarke für die Beför<strong>der</strong>ung<br />
im ÖPNV für Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung (Merkzeichen „Bl“,<br />
„H“, „G“, „GL“ bzw. „aG“ im Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweis) auch<br />
nur gewährt, wenn Leistungsbescheide nach SGB XII vorliegen.<br />
Menschen mit geringem Einkommen analog <strong>der</strong> gesetzlichen<br />
Bedarfsgrenzen werden wie<strong>der</strong>um in den Befreiungsgründen<br />
nicht erwähnt. <strong>Die</strong> Betroffenen sind damit schlechter<br />
gestellt. In Berlin setzt sich das beispielsweise noch dadurch<br />
fort, daß seit November 2005 auch die ermäßigten Eintrittsgebühren<br />
bei Schwimmhallen wegfallen. <strong>Die</strong> Reihe <strong>der</strong> Zusatzbelastungen<br />
ließe sich noch verlängern. Wir müssen ihr Wi<strong>der</strong>stand<br />
entgegensetzen.<br />
Der positiv klingende Ansatz im Koalitionsvertrag, die „berufliche<br />
Integration“ för<strong>der</strong>n zu wollen, um mehr Menschen mit<br />
Behin<strong>der</strong>ungen „außerhalb von Werkstätten . . . ihren Lebensunterhalt<br />
im allgemeinen Arbeitsmarkt erarbeiten“ lassen zu<br />
können, muß materiell untersetzt werden. Allein ein Prüfauftrag,<br />
„wie die Einglie<strong>der</strong>ungszuschüsse an Arbeitgeber ausgestaltet<br />
werden (können), um die Planungssicherheit für die<br />
dauerhafte Integration . . . zu verbessern“, reicht da nicht aus.<br />
31
Barrierefreie Infrastruktur darf kein Randthema bleiben<br />
Ansonsten kommen Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen im Weltbild<br />
<strong>der</strong> Großkoalitionäre nur noch im Zusammenhang mit demographischem<br />
Wandel und Migration vor. Im Unterpunkt „Stadtentwicklung<br />
als Zukunftsaufgabe“ heißt es, daß „zur Bewältigung<br />
des demographischen Wandels und <strong>der</strong> Migration . . .<br />
Städte“ unterstützt werden sollen, „Wohnquartiere kin<strong>der</strong>- und<br />
familienfreundlich zu gestalten und die Infrastruktur barrierefrei<br />
und altengerecht umzubauen“.<br />
Das ist immerhin besser als nichts. Aber Barrierefreiheit wird<br />
hier – wie<strong>der</strong> einmal – als „Spezialaufgabe“ mißverstanden.<br />
Statt dessen müßte sie – z.B., wenn man das Bundesbehin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetz<br />
von 2002 ernst nähme – zu einem<br />
durchgehenden Prinzip <strong>der</strong> Gestaltung des öffentlichen<br />
Raums, <strong>der</strong> Kommunikation, <strong>der</strong> Mobilität und des gesellschaftlichen<br />
Lebens insgesamt werden. Wir sagen sogar –<br />
und betonten das in zahlreichen Wahlprüfsteinen –, daß dem<br />
politischen Handeln auf praktisch allen Gebieten das „Nutzenfür-Alle-Konzept“<br />
zugrunde liegen sollte. Erst so würde <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />
ihrer Querschnittsfunktion tatsächlich gerecht.<br />
Neben diesen Gemeinplätzen und Placebo-Formulierungen<br />
fallen die Fehlstellen im Koalitionsvertrag nicht so leicht auf.<br />
Dennoch sollen hier einige zumindest genannt werden:<br />
32<br />
• Barrierefreiheit wird nicht als durchgehendes gestalterisches<br />
Prinzip erkannt (Nutzen-für-alle-Konzept).<br />
• Ein umfassendes Diskriminierungsverbot ist nicht in<br />
Sicht.<br />
• Ein bedarfsorientiertes (bedarfsdeckendes) Leistungsgesetz,<br />
das Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen aus <strong>der</strong> Sozialhilfeabhängigkeit<br />
befreit, ist nicht in Sicht.<br />
• Eine Verbesserung (zumindest Rücknahme <strong>der</strong> Verschlechterungen<br />
<strong>der</strong> „Gesundheitsreformen“) bei <strong>der</strong><br />
Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln sowie speziellen
Medikamenten (z.B. für seltene und chronische Krankheiten)<br />
ist nicht in Sicht.<br />
• Eine gleichberechtigte „dritte Bank“ <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ten-<br />
und chronisch Kranken-Selbsthilfeorganisationen im<br />
Gemeinsamen Ausschuß <strong>der</strong> Krankenkassen und <strong>der</strong><br />
Kassenärztlichen Bundesvereinigung ist nicht in Sicht.<br />
• Eine institutionelle För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Selbsthilfearbeit ist<br />
nicht in Sicht.<br />
Es bleibt eine <strong>der</strong> wichtigsten Aufgaben <strong>der</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong> –<br />
und demzufolge ihrer AG „Selbstbestimmte <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>“<br />
–, diese Fehlstellen <strong>der</strong> Regierungspolitik zu füllen. Ich<br />
selbst will und werde innerhalb des Bundestages und <strong>der</strong><br />
Linksfraktion dazu meinen Beitrag leisten. Aber nur, wenn wir<br />
uns dieser großen Aufgabe gemeinsam stellen, können wir <strong>der</strong><br />
Herausfor<strong>der</strong>ung – die sowohl im realen Leben als auch im<br />
Parteibildungsprozeß steckt – gerecht werden.<br />
Wer ein großes Ziel hat – die Schaffung einer gerechten, demokratisch-sozialistischen<br />
Welt darf wohl als großes Ziel bezeichnet<br />
werden? –, sollte die vielen kleinen Schrittchen, die<br />
dort hin führen können, nicht scheuen. Genausowenig, wie wir<br />
über die zahlreichen kleinen Schritte, die durchaus nicht immer<br />
nur geradeaus voran führen – Wo ist „vorn“? Wer weiß,<br />
was „richtig“ ist? Wie erkennt man „Gutes“? –, das große Ziel<br />
aus den Augen verlieren dürfen.<br />
33
Nicht Feigheit ist es<br />
o<strong>der</strong> Hohn,<br />
Nicht Müßiggang<br />
noch Arg,<br />
Nicht Verrat<br />
und auch nicht List,<br />
<strong>Die</strong> so verschlungen<br />
leiten<br />
meinen<br />
Pfad,<br />
Son<strong>der</strong>n<br />
mein Gewissen, das<br />
Auch Feigheit kennt und<br />
Hohn,<br />
Müßiggang und Arg,<br />
bösen Rat und Trauer<br />
Neben Liebe,<br />
Freundschaft,<br />
heißer Lust,<br />
guter Feier<br />
und edlen Wünschen,<br />
Zu gehen<br />
doch<br />
voran.<br />
34
Der Sozialabbau und<br />
seine Auswirkungen auf<br />
Selbstbestimmung und Teilhabe<br />
von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung Torsten Koplin<br />
Meine Ausführungen zum Thema möchte ich ausdrücklich<br />
auch auf den Personenkreis <strong>der</strong> chronisch Kranken auszudehnen,<br />
denn sie sind nicht weniger von Sozialabbau betroffen<br />
als Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung.<br />
Mir wurde das sehr deutlich bewusst, als ich im zurückliegenden<br />
Bundestagswahlkampf den Arbeitslosenverband in<br />
Strasburg (Uckermark) besuchte. Im Gespräch berichtete eine<br />
Frau mit tränenerstickter Stimme über ihre Erfahrungen<br />
mit <strong>der</strong> örtlichen ARGE. Ihr Antrag auf krankheitsbedingten<br />
Mehrbedarf im Zusammenhang mit <strong>der</strong> ALG-II-Zahlung wurde<br />
rüde und zynisch zurückgewiesen. Man ließ sie wissen, sie<br />
sei ja schließlich seit 1992 Diabetikerin, habe also bereits vor<br />
Einführung <strong>der</strong> Hartz-Gesetze ohne Mehrbedarf gelebt. Auch<br />
wenn dieser Frau inzwischen zu ihrem guten Recht kommt,<br />
muss <strong>der</strong>artig menschenverachtendes Agieren konsequent<br />
angeprangert werden.<br />
Solche Geschehnisse gibt es nicht nur in östlichen Bundeslän<strong>der</strong>n.<br />
Aus einer überregionalen Tageszeitung war am 10.<br />
Oktober 2005 folgendes zu entnehmen: „Ein Fall in Duisburg:<br />
Eine schwerbehin<strong>der</strong>te Dame muss in eine neue Wohnung<br />
umziehen, nur weil die alte Wohnung um 100 € zu teuer ist.<br />
Nun hat sie eine passende Wohnung im Erdgeschoss gefunden.<br />
Zum 1.10. sollte sie ausziehen. <strong>Die</strong> Kündigungsfrist für<br />
die alte Wohnung betrug 3 Monate. Das Arbeitsamt musste<br />
vorher befragt werden, ob sie die neue Wohnung nehmen<br />
darf. Nun darf sie für die neue und die alte Wohnung bezahlen,<br />
da sie die neue Wohnung wohl nicht rechtzeitig beziehen<br />
konnte. Das Arbeitsamt verlangt unverschämterweise einen<br />
35
termingerechten und punktgenauen Umzug (also raus aus<br />
<strong>der</strong> alten Wohnung zum 30.9. und rein in die neue Wohnung<br />
am 1.10.). <strong>Die</strong> Kaution wurde vom Arbeitsamt abgelehnt. Das<br />
Arbeitsamt muss jedoch zahlen, ansonsten müsste die betroffene<br />
Person 5 Jahre lang die Kaution als Kredit abzahlen.<br />
Von einem Arzt wurde bestätigt, dass die alte Wohnung behin<strong>der</strong>tengerecht<br />
eingerichtet sei. <strong>Die</strong>s wird von den zuständigen<br />
Behörden jedoch, z.B. dem Grundsicherungsamt, nicht<br />
geglaubt, und die alte Dame soll ausziehen. Wegen Krankheit<br />
kann sie jedoch nicht ausziehen. Drei weiteren Familien geht<br />
es ähnlich in Duisburg.“<br />
Vorgänge, wie diese, lassen sich im Alltag zahllos finden. Sie<br />
führen allesamt zu folgenden grundsätzlichen Erkenntnissen<br />
über die Auswirkungen des Sozialabbaus:<br />
1. Sozialabbau för<strong>der</strong>t nicht die Selbstbestimmung, son<strong>der</strong>n<br />
beför<strong>der</strong>t Abhängigkeit in vielgestaltiger Form, z.B. von<br />
Behörden, von frem<strong>der</strong> Hilfe etc.<br />
2. Sozialabbau führt nicht zur Teilhabe, son<strong>der</strong>n zur Ausgrenzung.<br />
Sie entsteht insbeson<strong>der</strong>e durch die über Jahre zu verfolgenden<br />
Kürzungen bei <strong>der</strong> Lohnentwicklung, bei <strong>der</strong> Abschaffung<br />
<strong>der</strong> Arbeitslosenhilfe o<strong>der</strong> bei dem sich wie ein<br />
Flächenbrand ausdehnenden Niedriglohnsektor. Solche<br />
Kürzungen, insbeson<strong>der</strong>e die durch Hartz IV initiierten,<br />
führen zur Armut. Auf Armut folgt überaus häufig Vereinsamung.<br />
Armut macht krank bzw. verschärft den Krankheitsstatus.<br />
3. Sozialabbau geht immer mit Entwürdigung einher.<br />
Sie hat viele Facetten. Ich denke beson<strong>der</strong>s an einen<br />
Diabetiker aus Neubrandenburg, dem man ebenfalls den<br />
Mehrbedarf mit Verweis auf sein Übergewicht verweigerte.<br />
Er solle nicht Mehrbedarf beantragen, son<strong>der</strong>n besser<br />
FDH (Friss die Hälfte) machen.<br />
All das macht mich zornig. So etwas ist zu ächten. Zugleich<br />
ist es aber auch wichtig, hinter solch einzelnen Vorgängen die<br />
36
objektiven gesellschaftlichen und strukturellen Gegebenheiten<br />
zu beachten.<br />
Deshalb ist es mir wichtig zu sagen, dass dort wo das Prinzip<br />
<strong>der</strong> Profitmaximierung die gesellschaftlichen Verhältnisse<br />
prägt, es mit logischer Konsequenz Sozialabbau gibt bzw. <strong>der</strong><br />
Versuch unternommen wird, soziale Standards abzubauen.<br />
Warum ist das so?<br />
„Der Profit“, schreiben Engels und Marx mit wun<strong>der</strong>barer<br />
Deutlichkeit in „Lohnarbeit und Kapital“, „kann nur rasch zunehmen,<br />
wenn <strong>der</strong> Preis <strong>der</strong> Arbeit … ebenso rasch abnimmt.“<br />
Der Preis <strong>der</strong> Arbeit wie<strong>der</strong>um, wird bestimmt durch<br />
die Produktionskosten <strong>der</strong> Ware Arbeitskraft. Letztere sind,<br />
volkswirtschaftlich definiert, die Preise <strong>der</strong> notwendigen Mittel<br />
zum Leben. Daraus ergibt sich die objektive Tendenz, die<br />
volkswirtschaftlich lebensnotwendigen Aufwendungen herabzudrücken.<br />
Aus einer solchen Logik entwickelt sich <strong>der</strong> Drang, Arbeitslosengeldempfänger,<br />
ALG – II - Bezieher o<strong>der</strong> Sozialgeldempfänger,<br />
als „Kostgänger“ zu betrachten und <strong>der</strong>en Bezüge<br />
immer weiter zu minimieren.<br />
Auch <strong>der</strong> vorgestellte Koalitionsvertrag von CDU und SPD<br />
zeugt von diesem neoliberalen Denken.<br />
Zwar soll <strong>der</strong> ALG-II-Regelsatz einheitlich auf 345 € gesetzt<br />
werden, doch auch wenn dann Mehraufwandsentschädigung<br />
und Kosten <strong>der</strong> Unterkunft hinzukommen, ist man in <strong>der</strong> übergroßen<br />
Zahl <strong>der</strong> Fälle immer noch unterhalb <strong>der</strong> Armutsgrenze,<br />
die laut aktuellem „Armuts- und Reichtumsbericht“<br />
<strong>der</strong> Bundesregierung bei 938 € liegt.<br />
An den Ausgaben für Hartz IV sollen 4 Mrd. € gespart werden.<br />
1,2 Mrd. davon sollen aus „Effizienzsteigerungen“ resultieren.<br />
Meine bisherige politische Erfahrung aus 7 Jahren<br />
Landtag Mecklenburg-Vorpommern sagt mir: Immer dann,<br />
wenn Begriffe wie „Effizienzsteigerungen“ o<strong>der</strong> „Effizienzrendite“<br />
in einem volkswirtschaftlichen Zusammenhang benutzt<br />
37
werden, handelt es sich um Luftbuchungen. 0,6 Mrd. sollen<br />
bei Leistungen für Jugendliche unter 25 Jahren gekürzt werden.<br />
Hierzu will ich zweierlei sagen.<br />
Zum einen ist es zutiefst unanständig jungen Menschen das<br />
grundgesetzlich verbriefte Recht <strong>der</strong> freien Wahl des Wohnortes<br />
abzusprechen. Allein die in diesem Zusammenhang beabsichtigte<br />
Verschärfung <strong>der</strong> Hartz-Gesetze unterstreicht ihren<br />
verfassungswidrigen Charakter.<br />
Zum an<strong>der</strong>en tun gerade wir <strong>Linke</strong>n gut daran, hochsensibel<br />
auf die von den Neoliberalen gewählte Wortwahl zu achten<br />
und sie wo immer möglich zu entlarven. Es ist doch bezeichnend,<br />
dass ein junger Mensch, <strong>der</strong> ALG II bezieht, die gesetzlichen<br />
Möglichkeiten nutzt und aus dem Elternhaus auszieht,<br />
dann als „Sozialbetrüger“ diffamiert wird, während einer, <strong>der</strong><br />
millionenschwer den Fiskus hintergeht, lediglich „Steuersün<strong>der</strong>“<br />
ist.<br />
Wir alle wissen, Betrug ist strafrechtlich relevant.<br />
Der an<strong>der</strong>e handelt schlimmstenfalls ein wenig ordnungswidrig<br />
handelnd. So werden mit <strong>der</strong> Wortwahl Stimmungen beeinflusst<br />
und Politik gemacht!<br />
Um auf die beabsichtigte Kürzung <strong>der</strong> Sozialleistungen zurück<br />
zu kommen, sei gesagt, dass die „restlichen“ 2,0 Milliarden<br />
aus Absenkung <strong>der</strong> Rentenbeiträge <strong>der</strong> ALG-II-<br />
Empfänger von 78 auf 40 € erschlossen werden sollen. Das<br />
wie<strong>der</strong>um führt zur Anhebung <strong>der</strong> Rentenversicherungsbeiträge<br />
von 19,5% auf 19,9%.<br />
Das führt zu <strong>der</strong> uns nicht verblüffenden Erkenntnis: die Zeche<br />
zahlen letztlich die lohnabhängigen Beschäftigten. Es<br />
sinken somit <strong>der</strong> reale Preis <strong>der</strong> Arbeit (also die Summe <strong>der</strong><br />
Waren, die für den Arbeitslohn gekauft werden können) und<br />
<strong>der</strong> relative Preis <strong>der</strong> Arbeit.<br />
<strong>Die</strong> Großen Koalition will die Mehrwertsteuer auf 19% anheben.<br />
So will die SPD offensichtlich ein Wahlversprechen halten.<br />
Im Wahlkampf hat sie immer beteuert, eine Anhebung<br />
<strong>der</strong> Mehrwertsteuer auf 18% (sie nannte das „Merkelsteuer“)<br />
38
sei mit ihr nicht zu machen. Nun, dass stimmt, denn es<br />
kommt ja nicht zur Erhöhung auf 18%, son<strong>der</strong>n auf 19%.<br />
Im Gesundheitsbereich kommt es zu etwas, was man im<br />
Schach als Hängepartie bezeichnet. <strong>Die</strong> Konzepte <strong>der</strong><br />
CDU/CSU von einer Kopfpauschale (aktuell bekannt unter <strong>der</strong><br />
Chiffre: solidarische Gesundheitsprämie) und <strong>der</strong> SPD von<br />
einer Bürgerversicherung waren nur allzu unverträglich mit<br />
einan<strong>der</strong>. Nun ist bekannt geworden, dass die Beitragsbemessungsgrenze<br />
angehoben werden soll. <strong>Die</strong>se Überlegung<br />
gehört auch zu den Vorschlägen <strong>der</strong> Linkspartei. <strong>PDS</strong> für eine<br />
solidarische Bürgerversicherung. Bekannt geworden ist auch<br />
die Absicht, die Kin<strong>der</strong>mitversicherung zukünftig über die<br />
Steuer zu finanzieren. Wie letzteres gehen soll, bleibt schleierhaft.<br />
Denn die Reichensteuer, die ja mit ihren voraussichtlichen<br />
1,7 Mrd. € Einnahmen lediglich Symbolcharakter hat,<br />
soll doch <strong>der</strong> Arbeitslosen- bzw. Rentenversicherung zugute<br />
kommen. Und die Mehrwertsteuererhöhung soll für die Schuldentilgung<br />
und die Län<strong>der</strong>finanzen herhalten. Es wird bereits<br />
jetzt deutlich, dass die große Koalition auf fragwürdige Finanzierungsgrundlagen<br />
setzt.<br />
Was aber viel bemerkenswerter ist: alle sozialen Schweinereien<br />
des Gesundheitsmo<strong>der</strong>nisierungsgesetzes, wie die Praxisgebühr,<br />
Zuzahlungen und Leistungskürzungen bleiben.<br />
Was müssen wir <strong>Linke</strong>n in dieser Situation tun?<br />
1. Uns zusammenfinden und unsere Kräfte bündeln<br />
Das ist ungeheuer wichtig und geht weit über die gegenwärtigen<br />
Bemühungen um eine Parteibildung mit <strong>der</strong><br />
WASG hinaus. Das schließt in jedem Fall und mit aller<br />
Deutlichkeit das Zusammengehen mit Betroffenenverbänden<br />
ein. Denn die Gegenseite, die Seite des Kapitals, ist<br />
bestens aufgestellt. Sie stellt immer und mit aller Konsequenz<br />
die entscheidenden Fragen.<br />
Es sind die nach dem Eigentum und nach den Machtverhältnissen.<br />
39
40<br />
2. Um mehr Selbstbestimmung und Teilhabe im Alltag<br />
kämpfen<br />
Hierunter verstehe ich das tägliche Ringen um die kleinen<br />
Schritte. Mit Blick auf Mecklenburg–Vorpommern denke<br />
ich da an:<br />
- das Landesgleichstellungsgesetz (das wir dieser<br />
Tage haushaltsrechtlich verankert haben, ohne<br />
das Gesetz selbst bereits beschlossen zu haben)<br />
- das Netz <strong>der</strong> Beratung und Betreuung<br />
- an die Prävention<br />
- an das Landesblindengeld, das wir gegen alle Angriffe<br />
erfolgreich verteidigt haben<br />
3. Grundsätzliches for<strong>der</strong>n<br />
Hierzu gehört eine existenzsichernde Grundsicherung. Sie<br />
verhin<strong>der</strong>t Armut, beför<strong>der</strong>t Teilhabe und Selbstbestimmung,<br />
verän<strong>der</strong>t das Kräfteverhältnis zwischen Kapital<br />
und Arbeit und ist nicht zuletzt wirtschaftsför<strong>der</strong>nd und arbeitsplatzschaffend.<br />
Hierzu gehört selbstverständlich ein<br />
Teilhabesicherungsgesetz.<br />
4. Das Grundgesetz beachten<br />
<strong>Die</strong>sbezüglich möchte ich zwei ausgesprochen wichtige<br />
Passagen ganz einfach zitieren:<br />
Art. 20 GG Abs. 1: „<strong>Die</strong> BRD ist ein demokratischer und<br />
sozialer Bundesstaat." Und Art. 20 Abs. 4:„Gegen jeden,<br />
<strong>der</strong> es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben<br />
alle Deutschen das Recht zum Wi<strong>der</strong>stand, wenn an<strong>der</strong>e<br />
Abhilfe nicht möglich ist.“
Bericht aus Thüringen<br />
und linke <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />
in Deutschland Maik Nothnagel<br />
Zu Beginn <strong>der</strong> 5. Behin<strong>der</strong>tenpolitischen Konferenz <strong>der</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong><br />
in Oberhof möchte ich einen kleinen Ausblick auf<br />
die <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> im Freistaat Thüringen aus <strong>der</strong> Sicht eines<br />
Oppositionspolitikers geben.<br />
Nachdem die Fraktion <strong>der</strong> <strong>PDS</strong> in <strong>der</strong> 3. und zu Beginn <strong>der</strong> 4.<br />
Legislaturperiode sehr intensiv an einem eigenen Gesetzentwurf<br />
für ein Landesgleichstellungsgesetz gearbeitet hat, ist es<br />
nun soweit, dass Thüringen noch im Jahre 2005 ein solches<br />
Gesetzeswerk erhalten soll.<br />
Nur die Vorstellungen <strong>der</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong>, die sie mit den<br />
Verbänden und Vereinen in Thüringen erarbeitet hat, sollten<br />
nicht einmal zur weiteren Bearbeitung in die Ausschüsse überwiesen<br />
werden. Somit wurden unsere Vorstellungen von<br />
einer tatsächlichen Gleichstellung, die nur in Verbindung mit<br />
Nachteilsausgleichen in Einklang zu bringen sind, von Anfang<br />
an rigoros abgelehnt. Das Hauptargument <strong>der</strong> CDU-Mehrheit<br />
für ihre Ablehnung war immer und immer wie<strong>der</strong> die Kostenfrage.<br />
In <strong>der</strong> 3. Legislaturperiode des Thüringer Landtages<br />
wurden unsere Nachteilsausgleiche noch mit 500 Millionen<br />
Euro als Totschlagargument abgebügelt. Jedoch fehlte jegliche<br />
detaillierte Untersetzung dieser Riesensumme. In <strong>der</strong> 4.<br />
Legislaturperiode gab dann die Landesregierung eine Summe<br />
von 380 Millionen Euro für Nachteilsausgleiche an. Somit wurde<br />
rein fiskalisch einer ehrlich gewollten Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
von unterschiedlichen Sichtweisen auf die gesellschaftliche<br />
Teilhabe von behin<strong>der</strong>ten Menschen von Seiten <strong>der</strong> Landesregierung<br />
verzichtet. In <strong>der</strong> weiteren parlamentarischen Auseinan<strong>der</strong>setzung,<br />
d. h. in <strong>der</strong> Arbeit des Sozialausschusses<br />
spielte dann nur noch <strong>der</strong> Gesetzentwurf <strong>der</strong> Landesregierung<br />
und <strong>der</strong> Gesetzentwurf <strong>der</strong> SPD-Fraktion eine Rolle. Jedoch<br />
41
wurde <strong>der</strong> Gesetzentwurf <strong>der</strong> SPD-Fraktion von <strong>der</strong> Mehrheit<br />
abgelehnt und zur 2. Lesung stand nur noch <strong>der</strong> Gesetzentwurf<br />
<strong>der</strong> Landesregierung zur Debatte. Eine weitere Bewertung<br />
dieses Gesetzentwurfes werde ich jetzt nicht vornehmen,<br />
nur soviel dazu: es entspricht nicht einmal den Grundzügen<br />
des Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetzes des Bundes, es gibt<br />
kein Verbandsklagerecht und alle Regelungen unterliegen<br />
dem Kostenvorbehalt, d. h. in Thüringen gibt es Gleichstellung<br />
für behin<strong>der</strong>te Menschen je nach Kassenlage und keinen<br />
Rechtsanspruch.<br />
Ein weiteres Thema, was uns sehr intensiv beschäftigt hat und<br />
auch noch weiterhin beschäftigt, ist die faktische Abschaffung<br />
des Landesblindengeldes als einkommens- und vermögensunabhängigen<br />
Nachteilsausgleich für blinde- und sehbehin<strong>der</strong>te<br />
Thüringerinnen und Thüringer. <strong>Die</strong>ses Beispiel zeigt sehr drastisch,<br />
dass die CDU-Mehrheit überhaupt gar kein Interesse<br />
daran hat, behin<strong>der</strong>ten Menschen ihre Nachteile auszugleichen,<br />
damit sie ein selbstbestimmtes Leben führen können<br />
und somit am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Dafür<br />
war und ist das Landesblindengeld gedacht. Nun soll jedoch<br />
das Landesblindengeld, welches einkommens- und vermögensunabhängig<br />
ist, durch die Blindenhilfe (Sozialhilfe, Bedürftigkeitsprüfung)<br />
ersetzt werden. Das heißt auch, dass die<br />
Blinden wie<strong>der</strong> einmal mehr durch die Verwaltung kontrolliert<br />
und gegängelt werden. Für mich ist diese Maßnahme nur dadurch<br />
zu erklären, dass die CDU mit ihrem rückständigen Behin<strong>der</strong>tenbild<br />
behin<strong>der</strong>te Menschen lieber bevormunden und<br />
betreuen will, anstatt ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu<br />
ermöglichen.<br />
<strong>Die</strong> Fraktion <strong>der</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong> wird den Blinden- und Sehbehin<strong>der</strong>tenverband<br />
Thüringen mit allen Mitteln bei dem<br />
Kampf um den Erhalt des Landesblindengeldes als Nachteilsausgleich<br />
unterstützen und noch viel mehr, wir werden auch<br />
immer und immer wie<strong>der</strong> für an<strong>der</strong>e behin<strong>der</strong>te Menschen<br />
Nachteilsausgleiche einfor<strong>der</strong>n.<br />
42
Ein weiteres sehr schwerwiegendes Problem in <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenarbeit<br />
und <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> in Thüringen sind die enormen<br />
Kürzungen bei den Behin<strong>der</strong>tenberatungsstellen im Doppelhaushalt<br />
2006/2007. <strong>Die</strong> Vorstellungen <strong>der</strong> Landesregierung,<br />
dies alles durch das Ehrenamt zu ersetzen, sind einfach<br />
lächerlich, denn somit findet auf dem Gebiet so gut wie keine<br />
professionelle Behin<strong>der</strong>tenberatung mehr statt. Wie die Auswirkungen<br />
im Konkreten sind, hat Prof. Stange in seinem Beitrag<br />
sehr anschaulich dargestellt.<br />
Ein weiteres großes Problem, welches auf uns in Thüringen<br />
noch zukommt, ist die so genannte „Familienoffensive“ <strong>der</strong><br />
Landesregierung, bei <strong>der</strong> es Kürzungen im Kin<strong>der</strong>tagesstättenbereich<br />
gibt, die die integrativen Ansätze in Thüringen in<br />
große Gefahr bringen. Der grundsätzliche Ansatz dieser Familienoffensive<br />
hinsichtlich <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Finanzierung von<br />
<strong>der</strong> Objektför<strong>der</strong>ung hin zur Subjektför<strong>der</strong>ung kann ich als <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>er<br />
nur begrüßen, denn genau das ist auch immer<br />
unser Ansatz, dass in den Menschen investiert werden<br />
soll und nicht in Einrichtungen. Da aber diese Familienoffensive<br />
bei ihrer Finanzierung sehr kritisch zu betrachten ist, ist<br />
dieser positive Ansatz durch die vielen an<strong>der</strong>en negativen<br />
Auswirkungen im Alltag lei<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> ausgemerzt und kann<br />
durch uns nicht unterstützt werden und hat auch nichts mit linker<br />
<strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> zu tun.<br />
Was ist denn nun linke <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />
in Deutschland?<br />
Ich möchte in den folgenden Anstrichen meine persönlichen<br />
Vorstellungen zu möglichen Politikfel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> linken <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />
aufzeigen. <strong>Die</strong>s sind vor allem Politikfel<strong>der</strong> auf Europa-<br />
und Bundesebene, die aber dann auch ihre Auswirkungen<br />
auf Landesgesetzgebung sowie auf das Zusammenleben in<br />
<strong>der</strong> Kommune haben.<br />
- Als erstes und für mich als wichtigstes Politikfeld <strong>der</strong> <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>,<br />
welches wir in Angriff nehmen müssen, ist die<br />
Umsetzung eines zivilrechtlichen Antidiskriminierungsgeset-<br />
43
zes, welches auch Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen berücksichtigt.<br />
<strong>Die</strong> Regelungen müssen so formuliert werden, dass für<br />
behin<strong>der</strong>te Menschen auch einklagbare Rechte und Sanktionen<br />
ableitbar sind.<br />
- Der nächste Punkt ist die Erweiterung des Sozialgesetzbuches<br />
IX, des Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetzes des Bundes<br />
sowie <strong>der</strong> Landesgleichstellungsgesetze. <strong>Die</strong>se Gesetze müssen<br />
Leistungsgesetze, die aus ihnen ableitbar sind, enthalten.<br />
Das heißt aber auch, dass hierbei Nachteilsausgleiche für<br />
Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung gewährleistet werden müssen. Bei<br />
<strong>der</strong> Gleichstellungsgesetzgebung auf Bundes- sowie auf Landesebene<br />
muss es darum gehen, dass die Gleichstellung nicht<br />
nur beschrieben wird, son<strong>der</strong>n dass sie tatsächlich einklagbar<br />
ist. Bei <strong>der</strong> Gleichstellung muss eine Barrierefreiheit auf allen<br />
Ebenen gewährleistet werden. Das heißt nicht nur Beseitigung<br />
von baulichen Barrieren, son<strong>der</strong>n auch von kommunikativen.<br />
In diesen Themenkomplex müsste aus meiner Sicht unbedingt<br />
die integrative Beschulung – Schule für alle – mit aufgenommen<br />
werden. Denn nur so können auch zukünftige Generationen<br />
die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung<br />
verwirklichen.<br />
- <strong>Die</strong> persönliche Assistenz muss gestärkt werden. <strong>Die</strong> Umsetzung<br />
des Grundsatzes des SGB „Ambulant vor stationär“ –<br />
häusliches Umfeld bewahren, muss in den Mittelpunkt bei dieser<br />
Diskussion gestellt werden. Das heißt die kompromisslose<br />
Umsetzung <strong>der</strong> Subjektför<strong>der</strong>ung vor <strong>der</strong> Objektför<strong>der</strong>ung – <strong>der</strong><br />
Mensch ist das Maß <strong>der</strong> Dinge. Wir müssen endlich dazu<br />
kommen, dass in den Menschen investiert wird und nicht in die<br />
Gebäude und dass die Interessen <strong>der</strong> Menschen das Maß <strong>der</strong><br />
Dinge sind und nicht die Interessen <strong>der</strong> Wohlfahrtsmafia. Es<br />
muss uns endlich gelingen, den gesellschaftlich wichtigen Ansatz<br />
<strong>der</strong> persönlichen Assistenz, die Schaffung von versicherungspflichtigen<br />
Arbeitsplätzen so in den Mittelpunkt <strong>der</strong> Diskussion<br />
zu stellen, dass es <strong>der</strong> <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> endlich gelingt<br />
und dies parteiübergreifend, Wirtschafts- und Finanzpolitiker<br />
von diesem positiven Ansatz zu überzeugen. Dass persönliche<br />
Assistenz für die Lebensqualität behin<strong>der</strong>ter Menschen<br />
44
wohl die beste Möglichkeit ist, das selbstbestimmte Leben zu<br />
realisieren, muss ich hier nicht noch einmal beson<strong>der</strong>s hervorheben.<br />
Jedoch möchte ich noch eines ergänzen und zwar für<br />
den Personenkreis, für den es angeblich aufgrund <strong>der</strong> schweren<br />
Behin<strong>der</strong>ung nicht möglich sein soll, persönliche Assistenz<br />
zu nutzen, solche Mechanismen <strong>der</strong> Umsetzung zu entwickeln<br />
und zu erarbeiten, damit es für jeden doch eine Alternative ist.<br />
Ich denke, hier gibt es durchaus schon gute Ansätze z.B. durch<br />
die Assistenzgenossenschaften, aber auch über an<strong>der</strong>e und<br />
weitere Modelle muss nachgedacht werden. Hier glaube ich,<br />
hat linke <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> eine große Verantwortung und diesem<br />
Themenfeld müssen wir uns in Zukunft viel mehr widmen,<br />
gerade wegen <strong>der</strong> erneuten Debatte in <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
Deutschland geför<strong>der</strong>t durch die Große Koalition hinsichtlich<br />
<strong>der</strong> Pflegeversicherung.<br />
Was haben wir dem entgegen zu setzen?<br />
- Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Thema Arbeit, Beschäftigung<br />
und Existenzsicherung.<br />
Wie stehen wir zur versicherungspflichtigen Arbeit behin<strong>der</strong>ter<br />
Menschen? Was halten wir von Teilzeitarbeit und Heimarbeit?<br />
Bleiben wir bei unserer Kritik an den Werkstätten für Behin<strong>der</strong>te?<br />
Was wollen und was können wir verän<strong>der</strong>n? Wie stehen<br />
wir zu einem existenzsichernden Einkommen?<br />
- <strong>Die</strong> Bioethik<br />
Das ist ein Politikfeld, welchem sich die linke <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />
in den letzten Jahren nicht mehr so intensiv gewidmet hat.<br />
Bleibt es bei dem Nein zur embryonalen Stammzellenforschung?<br />
Sagen wir immer noch Nein zur Präimplantationsdiagnostik?<br />
Ist die Präimplantationsdiagnostik wirklich die Verhin<strong>der</strong>ung<br />
von behin<strong>der</strong>ten Leben? O<strong>der</strong> wollen wir nicht auch alle<br />
lieber gesunde Kin<strong>der</strong>?<br />
- <strong>Die</strong> Sterbehilfe<br />
Wie steht die <strong>Linke</strong> zur passiven Sterbehilfe? Wie stehen wir<br />
zur aktiven? Wie ist unser Verhältnis zur Hospizbewegung?<br />
Unterstützen wir die For<strong>der</strong>ung nach mehr Schmerztherapie,<br />
45
nach einer breiteren Palliativmedizin in <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
Deutschland! Unterstützen wir die For<strong>der</strong>ung „Gute Lebensqualität<br />
– ein lebenswertes Leben auch als behin<strong>der</strong>ter<br />
Mensch“!<br />
All diese Punkte im Einzelnen würden Konferenzen füllen. Ich<br />
glaube aber doch, dass wir uns in <strong>der</strong> Zwischenzeit bis zur 6.<br />
Behin<strong>der</strong>tenpolitischen Konferenz über diese Punkte im Einzelnen<br />
konkret unterhalten müssen und auch unsere als linke<br />
<strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> geltenden Standpunkte dazu erarbeiten<br />
müssen. <strong>Die</strong>ses wird uns umso besser gelingen, je mehr Einflussnahme<br />
wir als linke <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>er und Lobbyisten<br />
für behin<strong>der</strong>te Menschen auch innerhalb unserer eigenen Partei,<br />
<strong>der</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong>, haben. Wir müssen uns Gedanken<br />
darüber machen, wie wir unsere Strukturen innerhalb <strong>der</strong> Partei<br />
effektiver nutzen, damit <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> auch wirklich von<br />
jedem als Querschnittsaufgabe betrachtet wird.<br />
Wir sollten uns wirklich einmal ernsthaft fragen: warum erreichen<br />
wir nicht mehr?<br />
46
Probleme<br />
von hörbehin<strong>der</strong>ten Menschen Bärbel Baumann<br />
<strong>Die</strong> Jahre 2004 und 2005 (Einführung von Gesundheit- und<br />
Arbeitsmarktreform) brachten den Menschen in Deutschland,<br />
egal ob behin<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> nicht behin<strong>der</strong>t, viele Beschränkungen<br />
und Einbußen hinsichtlich ihrer Lebensqualität.<br />
Im Jahre 2004 trat die neue Gesundheitsreform in Kraft, die<br />
gerade für Behin<strong>der</strong>te, Senioren und Sozialschwache viele<br />
Nachteile gebracht hat (Einführung <strong>der</strong> Praxisgebühr bei Arzt<br />
und Zahnarzt in Höhe von 10 € pro Quartal, höhere Zuzahlungen<br />
bei Medikamenten, Hilfsmitteln u. a. m., weitere Reduzierung<br />
<strong>der</strong> Festbeträge bei Hörgeräten – höherer Eigenanteil bei<br />
Verschreibung neuer Hörgeräte und Hörhilfsmittel usw. usf.)<br />
Gerade hochgradig Hörbehin<strong>der</strong>ten, die beson<strong>der</strong>s starke leistungsfähige<br />
Geräte gerade für die Ausübung ihres Berufes<br />
bzw. in Umschulungs- und Trainingsmaßnahmen <strong>der</strong> Arbeitsagentur<br />
usw. benötigen, wird oft die Übernahme <strong>der</strong> Mehrkosten<br />
durch die Leistungsträger wegen <strong>der</strong> geringeren Festbeträge<br />
für Hörgeräte (Erläuterungen hierzu am Ende des Berichtes)<br />
usw. (insbeson<strong>der</strong>e durch Krankenkassen, Rentenversicherungsträger<br />
bzw. Arbeitsagenturen/Jobcenter) verweigert.<br />
Sie sind dann gezwungen, ihre Rechte vor Sozialgerichten<br />
einzuklagen.<br />
Weiterhin haben die Regierungsfraktionen im Jahr 2004 den<br />
Zusatzbarbetrag für Menschen in Heimen gestrichen. Auch<br />
das schränkt die Teilhabe behin<strong>der</strong>ter Menschen in Heimen<br />
am kulturellen und gesellschaftlichen Leben ein. <strong>Die</strong>ser Beschluss<br />
führte zu einer verschärften Situation für Heimbewohner,<br />
die ohnehin durch die Gesundheitsreform finanziell erheblich<br />
mehr belastet sind. Denn neben den Zuzahlungen<br />
und/o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Praxisgebühr müssen sie die Kosten für nicht<br />
mehr verschreibungspflichtige Arzneimittel, Seh- und Hörhilfen<br />
47
in voller Höhe aus dem schmalen Taschengeld von rund 89 €<br />
monatlich bestreiten.<br />
Heutzutage werden die Menschen immer älter; zwangsläufig<br />
treten mit zunehmendem Alter auch mehr Krankheiten und<br />
Behin<strong>der</strong>ungen auf, die behandelt werden müssen und auch<br />
Kosten verursachen - nicht für die Leistungsträger, son<strong>der</strong>n<br />
auch für die Betroffenen selbst.<br />
Ca. 16 Millionen Menschen in Deutschland brauchen wegen<br />
ihrer Hörbehin<strong>der</strong>ung ein Hörgerät, aber nur 1,5 Millionen von<br />
ihnen tragen ein Hörgerät. In Berlin sind allein 215.000 Menschen<br />
ab 14 Jahre aufwärts mittelgradig schwerhörig; 44.000<br />
sind hochgradig schwerhörig und etwa 10.000 Menschen sind<br />
gehörlos.<br />
Schwerhörigkeit im Alter ist eine beson<strong>der</strong>e Behin<strong>der</strong>ung.<br />
Schwerhörige ältere Menschen bekennen sich oft nicht zu ihrer<br />
Behin<strong>der</strong>ung; denn sie ist unsichtbar und braucht deshalb<br />
nicht zugegeben zu werden. (Aber auch jüngere hörbehin<strong>der</strong>te<br />
Menschen haben Probleme beim Umgang mit ihrer Behin<strong>der</strong>ung!)<br />
Es bestehen Ängste vor dem Verlust sozialer Kontakte, wenn<br />
man die Hörbeeinträchtigung zugibt. <strong>Die</strong> Betroffenen fürchten<br />
durch häufiges Nachfragen, wenn man etwas nicht o<strong>der</strong> falsch<br />
verstanden hat, lästig zu werden o<strong>der</strong> aufzufallen. <strong>Die</strong> hieraus<br />
entstehenden Missverständnisse verstärken die ohnehin belastende<br />
Situation des Hörbehin<strong>der</strong>ten erheblich. Hörschädigung<br />
wird oft assoziiert mit “alt” und “doof”. Bei vielen älteren<br />
Menschen, die sich immer mehr aus ihrem gewohnten Umfeld<br />
zurückziehen, depressiv o<strong>der</strong> auch aggressiv reagieren, wird<br />
oft Altersdemenz o<strong>der</strong> in Einzelfällen sogar Alzheimer vermutet.<br />
Es wird dabei häufig vergessen, dass <strong>der</strong> alte Mensch evtl.<br />
“nur schlecht hört” und deshalb nicht mehr so aktiv ist.<br />
Eine Hörbehin<strong>der</strong>ung wirkt sich negativ auf das gesamte soziale<br />
Erleben aus und führt nicht selten zur Isolation in allen<br />
gesellschaftlichen Bereichen. Isolation wie<strong>der</strong>um kann zu<br />
schweren Depressionen mit Suizidgedanken führen. <strong>Die</strong><br />
48
kommunikative Einschränkung im Alltag führt vermehrt zu<br />
Konfliktsituationen. Zu schwerwiegenden Folgen können<br />
Missverständnisse z. B. bei Arztbesuchen, Behörden, öffentlichen<br />
Beratungsstellen, Kostenträgern und bei Aufenthalten in<br />
Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen usw. führen. Es<br />
kann z. B. fatale Folgen haben, wenn <strong>der</strong> schwerhörige<br />
Mensch seinen Arzt nicht richtig verstanden hat und ein Medikament<br />
falsch einnimmt.<br />
In letzter Zeit nimmt die Altersschwerhörigkeit immer mehr zu.<br />
Der Begriff „Altersschwerhörigkeit“ ist etwas irreführend, denn<br />
in <strong>der</strong> Medizin gibt es diesen Begriff nicht. Unter Altersschwerhörigkeit<br />
versteht man eine altersbedingte Hörbehin<strong>der</strong>ung,<br />
die schon ab 40 Jahre auftreten kann. Wenn wir älter werden,<br />
werden nicht schneller, son<strong>der</strong>n langsamer in unseren Bewegungen,<br />
und wir rennen nicht mehr so wie mit 20 Jahren. So<br />
ähnlich verhält es sich auch mit dem Hörvermögen. Es tritt ein<br />
schleichende Funktionsbeeinträchtigung <strong>der</strong> Haarzellen (o<strong>der</strong><br />
auch Hörzellen genannt) im Innenohr ein, die allein o<strong>der</strong> kombiniert<br />
mit Erkrankungen des Innenohres einhergehen kann.<br />
[Bis in das hohe Alter bleibt das Trommelfell beweglich, die<br />
„Altersschwerhörigkeit“ entsteht zum großen Teil im Innenohr<br />
(durch Degeneration <strong>der</strong> Haarzellen speziell im hohen Frequenzbereich,<br />
durch Degeneration <strong>der</strong> zentralen Neuronen<br />
<strong>der</strong> Hörbahn, durch Summierung zahlreicher Noxen (Gifte,<br />
Medikamente, spätere Auswirkungen aus früheren Zeiten –<br />
herrührend von Krankheiten, Knalltraumen, Unfällen usw. )].<br />
Auch die Informationsverarbeitung <strong>der</strong> ankommenden akustischen<br />
Signale erfolgt im Alter verlangsamt, man hört wohl<br />
das gesprochene Wort, versteht es aber nicht. Schlechtes<br />
Verstehen im Lärm nennt man Partyschwerhörigkeit. Im Alter<br />
kann man auch schlechter Richtungen wahrnehmen wegen<br />
mangelndem Zeitauflösevermögen (deshalb kann man z. B.<br />
die Worte „Akt“ und nicht von „alt“ nicht voneinan<strong>der</strong> unterscheiden).<br />
Das führt zu Missverständnissen bis hin zur Bewertung<br />
durch an<strong>der</strong>e Personen, dass <strong>der</strong> Betroffene „geistig abbaue“.<br />
49
Ein Hauptgrund für die Altersschwerhörigkeit ist auch die hohe<br />
Lärmbelastung, <strong>der</strong> die Ohren in jüngeren Jahren ausgesetzt<br />
waren (Straßenverkehr, laute Musik, Lärm am Arbeitsplatz<br />
usw.). <strong>Die</strong> Öffentlichkeit hat dieses Problem jedoch noch nicht<br />
in ihrem gesamten Ausmaß erkannt und nur unzureichende<br />
o<strong>der</strong> gar keine Hilfen bereitgestellt. Dazu kommt noch, dass<br />
das vorhandene Hilfsangebot nur schwer durchschaubar ist<br />
bzw. die Betroffenen nicht erreicht, da es durch unzureichende<br />
Information unbekannt ist. Für schwerhörige und ertaubte Senioren<br />
besteht eine Versorgungslücke. <strong>Die</strong> Angebote <strong>der</strong> verschiedenen<br />
Stellen für Normalhörende sind für schwerhörige<br />
und ertaubte Senioren nicht hilfreich, da auf ihre spezifischen<br />
kommunikativen Bedürfnisse aufgrund mangeln<strong>der</strong> Kompetenz<br />
und Ausstattung nicht eingegangen werden kann. Ein älterer<br />
Mensch wird erheblich belastet, wenn er in einer Lebensphase<br />
schwerhörig wird o<strong>der</strong> ertaubt, in <strong>der</strong> die Fähigkeit<br />
zum Erlernen neuer Kommunikationsformen wie z. B. Mundablesen,<br />
Nutzung des Fingeralphabets und evtl. lautsprachbegleitende<br />
Gebärden erheblich geringer ist als in jüngeren Jahren.<br />
<strong>Die</strong> Gefahr <strong>der</strong> Vereinsamung ist bei diesen Menschen<br />
beson<strong>der</strong>s groß, zumal sie oft allein sind, da Partner, Verwandte<br />
o<strong>der</strong> Freunde nicht mehr leben o<strong>der</strong> weniger mobil<br />
sind.<br />
Altersschwerhörige sind in beson<strong>der</strong>em Maße gefährdet, ins<br />
Abseits zu geraten, da sie oft mit den verschriebenen Hörhilfen<br />
nicht zurechtkommen o<strong>der</strong> sich scheuen, diese zu benutzen.<br />
<strong>Die</strong> Lernfähigkeit und die Motivation, eine Än<strong>der</strong>ung herbeizuführen,<br />
lassen mehr und mehr nach und verhin<strong>der</strong>n das<br />
Erlernen alternativer Kommunikationswege, wie z. B. das Lippenablesen.<br />
Da für die Senioren die Hörbehin<strong>der</strong>ung eine<br />
doppelte Isolation bedeutet – zum einen als älterer Mensch<br />
und zum an<strong>der</strong>en als Hörgeschädigter – hier ist eine Beratung<br />
und Betreuung dringend erfor<strong>der</strong>lich. Im familiären Bereich<br />
ergeben sich zwangsläufig Kommunikationsprobleme, die zu<br />
erheblichen Belastungen und Konflikten führen können. Auch<br />
hier besteht Bedarf an Beratung und Betreuung sowohl in<br />
vermitteln<strong>der</strong> als auch in helfen<strong>der</strong> Form. Hier versucht <strong>der</strong><br />
50
Deutsche Schwerhörigenbund e. V. (DSB) über das “Referat<br />
schwerhörige und ertaubte Senioren und Patienten” etwas zu<br />
än<strong>der</strong>n. Es sollen spezielle Beratungsangebote sowie bessere<br />
Wohn- und Pflegebedingungen für schwerhörige und ertaubte<br />
Senioren geschaffen werden. Das braucht natürlich viel Zeit,<br />
viel Engagement und Überzeugungsarbeit und nicht zuletzt<br />
auch finanzielle Mittel. (Und erst kommende Generationen<br />
werden vielleicht davon profitieren, was <strong>der</strong> DSB mitsamt seinen<br />
Landesverbänden, Ortsvereinen und Selbsthilfegruppen<br />
nach und nach zu verän<strong>der</strong>n versucht.)<br />
Der Schwerhörigenverein Berlin hat zwei Beratungsstellen –<br />
HörBIZ (Hörbehin<strong>der</strong>ten- Beratungs- und Informationszentrum)<br />
genannt. Das HörBIZ in Charlottenburg besteht seit<br />
1987 und das HörBIZ in Pankow begeht im November 2005<br />
sein 10-jähriges Bestehen. Sämtliche Beratungen sind dort<br />
kostenfrei. 55 % <strong>der</strong> Klienten sind ältere, hörbehin<strong>der</strong>te Menschen.<br />
Ein beson<strong>der</strong>er Aufgaben-Schwerpunkt ist die Audiotherapie.<br />
Das HörBIZ bietet dies für alle an, die sich mit ihrer<br />
Hörschädigung aktiv auseinan<strong>der</strong>setzen wollen. Hören mit<br />
Hörgerät bzw. mit CI muss erst erlernt werden, ebenso beson<strong>der</strong>e<br />
Kommunikationsformen, um wie<strong>der</strong> am gesellschaftlichen<br />
Leben teilhaben zu können. Dazu zählen z. B. das Absehen<br />
vom Mund, Erlernen von Gebärden und Fingeralphabet beson<strong>der</strong>s<br />
für hochgradig schwerhörige und ertaubte Personen.<br />
Eine Audiotherapie wird nur im Einzelfall von Sozialleistungsträgern<br />
bezahlt. Deshalb wird eine solche meist in den Selbsthilfegruppen<br />
des HörBIZ durchgeführt.<br />
In den vergangenen Jahren ist eine Lawine von neuen Gesetzen<br />
im Bereich <strong>der</strong> behin<strong>der</strong>ten Menschen und des Sozialrechts<br />
über uns gerollt. Mit seinem Reformeifer hat uns <strong>der</strong><br />
Gesetzgeber das SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behin<strong>der</strong>ter<br />
Menschen), SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende)<br />
und SGB XII (Sozialhilfe) sowie die zahlreichen Än<strong>der</strong>ungen<br />
im SGB III (Arbeitsför<strong>der</strong>ung) und an<strong>der</strong>en Sozialgesetzen<br />
beschert. Es fällt nicht leicht, bei den vielen Gesetzesän<strong>der</strong>ungen<br />
den Durchblick zu behalten. Selbst die Arbeits- und<br />
51
Sozialverwaltung ist überfor<strong>der</strong>t und begeht permanent<br />
Rechtsbruch.<br />
Zum 01.01.2005 erfolgte die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe<br />
und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (Hartz IV-<br />
Gesetz). Bislang erhalten ALG II-Empfänger in Ostdeutschland<br />
331 € und in Westdeutschland einschließlich Berlin 345 €<br />
im Monat.<br />
In Berlin sind seit dem Fall <strong>der</strong> Mauer mehr als 135.000 Arbeitsplätze<br />
verloren gegangen und die Stadt hat gegenwärtig<br />
eine Arbeitslosigkeit von 19,4 %.<br />
<strong>Die</strong> Lebenssituation behin<strong>der</strong>ter Menschen hat sich in den<br />
vergangenen Jahren weiter verschlechtert.<br />
Als erstes sind hier die Schwierigkeiten bei <strong>der</strong> beruflichen<br />
Teilhabe zu nennen: <strong>Die</strong> Arbeitslosigkeit schwerbehin<strong>der</strong>ter<br />
Menschen ist kontinuierlich angestiegen und im April 2005 bei<br />
etwa 195.000 arbeitslosen Schwerbehin<strong>der</strong>ten angekommen.<br />
Aktuell gibt es alarmierende Anzeichen dafür, dass die Nürnberger<br />
Bundesagentur für Arbeit (BA) kaum mehr Mittel hat,<br />
um die Rehabilitation und Vermittlung behin<strong>der</strong>ter Arbeitsloser<br />
zu finanzieren. <strong>Die</strong> undurchsichtige Informationspolitik <strong>der</strong> BA<br />
und die Nachlässigkeit <strong>der</strong> Bundesregierung bei <strong>der</strong> Ausübung<br />
ihrer Rechtsaufsicht über die BA haben zur Folge, dass sowohl<br />
die Betroffenen als auch Träger beruflicher Reha-<br />
Maßnahmen völlig im Regen stehen gelassen werden. Durch<br />
die Lage auf dem Arbeitsmarkt seien die Vermittlungschancen<br />
schwerbehin<strong>der</strong>ter Menschen erheblich gesunken. Wegen <strong>der</strong><br />
Hartz-IV-Gesetze komme es bei Rehabilitationen zu “Reibungsverlusten”.<br />
Behin<strong>der</strong>tenbeauftragte und Sozialverbände werfen <strong>der</strong> Nürnberger<br />
BA vor, sich systematisch aus <strong>der</strong> Betreuung und Vermittlung<br />
von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen zurückzuziehen,<br />
um Geld zu sparen. (Sie verweisen dabei auf eine Beratungsgrundlage<br />
des Verwaltungsrates <strong>der</strong> BA vom 21.01.2005, die<br />
die “klare Ausrichtung des arbeitsmarktpolitischen Programms”<br />
beschreibt.)<br />
52
Zu den Betreuungskunden zählt die BA “Kunden mit Handlungsbedarf<br />
in mehreren Dimensionen”; neben den Behin<strong>der</strong>ten<br />
sind das auch ältere Langzeitarbeitslose o<strong>der</strong> Menschen<br />
mit massiven familiären o<strong>der</strong> finanziellen Problemen. Zu den<br />
Ermessensleistungen, die mit <strong>der</strong> Formulierung in Frage gestellt<br />
werden, gehören etwa Einglie<strong>der</strong>ungszuschüsse. <strong>Die</strong>se<br />
werden von <strong>der</strong> BA an Firmen gezahlt, die Behin<strong>der</strong>te einstellen.<br />
Für die Ermessensleistungen an Behin<strong>der</strong>te hat die BA in<br />
diesem Jahr (2005) 170 Millionen € in ihren Haushalt eingestellt.<br />
Im Jahr 2004 lag ihre Höhe noch bei 384 Millionen €.<br />
Derzeit sind mit Stand von September 2005 402.470 Menschen<br />
in Berlin von Hartz IV abhängig; im Januar 2005 waren<br />
es 310.331; im Juni 382.000. Zu diesen Menschen gehören<br />
neben den eigentlichen Hart IV-Beziehern auch Mitglie<strong>der</strong> ihrer<br />
jeweiligen Bedarfsgemeinschaft, also Ehe- o<strong>der</strong> Lebenspartner<br />
sowie min<strong>der</strong>jährige Kin<strong>der</strong>, die im selben Haushalt<br />
wohnen. Zum Personenkreis <strong>der</strong> ALG II-Bezieher gehören<br />
auch viele Behin<strong>der</strong>te, die zudem oft auch noch langzeitarbeitslos<br />
sind.<br />
Wirtschaftsminister Wolfgang Clement hatte angekündigt,<br />
dass Arbeitsagenturen und Kommunen künftig strenger kontrollieren<br />
sollten, ob Bezieher von ALG II tatsächlich bedürftig<br />
und arbeitswillig sind. Zu diesem Zweck soll es Hausbesuche<br />
und Anrufaktionen sowie einen intensiveren Datenabgleich<br />
zwischen den Finanzbehörden geben. Außerdem ist geplant,<br />
für Arbeitslose ein ganztägiges Trainingsprogramm einzuführen,<br />
um Schwarzarbeit zu verhin<strong>der</strong>n. Es gibt aber noch eine<br />
ganze Reihe von Missständen bei <strong>der</strong> Betreuung von Arbeitslosen<br />
durch die Arbeitsagenturen, beson<strong>der</strong>s bei Schwerbehin<strong>der</strong>ten<br />
die beseitigt werden müssen, bevor Kontrollen verschärft<br />
werden (es gibt keine speziellen Stellen für Schwerbehin<strong>der</strong>te<br />
in den Arbeitsämtern und Jobcentern seit dem<br />
1.1.2005 mehr; es werden alle in einen Topf geworfen!).<br />
Petra Pau hatte Clement vorgeworfen, durch sein Vorgehen<br />
verkomme die Agentur für Arbeit “zur Agentur gegen Arbeitslose”.<br />
53
Als Besorgnis erregend bezeichnet die DAK die Tatsache,<br />
dass immer mehr Menschen psychisch erkranken, z. B. an<br />
Depressionen o<strong>der</strong> Angstzuständen. Insbeson<strong>der</strong>e die gesellschaftlichen<br />
Verhältnisse trügen zum Anstieg <strong>der</strong> psychischen<br />
Probleme bei. Als Gründe dafür wurden <strong>der</strong> zunehmende Leistungsdruck<br />
im Berufsleben, Mobbing, fehlen<strong>der</strong> Zusammenhalt<br />
in <strong>der</strong> Familie o<strong>der</strong> unter Kollegen, soziale Isolation, Überfor<strong>der</strong>ung,<br />
Trennungen, Einsamkeit genannt. In Berlin liegen<br />
die psychischen Erkrankungen inzwischen bei 12,1 % und<br />
damit an 4. Stelle bei den Krankheitsbil<strong>der</strong>n. So meldeten sich<br />
in Berlin die Beschäftigten im Gesundheitswesen, in <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Verwaltung und in Organisationen und Verbänden<br />
deutlich häufiger krank als beispielsweise die Mitarbeiter im<br />
Handel, in <strong>der</strong> Datenverarbeitung o<strong>der</strong> Rechtsberatung. <strong>Die</strong><br />
Arbeitsfaktoren lösen nicht unbedingt psychische Probleme<br />
aus, aber sie können diese verschlimmern.<br />
*) Erläuterungen zu den Festbeträgen bei Hörgeräten:<br />
Seit dem 1.1.2005 gibt es nur noch einen einzigen Festbetrag für alle Arten<br />
von Hörgeräten, egal ob IO-Geräte, (Im-Ohr-Geräte), HdO-Geräte (Hinterdem-Ohr-Geräte),<br />
Taschengeräte o<strong>der</strong> Knochleitungsgeräte. <strong>Die</strong> Festbeträge<br />
wurden bundesweit generell um 20 % abgesenkt. Auch die Anpassungsdauer<br />
für Hörgeräte durch den Hörgeräteakustiker wurde zeitlich verkürzt,<br />
ebenso die Zahl <strong>der</strong> auszuprobierenden Geräten bei Neuverordnung und die<br />
Zeitdauer de leihweise überlassenen Probegeräte. Bei einem bzw. mehrkanaligen<br />
IO- o<strong>der</strong> HdO-Gerät ist für das 1. Gerät ein Festbetrag von etwa<br />
420,- € vorgesehen, für ein Taschengerät beträgt <strong>der</strong> Festbetrag etwa 314,-<br />
€, für ein Knochenleitungsgerät ca. 580,- €. Für Ohrpassstücke u. a. m. werden<br />
Zusatzleistungen fällig. Bei einem 2. Hörgerät muss ein Abschlag von<br />
etwa 85,- € vom Festbetrag des ersten Gerätes hingenommen werden. <strong>Die</strong><br />
Krankenkasse übernimmt die Kosten nur für die festgelegten Festbeträge.<br />
Alle darüber hinausgehenden Kosten sind vom Betroffenen selbst zu tragen!<br />
Hochgradig Schwerhörige benötigen beson<strong>der</strong>s leistungsstarke Geräte, so<br />
genannte Powergeräte, die allerdings ihren Preis haben. So kommen nicht<br />
selten Zusatzzahlungen auf den Betroffenen in Höhe bis zu 4.000,- € bei<br />
beidohriger Versorgung zu. Für CI (Cochlear-Implantate) gelten Son<strong>der</strong>regelungen.<br />
54
Probleme <strong>der</strong> Gehörlosen Elke Kittelmann<br />
Im Anschluss auf meine Ausführungen im Referat vom Oktober<br />
2003 in Erkner möchte ich heute weiterhin auf die täglichen<br />
Probleme <strong>der</strong> Gehörlosen aufmerksam machen und Ihnen<br />
die Probleme im Land Berlin, mit denen ich täglich konfrontiert<br />
werde, aufzeigen:<br />
Vor allem, was hat sich seit Oktober 2003 getan:<br />
1. <strong>Die</strong> weitere Umsetzung des Berliner Landesgleichberechtigungsgesetzes<br />
(LGBG - Mai 1999);<br />
2. Kürzung des Nachteilausgleiches „Gehörlosengeld“,<br />
von 119 auf 117 Euro, aber Blindengeld – gestrichen;<br />
3. Gehörlosigkeit - die unsichtbare Behin<strong>der</strong>ung, die uns<br />
ausgrenzt von <strong>der</strong> normalen hörenden Welt<br />
Wer nicht hören kann, muss fühlen!<br />
Wie wahr gerade für gehörlose Menschen. Lei<strong>der</strong> zählen Hörbehin<strong>der</strong>ungen<br />
zu den am meisten verkannten Behin<strong>der</strong>ungen.<br />
Weit verbreitet ist zum Beispiel die Meinung: Gehörlos zu<br />
sein, ist nicht weiter tragisch. Man kann eben „nur“ nicht hören,<br />
dafür aber noch „alles“ lesen. Ja, das stimmt soweit, wenn<br />
ein großer Teil von Gehörlosen einen guten Bildungsgrad besitzt.<br />
Was ist aber mit dem an<strong>der</strong>en Teil, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Basis von<br />
Son<strong>der</strong>schulangeboten das Bildungsniveau nicht so gut – analog<br />
zu den lernschwachen Gruppen – erreicht hat? Den Gehörlosen<br />
fällt es beson<strong>der</strong>s schwer, u. a. die Fremdwörter zu<br />
begreifen. Und in <strong>der</strong> jetzigen Zeit sind viele englische Begriffe<br />
„gang und gebe“ in unserem Wortschatz. Logisch, dass ein<br />
Gehörloser auf Grund seines Nichthörens von englischen<br />
Wörtern – diese nicht richtig aussprechen kann. Man kann sagen,<br />
die arme „Deutsche Sprache“.<br />
55
<strong>Die</strong> Umwelt übersieht o<strong>der</strong> missdeutet immer noch meist<br />
die vielfältigen körperlichen, seelischen und sozialen<br />
Hilflosigkeiten, Lebenserschwernisse und Konfliktbetroffenheiten<br />
gehörloser Menschen. Immer wie<strong>der</strong><br />
müssen die hörenden Menschen auf die komplizierte<br />
Kommunikationssituation <strong>der</strong> Gehörlosen aufmerksam<br />
gemacht werden.<br />
Zwischendurch wurde <strong>der</strong> Nachteilausgleich für die Gehörlosen<br />
von 119 Euro auf 117 Euro gekürzt. Normalerweise war<br />
die Streichung auch vom Land Berlin geplant. Aber, wir haben<br />
gekämpft (z. B. mit Unterschriftensammlungen, Beschwerdebriefen<br />
an die entsprechenden Senatsdienstellen u. v. mehr).<br />
Wir haben somit den Kampf gewonnen. Da das Blindengeld<br />
zuerst rigoros gestrichen (Nie<strong>der</strong>sachsen) wurde, haben wir<br />
dies zum Anlass genommen. Und wir hoffen, dass es in Berlin<br />
nicht soweit kommt. Logisch, dass behin<strong>der</strong>te Menschen mehr<br />
Ausgaben haben, als Nichtbehin<strong>der</strong>te, o<strong>der</strong> ???<br />
Gerade die Probleme <strong>der</strong> täglichen Lebensbewältigung<br />
können den Gehörlosen überfor<strong>der</strong>n und bilden oftmals<br />
unüberwindliche Hin<strong>der</strong>nisse, wenn ihm kein Sozialarbeiter<br />
o<strong>der</strong> Gebärdensprachdolmetscher zur Seite steht. Beson<strong>der</strong>s<br />
gravierend stellen sich die Probleme in <strong>der</strong> Arbeitswelt<br />
dar, denn dem gehörlosen Menschen sind schon<br />
bei <strong>der</strong> Berufswahl Grenzen gesetzt; Umschulungen kann<br />
er nur mit Hilfe eines Gebärdensprachdolmetschers besuchen,<br />
so dass seine Perspektive begrenzt ist. Deshalb ist<br />
er beson<strong>der</strong>s von <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit bedroht bzw. betroffen.<br />
Seit 1967 existiert das noch aus <strong>der</strong> DDR stammende För<strong>der</strong>-,<br />
Kultur- und Kommunikationszentrum <strong>der</strong> Gehörlosen Berlin/Brandenburg,<br />
und es hat im Leben <strong>der</strong> Ostberliner Gehörlosen<br />
eine große Bedeutung, weil es sich nur durch Spenden<br />
und Mitgliedsbeiträge über Wasser halten kann. In diesem<br />
Zentrum wird sozial-, kultur- und bildungspolitische Arbeit geleistet.<br />
56
Seit April 2003 gibt es keine laufende Beratungs- und Dolmetscher-Vermittlungsstelle<br />
in <strong>der</strong> Schönhauser Allee 36, 10435<br />
Berlin, mehr. In <strong>der</strong> Beratungsstelle findet zur Zeit nur eine<br />
„laienhafte“ Beratung durch ehrenamtliche Mitarbeiter statt und<br />
somit ist kein Vertrauensaufbau infolge ständig wechseln<strong>der</strong><br />
Personen bei den Gehörlosen möglich.<br />
Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Arbeitsplatzerhaltung werden die<br />
Beratungs- und die Betreuungsdienste für die Gehörlosen in<br />
Berlin über Projekte und u. a. von Kräften mit 1,50 Euro Jobs<br />
(gemeint ist: Mehraufwandentschädigungen für HARTZ IV –<br />
Empfänger) realisiert, so dass diese Leistungen von Gehörlosen<br />
aus Ost und West, in großem Umfang in Anspruch genommen<br />
werden. <strong>Die</strong> bereits geschaffenen Projekte gilt es zu<br />
erhalten bzw. fortzusetzen. Durch den ständigen Wechsel von<br />
Personal (über 1,50 Euro Job) sind die Qualität und Quantität<br />
einer Beratungsstelle nicht so gewährleistet wie gewünscht.<br />
Aus einem dieser Gründe führt so zum Beispiel jeden Mittwoch<br />
eine Leiterin von <strong>der</strong> im Bezirk Treptow – Köpenick ansässigen<br />
Beratungsstelle zur Unterstützung die Beratungen in<br />
<strong>der</strong> Schönhauser Allee durch. <strong>Die</strong>se Mitarbeiterin wird aber<br />
stellenplanmäßig vom Bezirksamt Treptow – Köpenick finanziert.<br />
Träger dieser Beratungsstelle ist <strong>der</strong> För<strong>der</strong>verein <strong>der</strong><br />
Gehörlosen <strong>der</strong> neuen Bundeslän<strong>der</strong> e.V.<br />
Bisher ist es uns nicht gelungen, eine dauerhafte Finanzierung<br />
(wegen des allgemeinen Sparzwanges im öffentlichen Haushalt)<br />
zu gewährleisten. Aber wir arbeiten weiter daran.<br />
Im <strong>der</strong>zeitigen und täglichen Kampf geht es darum, den<br />
Standort „Schönhauser Allee“ zu erhalten. Das Klubzentrum<br />
wird vom För<strong>der</strong>kreis <strong>der</strong> Gehörlosen finanziell unterstützt; es<br />
handelt sich hierbei um den Kreis aus för<strong>der</strong>nden Mitglie<strong>der</strong>n,<br />
die nichthörend und hörend sind. Man sagt daher nicht umsonst,<br />
dass man sich dort wohl fühlt, wo man verstanden wird.<br />
<strong>Die</strong> Gehörlosen sehen ihren Verein als Heimat an, wo sie mit<br />
ihresgleichen ohne Verständigungsprobleme kommunizieren<br />
können, so auch verstanden werden und sich wohl fühlen<br />
können.<br />
57
Gleichermaßen ist es den Ost- und Westberliner Gehörlosen,<br />
die als Vereinsmitglie<strong>der</strong> für dieses Haus För<strong>der</strong>er sind, zu<br />
danken, dass dieses Kleinod bisher für die sozial- und kulturpolitische<br />
Arbeit erhalten blieb. Ohne diesen Personenkreis<br />
wäre Berlin um eine kulturelle Einrichtung ärmer.<br />
<strong>Die</strong>ses gemeinsame Solidaritätsgefühl stimmt uns froh. Es hat<br />
uns immer wie<strong>der</strong> die Kraft gegeben, unseren For<strong>der</strong>ungen<br />
Nachdruck zu verleihen, dieses Objekt für die Gehörlosen und<br />
ihre Besucher heute und für die Zukunft zu erhalten.<br />
Der För<strong>der</strong>verein <strong>der</strong> Gehörlosen <strong>der</strong> neuen Bundeslän<strong>der</strong><br />
e.V. hat im Moment 22 angeschlossene Vereine, Selbsthilfegruppen<br />
und den Sportverein mit insgesamt ca. 2.000 ordentlichen<br />
und außerordentlichen Mitglie<strong>der</strong>n.<br />
Von Anfang an war die Gehörlosenarbeit auch Kulturarbeit.<br />
Aus diesem Grund gab es auch ein Projekt: „50 Jahre Kulturhäuser<br />
<strong>der</strong> Gehörlosen und Hörbehin<strong>der</strong>ten in Berlin“, das<br />
vom 11. bis zum 24. September diesen Jahres stattfand. Außer<br />
unserem Kultur- und Kommunikationszentrum in <strong>der</strong><br />
Schönhauser Allee gibt es noch einen Standort: das Gehörlosenzentrum<br />
in <strong>der</strong> Friedrichstraße 12 im Altbezirk Kreuzberg<br />
(im Westteil <strong>der</strong> Stadt).<br />
Bei dieser Festwoche wurden u. a. verschiedene Kulturveranstaltungen,<br />
Worksshops, Symposium, sogar ein Politforum mit<br />
Frau Petra Pau durchgeführt. Zum Abschluss fand noch statt:<br />
das 1. Deaffilmfestival und ein Gala-Abend mit Unterhaltung<br />
und Tanz, Auftritt internationaler Künstler sowie die Preisverleihung<br />
vom Fotowettbewerb.<br />
Wenn man die Geschichte ein wenig verfolgt, müssen wir feststellen,<br />
dass sich im ewigen Kampf um unsere Rechte bis<br />
heute nicht viel geän<strong>der</strong>t hat. Wenn wir unsere Ziele erreicht<br />
haben, dürfte eine allgemeine Verbesserung <strong>der</strong> sozialen Stellung<br />
gehörloser Menschen zu erwarten sein. Das reicht von<br />
<strong>der</strong> Einrichtung einer sozialpolitischen Beratung für gehörlose<br />
ratsuchende Menschen, von <strong>der</strong> Ausbildung und Bezahlung<br />
des Gebärdensprachdolmetschers bis hin zur besseren Inte-<br />
58
gration <strong>der</strong> Gehörlosen in unsere Gesellschaft im Zuge <strong>der</strong><br />
weiteren Durchsetzung des Bundesgleichstellungsgesetzes<br />
und des Berliner Landesgleichberechtigungsgesetzes.<br />
Das heißt: Partnerschaft befürworten wir und halten diese für<br />
gut, aber eine Bevormundung lehnen wir rundweg ab.<br />
Als Mitglied des För<strong>der</strong>vereins <strong>der</strong> Gehörlosen <strong>der</strong> neuen<br />
Bundeslän<strong>der</strong> e.V. sowie des För<strong>der</strong>kreises und als 2. Vorsitzende<br />
<strong>der</strong> Berliner Bezirksgruppe <strong>der</strong> Gehörlosen Friedrichshain<br />
– Mitte - Prenzlauer Berg kenne ich diese Situation zur<br />
Genüge.<br />
Beson<strong>der</strong>s betonen möchte ich, dass beim Einsatz von Gebärdendolmetschern<br />
in Ämtern und Behörden usw. sehr wichtig<br />
ist, nur solche Personen auszuwählen, wenn diese Personen<br />
ständig im Kontakt, in <strong>der</strong> Kommunikation mit gehörlosen<br />
Menschen stehen. Ansonsten verlernen diese Mitarbeiter die<br />
Gebärdensprache. Am besten sind diejenigen Mitarbeiter<br />
dran, die in irgendeiner Form mit einem betroffenen Gehörlosen<br />
bzw. Hörgeschädigten im Kontakt stehen (sei es durch<br />
familiäre Bindungen und/o<strong>der</strong> durch Bekanntschaft im persönlichen<br />
Umfeld des jeweiligen Mitarbeiters bedingt). Aus Kostengründen,<br />
also wegen <strong>der</strong> Absenkung <strong>der</strong> Aus- und Weiterbildungskosten<br />
für Gebärdensprachdolmetscher und auch<br />
in <strong>der</strong> Durchsetzung des Landesgleichberechtigungsgesetzes<br />
wurde dazu ein so genannter „Pool“ bei <strong>der</strong> Senatsverwaltung<br />
für Inneres geschaffen, in dem freiwillige Mitarbeiter des öffentlichen<br />
<strong>Die</strong>nstes registriert sind (dazu gehöre auch ich).<br />
<strong>Die</strong>se werden bei Bedarf schnell und unkompliziert von verschiedenen<br />
Ämtern bzw. Behörden angefor<strong>der</strong>t.<br />
<strong>Die</strong> Kosten für den Einsatz eines Gebärdensprachdolmetschers<br />
betragen pro Stunde 40 Euro und für die An- und Abfahrt<br />
werden 40 Euro extra berechnet.<br />
<strong>Die</strong> Beratungsangebote für Gehörlose und Hörbehin<strong>der</strong>te in<br />
<strong>der</strong> Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin sowie im HörBIZ<br />
(Hörbehin<strong>der</strong>ten-Beratungs- und Informationszentrum), Breite<br />
3, 13187 Berlin, sollten unbedingt erhalten und staatlicherseits<br />
geför<strong>der</strong>t werden (durch Senat/Abgeordnetenhaus).<br />
59
Es muss unbedingt eine Gleichstellung und Gleichberechtigung<br />
<strong>der</strong> gehörlosen und hörbehin<strong>der</strong>ten Menschen insbeson<strong>der</strong>e<br />
auf dem Arbeitsmarkt erreicht werden und beson<strong>der</strong>s<br />
Projekte für Behin<strong>der</strong>te über 50 Jahre müssen über den 2. Arbeitsmarkt<br />
geför<strong>der</strong>t und umgesetzt werden.<br />
60
Gleichstellungs- und/o<strong>der</strong><br />
Antidiskriminierungsgesetze –<br />
Garanten für Selbstbestimmung Peter Och<br />
<strong>Die</strong> Überschrift zu dieser Diskussionsrunde hätte meines Erachtens<br />
mit einem Fragezeichen versehen werden müssen.<br />
Nun, ich erlaube mir, für mich ein deutliches Fragezeichen anzubringen.<br />
Grund dafür ist, daß wir uns im Rahmen dieses Themas doch<br />
zunächst die Frage vorlegen müssen, was denn „Garanten“ im<br />
gesellschaftlichen bzw. im politischen Sinne sein können.<br />
Daran schließt sich sodann die Frage an, ob es denn unter<br />
den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen in <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik Deutschland überhaupt „Garanten“ für Gleichstellung<br />
geben kann.<br />
„Garanten“ im gesellschaftlichen bzw. politischen Sinne können<br />
nach meiner Auffassung bestenfalls die jeweiligen Machtverhältnisse<br />
(o<strong>der</strong> auch Klassenverhältnisse) sein.<br />
Zu einem „Garanten“ für eine bestimmte Sache kann sich sicher<br />
auch eine bestimmte Partei erklären, jedoch auch nur unter<br />
dem Vorbehalt <strong>der</strong> Tragung von Regierungsverantwortung.<br />
Schließlich kennen wir die „Garanten“ im Grundgesetz <strong>der</strong><br />
BRD, also Bestimmungen, die selbst nicht durch eine 2/3-<br />
Mehrheit gestrichen o<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>t werden können.<br />
Doch schon hier wird es problematisch, da <strong>der</strong>artige Grundrechtsregelungen<br />
im Allgemeinen <strong>der</strong> Ausgestaltung durch<br />
den Gesetzgeber bedürfen, so daß dadurch bereits wie<strong>der</strong> die<br />
Möglichkeit <strong>der</strong> Aushöhlung gegeben ist, wovon in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
auch genügend Gebrauch gemacht wurde (vgl. Artikel<br />
16 und Artikel 19 GG).<br />
Kann es nun unter den <strong>der</strong>zeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen<br />
in <strong>der</strong> BRD „Garanten“ für Gleichstellung geben bzw.<br />
gibt es sie?<br />
61
<strong>Die</strong> Verhältnisse in <strong>der</strong> BRD sind nach meiner Auffassung<br />
mehr denn je durch die offene Dominanz <strong>der</strong> Interessen des<br />
Kapitals gekennzeichnet. Während in früherer Zeit - vor allem<br />
als die DDR und <strong>der</strong> „Ostblock“ insgesamt noch bestanden -<br />
die Herrschaftsverhältnisse noch verschleiert wurden, wird nun<br />
unter dem Deckmantel <strong>der</strong> sich angeblich aus <strong>der</strong> Globalisierung<br />
ergebenden Notwendigkeiten von den bürgerlichen Parteien<br />
einschließlich SPD offen eine Politik betrieben, die die<br />
Profitinteressen <strong>der</strong> Unternehmen zu Lasten <strong>der</strong> Arbeitnehmer,<br />
Arbeitslosen, Rentner und Behin<strong>der</strong>ten sowie an<strong>der</strong>er<br />
Min<strong>der</strong>heiten för<strong>der</strong>t.<br />
Statt von Vermögen<strong>der</strong>en durch höhere Abgaben einen größeren<br />
Beitrag für das Gemeinwohl zu verlangen wird mit Blick<br />
auf vermeintliche Sparzwänge zielgerichteter Sozialabbau betrieben.<br />
Darüber hinaus werden selbst Gesetze, die einem gewissen<br />
Schutz von Min<strong>der</strong>heiten dienen sollen, so gestaltet, daß damit<br />
die Profite <strong>der</strong> Unternehmer so wenig wie möglich beschnitten<br />
werden. Ein Beispiel hierfür ist die nach wie vor sehr<br />
dürftige Regelung über die Schwerbehin<strong>der</strong>tenausgleichsabgabe,<br />
die nicht verhin<strong>der</strong>n kann, daß die Arbeitslosigkeit unter<br />
schwerbehin<strong>der</strong>ten Menschen am höchsten ist und kaum neue<br />
Arbeitsplätze für diese Bevölkerungsgruppe entstehen.<br />
Der noch von <strong>der</strong> rot-grünen Bundesregierung in den Bundestag<br />
eingebrachte Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes<br />
scheiterte letztlich auch am Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Unternehmer und<br />
<strong>der</strong> Parteien, die <strong>der</strong>en Interessen am offensten vertreten.<br />
Nach alledem meine ich, daß Gesetze, die unter den heutigen<br />
Verhältnissen zumeist schon so verwässert werden, daß sie<br />
den Herrschenden nicht zu sehr schaden, keine „Garanten“ für<br />
Gleichstellung sein können, zumal sie je<strong>der</strong>zeit auch wie<strong>der</strong><br />
geän<strong>der</strong>t werden können.<br />
So hat <strong>der</strong> zuständige Abteilungsleiter im Thüringer Ministerium<br />
für Soziales, Familie und Gesundheit anläßlich des alljährlichen<br />
Tages des weißen Stockes am 15.10.2003 in Bad Langensalza<br />
im Auftrag seines Ministers eine ausdrückliche Garantie<br />
für den Erhalt des einkommens- und vermögensunab-<br />
62
hängigen Blindengeldes als Nachteilsausgleich für blindheitsbedingte<br />
Mehraufwendungen abgegeben; inzwischen, da ich<br />
im Januar 2006 den Inhalt meines Diskussionsbeitrages nie<strong>der</strong>schreibe,<br />
ist es in Thüringen bittere Realität, daß dieser<br />
Nachteilsausgleich für alle blinden Menschen, die das 27. Lebensjahr<br />
vollendet haben, gestrichen wurde, so daß ca. 90 %<br />
<strong>der</strong> Betroffenen nun eine Einbuße von monatlich 400 €, Ehepaare<br />
sogar von monatlich 800 €, zu verzeichnen haben.<br />
Ich denke, daß das hinreichend deutlich macht, daß ein Gesetz<br />
kein „Garant“ für Gleichstellung sein kann.<br />
Eine an<strong>der</strong>e Frage ist allerdings, ob ein Gleichstellungs-<br />
und/o<strong>der</strong> ein Antidiskriminierungsgesetz eine gewisse Gleichstellung<br />
garantieren kann.<br />
<strong>Die</strong>s möchte ich auf jeden Fall bejahen, doch hängt dies von<br />
dem jeweiligen Gesetz ab.<br />
Das inzwischen verabschiedete Thüringer Gleichstellungsgesetz<br />
erfüllt diese Anfor<strong>der</strong>ungen nicht. So stellt es in seinem §<br />
2 die meisten Aufgaben und Verpflichtungen <strong>der</strong> Kommunen<br />
unter Finanzierungsvorbehalt. Allein damit wird das Gesetz<br />
Makulatur, da Län<strong>der</strong> wie z. B. Mecklenburg/Vorpommern ohne<br />
Landesgleichstellungsgesetz durch die praktische <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />
mehr Rechte für die Betroffenen garantieren als<br />
eben Thüringen, das seit einigen Wochen über ein Gleichstellungsgesetz<br />
verfügt, das noch nicht einmal ein Verbandsklagerecht<br />
beinhaltet.<br />
Und wenn <strong>der</strong> Thüringer Landtag mit seiner absoluten CDU-<br />
Mehrheit zwei Wochen nach <strong>der</strong> Verabschiedung des Thüringer<br />
Gleichstellungsgesetzes das Blindengeld, einen wichtigen<br />
Nachteilsausgleich, für 95 % <strong>der</strong> Betroffenen streicht, so demonstrieren<br />
die Herrschenden damit sehr offen, daß dieses<br />
sogenannte „Gleichstellungsgesetz“ für so gut wie nichts ein<br />
„Garant“ ist o<strong>der</strong> sein wird.<br />
Zusammengefaßt muß nach meiner Ansicht also zwischen politischen<br />
Garanten für bestimmte Verhältnisse o<strong>der</strong> Bedingungen<br />
und Garantien für staatlich gewährte Rechte unterschieden<br />
werden.<br />
63
Garanten für wirkliche Gleichstellung gibt es meines Erachtens<br />
in <strong>der</strong> gesamten BRD nicht, da sich die Herrschenden je<strong>der</strong>zeit<br />
vorbehalten können, an<strong>der</strong>e politische Prioritäten zu setzen.<br />
Selbst in einem Land wie Mecklenburg/Vorpommern<br />
könnte im Falle eines Regierungswechsels auch eine Neuorientierung<br />
auf sozialpolitischem Gebiet erfolgen.<br />
Dagegen können gesetzliche Regelungen in Abhängigkeit<br />
vom Willen des jeweiligen Gesetzgebers Garantien für bestimmte<br />
rechtliche Verhältnisse beinhalten, die aber in <strong>der</strong> Regel<br />
je<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong> aufgehoben o<strong>der</strong> zumindest abgeschwächt<br />
werden können.<br />
We<strong>der</strong> ein Gleichstellungs- noch ein Antidiskriminierungsgesetz<br />
stellen also einen abstrakten Garanten für eine tatsächliche<br />
Gleichstellung dar.<br />
Unabhängig von vorstehenden Ausführungen bin ich natürlich<br />
ein Befürworter <strong>der</strong> Einführung von Gleichstellungsgesetzen in<br />
allen Bundeslän<strong>der</strong>n sowie eines Antidiskriminierungsgesetzes<br />
in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland insgesamt. Es kommt<br />
nur darauf an, im täglichen politischen Kampf dafür einzutreten,<br />
daß diese Gesetze die Rechte <strong>der</strong> Betroffenen und Pflichten<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft so konkret wie möglich formulieren und<br />
daß es entsprechende Kontrollmöglichkeiten (z. B. einen Behin<strong>der</strong>tenbeauftragten,<br />
<strong>der</strong> dem Landtag direkt unterstellt ist)<br />
gibt.<br />
Außerdem wirken <strong>der</strong>artige Gesetze zumindest bewußtseinsbildend,<br />
wodurch sich wie<strong>der</strong>um die Voraussetzungen für den<br />
Abbau von Vorurteilen sowie Barrieren aller Art verbessern.<br />
64