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Zur Behindertenpolitik der LINKSPARTEI.PDS Heft 7 - Die Linke

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<strong>Zur</strong> <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> <strong>der</strong> <strong>LINKSPARTEI</strong>.<strong>PDS</strong><br />

<strong>Heft</strong> 7<br />

<strong>Die</strong> 5. Behin<strong>der</strong>tenpolitische Konferenz <strong>der</strong><br />

<strong>LINKSPARTEI</strong>.<strong>PDS</strong><br />

vom 11. bis 13. November 2005<br />

1


INHALT<br />

Ein Wort davor - also ein Vorwort<br />

Christian Schrö<strong>der</strong>........................................................................... 03<br />

Selbstbestimmung braucht Nachteilsausgleiche<br />

Christian Schrö<strong>der</strong>........................................................................... 05<br />

Quantitative und qualitative Entwicklungstrends<br />

<strong>der</strong> Versorgungssituation<br />

hörgeschädigter Menschen in Thüringen<br />

Prof. Dr. Karl-Heinz Stange ............................................................. 09<br />

<strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> unter <strong>der</strong> Großen Koalition -<br />

Großes Ziel und kleine Schritte<br />

Dr. Ilja Seifert, MdB.......................................................................... 25<br />

Der Sozialabbau und seine Auswirkungen<br />

auf Selbstbestimmung und Teilhabe<br />

von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung<br />

Torsten Koplin.................................................................................. 35<br />

Bericht aus Thüringen<br />

und linke <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> in Deutschland<br />

Maik Nothnagel, MdL Thüringen ..................................................... 41<br />

Probleme von hörbehin<strong>der</strong>ten Menschen<br />

Bärbel Baumann .............................................................................. 47<br />

Probleme <strong>der</strong> Gehörlosen<br />

Elke Kittelmann................................................................................ 55<br />

Gleichstellungs- und/o<strong>der</strong><br />

Antidiskriminierungsgesetze –<br />

Garanten für Selbstbestimmung<br />

Peter Och......................................................................................... 61<br />

5


Ein Wort davor –<br />

also ein Vorwort Christian Schrö<strong>der</strong><br />

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,<br />

liebe Leserinnen und Leser!<br />

Vom 11. bis 13. November 2005 trafen sich, auf Einladung <strong>der</strong><br />

AG Selbstbestimmte <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> <strong>der</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong>,<br />

Interessierte und MitstreiterInnen zur 5. Behin<strong>der</strong>tenpolitischen<br />

Konferenz in Oberhof.<br />

Seit 1995 ist es uns gelungen, alle zwei Jahre eine Konferenz<br />

auszurichten, und je<strong>der</strong> Konferenz folgte eine Broschüre.<br />

In <strong>der</strong> vorliegenden sind nicht alle gehaltenen Beiträge enthalten,<br />

lei<strong>der</strong>, aber die, die bis zum Redaktionsschluß vorlagen,<br />

machen deutlich, daß <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> sich nicht nur mit<br />

sichtbaren Behin<strong>der</strong>ungen beschäftigt.<br />

Am Beispiel von Gehörlosigkeit und Schwerhörigkeit wurde die<br />

Dringlichkeit wirksamer Nachteilsausgleiche dargestellt und<br />

nachgewiesen.<br />

Daß eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe am<br />

gesamten gesellschaftlichen Leben für Menschen mit Einschränkungen<br />

und Behin<strong>der</strong>ungen, also mit objektiv vorhandenen<br />

Nachteilen, akzeptable Voraussetzungen benötigt, daß<br />

solche Voraussetzungen von Seiten des Gesetzgebers gewollt<br />

und geschaffen werden müssen, zumal, wenn dem Grundgedanken<br />

des Grundgesetzes für Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit<br />

Rechnung getragen werden sollte, haben Organisationen<br />

<strong>der</strong> Selbsthilfe und Interessenvertretungen von<br />

Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen, psychisch und chronisch Kranken,<br />

aber auch Senioren-, Kin<strong>der</strong>-, Frauen-, Migranten-, einfach<br />

gesagt, von allen, die den Status „Min<strong>der</strong>heiten“ besitzen,<br />

gefor<strong>der</strong>t.<br />

Seit Gründung <strong>der</strong> <strong>PDS</strong> ist Selbstvertretung ein wichtiger Baustein<br />

im Parteiprogramm. Seit dem Parteitagsbeschluß von<br />

3


1991 gehört die AG Selbstbestimmte <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> zum<br />

nicht mehr wegzudenkenden Bild <strong>der</strong> <strong>PDS</strong>, nunmehr <strong>der</strong><br />

<strong>LINKSPARTEI</strong>.<strong>PDS</strong>.<br />

<strong>Die</strong> Verantwortung, die damit verbunden ist, die Verpflichtungen,<br />

die daraus erwachsen, werden von denen repräsentiert,<br />

die in den kommunalen und Landesparlamenten und im Bundestag<br />

für Teilhabe und Chancengleichheit streiten.<br />

Wenn wir nun in eine neue Phase von Gemeinsamkeit eintreten,<br />

wenn <strong>der</strong> Zusammenschluß sozial engagierter Kräfte eine<br />

neue Partei hervorbringt, so wollen auch wir, die AG, diesen<br />

zukunftweisenden Prozeß unterstützen. Das wie<strong>der</strong>um heißt,<br />

daß wir, also Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen, psychischen und<br />

chronischen Erkrankungen, uns nicht wie<strong>der</strong> an den Rand gedrängt<br />

sehen wollen, geschweige denn über uns ohne uns<br />

entschieden wird.<br />

Das bisher Erreichte gilt nicht nur zu erhalten son<strong>der</strong>n weiter<br />

auszubauen.<br />

<strong>Die</strong>ses ist ein Signal, welches auch aus und von <strong>der</strong> 5. Behin<strong>der</strong>tenpolitischen<br />

Konferenz ausgeschickt wurde.<br />

An dieser Stelle und zum Schluß des „Vorworts“ danken wir:<br />

Torsten Koplin, <strong>der</strong> den Parteivorstand auf unserer Konferenz<br />

vertrat, somit also auch dem Parteivorstand für seine Unterstützung;<br />

ebenso Professor Karl-Heinz Stange für seinen, in die Broschüre<br />

aufgenommenen, ausführlichen Beitrag zur Problematik<br />

hörgeschädigter Menschen.<br />

Ein beson<strong>der</strong>er Dank gilt <strong>der</strong> Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern,<br />

Dr. Marianne <strong>Linke</strong>, die sich, trotz <strong>der</strong> Erarbeitung<br />

des Gleichstellungsgesetzes für M.-V., die Zeit genommen<br />

hat, an unserer Konferenz teilzunehmen.<br />

Von dieser Stelle aus herzlichen Glückwunsch, denn dieses<br />

Gesetz hat das Kabinett passiert und wartet nun darauf, im<br />

Parlament verabschiedet zu werden.<br />

4


Selbstbestimmung<br />

braucht Nachteilsausgleiche Christian Schrö<strong>der</strong><br />

Allein die Begriffe „Selbstbestimmung“ und „Nachteilsausgleiche“<br />

könnten Konferenzen ausfüllen, denn was heißt Selbstbestimmung<br />

und was Nachteilsausgleiche?<br />

Viel wichtiger erscheint mir jedoch, daß wir uns darüber einig<br />

sein können, daß Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen objektive<br />

Nachteile aufweisen, und diese Nachteile müssen ausgeglichen<br />

werden, um Chancengleichheit und uneingeschränkte<br />

Teilhabe am gesamten gesellschaftlichen Leben herzustellen.<br />

Hierfür werden seit Jahren Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetze<br />

gefor<strong>der</strong>t, in <strong>der</strong> Hoffnung und Annahme, daß<br />

solche Gesetze dazu beitragen, Nachteile auszugleichen.<br />

Am Bundesgleichstellungsgesetz sowie den Entwürfen von<br />

Landesgleichstellungsgesetzen, am Beispiel Berlin, wo es eine<br />

Art Gleichstellungsgesetz bereits gibt, läßt sich nachweisen,<br />

diese Gesetze und Entwürfe tragen nur im geringen Maße dazu<br />

bei, Nachteile auszugleichen, bzw. Barrieren zu überwinden.<br />

<strong>Die</strong> Diskussionen um das, als Entwurf vorliegende und noch<br />

immer nicht verabschiedete, Antidiskriminierungsgesetz machen<br />

deutlich, Legislative wie Exekutive wollen keine Schritte<br />

in die Richtung gehen, die allen Menschen tatsächlich gleiche<br />

Chancen eröffnet.<br />

Im Bundesgleichstellungsgesetz, ich nehme dieses Beispiel<br />

als Aufhänger, steht, daß die Gebärdensprache anerkannt<br />

wird, jedoch nur vor und bei Behörden.<br />

<strong>Die</strong> For<strong>der</strong>ungen waren und sind, die Gebärdensprache als<br />

eigenständige Muttersprache generell anzuerkennen und die<br />

begleitende Gebärde gleichzustellen.<br />

5


<strong>Die</strong> abgespeckten Varianten von Gleichstellung und Antidiskriminierung,<br />

die die letzte Bundesregierung vorlegte, lassen<br />

nur zu gut erkennen, daß mit gespreizten Fingern das Thema<br />

aufgegriffen wurde und die Kosten-Nutzen-Rechnung als Maßstab<br />

zur Anwendung kam. Natürlich kosten Gleichstellung und<br />

Antidiskriminierung etliches.<br />

Wer aber ernstgemeinte Gesetze erarbeitet und vorlegt, <strong>der</strong><br />

muß damit rechnen, daß nach den Ausführungen gefragt wird<br />

und diese sind in unserem Sinne eben Leistungen, die den<br />

Nachteil ausgleichen.<br />

Am Beispiel hörbehin<strong>der</strong>ter Menschen hieße das, daß Gebärdendolmetscher,<br />

auch in begleiten<strong>der</strong> Gebärde, so zur Verfügung<br />

stehen, daß Betroffene auch im normalen Alltag mit Hörenden<br />

uneingeschränkt kommunizieren können, ohne, daß<br />

sie nach den Kosten und <strong>der</strong> Bezahlbarkeit dieser Leistungen<br />

fragen müssen.<br />

Wenn von Integration gesprochen wird, und das wird ja<br />

mannigfaltig in den verschiedensten gesellschaftlichen Bezügen<br />

getan, so scheint es, wird immer die kostengünstigste, am<br />

besten kostenlose, Variante gemeint.<br />

Es ist auch eine Form <strong>der</strong> Integration, wenn es zur Selbstverständlichkeit<br />

wird, daß Hörende und Nichthörende miteinan<strong>der</strong><br />

sich austauschen, miteinan<strong>der</strong> reden, die bestehenden Distanzen<br />

überwinden.<br />

<strong>Die</strong> dabei und dafür entstehenden Kosten, wenn wir schon<br />

darüber reden, müssen aus einem Nachteilsausgleich beglichen<br />

werden.<br />

An dieser Stelle verweise ich auf den von <strong>der</strong> <strong>PDS</strong>-Fraktion<br />

1999 gestellten Antrag an die Bundesregierung, ein Teilhabesicherungsgesetz<br />

zu erarbeiten.<br />

Teilhabesicherungsgesetz heißt, daß zum einen die Rechte<br />

zur gleichberechtigten Teilhabe festgeschrieben und die dafür<br />

notwendigen Leistungen bereitgestellt und abgesichert werden.<br />

6


Aber auch, daß Barrieren abgebaut und unter Androhung von<br />

Sanktionen keine neuen Barrieren errichtet werde dürfen.<br />

Interessant und gleichzeitig irreführend ist, daß von <strong>der</strong> letzten<br />

Bundesregierung Begriffe benutzt wurden und werden, die aus<br />

dem Sprachgebrauch <strong>der</strong> emanzipatorischen Behin<strong>der</strong>tenbewegung<br />

stammen.<br />

Interessant deswegen, weil erkannt wurde, daß mit Begriffen<br />

wie Teilhabe, Selbstbestimmung, Arbeitsassistenz usw. sich<br />

die Gruppen angesprochen fühlen, die mit diesen Begriffen<br />

Lebenssituationen beschreiben.<br />

Irreführend, weil Begriffe nur ausgetauscht wurden, also bestehende<br />

Gesetzes- und Ausführungstexte nur minimal verän<strong>der</strong>t<br />

und mit emanzipatorischen Begriffen versehen wurden.<br />

Am Beispiel „Arbeitsassistenz“ läßt sich dieses beson<strong>der</strong>s<br />

deutlich nachweisen.<br />

Assistenz soll eigentlich bedeuten, daß Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung,<br />

gleich welcher Art, die Unterstützung und Begleitung<br />

im Alltag benötigen, ihre Assistenz selbst wählen und den Umfang<br />

des Einsatzes bestimmen können. Somit auch entsprechende<br />

Mittel zur Verfügung gestellt bekommen, um die Assistenzleistungen<br />

zu bezahlen.<br />

<strong>Die</strong>ser Anspruch wurde soweit reduziert, daß <strong>der</strong> Begriff „Arbeitsassistenz“<br />

eingeführt und hierfür Kriterien sogar gesetzlich<br />

festgelegt wurden.<br />

Einige Hintergedanken liegen diesem Verfahren zu Grunde:<br />

Zum einen will <strong>der</strong> Gesetzgeber einen emanzipatorischen Begriff<br />

verwenden, <strong>der</strong> äußerlich sogar eine Aufwertung erfährt.<br />

„Arbeitsassistenz“ impliziert unter an<strong>der</strong>em, daß Menschen mit<br />

Behin<strong>der</strong>ungen in Lohn und Brot stehen o<strong>der</strong> kommen.<br />

Geschickt ausgetüftelt, von Vertretern <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenbewegung<br />

unterstützt und schließlich so auch akzeptiert, wird „Arbeitsassistenz“<br />

denjenigen gewährt, die in Lohn und Brot stehen.<br />

Bei Beantragung muß von den Betroffenen nachgewiesen<br />

werden, daß sie einer dauerhaften Tätigkeit nachgehen<br />

und somit ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.<br />

7


Damit ist <strong>der</strong> Kreis <strong>der</strong>jenigen, die tatsächlich Arbeitsassistenz<br />

beantragen können eingegrenzt und überschaubar.<br />

An diesem Beispiel wird <strong>der</strong> Sparkurs offensichtlich.<br />

Nehmen wir an, ein Mensch mit Behin<strong>der</strong>ung will arbeiten, ist<br />

aber nicht in <strong>der</strong> Lage, sich den Bewerbungsmodalitäten zu<br />

unterwerfen, da er einer ständigen Begleitung bedarf. Also beantragt<br />

er o<strong>der</strong> sie eine Arbeitsassistenz, annehmend, daß eine<br />

solche Leistung auch dann verfügbar ist, wenn er o<strong>der</strong> sie<br />

sich auf den Bewerbungsweg begibt.<br />

Selbstverständlich wird ein solcher Antrag abgelehnt, denn die<br />

Voraussetzungen, also <strong>der</strong> Nachweis einer dauerhaften Beschäftigung,<br />

kann nicht o<strong>der</strong> noch nicht erbracht werden.<br />

Im Übrigen, wer kann heute schon den Nachweis einer dauerhaften<br />

Beschäftigung erbringen?<br />

Und wie heißt nun <strong>der</strong> Kreislauf?: Kein Nachweis einer dauerhaften<br />

Arbeit - keine Arbeitsassistenz; keine Assistenz - keine<br />

Arbeit.<br />

Noch deutlicher kann <strong>der</strong> Mißbrauch von Begriffen nicht aufgezeigt<br />

werden.<br />

Unsere Konferenz wird diesen Gordischen Knoten nicht<br />

durchlagen.<br />

Was wir aber wollen ist, aus den Erfahrungen, Referaten, Einzelbeiträgen<br />

unseren Politikansatz, also Inhalte <strong>Linke</strong>r <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>,<br />

so zusammenzufassen, daß nicht nur For<strong>der</strong>ungen<br />

gestellt, son<strong>der</strong>n Aufträge an die Partei und die Fraktionen<br />

formuliert werden, die nach innen wie nach außen das Finden<br />

von Möglichkeiten <strong>der</strong> praktikablen Umsetzungen anregen.<br />

Nur das gemeinsame Agieren hilft, den schwierigen, steinigen,<br />

schmierigen und glitschigen Weg zu gehen, um Schritt für<br />

Schritt vorwärts zu kommen. Hierbei müssen auch wir zwischen<br />

Wunsch und Realität abwägen.<br />

Und das, so meine ich, ist wohl das Schwerste.<br />

8


Quantitative und qualitative<br />

Entwicklungstrends <strong>der</strong> Versorgungssituation<br />

hörgeschädigter<br />

Menschen in Thüringen Prof. Dr. Karl-Heinz Stange<br />

1. Einleitung<br />

Mein Thema ist ein Hinterfragen <strong>der</strong> Versorgungssituation für<br />

Menschen mit Hörschädigungen in Thüringen. Natürlich haben<br />

nicht nur in Thüringen, son<strong>der</strong>n bundesweit, viele Betroffenen<br />

nach dem Inkrafttreten des SGB IX 2001, des Bundesgleichstellungsgesetzes<br />

2002 und <strong>der</strong> danach folgenden Gleichstellungsgesetze<br />

<strong>der</strong> Län<strong>der</strong>, auf eine nachhaltige Verbesserung<br />

ihrer bisher oft benachteiligten Lebenssituation gehofft. Und in<br />

<strong>der</strong> Tat haben sich durchaus auch - zumindest bei <strong>der</strong> Bereitstellung<br />

und Bezahlung von GebärdensprachdolmetscherInnen<br />

- einige Verbesserungen ergeben. <strong>Die</strong> Integrationsaufgaben<br />

und Probleme sind bei <strong>der</strong> Gruppe <strong>der</strong> Hörgeschädigten<br />

Menschen jedoch so vielfältig und komplex, dass hierin aber<br />

nur ein - natürlich sehr wichtiger - Teil <strong>der</strong> Unterstützungsnotwendigkeiten<br />

liegt. Genauso wichtig sind die Schaffung beruflicher,<br />

sozialer und kultureller Integrationsmöglichkeiten, die<br />

von den Betroffenen bei Bedarf selbständig genutzt werden<br />

können. In diesen Bereichen sehe ich lei<strong>der</strong> wenig Verbesserungen,<br />

ja sogar - wie sich am Beispiel Thüringens zeigen wird<br />

- rückläufige Tendenzen. Thüringen hat übrigens auch, nach<br />

meiner Kenntnis als einzigstes Bundesland, bisher kein Landesgleichstellungsgesetz<br />

für behin<strong>der</strong>te Menschen verabschiedet.<br />

Nach meinem Verständnis sind Hörschädigungen am ehesten<br />

als Kommunikations- und Beziehungsbehin<strong>der</strong>ung zu verstehen.<br />

Daher will ich zunächst einige grundsätzliche Ausführungen<br />

hierzu machen. Danach nenne ich einige Zahlen zum<br />

Ausmaß und den Arten von Hörschädigungen und will anschließend<br />

auf Lebenslagen und Versorgungsnotwendigkeiten<br />

9


eingehen. Am Beispiel Thüringens zeige ich dann die aktuelle<br />

Versorgungssituation und Anfor<strong>der</strong>ungen an die <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />

auf. Konkrete Zahlen zur Situation in den an<strong>der</strong>en Bundeslän<strong>der</strong>n<br />

sind mir nicht bekannt. Meiner Kenntnis nach liegt<br />

das an Forschungsdefiziten, d. h. es fehlt sowohl an <strong>der</strong> Bereitschaft,<br />

Mittel für entsprechende Forschungsprojekte zur<br />

Verfügung zu stellen wie auch an ForscherInnen, die sich lebensweltorientiert<br />

mit dem Thema Hörschädigung auseinan<strong>der</strong>setzen<br />

wollen. Es gibt jedoch Indizien und Praxiserfahrungen,<br />

die annehmen lassen, dass die Versorgungssituation<br />

bzw. die Versorgungsdefizite in den an<strong>der</strong>en Bundeslän<strong>der</strong>n<br />

ähnlich sind.<br />

2. Hörschädigung als Kommunikationsbehin<strong>der</strong>ung<br />

Hörschädigung ist eine unsichtbare Behin<strong>der</strong>ung. Sie wird erst<br />

in <strong>der</strong> Kommunikation mit Hörenden deutlich. Das Hauptmerkmal<br />

einer Hörschädigung ist die Störung <strong>der</strong> Kommunikation, die<br />

gleichzeitig eine Beziehungsstörung sein kann. Durch die Hörschädigung<br />

sind nicht nur die Hörgeschädigten selbst, son<strong>der</strong>n<br />

auch diejenigen betroffen, mit denen interagiert wird. Da Informationen<br />

auf sprachlichem Wege nicht o<strong>der</strong> nur bedingt erfahrbar<br />

sind, ist die Interaktion stark eingeschränkt. Hörgeschädigte<br />

sind in <strong>der</strong> ständigen Gefahr, eine Situation falsch einzuschätzen<br />

und sich entgegen den Erfor<strong>der</strong>nissen <strong>der</strong> Situation o<strong>der</strong><br />

entgegen den Erwartungen ihrer Interaktionspartner zu verhalten.<br />

Hörgeschädigte haben deshalb oft Schwierigkeiten, unmissverständliche<br />

Beziehungsangebote zu machen o<strong>der</strong> die<br />

Angebote zu verstehen, die von Hörenden gemacht werden.<br />

Große Beeinträchtigungen entstehen vor allem dann, wenn eine<br />

frühkindliche Hörschädigung vorliegt, da ein gestörter Spracherwerbprozess<br />

die Folge ist. Weil keine Sprachkontrollmöglichkeit<br />

über den Gehörsinn besteht, bleibt die Lautsprache<br />

auch nach langem Training oft unverständlich.<br />

Hörgeschädigte sind nicht selten sozial isoliert. Es gibt negative<br />

und ablehnende Einstellungen, die eine lange Tradition<br />

10


haben. Im Mittelalter war es ihnen verboten, Ehen zu<br />

schließen o<strong>der</strong> Geschäfte zu tätigen. Sie galten als<br />

min<strong>der</strong>wertig und konnten ihren Lebensunterhalt in <strong>der</strong> Regel<br />

nur durch Betteln bestreiten. Obwohl massive Vorurteile gegenüber<br />

Hörgeschädigten in <strong>der</strong> Öffentlichkeit nicht nachweisbar<br />

sind, ist dennoch - wenn auch in <strong>der</strong> Regel latent - mit<br />

verständnislosen o<strong>der</strong> sogar diskriminierenden Einstellungen<br />

zu rechnen.<br />

<strong>Die</strong> soziale Isolierung wird durch die Tatsache verschärft, dass<br />

Hörgeschädigte - und beson<strong>der</strong>s Gehörlose - aufgrund <strong>der</strong><br />

Kommunikationsbarrieren mit <strong>der</strong> hörenden Umwelt oft vom<br />

kulturellen und politischen Leben ausgeschlossen sind. Sie<br />

haben bisher völlig unzureichende Bildungs-, Qualifizierungs-<br />

und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten. Es wird geschätzt,<br />

dass von den 80.000 Gehörlosen in <strong>der</strong> Bundesrepublik bisher<br />

lediglich 300 (!) die Schriftsprache in <strong>der</strong>selben Qualität wie<br />

Hörende beherrschen. Ein Hauptgrund dafür ist <strong>der</strong><br />

„Sprachenstreit“ zwischen Befürwortern <strong>der</strong> Laut- und<br />

Gebärdensprache.<br />

<strong>Die</strong> „Oralisten“ sehen ausschließlich den Lautspracheerwerb<br />

als Voraussetzung für eine Identitätsentwicklung und Integration<br />

hörgeschädigter Menschen an. Dahinter steht das Bestreben,<br />

das Defizit <strong>der</strong> Hörschädigung durch eine weitgehende<br />

Anpassung an die hörende Welt beheben bzw. kompensieren<br />

zu wollen. Deshalb wurde - und wird - aus dieser Sicht auf<br />

lautsprachbegleitende Gebärden o<strong>der</strong> die Gebärdensprache in<br />

<strong>der</strong> Erziehung und Bildung gehörloser und höhergradig<br />

schwerhöriger Kin<strong>der</strong> verzichtet. Dabei wird angenommen,<br />

dass kein an<strong>der</strong>es Symbolsystem die Funktion <strong>der</strong> Lautsprache<br />

gleichwertig ersetzen kann.<br />

Mittlerweile wird jedoch von vielen gegen die Annahme einer<br />

engen Verknüpfung von Lautsprache und Denken plädiert. Es<br />

ist hinreichend belegt, dass die Gebärdensprache ein vollwertiges<br />

Sprachsystem ist, das dieselben Funktionen übernimmt<br />

wie die Lautsprache für Hörende. Der Erwerb von Sprachkompetenz<br />

ist ein zentraler Bestandteil des Sozialisationspro-<br />

11


zesses. Sprache hat viele Funktionen: <strong>Die</strong> <strong>der</strong> Kommunikation,<br />

das Übermitteln von Botschaften o<strong>der</strong> Ausdruck von Gedanken<br />

und Gefühlen. <strong>Die</strong> Identitätsbildung und das Selbstwertgefühl<br />

Hörgeschädigter kann durch die Anwendung <strong>der</strong><br />

Gebärdensprache wesentlich günstiger beeinflusst werden als<br />

durch die ausschließliche Konzentration auf eine lautsprachliche<br />

Sozialisation.<br />

Hörgeschädigte leiden oft unter zahlreichen Versorgungsdefiziten.<br />

Viele Einrichtungen und Institutionen <strong>der</strong> psychosozialen<br />

Versorgung, des Gesundheitswesens und <strong>der</strong> Rehabilitation<br />

können aufgrund <strong>der</strong> Kommunikationsbarrieren von Hörgeschädigten<br />

nicht o<strong>der</strong> nur mit großen Einschränkungen genutzt<br />

werden. Sie benötigen spezialisierte Hilfen und Unterstützungsangebote.<br />

In diesem Zusammenhang hat die professionelle<br />

Sozialarbeit eine große Bedeutung. <strong>Die</strong> Komplexität<br />

<strong>der</strong> psychosozialen Situation vieler Betroffener macht ein umfangreiches<br />

Wissen über ihre Sozialisationsbedingungen und<br />

<strong>der</strong>en praktische Auswirkungen notwendig und erfor<strong>der</strong>t<br />

Kenntnisse über methodische Varianten <strong>der</strong> Sozialen Arbeit<br />

(Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit, Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit,<br />

Sozialplanung, Case-Management etc.). <strong>Die</strong> Schwerhörigen-<br />

und Gehörlosenverbände und an<strong>der</strong>e Betroffeneninitiativen<br />

sind sich daher in ihrer For<strong>der</strong>ung nach dem verstärkten<br />

Einsatz von professioneller Sozialer Arbeit weitgehend einig.<br />

3. Ausmaß und Arten von Hörschädigungen<br />

Bei 19 % <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung über 14 Jahre liegt eine<br />

Hörschädigung vor. Das entspricht einer Gesamtzahl von etwa<br />

13,4 Mill. Betroffenen. Da die Kin<strong>der</strong> nicht erfasst werden, liegt<br />

die Gesamtzahl noch höher. Von den 13,4 Mill. Hörgeschädigten<br />

sind:<br />

⇒ 7,51 Mill. leicht schwerhörig (56,0 %)<br />

⇒ 4,68 Mill. mittelgradig schwerhörig (34,9 %)<br />

⇒ 958.000 hochgradig schwerhörig (7,1 %)<br />

⇒ 213.000 an Taubheit grenzend schwerhörig (1,6 %)<br />

⇒ 80.000 Gehörlose (0,4%)<br />

12


Einen Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweis besitzen ca. 250.000 Hörgeschädigte.<br />

Dabei ist von einer Untererfassung aufgrund von<br />

Arbeitsplatzängsten, Informationsdefiziten und Abwehrhaltungen<br />

<strong>der</strong> Betroffenen auszugehen. Jährlich kommen 1500 bis<br />

2000 Kin<strong>der</strong> mit einer Hörschädigung zur Welt.<br />

Der folgenden Tabelle ist die Anzahl <strong>der</strong> offiziell registrierten<br />

hörgeschädigten Menschen in Thüringen zu entnehmen.<br />

Anzahl hörgeschädigter Menschen in Thüringen (2001):<br />

Sprach- o<strong>der</strong> Sprechstörungen 299<br />

Taubheit 892<br />

Taubheit kombiniert mit Störungen <strong>der</strong> Sprachentwicklung<br />

und entsprechenden Störungen <strong>der</strong> geistigen<br />

Entwicklung<br />

Schwerhörigkeit, auch kombiniert<br />

mit Gleichgewichtsstörungen<br />

594<br />

6.605<br />

Gleichgewichtsstörungen 64<br />

Insgesamt: 8.454<br />

Merkzeichen „GL“ im Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweis (2003):<br />

1.568<br />

Das Merkzeichen „GL“ können sich gehörlose Menschen, bei<br />

denen Taubheit bei<strong>der</strong> Ohren vorliegt, sowie hörgeschädigte<br />

Menschen mit einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit<br />

bei<strong>der</strong>seits, wenn zusätzlich schwere Sprachstörungen vorliegen,<br />

in den Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweis eintragen lassen.<br />

13


Über die Unterschiede bzw. Varianten von Hörschädigungen<br />

gibt Abbildung 1 Auskunft:<br />

Abb. 1: Unterschiede <strong>der</strong> Hörschädigung<br />

Gehörlose<br />

• Geburtstaub<br />

• keine Hörerfahrung<br />

• Ausschluss aus <strong>der</strong><br />

lautsprachlichen<br />

Kommunikation<br />

• Künstliches Sprechen<br />

lernen<br />

• Absehen<br />

• Gebärdensprache<br />

Spätertaubte<br />

• nach dem 3. Lebensjahr<br />

ertaubt<br />

• Hör- und Sprecherfahrung<br />

• Grammatikalischer<br />

Spracherwerb erfolgt<br />

• Absehen<br />

• Gebärdensprache<br />

Schwerhörige /<br />

CI – Träger<br />

• Eingeschränktes Hörvermögen<br />

• Hörgerät unterstützt<br />

Kommunikation<br />

• lautsprachliche Kommunikation<br />

• Absehen u. Restgehör<br />

• Lautsprache<br />

Eine gute Aussprache kann über das Hörvermögen hinwegtäuschen!<br />

Bei <strong>der</strong> Altersverteilung von Hörschäden zeigt sich eindeutig<br />

eine Zunahme mit steigendem Alter:<br />

14<br />

Abb. 2: Altersverteilung von Hörschädigungen<br />

bis 20 Jahre<br />

21 – 40 Jahre<br />

41 – 60 Jahre<br />

über 60 Jahre<br />

4 %<br />

11 %<br />

40 %<br />

45 %


<strong>Die</strong> folgenden Abbildungen verdeutlichen die Höreindrücke<br />

schwerhöriger Menschen:<br />

Abb. 3:<br />

Normalhören<strong>der</strong> in einer<br />

schallarmen Umgebung<br />

Abb. 4:<br />

Leicht-Schwerhöriger in einer<br />

schallarmen Umgebung<br />

Abb. 5:<br />

Hochgradig Schwerhöriger in einer<br />

schallarmen Umgebung<br />

Abb. 6:<br />

Normalhören<strong>der</strong> in einer<br />

schallreichen Umgebung<br />

Abb. 7:<br />

Leicht-Schwerhöriger in einer<br />

schallreichen Umgebung<br />

Abb. 8:<br />

Hochgradig Schwerhöriger in einer<br />

schallreichen Umgebung<br />

<strong>Die</strong> Abbildungen veranschaulichen, dass höhergradig schwerhörige<br />

Menschen und gehörlose Menschen auf Kommunikationshilfen<br />

mit <strong>der</strong> hörenden Welt angewiesen sind. Hier sind<br />

natürlich zunächst einmal die technischen Hörhilfen zu erwäh-<br />

15


nen, die bis zu einem bestimmten Grad den Hörverlust ausgleichen<br />

können. Da dies jedoch nicht bei allen möglich ist,<br />

sind viele Betroffene auf an<strong>der</strong>e Kommunikationshilfen angewiesen.<br />

<strong>Die</strong> wichtigsten sind:<br />

⇒ das Absehen<br />

⇒ die Deutsche Gebärdensprache<br />

⇒ die Lautsprachbegleitende Gebärdensprache<br />

⇒ das Lormen<br />

⇒ das Fingeralphabet<br />

Beson<strong>der</strong>s betreffs „Absehen“ werden die Informationsaufnahmemöglichkeiten<br />

übrigens immer wie<strong>der</strong> überschätzt: Nur<br />

max. 30 Prozent <strong>der</strong> Laute lassen sich anhand <strong>der</strong> Mundbewegung<br />

erkennen, die restlichen 70 Prozent müssen kombiniert<br />

werden und es ist kaum möglich, sich länger als 15 Minuten<br />

auf das Absehen zu konzentrieren.<br />

4. Hörschädigung als psychosoziales Problem<br />

Eine gravierende Hörschädigung berührt fast alle Bereiche<br />

des Lebens und erfor<strong>der</strong>t spezielle Unterstützungsleistungen.<br />

Für Hörende gibt es zahlreiche mehr o<strong>der</strong> weniger spezialisierte<br />

Beratungsdienste (Familien-, Schuldner-, Drogenberatung,<br />

Psychotherapie etc.), die von Hörgeschädigten aufgrund<br />

<strong>der</strong> Kommunikationsbarrieren und <strong>der</strong> fehlenden Fachkenntnisse<br />

<strong>der</strong> Beratungsfachkräfte nur unzureichend in Anspruch<br />

genommen werden können.<br />

In <strong>der</strong> Beratung von Hörgeschädigten stellt sich u. a. die Aufgabe<br />

<strong>der</strong> Vermittlung von Weltwissen (über Traditionen, unsichtbare<br />

Normen, Wertvorstellungen etc.). Es geht außerdem<br />

um Motivationshilfen bei <strong>der</strong> Entwicklung von Lebensentwürfen,<br />

die Erläuterung aktueller gesellschaftlicher Verän<strong>der</strong>ungen<br />

(Gesundheitswesen, Politik, Gesetze etc.), Informationen<br />

über zustehende Hilfen o<strong>der</strong> das Übersetzen/Verfassen von<br />

Briefen bzw. amtlichen Schreiben.<br />

16


Folgend ein typisches Faxbeispiel einer ratsuchenden Gehörlosen<br />

mit Problemen am Arbeitsplatz (an eine Sozialarbeiterin<br />

in einer Beratungsstelle für Hörgeschädigte):<br />

„Ja, habe ich heute auch auf Arbeit. Nicht schlimm, dass treffen<br />

wir nächste mal bis ich dir bescheid. Also brauche ich ja<br />

<strong>der</strong> Handy. Warum?, wenn ich Urlaub gemeldet, dass z.B.<br />

wenn ich vor dem Urlaub mein Firma gefaxt, ob ich will wissen,<br />

wo soll ich nach Urlaub arbeiten. Ich habe nur 1 Tag gemeldet,<br />

aber ich 4x Fax geschickt, aber kein Antwort. Ich mag<br />

nicht Fax, beson<strong>der</strong>s Handy, weil Chef hat auch Handy hat.<br />

Du kannst gleich <strong>der</strong> meinen Chef telefoniert. Wenn du fertig<br />

<strong>der</strong> Chef telefoniert, bitte meldet mir <strong>der</strong> Rückantwort an... Ich<br />

brauche wissen, ob mein Firma noch weiter läuft.“<br />

Hier droht die Kündigung, weil die Betroffene keine Kenntnis<br />

darüber hatte, dass <strong>der</strong> Urlaub rechtzeitig eingereicht werden<br />

muss.<br />

Hörgeschädigte sind beson<strong>der</strong>s in den Bereichen Arbeit und<br />

Beruf benachteiligt. Sie sind bisher überwiegend im Handwerk<br />

und in <strong>der</strong> Maschinenbedienung berufstätig. Hörgeschädigte<br />

verdienen durchschnittlich 25 Prozent weniger als Hörende.<br />

Nur wenige arbeiten in Bereichen mit relativ großem Entscheidungsspielraum,<br />

wie beispielsweise in <strong>der</strong> Schwerbehin<strong>der</strong>tenvertretung<br />

von Betrieben, dem Auftragsmanagement o<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Computerprogrammierung. Schwerhörige, die in <strong>der</strong> Regel<br />

über bessere Möglichkeiten <strong>der</strong> Verständigung mit Hörenden<br />

verfügen, haben die qualifizierteren Arbeitsplätze und größere<br />

Entscheidungs- und Handlungsspielräume als Gehörlose<br />

(Bromme / Klamann / Kremer 1998, S. 23f.).<br />

Oft sind beson<strong>der</strong>s Gehörlose an ihren Arbeitsplätzen mit<br />

doppelten Belastungen konfrontiert: Einerseits haben sie ihre<br />

Rolle als ArbeitnehmerInnen zu bewältigen, zusätzlich führen<br />

die Kommunikationsprobleme im Arbeitsalltag aber nicht selten<br />

zu erheblichen psychosozialen Belastungen. <strong>Die</strong> Kommunikationsprobleme<br />

mit den hörenden KollegInnen können so<br />

groß werden, dass sich die Verständigung auf das Notwendig-<br />

17


ste beschränkt. Gehörlose bemühen sich um eine kommunikative<br />

Anpassung, in dem sie versuchen, bei den hörenden KollegInnen<br />

vom Mund abzusehen. Der Alltag wird in <strong>der</strong> Regel<br />

mit schriftlichen Notizen, Skizzen und Gesten gestaltet. Eine<br />

Verständigung durch einzelne Gebärdenvokabeln o<strong>der</strong> Gebärdensprache<br />

ist sehr selten. <strong>Die</strong> Möglichkeiten des Mundabsehens<br />

werden in <strong>der</strong> Regel überschätzt und die Auswirkungen<br />

<strong>der</strong> Kommunikationsprobleme unterschätzt. Das führt<br />

häufig zur Isolation. Hörgeschädigte werden relativ selten hinreichend<br />

in die betrieblichen Informationsflüsse einbezogen.<br />

Formale und fachliche Informationen können aufgrund von Defiziten<br />

in <strong>der</strong> Schriftsprache nicht ausreichend aufgenommen<br />

werden. Dadurch entstehen u. a. Unklarheiten betreffs sozialer<br />

Normen und Leistungsanfor<strong>der</strong>ungen, Verhaltensunsicherheiten<br />

o<strong>der</strong> es kommt zu einem unangemessenen Verhalten am<br />

Arbeitsplatz (unentschuldigtes Fehlen, Aggressionen, Arbeitsverweigerung<br />

etc.). <strong>Die</strong>s kann wie<strong>der</strong>um - möglicherweise ohnehin<br />

vorhandene latente o<strong>der</strong> offene Vorurteile - verstärken<br />

und Konflikte produzieren.<br />

So entsteht bei vielen Hörgeschädigten eine kontraproduktive<br />

psychosoziale Stresssituation (Piel 1996, S. 333f.). Abbildung<br />

9 fasst die Hauptprobleme Hörgeschädigter im Arbeitsleben<br />

zusammen:<br />

Hauptprobleme hörgeschädigter Menschen im Arbeitsleben<br />

Kommunikationsprobleme <br />

Informationsdefizite<br />

Quelle:Erstellt nach Bungard / Kupke 1995, S. 39f.<br />

Fehlende Fortbildungsmöglichkeiten <br />

Fehlverhalten<br />

am Arbeitsplatz<br />

Für Thüringen hat bereits Mitte <strong>der</strong> neunziger Jahre eine Studie<br />

bestätigt, dass Probleme in Arbeit und Beruf zu den häufigsten<br />

18


Gründen gehören, warum die Betroffenen im erwerbsfähigen<br />

Alter Rat und Unterstützung nachfragen (Stange 1995).<br />

Das Ziel <strong>der</strong> Beratung Hörgeschädigter sollte grundsätzlich die<br />

Kompetenzerhaltung bzw. die Erlangung neuer Kompetenzen<br />

sein. <strong>Die</strong> För<strong>der</strong>ung von Unabhängigkeit, Hilfe zur Selbsthilfe<br />

und Achtung <strong>der</strong> Subjektfunktion müssen im Mittelpunkt stehen.<br />

<strong>Die</strong> Arbeit mit Hörgeschädigten erfor<strong>der</strong>t eine hohe Frustrationstoleranz,<br />

da Hörgeschädigte zwar oft Zufriedenheit und<br />

Einverständnis zu erkennen geben, an<strong>der</strong>erseits dies aber nicht<br />

in Handeln umsetzen o<strong>der</strong> ohne einen Grund anzugeben, sich<br />

nicht wie<strong>der</strong> melden (Stange/Oelze 2005).<br />

5. Versorgungssituation in Thüringen<br />

Seit 1997 wurden durch das Hörmobil hörgeschädigte Menschen<br />

in den Regionen professionell beraten, in denen keine<br />

Beratungsstelle existiert. Im Jahr 2004 erfolgten thüringenweit<br />

1600 Beratungen. Schwerpunktmäßige Beratungsthemen waren<br />

Fragen zur technischen Ausstattung von schwerhörigen<br />

Menschen, Arbeitsplatzprobleme und Hilfen beim Umgang mit<br />

Ämtern und Behörden. Obwohl das Thüringer Hörmobil gut<br />

frequentiert bzw. angenommen wurde, musste dieses Projekt<br />

aufgrund mangeln<strong>der</strong> Bezuschussung durch den Freistaat<br />

Thüringen zum 31.12.2004 aufgegeben werden.<br />

Der Schwerhörigenbund Landesverband Thüringen kann aufgrund<br />

<strong>der</strong> Kürzung von finanziellen Zuschüssen zur Zeit keine<br />

weitergehenden Beratungen mehr zusichern bzw. durchführen.<br />

Momentan finden lediglich telefonische Beratungen statt<br />

o<strong>der</strong> Anfragen <strong>der</strong> Betroffenen werden per Mail beantwortet.<br />

In <strong>der</strong> Gehörlosenberatung mussten im Laufe <strong>der</strong> vergangenen<br />

Jahre Beratungseinrichtungen wegen fehlen<strong>der</strong> finanzieller<br />

Unterstützung geschlossen werden. Dazu zählte u. a. die<br />

Einrichtung in Zeulenroda, die den Beratungsbedarf in Ostthüringen<br />

abdeckte. Sie musste 1996 aufgegeben werden. Außerdem<br />

wurde zum 31.07.2005 die Beratungsstelle in Suhl<br />

geschlossen. Fast <strong>der</strong> gesamte Südthüringer Raum ist damit<br />

zur Zeit unversorgt.<br />

19


Der Landesverband <strong>der</strong> Gehörlosen in Erfurt unterhält eine<br />

Beratungsstelle für Hörgeschädigte und ihre Angehörigen sowie<br />

eine Gebärdensprachdolmetschervermittlung. Darüber<br />

hinaus werden Fahr- und Betreuungsdienste geleistet, Gebärdensprachkurse<br />

durchgeführt, Selbsthilfegruppen unterstützt<br />

sowie Veranstaltungen im Kultur und Freizeitbereich organisiert.<br />

Ab 01.08.2005 wurde die Beratungsstelle des Landesverbandes<br />

<strong>der</strong> Gehörlosen in Erfurt für Südthüringen zuständig. Aufgrund<br />

<strong>der</strong> unzureichenden personellen Situation kann jedoch<br />

keine kontinuierliche Beratungsarbeit bzw. eine Kompensation<br />

<strong>der</strong> fehlenden Versorgung in Südthüringen geleistet werden.<br />

Weiterhin ist auch <strong>der</strong> Erhalt <strong>der</strong> Beratungsmöglichkeiten in<br />

Nordhausen, Mühlhausen und Gera momentan in Frage gestellt.<br />

6. Zusammenfassung<br />

Aufgrund <strong>der</strong> Schließung von Beratungseinrichtungen muss<br />

lei<strong>der</strong> von einer dramatischen Verschlechterung <strong>der</strong> psychosozialen<br />

Versorgung von hörgeschädigten Menschen in Thüringen<br />

ausgegangen werden.<br />

Der Bedarf an Unterstützung und Hilfsangeboten für die betroffenen<br />

Personengruppen ist eindeutig nicht abgedeckt. Aufgrund<br />

<strong>der</strong> immer weiter werdenden Anfahrtswege zur nächsten<br />

Beratungsstelle, müssen viele Betroffene auf eine notwendige<br />

Kontaktaufnahme verzichten.<br />

Perspektivisch ist momentan keine Verbesserung <strong>der</strong> Versorgungssituation<br />

zu erwarten. <strong>Die</strong> „weißen Flecken“ in <strong>der</strong> Versorgungslandschaft<br />

werden höchstwahrscheinlich noch zunehmen.<br />

Außerdem fehlen in Thüringen spezialisierte Angebote<br />

für Hörgeschädigte betreffs Suchtproblemen, Schuldnerberatung<br />

sowie Ehe- und Familieberatung und Psychotherapie.<br />

Hinsichtlich <strong>der</strong> Versorgungsnotwendigkeiten und For<strong>der</strong>ungen<br />

an die <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> <strong>der</strong> Landesregierung sind weiterhin<br />

zu nennen:<br />

20


⇒ Neben den „stationären“ Beratungsstellen ist aufgrund <strong>der</strong><br />

sehr guten Erfahrungen mit dem Thüringer Hörmobil eine<br />

Ausweitung <strong>der</strong> mobilen Beratungsdienste notwendig.<br />

⇒ <strong>Die</strong> professionellen Fachkräfte in den noch bestehenden<br />

Beratungsstellen können sich nicht ausschließlich auf die<br />

Beratung <strong>der</strong> Betroffenen konzentrieren, da sie zusätzliche<br />

Verwaltungsarbeiten leisten müssen. Eine Beschäftigung<br />

von Verwaltungsfachkräften würde zur besseren Ressourcennutzung<br />

beitragen.<br />

⇒ Einige MitarbeiterInnen <strong>der</strong> Beratungseinrichtungen<br />

kommen aus fachfremden Berufen. Selbstbetroffenheit<br />

kann bekanntlich keine professionelle Kompetenz ersetzen,<br />

son<strong>der</strong>n lediglich ergänzen. Daher besteht für diese<br />

Personengruppe ein Weiterbildungs- und Qualifizierungsbedarf.<br />

⇒ <strong>Die</strong> Betroffenenverbände, Fachleute und Wissenschaft<br />

sind sich einig darin, dass die vielfältigen und komplexen<br />

Aufgaben in <strong>der</strong> Hörgeschädigtenberatung am ehesten<br />

von studierten SozialarbeiterInnen mit entsprechenden<br />

Zusatzqualifikationen in Kommunikationstechniken geleistet<br />

werden können. Hierauf ist bei Neueinstellungen<br />

bzw. <strong>der</strong> Weiterentwicklung <strong>der</strong> Hörgeschädigten-beratung<br />

zu achten.<br />

⇒ Es sollten zudem mehr selbstbetroffene Hörgeschädigte<br />

hauptamtlich in die Beratungsstrukturen integriert werden.<br />

Erfreulicherweise haben mittlerweile einige Gehörlose/Schwerhörige<br />

ein Sozialarbeit- o<strong>der</strong> Psychologiestudium<br />

absolvieren können.<br />

<strong>Die</strong> Hauptnotwendigkeit in <strong>der</strong> Versorgung Hörgeschädigter in<br />

Thüringen besteht jedoch darin, neue Beratungsstellen bedarfsorientiert<br />

einzurichten und die bestehenden Beratungsstellen<br />

dauerhaft abzusichern. Momentan sind mindestens drei<br />

Vollzeitstellen erfor<strong>der</strong>lich, um den Beratungsbedarf in Thüringen<br />

zu decken.<br />

21


Zusammenfassend bestätigt <strong>der</strong> Blick auf die Thüringer Versorgungssituation<br />

bzw. die in den letzten Jahren erfolgten Mittelkürzungen,<br />

die Auffassung, dass Gleichstellungspostulate<br />

ohne konkrete Nachteilsausgleiche und Leistungsgesetze lediglich<br />

den Charakter eines „Gerechtigkeits-Placebos“ haben.<br />

Literatur:<br />

Bromme, Rainer/Klamann, Michaela/ Kremer, Antje (1998): Evaluation des<br />

Einsatzes von Bildtelefonie am Arbeitsplatz von gehörlosen Mitarbeitern<br />

und Mitarbeiterinnen <strong>der</strong> Deutschen Telekom AG, Münster<br />

Bungard, Walter/Kupke, Sylvia (1995): Gehörlose Menschen in <strong>der</strong> Arbeitswelt,<br />

Weinheim<br />

Piel, Petra (1996): Ich denke, gehörlose Sozialarbeiterinnen und -arbeiter<br />

werden teilweise an<strong>der</strong>s arbeiten, vielleicht nicht besser o<strong>der</strong> schlechter,<br />

aber eben an<strong>der</strong>s, in: Das Zeichen 37, S. 333-345<br />

Stange, Karl-Heinz (1995): Versorgungssituation Hörbehin<strong>der</strong>ter in Thüringen,<br />

Erfurt 1995<br />

Stange, Karl-Heinz/Oelze, Claudia (2005): Hörschädigung. Eine Einführung<br />

für Sozial- und Gesundheitsberufe, Nürnberg (im Erscheinen)<br />

Karl-Heinz Stange, Prof. Dr. phil., Diplom-Sozialwissenschaftler, Diplom-<br />

Pädagoge und Diplom-Sozialarbeiter (FH), Professor für Rehabilitation im<br />

Fachbereich Sozialwesen <strong>der</strong> Fachhochschule Erfurt, Veröffentlichungen zur<br />

Sozial- und Gesundheitspolitik und zu Rehabilitationsthemen, Arbeitsschwerpunkte:<br />

Krankenkassen- und Versorgungsforschung, Sozialarbeit im<br />

Gesundheitswesen, Rehabilitation von psychisch Kranken, Hörbehin<strong>der</strong>ung,<br />

<strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />

22


Anhang<br />

Anzahl <strong>der</strong> als schwerbehin<strong>der</strong>t anerkannten Hörgeschädigten in Prozent<br />

<strong>der</strong> Bevölkerung nach Landkreisen und Kreisfreien Städten (31.12.2003)<br />

Stadt<br />

Bevölkerungsanzahl<br />

Hörgeschädigte<br />

Menschen<br />

Anzahl <strong>der</strong> Hörgeschädigten<br />

in %<br />

Erfurt 202.450 823 0,40<br />

Gera 105.153 383 0,36<br />

Jena 102.442 344 0,33<br />

Suhl 43.652 148 0,34<br />

Weimar 64.491 230 0,36<br />

Eisenach 43.915 191 0,43<br />

Eichsfeld 110.843 418 0,38<br />

Nordhausen 94.519 297 0,31<br />

Wartburgkreis 139.805 505 0,36<br />

Unstrut-<br />

Hainich-Kreis<br />

115.100 315 0,27<br />

Kyffhäuserkreis 89.517 290 0,32<br />

Schmalkalden-<br />

Meiningen<br />

138,642 556 0,40<br />

Gotha 144.833 445 0,31<br />

Sömmerda 77.831 203 0,26<br />

Hildburghausen 71.521 187 0,26<br />

Ilmkreis 118.112 392 0,33<br />

Weimarer Land 88.862 215 0,24<br />

Sonneberg 64.983 185 0,28<br />

Saalfeld-<br />

Rudolstadt<br />

Saale-<br />

Holzland-Kreis<br />

Saale<br />

Orla-Kreis<br />

126.692 396 0,31<br />

91.470 218 0,24<br />

94.501 313 0,33<br />

Greiz 118.053 349 0,29<br />

Altenburgerland 107.893 372 0,34<br />

Thüringen gesamt<br />

2.355.280 7.775 0,33<br />

23


Beratungsstelle<br />

Deutscher Schwerhörigenbund,<br />

Landesverband Thüringen<br />

e. V.<br />

Buttelstedter Str. 19<br />

99427 Weimar<br />

Landesverband <strong>der</strong><br />

Gehörlosen<br />

Thüringen e. V.<br />

Hans – Grundig – Str. 25<br />

99099 Erfurt<br />

Caritas Regionalstelle<br />

Erfurt<br />

Regierungsstraße 55<br />

99084 Erfurt<br />

Beratungsstelle für Hörgeschädigte,<br />

Suhl<br />

Auenstr. 32<br />

98527 Suhl<br />

Caritas Regionalstelle<br />

Eichsfeld/ Unstrut- Hainich<br />

Caritasverband für das<br />

Bistrum Erfurt e. V.<br />

Bonifatiusweg 2<br />

37327 Leinefelde<br />

Diakonie – Kreisstelle<br />

Fachdienst für<br />

Hörbehin<strong>der</strong>te<br />

Saalbahnhofstr. 12<br />

07743 Jena<br />

Schwerhörigen-Verein<br />

Eisenach e.V.<br />

Rot-Kreuz-Weg 01<br />

99817 Eisenach<br />

24<br />

Bemerkung<br />

Führen seit Januar 2005,<br />

aufgrund von mangeln<strong>der</strong><br />

Finanzierung keine<br />

persönliche Beratung<br />

durch. Es wird lediglich<br />

eine nie<strong>der</strong>schwellige<br />

Beratungstätigkeit per<br />

Telefon und e-mail geleistet<br />

Bestand bis 31.07.2005,<br />

danach Auflösung <strong>der</strong><br />

Beratungsstelle aufgrund<br />

nicht gesicherter Finanzierung<br />

Der weitere Fortbestand<br />

dieser Einrichtung ist unklar,<br />

da eine Finanzierung<br />

durch den Freistaat<br />

Thüringen seit dem<br />

01.01.2005 nicht mehr<br />

geleistet wird<br />

<strong>Die</strong> Beratung wird<br />

ausschließlich von ehrenamtlichen<br />

Kräften geleistet<br />

Zuständig für folgende<br />

Landkreise<br />

Weimar, Weimarer Umland<br />

Aufgrund <strong>der</strong> Kürzungsproblematik,<br />

mittlerweile für den<br />

gesamten Thüringer Raum,<br />

allerdings kann Beratung nur<br />

in „Extremfällen“ gewährleistet<br />

werden<br />

Stadt und Landkreis Erfurt<br />

Wartburgkreis, Hildburghausen,<br />

Schmalkalden-<br />

Meiningen, Sonneberg,<br />

Ilmkreis<br />

Eichsfeld,<br />

Unstrut-Hainich-Kreis<br />

Jena, Saale-Holzland-Kreis,<br />

Saale-Orla-Kreis<br />

Stadt Eisenach, Wartburgkreis


<strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />

unter <strong>der</strong> Großen Koalition -<br />

Großes Ziel und kleine Schritte Ilja Seifert<br />

In den sieben Jahren <strong>der</strong> rosa-oliven Koalition dominierte ein<br />

Begriff die <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>: Paradigmenwechsel. Das klang<br />

bedeutend. Hinzugefügt wurde, daß es sich um einen Wechsel<br />

von bevormunden<strong>der</strong> Fürsorge hin zu selbstbestimmter Teilhabe<br />

handele. Das klingt fortschrittlich. Untersetzt wurde das<br />

im wesentlichen mit zwei Gesetzen: dem Neunten Sozialgesetzbuch<br />

(SGB IX), das 2001 in Kraft trat, und dem Bundes-<br />

Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetz (BBG), dessen in-Krafttreten<br />

am 1. Mai 2002 gefeiert wurde.<br />

Daß sich diese Gesetze – o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong> vielbeschworene „Paradigmenwechsel“<br />

– im realen Leben von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />

und/o<strong>der</strong> chronischen o<strong>der</strong> psychischen Erkrankungen<br />

sowie <strong>der</strong>en Angehörigen beson<strong>der</strong>s positiv ausgewirkt<br />

hätten, läßt sich beim besten Willen nicht belegen. Immerhin<br />

darf ihnen eine gewisse orientierende Wirkung, eine<br />

gute Absicht, ein Wille zur Gestaltung unterstellt werden. Vielleicht<br />

lassen sich in einigen Jahrzehnten – rückblickend – sogar<br />

wirklich nachhaltige Einstellungsän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung<br />

nachweisen? Von mitleidigem Wegsehen<br />

zum tolerierendem Akzeptieren? Womöglich gar zum Miteinan<strong>der</strong>?<br />

Das wären wirkliche Erfolge. Momentan sind es höchstens<br />

Wünsche.<br />

Dürftige Koalitionsaussagen<br />

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD hat immerhin<br />

im Kapitel IV: „Soziale Sicherheit verläßlich und gerecht<br />

gestalten“ einen Unterpunkt 5 „Gesellschaftliche Teilhabe<br />

von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen“. Dürfen wir also auf<br />

Fortschritte hoffen?<br />

25


<strong>Die</strong> Erfahrung lehrt: Wohl eher nicht. Der Text des Koalitionspapiers<br />

kann nur auf den allerersten Blick über die Dürftigkeit<br />

seines Inhalts hinwegtäuschen. Von „Paradigmenwechsel“ ist<br />

schon gar nicht mehr die Rede. Er müßte ja auch – sollte er<br />

tatsächlich mehr als einen Placebo-Effekt haben – wesentlich<br />

weiter gefaßt werden. Etwa <strong>der</strong>gestalt, daß vom „Sparen um<br />

jeden Preis“ zum „Erhöhen <strong>der</strong> Lebensqualität für alle“<br />

(insbeson<strong>der</strong>e die „Schwachen“, darunter Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />

und chronischen Erkrankungen sowie <strong>der</strong>en Angehörige)<br />

übergegangen werden soll. Das ist mit dieser Großkoalition<br />

nicht in Sicht.<br />

Daß ein solcher Paradigmenwechsel nicht auf das Verhältnis<br />

<strong>der</strong> (Mehrheits)Gesellschaft zu ihren behin<strong>der</strong>ten Mitglie<strong>der</strong>n<br />

begrenzt bleiben könnte, liegt auf <strong>der</strong> Hand. Es zeigt sich also<br />

abermals, daß die Verbesserung <strong>der</strong> Lebensbedingungen für<br />

Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen nicht losgelöst von <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Entwicklung vonstatten gehen kann. Aber das bestätigt<br />

auch, daß sich in <strong>der</strong> Lebenssituation behin<strong>der</strong>ter Menschen<br />

allgemeine Defizite brennpunktartig bündeln. Und daß<br />

Lösungswege, die „Schwachen“ gangbar sind, allen an<strong>der</strong>en<br />

zumindest nicht verschlossen bleiben. Im Gegenteil wird sich –<br />

wie häufig gesehen – beweisen, daß sie auch von sehr Vielen<br />

(nicht unmittelbar Betroffenen) gern benutzt werden.<br />

„Nutzen-für alle-Prinzip“ zum Konzept machen<br />

Was sich zunächst als „positiver Nebeneffekt“ zeigte, erweist<br />

sich zunehmend als innovativer Hebel, mit dessen Hilfe tatsächlich<br />

anhaltende Verbesserungen zugunsten Vieler – tendenziell<br />

aller – möglich werden: Das „Nutzen-für-alle-Prinzip“.<br />

Es sollte zum Grundkonzept politischen Handelns, verwalterischer<br />

Aktivitäten, technischer Erneuerung, städtebaulicher<br />

Gestaltung, designerischen Schaffens und möglichst auch des<br />

alltäglichen Miteinan<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> persönlichen Nachbarschaft<br />

werden. In etlichen Wahlprüfsteinen bekannte sich die Linkspartei.<strong>PDS</strong><br />

zu diesem Prinzip. Es ist eine <strong>der</strong> Aufgaben des<br />

AG „Selbstbestimmte <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>“, dieser Selbstverpflichtung<br />

Gestalt geben zu helfen.<br />

26


Lei<strong>der</strong> ist davon in <strong>der</strong> großen Koalitionsvereinbarung so gar<br />

nichts zu finden.<br />

Dafür umsomehr Gemeinplätze:<br />

Beispielsweise: „Der bereits eingeleitete Prozeß einer umfassenden<br />

Teilhabe am Gemeinschaftsleben soll fortgesetzt werden“.<br />

Ja, was heißt denn das? Wenn das den Koalitionären<br />

wirklich <strong>der</strong> Erwähnung wert ist – noch dazu als ersten Satz –<br />

muß man ja befürchten, daß zwischenzeitlich ernsthaft darüber<br />

diskutiert worden sein könnte, diesen Prozeß zu stoppen<br />

o<strong>der</strong> ihn gar rückgängig zu machen! Immerhin fällt auf, daß<br />

zwar von „dem bereits eingeleiteten Prozeß“ die Rede ist, <strong>der</strong><br />

„fortgesetzt werden“ solle, <strong>der</strong> von <strong>der</strong> rot-grünen Vorgängerkoalition<br />

so geliebte Begriff des „Paradigmenwechsels“ jedoch<br />

tunlichst vermieden wird.<br />

Dann scheint die Koalition mutig zu werden. Sie definiert „die<br />

Unterstützung von Selbstständigkeit, Selbsthilfe und Selbstbestimmung<br />

. . . als gesellschaftliche Aufgabe“. Immerhin. Das<br />

klingt positiv. Da aber jegliche finanzielle o<strong>der</strong> strukturelle Untersetzung<br />

dieser Definition ausbleibt, ist zu befürchten, daß<br />

nur noch mehr Aufgaben auf das – eh überfor<strong>der</strong>te – Ehrenamt<br />

abgewälzt werden sollen. Hier bietet sich also <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenbewegung<br />

– und uns, <strong>der</strong> Linksfraktion, als ihr wichtigster<br />

parlamentarischer Arm – eine Chance, die Regierung<br />

beim Wort zu nehmen. Es kommt in diesem Punkte darauf an,<br />

sie „zum Jagen zu tragen“. Wenn es uns gelingt, ihr an dieser<br />

Stelle mehr als bloße Ankündigungen zu entlocken, können<br />

wir vielleicht zu kleinen Fortschritten beitragen. <strong>Die</strong> Linkspartei<br />

darf sich auch für solche Aufgaben nie zu schade sein.<br />

Daß wir die Perspektive einer gerechteren Weltordnung nicht<br />

aus den Augen verlieren wollen, darf uns nicht daran hin<strong>der</strong>n,<br />

schon jetzt die gröbsten Ungerechtigkeiten etwas mil<strong>der</strong>n zu<br />

helfen. Wer einen demokratischen Sozialismus anstrebt – und<br />

diesen als Weg, Ziel und Wertesystem beschreibt –, muß jedes<br />

Schrittchen hin zu einer etwas weniger undemokratische-<br />

27


en Erscheinungsform des herrschenden Kapitalismus begrüßen.<br />

Und wo immer es geht, aktiv darauf zu arbeiten.<br />

Teilhabe braucht bedarfsdeckende Nachteilsausgleiche<br />

Wo die Betroffenen, ihre Verbände und auch wir klare Worte<br />

zu einem Leistungsgesetz erhofft hätten, spricht die Koalitionsvereinbarung<br />

davon, daß die Leistungsstrukturen <strong>der</strong> Einglie<strong>der</strong>ungshilfe<br />

so weiterentwickelt werden sollen, daß „auch<br />

künftig ein effizientes und leistungsfähiges System zur Verfügung<br />

steht“. Das klingt eher bedrohlich: „Leistungsfähigkeit“<br />

deutet immerhin auf nicht vollständige Zerschlagung hin, „Effizienz“<br />

jedoch auf Einsparungen. Gebraucht würde aber ein<br />

Nachteilsausgleichs-Gesetz, das Assistenz im erfor<strong>der</strong>lichen<br />

Umfang sichert. An<strong>der</strong>s ist gesellschaftliche Teilhabe nicht<br />

wirklich herstellbar.<br />

<strong>Die</strong>sbezüglich stehen wir im Wort. Zahlreiche Wahlanfragen<br />

zu diesem Thema beantworteten wir eindeutig: „Seit langem<br />

unterstützt die Linkspartei.<strong>PDS</strong> das in <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ten-<br />

Bewegung entwickelte Konzept eines Nachteilsausgleichsgesetzes<br />

mit Assistenzsicherungscharakter (NAGAS). Inhaltliche<br />

Hauptkomponenten sind:<br />

28<br />

- konsequente Umstellung auf das Finalitätsprinzip (gleiche<br />

Leistung bei vergleichbarer Beeinträchtigung; unabhängig<br />

von Art und Ursache)<br />

- bundesweit einheitlicher Rechtsanspruch auf die erfor<strong>der</strong>lichen<br />

Leistungen (Bedarfsdeckungsprinzip)<br />

- Anspruch als Nachteilsausgleich, also unabhängig von<br />

Einkommen und Vermögen (keine Bedürftigkeitsprüfung)<br />

- Leistungsgewährung aus einer Hand<br />

- Bedarf wird von den Betroffenen benannt (Umkehr <strong>der</strong><br />

Beweislast; bei Verdacht auf ungerechtfertigte Ansprüche<br />

muß die Behörde dies nachweisen)


Es gäbe mehrere Wege, auf denen dieses Ziel erreicht werden<br />

könnte. Einer davon wäre, die Einglie<strong>der</strong>ungshilfe aus dem<br />

SGB XII heraus zu lösen, sie von <strong>der</strong> Bedürftigkeitsprüfung<br />

(SGB II) zu befreien und als Nachteilsausgleichs-Anspruch<br />

neu zu etablieren. Dazu soll es aus dem Etat <strong>der</strong> Kommunen<br />

in eine Bundesbehörde verlagert werden. Damit ginge eine –<br />

dringend erfor<strong>der</strong>liche – Entlastung <strong>der</strong> kommunalen Haushalte<br />

einher, ohne daß Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen weiter gegen<br />

an<strong>der</strong>e kommunale Aufgaben – Kultur, Kin<strong>der</strong>betreuung,<br />

ehrenamtliches Engagement, Straßenausbau usw. – ausgespielt<br />

würden.<br />

Ein an<strong>der</strong>er – noch besserer – Weg wäre, alle bisherigen Leistungen<br />

für Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen und/o<strong>der</strong> chronischen<br />

und psychischen Erkrankungen (vom Bundesversorgungsgesetz<br />

über Einglie<strong>der</strong>ungshilfe, Beamtenversorgung,<br />

Pflegeversicherung usw.) in einem neuen NAGAS zusammen<br />

zu fassen. Daß es durchaus schwierig ist, unterschiedliche<br />

Ansprüche (z.T. steuerfinanzierte, z.T. Versicherungs-, z.T.<br />

Schadensersatz-, z.T. Fürsorgeansprüche usw.) unter einen<br />

Hut zu bekommen, ist uns klar. Das verlangt großen politischen<br />

Willen, klare Konzepte, sinnvolle Übergangs- und Bestandsschutzregelungen<br />

sowie pfiffige Lösungen. Deshalb halten<br />

wir es nicht nur für möglich, son<strong>der</strong>n für sinnvoll und notwendig,<br />

den in Behin<strong>der</strong>tenorganisationen versammelten<br />

Sachverstand in allen Phasen <strong>der</strong> Erarbeitung, Diskussion,<br />

Erprobung und schließlich Anwendung dieses Gesetzes einzubeziehen.<br />

Das sollte bis dahin gehen, dauerhafte Begleit-<br />

und Unterstützungsangebote nach dem Prinzip „Betroffene<br />

helfen Betroffenen“ zu etablieren.“<br />

„ambulant vor stationär“? – Taten vor Ankündigungen!<br />

Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ soll – laut Koalitionsvertrag<br />

zwischen CDU/CSU und SPD – einen „zentralen Stellenwert“<br />

erhalten. Das hören wir schon seit Jahren. Es steht<br />

auch in verschiedenen Gesetzen so. Aber we<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> „Verzahnung<br />

ambulanter und stationärer <strong>Die</strong>nste“ noch bei <strong>der</strong><br />

„Leistungserbringung `aus einer Hand´“ noch bei <strong>der</strong> „Umset-<br />

29


zung <strong>der</strong> Einführung des Persönlichen Budgets“ sind irgendwelche<br />

konkreten Maßnahmen erwähnt. Es ist also zu befürchten,<br />

daß weitergewurstelt wird und immer <strong>der</strong> „Spareffekt“<br />

im Vor<strong>der</strong>grund steht, nicht die Steigerung <strong>der</strong> Lebensqualität<br />

behin<strong>der</strong>ter Menschen.<br />

<strong>Die</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong> – und hier wie<strong>der</strong>um unsere AG „Selbstbestimmte<br />

<strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>“ – steht also vor <strong>der</strong> Aufgabe,<br />

diese Schlagworte mit machbaren Konzepten zu untersetzen.<br />

<strong>Die</strong>se müssen – über unsere Parteistrukturen (also auch über<br />

die sich bildenden neuen) – z.B. in Kommunen und/o<strong>der</strong> auf<br />

Län<strong>der</strong>ebene in praktische Politik überführt werden. Es ist eine<br />

unserer Aufgaben im Parteibildungsprozeß, solche Fragen<br />

immer wie<strong>der</strong> auf die Agenda zu setzen. Ansonsten besteht<br />

die Gefahr, daß sie „vergessen“ werden. Dem dürfen wir keinen<br />

Raum bieten. Nur getragen von klaren Parteitagsorientierungen<br />

– und unterstützt durch praktische Erfahrungen aus<br />

Städten und Län<strong>der</strong>n – bleibt unsere diesbezügliche Position<br />

glaubwürdig.<br />

Ansonsten ergeht es uns wie dem Großkoalitionsvertrag, <strong>der</strong><br />

zum x-ten Male die „effektive Zusammenarbeit <strong>der</strong> Sozialleistungsträger“<br />

beschwört. <strong>Die</strong> Erfahrung lehrt, daß irgendeine<br />

Wirkung, die von solchen Ankündigungen ausgehen könnte,<br />

eher unwahrscheinlich ist. Es sei denn – und dagegen müßten<br />

wir gemeinsam mit den Betroffenen energisch Wi<strong>der</strong>stand leisten<br />

–, daß die „effektive Zusammenarbeit“ im Zusammenstreichen<br />

von Leistungen bestehen soll. Erste – sehr ernstzunehmende<br />

– Anzeichen dafür gibt es bereits. Und diese „effektive<br />

Zusammenarbeit“ reicht sogar weit über die Sozialleistungsträger<br />

hinaus: Beispielsweise gilt seit April d.J. <strong>der</strong> neue<br />

Rundfunkgebührenstaatsvertrag. Er sieht die Befreiung von<br />

<strong>der</strong> Rundfunkgebühren-Pflicht wegen geringen Einkommens<br />

nicht mehr vor. Befreiung erhält nur noch, wer einen entsprechenden<br />

Leistungsbescheid nachweisen kann. <strong>Die</strong> Kriterien<br />

dafür beziehen sich auf Hilfe zum Lebensunterhalt (SGB XII),<br />

Grundsicherung (SGBXII), Sozialgeld o<strong>der</strong> Arbeitslosengeld II,<br />

Leistungen nach dem Asylbewerberleistungs-Gesetz und<br />

Bundesausbildungsför<strong>der</strong>ungsgesetz sowie – Menschen mit<br />

30


Behin<strong>der</strong>ungen betreffend – auf beson<strong>der</strong>e Merkmale (Merkzeichen<br />

„RF“ im Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweis).<br />

Menschen mit geringem Einkommen (z.B. Erwerbsunfähigkeits-Rentner/innen,<br />

die knapp über <strong>der</strong> Grundsicherung liegen)<br />

werden nicht mehr berücksichtigt.<br />

Wer also beispielsweise 700,- €uro Erwerbsunfähigkeitsrente<br />

erhält, 300,- €uro Miete und 50,- €uro Heizkosten pro Monat<br />

bezahlt, hat keinen Anspruch auf Grundsicherung, da das Einkommen<br />

rein rechnerisch 5,- €uro oberhalb <strong>der</strong> Bedarfsgrenze<br />

liegt. RF-Befreiung erfolgt wegen <strong>der</strong> vorgegebenen Befreiungsgründe<br />

nicht. <strong>Die</strong> Höhe des überschreitenden Einkommens<br />

deckt jedoch nicht die monatliche Gebührenfor<strong>der</strong>ung.<br />

Aber es geht noch weiter! Ohne RF-Befreiung gibt es auch<br />

keine Ermäßigung <strong>der</strong> Telekom-Grundgebühr. Eins greift ins<br />

an<strong>der</strong>e. So wird die kostenlose Wertmarke für die Beför<strong>der</strong>ung<br />

im ÖPNV für Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung (Merkzeichen „Bl“,<br />

„H“, „G“, „GL“ bzw. „aG“ im Schwerbehin<strong>der</strong>tenausweis) auch<br />

nur gewährt, wenn Leistungsbescheide nach SGB XII vorliegen.<br />

Menschen mit geringem Einkommen analog <strong>der</strong> gesetzlichen<br />

Bedarfsgrenzen werden wie<strong>der</strong>um in den Befreiungsgründen<br />

nicht erwähnt. <strong>Die</strong> Betroffenen sind damit schlechter<br />

gestellt. In Berlin setzt sich das beispielsweise noch dadurch<br />

fort, daß seit November 2005 auch die ermäßigten Eintrittsgebühren<br />

bei Schwimmhallen wegfallen. <strong>Die</strong> Reihe <strong>der</strong> Zusatzbelastungen<br />

ließe sich noch verlängern. Wir müssen ihr Wi<strong>der</strong>stand<br />

entgegensetzen.<br />

Der positiv klingende Ansatz im Koalitionsvertrag, die „berufliche<br />

Integration“ för<strong>der</strong>n zu wollen, um mehr Menschen mit<br />

Behin<strong>der</strong>ungen „außerhalb von Werkstätten . . . ihren Lebensunterhalt<br />

im allgemeinen Arbeitsmarkt erarbeiten“ lassen zu<br />

können, muß materiell untersetzt werden. Allein ein Prüfauftrag,<br />

„wie die Einglie<strong>der</strong>ungszuschüsse an Arbeitgeber ausgestaltet<br />

werden (können), um die Planungssicherheit für die<br />

dauerhafte Integration . . . zu verbessern“, reicht da nicht aus.<br />

31


Barrierefreie Infrastruktur darf kein Randthema bleiben<br />

Ansonsten kommen Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen im Weltbild<br />

<strong>der</strong> Großkoalitionäre nur noch im Zusammenhang mit demographischem<br />

Wandel und Migration vor. Im Unterpunkt „Stadtentwicklung<br />

als Zukunftsaufgabe“ heißt es, daß „zur Bewältigung<br />

des demographischen Wandels und <strong>der</strong> Migration . . .<br />

Städte“ unterstützt werden sollen, „Wohnquartiere kin<strong>der</strong>- und<br />

familienfreundlich zu gestalten und die Infrastruktur barrierefrei<br />

und altengerecht umzubauen“.<br />

Das ist immerhin besser als nichts. Aber Barrierefreiheit wird<br />

hier – wie<strong>der</strong> einmal – als „Spezialaufgabe“ mißverstanden.<br />

Statt dessen müßte sie – z.B., wenn man das Bundesbehin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetz<br />

von 2002 ernst nähme – zu einem<br />

durchgehenden Prinzip <strong>der</strong> Gestaltung des öffentlichen<br />

Raums, <strong>der</strong> Kommunikation, <strong>der</strong> Mobilität und des gesellschaftlichen<br />

Lebens insgesamt werden. Wir sagen sogar –<br />

und betonten das in zahlreichen Wahlprüfsteinen –, daß dem<br />

politischen Handeln auf praktisch allen Gebieten das „Nutzenfür-Alle-Konzept“<br />

zugrunde liegen sollte. Erst so würde <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />

ihrer Querschnittsfunktion tatsächlich gerecht.<br />

Neben diesen Gemeinplätzen und Placebo-Formulierungen<br />

fallen die Fehlstellen im Koalitionsvertrag nicht so leicht auf.<br />

Dennoch sollen hier einige zumindest genannt werden:<br />

32<br />

• Barrierefreiheit wird nicht als durchgehendes gestalterisches<br />

Prinzip erkannt (Nutzen-für-alle-Konzept).<br />

• Ein umfassendes Diskriminierungsverbot ist nicht in<br />

Sicht.<br />

• Ein bedarfsorientiertes (bedarfsdeckendes) Leistungsgesetz,<br />

das Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen aus <strong>der</strong> Sozialhilfeabhängigkeit<br />

befreit, ist nicht in Sicht.<br />

• Eine Verbesserung (zumindest Rücknahme <strong>der</strong> Verschlechterungen<br />

<strong>der</strong> „Gesundheitsreformen“) bei <strong>der</strong><br />

Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln sowie speziellen


Medikamenten (z.B. für seltene und chronische Krankheiten)<br />

ist nicht in Sicht.<br />

• Eine gleichberechtigte „dritte Bank“ <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>ten-<br />

und chronisch Kranken-Selbsthilfeorganisationen im<br />

Gemeinsamen Ausschuß <strong>der</strong> Krankenkassen und <strong>der</strong><br />

Kassenärztlichen Bundesvereinigung ist nicht in Sicht.<br />

• Eine institutionelle För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Selbsthilfearbeit ist<br />

nicht in Sicht.<br />

Es bleibt eine <strong>der</strong> wichtigsten Aufgaben <strong>der</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong> –<br />

und demzufolge ihrer AG „Selbstbestimmte <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>“<br />

–, diese Fehlstellen <strong>der</strong> Regierungspolitik zu füllen. Ich<br />

selbst will und werde innerhalb des Bundestages und <strong>der</strong><br />

Linksfraktion dazu meinen Beitrag leisten. Aber nur, wenn wir<br />

uns dieser großen Aufgabe gemeinsam stellen, können wir <strong>der</strong><br />

Herausfor<strong>der</strong>ung – die sowohl im realen Leben als auch im<br />

Parteibildungsprozeß steckt – gerecht werden.<br />

Wer ein großes Ziel hat – die Schaffung einer gerechten, demokratisch-sozialistischen<br />

Welt darf wohl als großes Ziel bezeichnet<br />

werden? –, sollte die vielen kleinen Schrittchen, die<br />

dort hin führen können, nicht scheuen. Genausowenig, wie wir<br />

über die zahlreichen kleinen Schritte, die durchaus nicht immer<br />

nur geradeaus voran führen – Wo ist „vorn“? Wer weiß,<br />

was „richtig“ ist? Wie erkennt man „Gutes“? –, das große Ziel<br />

aus den Augen verlieren dürfen.<br />

33


Nicht Feigheit ist es<br />

o<strong>der</strong> Hohn,<br />

Nicht Müßiggang<br />

noch Arg,<br />

Nicht Verrat<br />

und auch nicht List,<br />

<strong>Die</strong> so verschlungen<br />

leiten<br />

meinen<br />

Pfad,<br />

Son<strong>der</strong>n<br />

mein Gewissen, das<br />

Auch Feigheit kennt und<br />

Hohn,<br />

Müßiggang und Arg,<br />

bösen Rat und Trauer<br />

Neben Liebe,<br />

Freundschaft,<br />

heißer Lust,<br />

guter Feier<br />

und edlen Wünschen,<br />

Zu gehen<br />

doch<br />

voran.<br />

34


Der Sozialabbau und<br />

seine Auswirkungen auf<br />

Selbstbestimmung und Teilhabe<br />

von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung Torsten Koplin<br />

Meine Ausführungen zum Thema möchte ich ausdrücklich<br />

auch auf den Personenkreis <strong>der</strong> chronisch Kranken auszudehnen,<br />

denn sie sind nicht weniger von Sozialabbau betroffen<br />

als Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung.<br />

Mir wurde das sehr deutlich bewusst, als ich im zurückliegenden<br />

Bundestagswahlkampf den Arbeitslosenverband in<br />

Strasburg (Uckermark) besuchte. Im Gespräch berichtete eine<br />

Frau mit tränenerstickter Stimme über ihre Erfahrungen<br />

mit <strong>der</strong> örtlichen ARGE. Ihr Antrag auf krankheitsbedingten<br />

Mehrbedarf im Zusammenhang mit <strong>der</strong> ALG-II-Zahlung wurde<br />

rüde und zynisch zurückgewiesen. Man ließ sie wissen, sie<br />

sei ja schließlich seit 1992 Diabetikerin, habe also bereits vor<br />

Einführung <strong>der</strong> Hartz-Gesetze ohne Mehrbedarf gelebt. Auch<br />

wenn dieser Frau inzwischen zu ihrem guten Recht kommt,<br />

muss <strong>der</strong>artig menschenverachtendes Agieren konsequent<br />

angeprangert werden.<br />

Solche Geschehnisse gibt es nicht nur in östlichen Bundeslän<strong>der</strong>n.<br />

Aus einer überregionalen Tageszeitung war am 10.<br />

Oktober 2005 folgendes zu entnehmen: „Ein Fall in Duisburg:<br />

Eine schwerbehin<strong>der</strong>te Dame muss in eine neue Wohnung<br />

umziehen, nur weil die alte Wohnung um 100 € zu teuer ist.<br />

Nun hat sie eine passende Wohnung im Erdgeschoss gefunden.<br />

Zum 1.10. sollte sie ausziehen. <strong>Die</strong> Kündigungsfrist für<br />

die alte Wohnung betrug 3 Monate. Das Arbeitsamt musste<br />

vorher befragt werden, ob sie die neue Wohnung nehmen<br />

darf. Nun darf sie für die neue und die alte Wohnung bezahlen,<br />

da sie die neue Wohnung wohl nicht rechtzeitig beziehen<br />

konnte. Das Arbeitsamt verlangt unverschämterweise einen<br />

35


termingerechten und punktgenauen Umzug (also raus aus<br />

<strong>der</strong> alten Wohnung zum 30.9. und rein in die neue Wohnung<br />

am 1.10.). <strong>Die</strong> Kaution wurde vom Arbeitsamt abgelehnt. Das<br />

Arbeitsamt muss jedoch zahlen, ansonsten müsste die betroffene<br />

Person 5 Jahre lang die Kaution als Kredit abzahlen.<br />

Von einem Arzt wurde bestätigt, dass die alte Wohnung behin<strong>der</strong>tengerecht<br />

eingerichtet sei. <strong>Die</strong>s wird von den zuständigen<br />

Behörden jedoch, z.B. dem Grundsicherungsamt, nicht<br />

geglaubt, und die alte Dame soll ausziehen. Wegen Krankheit<br />

kann sie jedoch nicht ausziehen. Drei weiteren Familien geht<br />

es ähnlich in Duisburg.“<br />

Vorgänge, wie diese, lassen sich im Alltag zahllos finden. Sie<br />

führen allesamt zu folgenden grundsätzlichen Erkenntnissen<br />

über die Auswirkungen des Sozialabbaus:<br />

1. Sozialabbau för<strong>der</strong>t nicht die Selbstbestimmung, son<strong>der</strong>n<br />

beför<strong>der</strong>t Abhängigkeit in vielgestaltiger Form, z.B. von<br />

Behörden, von frem<strong>der</strong> Hilfe etc.<br />

2. Sozialabbau führt nicht zur Teilhabe, son<strong>der</strong>n zur Ausgrenzung.<br />

Sie entsteht insbeson<strong>der</strong>e durch die über Jahre zu verfolgenden<br />

Kürzungen bei <strong>der</strong> Lohnentwicklung, bei <strong>der</strong> Abschaffung<br />

<strong>der</strong> Arbeitslosenhilfe o<strong>der</strong> bei dem sich wie ein<br />

Flächenbrand ausdehnenden Niedriglohnsektor. Solche<br />

Kürzungen, insbeson<strong>der</strong>e die durch Hartz IV initiierten,<br />

führen zur Armut. Auf Armut folgt überaus häufig Vereinsamung.<br />

Armut macht krank bzw. verschärft den Krankheitsstatus.<br />

3. Sozialabbau geht immer mit Entwürdigung einher.<br />

Sie hat viele Facetten. Ich denke beson<strong>der</strong>s an einen<br />

Diabetiker aus Neubrandenburg, dem man ebenfalls den<br />

Mehrbedarf mit Verweis auf sein Übergewicht verweigerte.<br />

Er solle nicht Mehrbedarf beantragen, son<strong>der</strong>n besser<br />

FDH (Friss die Hälfte) machen.<br />

All das macht mich zornig. So etwas ist zu ächten. Zugleich<br />

ist es aber auch wichtig, hinter solch einzelnen Vorgängen die<br />

36


objektiven gesellschaftlichen und strukturellen Gegebenheiten<br />

zu beachten.<br />

Deshalb ist es mir wichtig zu sagen, dass dort wo das Prinzip<br />

<strong>der</strong> Profitmaximierung die gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

prägt, es mit logischer Konsequenz Sozialabbau gibt bzw. <strong>der</strong><br />

Versuch unternommen wird, soziale Standards abzubauen.<br />

Warum ist das so?<br />

„Der Profit“, schreiben Engels und Marx mit wun<strong>der</strong>barer<br />

Deutlichkeit in „Lohnarbeit und Kapital“, „kann nur rasch zunehmen,<br />

wenn <strong>der</strong> Preis <strong>der</strong> Arbeit … ebenso rasch abnimmt.“<br />

Der Preis <strong>der</strong> Arbeit wie<strong>der</strong>um, wird bestimmt durch<br />

die Produktionskosten <strong>der</strong> Ware Arbeitskraft. Letztere sind,<br />

volkswirtschaftlich definiert, die Preise <strong>der</strong> notwendigen Mittel<br />

zum Leben. Daraus ergibt sich die objektive Tendenz, die<br />

volkswirtschaftlich lebensnotwendigen Aufwendungen herabzudrücken.<br />

Aus einer solchen Logik entwickelt sich <strong>der</strong> Drang, Arbeitslosengeldempfänger,<br />

ALG – II - Bezieher o<strong>der</strong> Sozialgeldempfänger,<br />

als „Kostgänger“ zu betrachten und <strong>der</strong>en Bezüge<br />

immer weiter zu minimieren.<br />

Auch <strong>der</strong> vorgestellte Koalitionsvertrag von CDU und SPD<br />

zeugt von diesem neoliberalen Denken.<br />

Zwar soll <strong>der</strong> ALG-II-Regelsatz einheitlich auf 345 € gesetzt<br />

werden, doch auch wenn dann Mehraufwandsentschädigung<br />

und Kosten <strong>der</strong> Unterkunft hinzukommen, ist man in <strong>der</strong> übergroßen<br />

Zahl <strong>der</strong> Fälle immer noch unterhalb <strong>der</strong> Armutsgrenze,<br />

die laut aktuellem „Armuts- und Reichtumsbericht“<br />

<strong>der</strong> Bundesregierung bei 938 € liegt.<br />

An den Ausgaben für Hartz IV sollen 4 Mrd. € gespart werden.<br />

1,2 Mrd. davon sollen aus „Effizienzsteigerungen“ resultieren.<br />

Meine bisherige politische Erfahrung aus 7 Jahren<br />

Landtag Mecklenburg-Vorpommern sagt mir: Immer dann,<br />

wenn Begriffe wie „Effizienzsteigerungen“ o<strong>der</strong> „Effizienzrendite“<br />

in einem volkswirtschaftlichen Zusammenhang benutzt<br />

37


werden, handelt es sich um Luftbuchungen. 0,6 Mrd. sollen<br />

bei Leistungen für Jugendliche unter 25 Jahren gekürzt werden.<br />

Hierzu will ich zweierlei sagen.<br />

Zum einen ist es zutiefst unanständig jungen Menschen das<br />

grundgesetzlich verbriefte Recht <strong>der</strong> freien Wahl des Wohnortes<br />

abzusprechen. Allein die in diesem Zusammenhang beabsichtigte<br />

Verschärfung <strong>der</strong> Hartz-Gesetze unterstreicht ihren<br />

verfassungswidrigen Charakter.<br />

Zum an<strong>der</strong>en tun gerade wir <strong>Linke</strong>n gut daran, hochsensibel<br />

auf die von den Neoliberalen gewählte Wortwahl zu achten<br />

und sie wo immer möglich zu entlarven. Es ist doch bezeichnend,<br />

dass ein junger Mensch, <strong>der</strong> ALG II bezieht, die gesetzlichen<br />

Möglichkeiten nutzt und aus dem Elternhaus auszieht,<br />

dann als „Sozialbetrüger“ diffamiert wird, während einer, <strong>der</strong><br />

millionenschwer den Fiskus hintergeht, lediglich „Steuersün<strong>der</strong>“<br />

ist.<br />

Wir alle wissen, Betrug ist strafrechtlich relevant.<br />

Der an<strong>der</strong>e handelt schlimmstenfalls ein wenig ordnungswidrig<br />

handelnd. So werden mit <strong>der</strong> Wortwahl Stimmungen beeinflusst<br />

und Politik gemacht!<br />

Um auf die beabsichtigte Kürzung <strong>der</strong> Sozialleistungen zurück<br />

zu kommen, sei gesagt, dass die „restlichen“ 2,0 Milliarden<br />

aus Absenkung <strong>der</strong> Rentenbeiträge <strong>der</strong> ALG-II-<br />

Empfänger von 78 auf 40 € erschlossen werden sollen. Das<br />

wie<strong>der</strong>um führt zur Anhebung <strong>der</strong> Rentenversicherungsbeiträge<br />

von 19,5% auf 19,9%.<br />

Das führt zu <strong>der</strong> uns nicht verblüffenden Erkenntnis: die Zeche<br />

zahlen letztlich die lohnabhängigen Beschäftigten. Es<br />

sinken somit <strong>der</strong> reale Preis <strong>der</strong> Arbeit (also die Summe <strong>der</strong><br />

Waren, die für den Arbeitslohn gekauft werden können) und<br />

<strong>der</strong> relative Preis <strong>der</strong> Arbeit.<br />

<strong>Die</strong> Großen Koalition will die Mehrwertsteuer auf 19% anheben.<br />

So will die SPD offensichtlich ein Wahlversprechen halten.<br />

Im Wahlkampf hat sie immer beteuert, eine Anhebung<br />

<strong>der</strong> Mehrwertsteuer auf 18% (sie nannte das „Merkelsteuer“)<br />

38


sei mit ihr nicht zu machen. Nun, dass stimmt, denn es<br />

kommt ja nicht zur Erhöhung auf 18%, son<strong>der</strong>n auf 19%.<br />

Im Gesundheitsbereich kommt es zu etwas, was man im<br />

Schach als Hängepartie bezeichnet. <strong>Die</strong> Konzepte <strong>der</strong><br />

CDU/CSU von einer Kopfpauschale (aktuell bekannt unter <strong>der</strong><br />

Chiffre: solidarische Gesundheitsprämie) und <strong>der</strong> SPD von<br />

einer Bürgerversicherung waren nur allzu unverträglich mit<br />

einan<strong>der</strong>. Nun ist bekannt geworden, dass die Beitragsbemessungsgrenze<br />

angehoben werden soll. <strong>Die</strong>se Überlegung<br />

gehört auch zu den Vorschlägen <strong>der</strong> Linkspartei. <strong>PDS</strong> für eine<br />

solidarische Bürgerversicherung. Bekannt geworden ist auch<br />

die Absicht, die Kin<strong>der</strong>mitversicherung zukünftig über die<br />

Steuer zu finanzieren. Wie letzteres gehen soll, bleibt schleierhaft.<br />

Denn die Reichensteuer, die ja mit ihren voraussichtlichen<br />

1,7 Mrd. € Einnahmen lediglich Symbolcharakter hat,<br />

soll doch <strong>der</strong> Arbeitslosen- bzw. Rentenversicherung zugute<br />

kommen. Und die Mehrwertsteuererhöhung soll für die Schuldentilgung<br />

und die Län<strong>der</strong>finanzen herhalten. Es wird bereits<br />

jetzt deutlich, dass die große Koalition auf fragwürdige Finanzierungsgrundlagen<br />

setzt.<br />

Was aber viel bemerkenswerter ist: alle sozialen Schweinereien<br />

des Gesundheitsmo<strong>der</strong>nisierungsgesetzes, wie die Praxisgebühr,<br />

Zuzahlungen und Leistungskürzungen bleiben.<br />

Was müssen wir <strong>Linke</strong>n in dieser Situation tun?<br />

1. Uns zusammenfinden und unsere Kräfte bündeln<br />

Das ist ungeheuer wichtig und geht weit über die gegenwärtigen<br />

Bemühungen um eine Parteibildung mit <strong>der</strong><br />

WASG hinaus. Das schließt in jedem Fall und mit aller<br />

Deutlichkeit das Zusammengehen mit Betroffenenverbänden<br />

ein. Denn die Gegenseite, die Seite des Kapitals, ist<br />

bestens aufgestellt. Sie stellt immer und mit aller Konsequenz<br />

die entscheidenden Fragen.<br />

Es sind die nach dem Eigentum und nach den Machtverhältnissen.<br />

39


40<br />

2. Um mehr Selbstbestimmung und Teilhabe im Alltag<br />

kämpfen<br />

Hierunter verstehe ich das tägliche Ringen um die kleinen<br />

Schritte. Mit Blick auf Mecklenburg–Vorpommern denke<br />

ich da an:<br />

- das Landesgleichstellungsgesetz (das wir dieser<br />

Tage haushaltsrechtlich verankert haben, ohne<br />

das Gesetz selbst bereits beschlossen zu haben)<br />

- das Netz <strong>der</strong> Beratung und Betreuung<br />

- an die Prävention<br />

- an das Landesblindengeld, das wir gegen alle Angriffe<br />

erfolgreich verteidigt haben<br />

3. Grundsätzliches for<strong>der</strong>n<br />

Hierzu gehört eine existenzsichernde Grundsicherung. Sie<br />

verhin<strong>der</strong>t Armut, beför<strong>der</strong>t Teilhabe und Selbstbestimmung,<br />

verän<strong>der</strong>t das Kräfteverhältnis zwischen Kapital<br />

und Arbeit und ist nicht zuletzt wirtschaftsför<strong>der</strong>nd und arbeitsplatzschaffend.<br />

Hierzu gehört selbstverständlich ein<br />

Teilhabesicherungsgesetz.<br />

4. Das Grundgesetz beachten<br />

<strong>Die</strong>sbezüglich möchte ich zwei ausgesprochen wichtige<br />

Passagen ganz einfach zitieren:<br />

Art. 20 GG Abs. 1: „<strong>Die</strong> BRD ist ein demokratischer und<br />

sozialer Bundesstaat." Und Art. 20 Abs. 4:„Gegen jeden,<br />

<strong>der</strong> es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben<br />

alle Deutschen das Recht zum Wi<strong>der</strong>stand, wenn an<strong>der</strong>e<br />

Abhilfe nicht möglich ist.“


Bericht aus Thüringen<br />

und linke <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />

in Deutschland Maik Nothnagel<br />

Zu Beginn <strong>der</strong> 5. Behin<strong>der</strong>tenpolitischen Konferenz <strong>der</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong><br />

in Oberhof möchte ich einen kleinen Ausblick auf<br />

die <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> im Freistaat Thüringen aus <strong>der</strong> Sicht eines<br />

Oppositionspolitikers geben.<br />

Nachdem die Fraktion <strong>der</strong> <strong>PDS</strong> in <strong>der</strong> 3. und zu Beginn <strong>der</strong> 4.<br />

Legislaturperiode sehr intensiv an einem eigenen Gesetzentwurf<br />

für ein Landesgleichstellungsgesetz gearbeitet hat, ist es<br />

nun soweit, dass Thüringen noch im Jahre 2005 ein solches<br />

Gesetzeswerk erhalten soll.<br />

Nur die Vorstellungen <strong>der</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong>, die sie mit den<br />

Verbänden und Vereinen in Thüringen erarbeitet hat, sollten<br />

nicht einmal zur weiteren Bearbeitung in die Ausschüsse überwiesen<br />

werden. Somit wurden unsere Vorstellungen von<br />

einer tatsächlichen Gleichstellung, die nur in Verbindung mit<br />

Nachteilsausgleichen in Einklang zu bringen sind, von Anfang<br />

an rigoros abgelehnt. Das Hauptargument <strong>der</strong> CDU-Mehrheit<br />

für ihre Ablehnung war immer und immer wie<strong>der</strong> die Kostenfrage.<br />

In <strong>der</strong> 3. Legislaturperiode des Thüringer Landtages<br />

wurden unsere Nachteilsausgleiche noch mit 500 Millionen<br />

Euro als Totschlagargument abgebügelt. Jedoch fehlte jegliche<br />

detaillierte Untersetzung dieser Riesensumme. In <strong>der</strong> 4.<br />

Legislaturperiode gab dann die Landesregierung eine Summe<br />

von 380 Millionen Euro für Nachteilsausgleiche an. Somit wurde<br />

rein fiskalisch einer ehrlich gewollten Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

von unterschiedlichen Sichtweisen auf die gesellschaftliche<br />

Teilhabe von behin<strong>der</strong>ten Menschen von Seiten <strong>der</strong> Landesregierung<br />

verzichtet. In <strong>der</strong> weiteren parlamentarischen Auseinan<strong>der</strong>setzung,<br />

d. h. in <strong>der</strong> Arbeit des Sozialausschusses<br />

spielte dann nur noch <strong>der</strong> Gesetzentwurf <strong>der</strong> Landesregierung<br />

und <strong>der</strong> Gesetzentwurf <strong>der</strong> SPD-Fraktion eine Rolle. Jedoch<br />

41


wurde <strong>der</strong> Gesetzentwurf <strong>der</strong> SPD-Fraktion von <strong>der</strong> Mehrheit<br />

abgelehnt und zur 2. Lesung stand nur noch <strong>der</strong> Gesetzentwurf<br />

<strong>der</strong> Landesregierung zur Debatte. Eine weitere Bewertung<br />

dieses Gesetzentwurfes werde ich jetzt nicht vornehmen,<br />

nur soviel dazu: es entspricht nicht einmal den Grundzügen<br />

des Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetzes des Bundes, es gibt<br />

kein Verbandsklagerecht und alle Regelungen unterliegen<br />

dem Kostenvorbehalt, d. h. in Thüringen gibt es Gleichstellung<br />

für behin<strong>der</strong>te Menschen je nach Kassenlage und keinen<br />

Rechtsanspruch.<br />

Ein weiteres Thema, was uns sehr intensiv beschäftigt hat und<br />

auch noch weiterhin beschäftigt, ist die faktische Abschaffung<br />

des Landesblindengeldes als einkommens- und vermögensunabhängigen<br />

Nachteilsausgleich für blinde- und sehbehin<strong>der</strong>te<br />

Thüringerinnen und Thüringer. <strong>Die</strong>ses Beispiel zeigt sehr drastisch,<br />

dass die CDU-Mehrheit überhaupt gar kein Interesse<br />

daran hat, behin<strong>der</strong>ten Menschen ihre Nachteile auszugleichen,<br />

damit sie ein selbstbestimmtes Leben führen können<br />

und somit am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Dafür<br />

war und ist das Landesblindengeld gedacht. Nun soll jedoch<br />

das Landesblindengeld, welches einkommens- und vermögensunabhängig<br />

ist, durch die Blindenhilfe (Sozialhilfe, Bedürftigkeitsprüfung)<br />

ersetzt werden. Das heißt auch, dass die<br />

Blinden wie<strong>der</strong> einmal mehr durch die Verwaltung kontrolliert<br />

und gegängelt werden. Für mich ist diese Maßnahme nur dadurch<br />

zu erklären, dass die CDU mit ihrem rückständigen Behin<strong>der</strong>tenbild<br />

behin<strong>der</strong>te Menschen lieber bevormunden und<br />

betreuen will, anstatt ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu<br />

ermöglichen.<br />

<strong>Die</strong> Fraktion <strong>der</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong> wird den Blinden- und Sehbehin<strong>der</strong>tenverband<br />

Thüringen mit allen Mitteln bei dem<br />

Kampf um den Erhalt des Landesblindengeldes als Nachteilsausgleich<br />

unterstützen und noch viel mehr, wir werden auch<br />

immer und immer wie<strong>der</strong> für an<strong>der</strong>e behin<strong>der</strong>te Menschen<br />

Nachteilsausgleiche einfor<strong>der</strong>n.<br />

42


Ein weiteres sehr schwerwiegendes Problem in <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenarbeit<br />

und <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> in Thüringen sind die enormen<br />

Kürzungen bei den Behin<strong>der</strong>tenberatungsstellen im Doppelhaushalt<br />

2006/2007. <strong>Die</strong> Vorstellungen <strong>der</strong> Landesregierung,<br />

dies alles durch das Ehrenamt zu ersetzen, sind einfach<br />

lächerlich, denn somit findet auf dem Gebiet so gut wie keine<br />

professionelle Behin<strong>der</strong>tenberatung mehr statt. Wie die Auswirkungen<br />

im Konkreten sind, hat Prof. Stange in seinem Beitrag<br />

sehr anschaulich dargestellt.<br />

Ein weiteres großes Problem, welches auf uns in Thüringen<br />

noch zukommt, ist die so genannte „Familienoffensive“ <strong>der</strong><br />

Landesregierung, bei <strong>der</strong> es Kürzungen im Kin<strong>der</strong>tagesstättenbereich<br />

gibt, die die integrativen Ansätze in Thüringen in<br />

große Gefahr bringen. Der grundsätzliche Ansatz dieser Familienoffensive<br />

hinsichtlich <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Finanzierung von<br />

<strong>der</strong> Objektför<strong>der</strong>ung hin zur Subjektför<strong>der</strong>ung kann ich als <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>er<br />

nur begrüßen, denn genau das ist auch immer<br />

unser Ansatz, dass in den Menschen investiert werden<br />

soll und nicht in Einrichtungen. Da aber diese Familienoffensive<br />

bei ihrer Finanzierung sehr kritisch zu betrachten ist, ist<br />

dieser positive Ansatz durch die vielen an<strong>der</strong>en negativen<br />

Auswirkungen im Alltag lei<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> ausgemerzt und kann<br />

durch uns nicht unterstützt werden und hat auch nichts mit linker<br />

<strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> zu tun.<br />

Was ist denn nun linke <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />

in Deutschland?<br />

Ich möchte in den folgenden Anstrichen meine persönlichen<br />

Vorstellungen zu möglichen Politikfel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> linken <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />

aufzeigen. <strong>Die</strong>s sind vor allem Politikfel<strong>der</strong> auf Europa-<br />

und Bundesebene, die aber dann auch ihre Auswirkungen<br />

auf Landesgesetzgebung sowie auf das Zusammenleben in<br />

<strong>der</strong> Kommune haben.<br />

- Als erstes und für mich als wichtigstes Politikfeld <strong>der</strong> <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>,<br />

welches wir in Angriff nehmen müssen, ist die<br />

Umsetzung eines zivilrechtlichen Antidiskriminierungsgeset-<br />

43


zes, welches auch Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen berücksichtigt.<br />

<strong>Die</strong> Regelungen müssen so formuliert werden, dass für<br />

behin<strong>der</strong>te Menschen auch einklagbare Rechte und Sanktionen<br />

ableitbar sind.<br />

- Der nächste Punkt ist die Erweiterung des Sozialgesetzbuches<br />

IX, des Behin<strong>der</strong>tengleichstellungsgesetzes des Bundes<br />

sowie <strong>der</strong> Landesgleichstellungsgesetze. <strong>Die</strong>se Gesetze müssen<br />

Leistungsgesetze, die aus ihnen ableitbar sind, enthalten.<br />

Das heißt aber auch, dass hierbei Nachteilsausgleiche für<br />

Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung gewährleistet werden müssen. Bei<br />

<strong>der</strong> Gleichstellungsgesetzgebung auf Bundes- sowie auf Landesebene<br />

muss es darum gehen, dass die Gleichstellung nicht<br />

nur beschrieben wird, son<strong>der</strong>n dass sie tatsächlich einklagbar<br />

ist. Bei <strong>der</strong> Gleichstellung muss eine Barrierefreiheit auf allen<br />

Ebenen gewährleistet werden. Das heißt nicht nur Beseitigung<br />

von baulichen Barrieren, son<strong>der</strong>n auch von kommunikativen.<br />

In diesen Themenkomplex müsste aus meiner Sicht unbedingt<br />

die integrative Beschulung – Schule für alle – mit aufgenommen<br />

werden. Denn nur so können auch zukünftige Generationen<br />

die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ung<br />

verwirklichen.<br />

- <strong>Die</strong> persönliche Assistenz muss gestärkt werden. <strong>Die</strong> Umsetzung<br />

des Grundsatzes des SGB „Ambulant vor stationär“ –<br />

häusliches Umfeld bewahren, muss in den Mittelpunkt bei dieser<br />

Diskussion gestellt werden. Das heißt die kompromisslose<br />

Umsetzung <strong>der</strong> Subjektför<strong>der</strong>ung vor <strong>der</strong> Objektför<strong>der</strong>ung – <strong>der</strong><br />

Mensch ist das Maß <strong>der</strong> Dinge. Wir müssen endlich dazu<br />

kommen, dass in den Menschen investiert wird und nicht in die<br />

Gebäude und dass die Interessen <strong>der</strong> Menschen das Maß <strong>der</strong><br />

Dinge sind und nicht die Interessen <strong>der</strong> Wohlfahrtsmafia. Es<br />

muss uns endlich gelingen, den gesellschaftlich wichtigen Ansatz<br />

<strong>der</strong> persönlichen Assistenz, die Schaffung von versicherungspflichtigen<br />

Arbeitsplätzen so in den Mittelpunkt <strong>der</strong> Diskussion<br />

zu stellen, dass es <strong>der</strong> <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> endlich gelingt<br />

und dies parteiübergreifend, Wirtschafts- und Finanzpolitiker<br />

von diesem positiven Ansatz zu überzeugen. Dass persönliche<br />

Assistenz für die Lebensqualität behin<strong>der</strong>ter Menschen<br />

44


wohl die beste Möglichkeit ist, das selbstbestimmte Leben zu<br />

realisieren, muss ich hier nicht noch einmal beson<strong>der</strong>s hervorheben.<br />

Jedoch möchte ich noch eines ergänzen und zwar für<br />

den Personenkreis, für den es angeblich aufgrund <strong>der</strong> schweren<br />

Behin<strong>der</strong>ung nicht möglich sein soll, persönliche Assistenz<br />

zu nutzen, solche Mechanismen <strong>der</strong> Umsetzung zu entwickeln<br />

und zu erarbeiten, damit es für jeden doch eine Alternative ist.<br />

Ich denke, hier gibt es durchaus schon gute Ansätze z.B. durch<br />

die Assistenzgenossenschaften, aber auch über an<strong>der</strong>e und<br />

weitere Modelle muss nachgedacht werden. Hier glaube ich,<br />

hat linke <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> eine große Verantwortung und diesem<br />

Themenfeld müssen wir uns in Zukunft viel mehr widmen,<br />

gerade wegen <strong>der</strong> erneuten Debatte in <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

Deutschland geför<strong>der</strong>t durch die Große Koalition hinsichtlich<br />

<strong>der</strong> Pflegeversicherung.<br />

Was haben wir dem entgegen zu setzen?<br />

- Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Thema Arbeit, Beschäftigung<br />

und Existenzsicherung.<br />

Wie stehen wir zur versicherungspflichtigen Arbeit behin<strong>der</strong>ter<br />

Menschen? Was halten wir von Teilzeitarbeit und Heimarbeit?<br />

Bleiben wir bei unserer Kritik an den Werkstätten für Behin<strong>der</strong>te?<br />

Was wollen und was können wir verän<strong>der</strong>n? Wie stehen<br />

wir zu einem existenzsichernden Einkommen?<br />

- <strong>Die</strong> Bioethik<br />

Das ist ein Politikfeld, welchem sich die linke <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />

in den letzten Jahren nicht mehr so intensiv gewidmet hat.<br />

Bleibt es bei dem Nein zur embryonalen Stammzellenforschung?<br />

Sagen wir immer noch Nein zur Präimplantationsdiagnostik?<br />

Ist die Präimplantationsdiagnostik wirklich die Verhin<strong>der</strong>ung<br />

von behin<strong>der</strong>ten Leben? O<strong>der</strong> wollen wir nicht auch alle<br />

lieber gesunde Kin<strong>der</strong>?<br />

- <strong>Die</strong> Sterbehilfe<br />

Wie steht die <strong>Linke</strong> zur passiven Sterbehilfe? Wie stehen wir<br />

zur aktiven? Wie ist unser Verhältnis zur Hospizbewegung?<br />

Unterstützen wir die For<strong>der</strong>ung nach mehr Schmerztherapie,<br />

45


nach einer breiteren Palliativmedizin in <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

Deutschland! Unterstützen wir die For<strong>der</strong>ung „Gute Lebensqualität<br />

– ein lebenswertes Leben auch als behin<strong>der</strong>ter<br />

Mensch“!<br />

All diese Punkte im Einzelnen würden Konferenzen füllen. Ich<br />

glaube aber doch, dass wir uns in <strong>der</strong> Zwischenzeit bis zur 6.<br />

Behin<strong>der</strong>tenpolitischen Konferenz über diese Punkte im Einzelnen<br />

konkret unterhalten müssen und auch unsere als linke<br />

<strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> geltenden Standpunkte dazu erarbeiten<br />

müssen. <strong>Die</strong>ses wird uns umso besser gelingen, je mehr Einflussnahme<br />

wir als linke <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong>er und Lobbyisten<br />

für behin<strong>der</strong>te Menschen auch innerhalb unserer eigenen Partei,<br />

<strong>der</strong> Linkspartei.<strong>PDS</strong>, haben. Wir müssen uns Gedanken<br />

darüber machen, wie wir unsere Strukturen innerhalb <strong>der</strong> Partei<br />

effektiver nutzen, damit <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong> auch wirklich von<br />

jedem als Querschnittsaufgabe betrachtet wird.<br />

Wir sollten uns wirklich einmal ernsthaft fragen: warum erreichen<br />

wir nicht mehr?<br />

46


Probleme<br />

von hörbehin<strong>der</strong>ten Menschen Bärbel Baumann<br />

<strong>Die</strong> Jahre 2004 und 2005 (Einführung von Gesundheit- und<br />

Arbeitsmarktreform) brachten den Menschen in Deutschland,<br />

egal ob behin<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> nicht behin<strong>der</strong>t, viele Beschränkungen<br />

und Einbußen hinsichtlich ihrer Lebensqualität.<br />

Im Jahre 2004 trat die neue Gesundheitsreform in Kraft, die<br />

gerade für Behin<strong>der</strong>te, Senioren und Sozialschwache viele<br />

Nachteile gebracht hat (Einführung <strong>der</strong> Praxisgebühr bei Arzt<br />

und Zahnarzt in Höhe von 10 € pro Quartal, höhere Zuzahlungen<br />

bei Medikamenten, Hilfsmitteln u. a. m., weitere Reduzierung<br />

<strong>der</strong> Festbeträge bei Hörgeräten – höherer Eigenanteil bei<br />

Verschreibung neuer Hörgeräte und Hörhilfsmittel usw. usf.)<br />

Gerade hochgradig Hörbehin<strong>der</strong>ten, die beson<strong>der</strong>s starke leistungsfähige<br />

Geräte gerade für die Ausübung ihres Berufes<br />

bzw. in Umschulungs- und Trainingsmaßnahmen <strong>der</strong> Arbeitsagentur<br />

usw. benötigen, wird oft die Übernahme <strong>der</strong> Mehrkosten<br />

durch die Leistungsträger wegen <strong>der</strong> geringeren Festbeträge<br />

für Hörgeräte (Erläuterungen hierzu am Ende des Berichtes)<br />

usw. (insbeson<strong>der</strong>e durch Krankenkassen, Rentenversicherungsträger<br />

bzw. Arbeitsagenturen/Jobcenter) verweigert.<br />

Sie sind dann gezwungen, ihre Rechte vor Sozialgerichten<br />

einzuklagen.<br />

Weiterhin haben die Regierungsfraktionen im Jahr 2004 den<br />

Zusatzbarbetrag für Menschen in Heimen gestrichen. Auch<br />

das schränkt die Teilhabe behin<strong>der</strong>ter Menschen in Heimen<br />

am kulturellen und gesellschaftlichen Leben ein. <strong>Die</strong>ser Beschluss<br />

führte zu einer verschärften Situation für Heimbewohner,<br />

die ohnehin durch die Gesundheitsreform finanziell erheblich<br />

mehr belastet sind. Denn neben den Zuzahlungen<br />

und/o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Praxisgebühr müssen sie die Kosten für nicht<br />

mehr verschreibungspflichtige Arzneimittel, Seh- und Hörhilfen<br />

47


in voller Höhe aus dem schmalen Taschengeld von rund 89 €<br />

monatlich bestreiten.<br />

Heutzutage werden die Menschen immer älter; zwangsläufig<br />

treten mit zunehmendem Alter auch mehr Krankheiten und<br />

Behin<strong>der</strong>ungen auf, die behandelt werden müssen und auch<br />

Kosten verursachen - nicht für die Leistungsträger, son<strong>der</strong>n<br />

auch für die Betroffenen selbst.<br />

Ca. 16 Millionen Menschen in Deutschland brauchen wegen<br />

ihrer Hörbehin<strong>der</strong>ung ein Hörgerät, aber nur 1,5 Millionen von<br />

ihnen tragen ein Hörgerät. In Berlin sind allein 215.000 Menschen<br />

ab 14 Jahre aufwärts mittelgradig schwerhörig; 44.000<br />

sind hochgradig schwerhörig und etwa 10.000 Menschen sind<br />

gehörlos.<br />

Schwerhörigkeit im Alter ist eine beson<strong>der</strong>e Behin<strong>der</strong>ung.<br />

Schwerhörige ältere Menschen bekennen sich oft nicht zu ihrer<br />

Behin<strong>der</strong>ung; denn sie ist unsichtbar und braucht deshalb<br />

nicht zugegeben zu werden. (Aber auch jüngere hörbehin<strong>der</strong>te<br />

Menschen haben Probleme beim Umgang mit ihrer Behin<strong>der</strong>ung!)<br />

Es bestehen Ängste vor dem Verlust sozialer Kontakte, wenn<br />

man die Hörbeeinträchtigung zugibt. <strong>Die</strong> Betroffenen fürchten<br />

durch häufiges Nachfragen, wenn man etwas nicht o<strong>der</strong> falsch<br />

verstanden hat, lästig zu werden o<strong>der</strong> aufzufallen. <strong>Die</strong> hieraus<br />

entstehenden Missverständnisse verstärken die ohnehin belastende<br />

Situation des Hörbehin<strong>der</strong>ten erheblich. Hörschädigung<br />

wird oft assoziiert mit “alt” und “doof”. Bei vielen älteren<br />

Menschen, die sich immer mehr aus ihrem gewohnten Umfeld<br />

zurückziehen, depressiv o<strong>der</strong> auch aggressiv reagieren, wird<br />

oft Altersdemenz o<strong>der</strong> in Einzelfällen sogar Alzheimer vermutet.<br />

Es wird dabei häufig vergessen, dass <strong>der</strong> alte Mensch evtl.<br />

“nur schlecht hört” und deshalb nicht mehr so aktiv ist.<br />

Eine Hörbehin<strong>der</strong>ung wirkt sich negativ auf das gesamte soziale<br />

Erleben aus und führt nicht selten zur Isolation in allen<br />

gesellschaftlichen Bereichen. Isolation wie<strong>der</strong>um kann zu<br />

schweren Depressionen mit Suizidgedanken führen. <strong>Die</strong><br />

48


kommunikative Einschränkung im Alltag führt vermehrt zu<br />

Konfliktsituationen. Zu schwerwiegenden Folgen können<br />

Missverständnisse z. B. bei Arztbesuchen, Behörden, öffentlichen<br />

Beratungsstellen, Kostenträgern und bei Aufenthalten in<br />

Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen usw. führen. Es<br />

kann z. B. fatale Folgen haben, wenn <strong>der</strong> schwerhörige<br />

Mensch seinen Arzt nicht richtig verstanden hat und ein Medikament<br />

falsch einnimmt.<br />

In letzter Zeit nimmt die Altersschwerhörigkeit immer mehr zu.<br />

Der Begriff „Altersschwerhörigkeit“ ist etwas irreführend, denn<br />

in <strong>der</strong> Medizin gibt es diesen Begriff nicht. Unter Altersschwerhörigkeit<br />

versteht man eine altersbedingte Hörbehin<strong>der</strong>ung,<br />

die schon ab 40 Jahre auftreten kann. Wenn wir älter werden,<br />

werden nicht schneller, son<strong>der</strong>n langsamer in unseren Bewegungen,<br />

und wir rennen nicht mehr so wie mit 20 Jahren. So<br />

ähnlich verhält es sich auch mit dem Hörvermögen. Es tritt ein<br />

schleichende Funktionsbeeinträchtigung <strong>der</strong> Haarzellen (o<strong>der</strong><br />

auch Hörzellen genannt) im Innenohr ein, die allein o<strong>der</strong> kombiniert<br />

mit Erkrankungen des Innenohres einhergehen kann.<br />

[Bis in das hohe Alter bleibt das Trommelfell beweglich, die<br />

„Altersschwerhörigkeit“ entsteht zum großen Teil im Innenohr<br />

(durch Degeneration <strong>der</strong> Haarzellen speziell im hohen Frequenzbereich,<br />

durch Degeneration <strong>der</strong> zentralen Neuronen<br />

<strong>der</strong> Hörbahn, durch Summierung zahlreicher Noxen (Gifte,<br />

Medikamente, spätere Auswirkungen aus früheren Zeiten –<br />

herrührend von Krankheiten, Knalltraumen, Unfällen usw. )].<br />

Auch die Informationsverarbeitung <strong>der</strong> ankommenden akustischen<br />

Signale erfolgt im Alter verlangsamt, man hört wohl<br />

das gesprochene Wort, versteht es aber nicht. Schlechtes<br />

Verstehen im Lärm nennt man Partyschwerhörigkeit. Im Alter<br />

kann man auch schlechter Richtungen wahrnehmen wegen<br />

mangelndem Zeitauflösevermögen (deshalb kann man z. B.<br />

die Worte „Akt“ und nicht von „alt“ nicht voneinan<strong>der</strong> unterscheiden).<br />

Das führt zu Missverständnissen bis hin zur Bewertung<br />

durch an<strong>der</strong>e Personen, dass <strong>der</strong> Betroffene „geistig abbaue“.<br />

49


Ein Hauptgrund für die Altersschwerhörigkeit ist auch die hohe<br />

Lärmbelastung, <strong>der</strong> die Ohren in jüngeren Jahren ausgesetzt<br />

waren (Straßenverkehr, laute Musik, Lärm am Arbeitsplatz<br />

usw.). <strong>Die</strong> Öffentlichkeit hat dieses Problem jedoch noch nicht<br />

in ihrem gesamten Ausmaß erkannt und nur unzureichende<br />

o<strong>der</strong> gar keine Hilfen bereitgestellt. Dazu kommt noch, dass<br />

das vorhandene Hilfsangebot nur schwer durchschaubar ist<br />

bzw. die Betroffenen nicht erreicht, da es durch unzureichende<br />

Information unbekannt ist. Für schwerhörige und ertaubte Senioren<br />

besteht eine Versorgungslücke. <strong>Die</strong> Angebote <strong>der</strong> verschiedenen<br />

Stellen für Normalhörende sind für schwerhörige<br />

und ertaubte Senioren nicht hilfreich, da auf ihre spezifischen<br />

kommunikativen Bedürfnisse aufgrund mangeln<strong>der</strong> Kompetenz<br />

und Ausstattung nicht eingegangen werden kann. Ein älterer<br />

Mensch wird erheblich belastet, wenn er in einer Lebensphase<br />

schwerhörig wird o<strong>der</strong> ertaubt, in <strong>der</strong> die Fähigkeit<br />

zum Erlernen neuer Kommunikationsformen wie z. B. Mundablesen,<br />

Nutzung des Fingeralphabets und evtl. lautsprachbegleitende<br />

Gebärden erheblich geringer ist als in jüngeren Jahren.<br />

<strong>Die</strong> Gefahr <strong>der</strong> Vereinsamung ist bei diesen Menschen<br />

beson<strong>der</strong>s groß, zumal sie oft allein sind, da Partner, Verwandte<br />

o<strong>der</strong> Freunde nicht mehr leben o<strong>der</strong> weniger mobil<br />

sind.<br />

Altersschwerhörige sind in beson<strong>der</strong>em Maße gefährdet, ins<br />

Abseits zu geraten, da sie oft mit den verschriebenen Hörhilfen<br />

nicht zurechtkommen o<strong>der</strong> sich scheuen, diese zu benutzen.<br />

<strong>Die</strong> Lernfähigkeit und die Motivation, eine Än<strong>der</strong>ung herbeizuführen,<br />

lassen mehr und mehr nach und verhin<strong>der</strong>n das<br />

Erlernen alternativer Kommunikationswege, wie z. B. das Lippenablesen.<br />

Da für die Senioren die Hörbehin<strong>der</strong>ung eine<br />

doppelte Isolation bedeutet – zum einen als älterer Mensch<br />

und zum an<strong>der</strong>en als Hörgeschädigter – hier ist eine Beratung<br />

und Betreuung dringend erfor<strong>der</strong>lich. Im familiären Bereich<br />

ergeben sich zwangsläufig Kommunikationsprobleme, die zu<br />

erheblichen Belastungen und Konflikten führen können. Auch<br />

hier besteht Bedarf an Beratung und Betreuung sowohl in<br />

vermitteln<strong>der</strong> als auch in helfen<strong>der</strong> Form. Hier versucht <strong>der</strong><br />

50


Deutsche Schwerhörigenbund e. V. (DSB) über das “Referat<br />

schwerhörige und ertaubte Senioren und Patienten” etwas zu<br />

än<strong>der</strong>n. Es sollen spezielle Beratungsangebote sowie bessere<br />

Wohn- und Pflegebedingungen für schwerhörige und ertaubte<br />

Senioren geschaffen werden. Das braucht natürlich viel Zeit,<br />

viel Engagement und Überzeugungsarbeit und nicht zuletzt<br />

auch finanzielle Mittel. (Und erst kommende Generationen<br />

werden vielleicht davon profitieren, was <strong>der</strong> DSB mitsamt seinen<br />

Landesverbänden, Ortsvereinen und Selbsthilfegruppen<br />

nach und nach zu verän<strong>der</strong>n versucht.)<br />

Der Schwerhörigenverein Berlin hat zwei Beratungsstellen –<br />

HörBIZ (Hörbehin<strong>der</strong>ten- Beratungs- und Informationszentrum)<br />

genannt. Das HörBIZ in Charlottenburg besteht seit<br />

1987 und das HörBIZ in Pankow begeht im November 2005<br />

sein 10-jähriges Bestehen. Sämtliche Beratungen sind dort<br />

kostenfrei. 55 % <strong>der</strong> Klienten sind ältere, hörbehin<strong>der</strong>te Menschen.<br />

Ein beson<strong>der</strong>er Aufgaben-Schwerpunkt ist die Audiotherapie.<br />

Das HörBIZ bietet dies für alle an, die sich mit ihrer<br />

Hörschädigung aktiv auseinan<strong>der</strong>setzen wollen. Hören mit<br />

Hörgerät bzw. mit CI muss erst erlernt werden, ebenso beson<strong>der</strong>e<br />

Kommunikationsformen, um wie<strong>der</strong> am gesellschaftlichen<br />

Leben teilhaben zu können. Dazu zählen z. B. das Absehen<br />

vom Mund, Erlernen von Gebärden und Fingeralphabet beson<strong>der</strong>s<br />

für hochgradig schwerhörige und ertaubte Personen.<br />

Eine Audiotherapie wird nur im Einzelfall von Sozialleistungsträgern<br />

bezahlt. Deshalb wird eine solche meist in den Selbsthilfegruppen<br />

des HörBIZ durchgeführt.<br />

In den vergangenen Jahren ist eine Lawine von neuen Gesetzen<br />

im Bereich <strong>der</strong> behin<strong>der</strong>ten Menschen und des Sozialrechts<br />

über uns gerollt. Mit seinem Reformeifer hat uns <strong>der</strong><br />

Gesetzgeber das SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behin<strong>der</strong>ter<br />

Menschen), SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende)<br />

und SGB XII (Sozialhilfe) sowie die zahlreichen Än<strong>der</strong>ungen<br />

im SGB III (Arbeitsför<strong>der</strong>ung) und an<strong>der</strong>en Sozialgesetzen<br />

beschert. Es fällt nicht leicht, bei den vielen Gesetzesän<strong>der</strong>ungen<br />

den Durchblick zu behalten. Selbst die Arbeits- und<br />

51


Sozialverwaltung ist überfor<strong>der</strong>t und begeht permanent<br />

Rechtsbruch.<br />

Zum 01.01.2005 erfolgte die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe<br />

und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (Hartz IV-<br />

Gesetz). Bislang erhalten ALG II-Empfänger in Ostdeutschland<br />

331 € und in Westdeutschland einschließlich Berlin 345 €<br />

im Monat.<br />

In Berlin sind seit dem Fall <strong>der</strong> Mauer mehr als 135.000 Arbeitsplätze<br />

verloren gegangen und die Stadt hat gegenwärtig<br />

eine Arbeitslosigkeit von 19,4 %.<br />

<strong>Die</strong> Lebenssituation behin<strong>der</strong>ter Menschen hat sich in den<br />

vergangenen Jahren weiter verschlechtert.<br />

Als erstes sind hier die Schwierigkeiten bei <strong>der</strong> beruflichen<br />

Teilhabe zu nennen: <strong>Die</strong> Arbeitslosigkeit schwerbehin<strong>der</strong>ter<br />

Menschen ist kontinuierlich angestiegen und im April 2005 bei<br />

etwa 195.000 arbeitslosen Schwerbehin<strong>der</strong>ten angekommen.<br />

Aktuell gibt es alarmierende Anzeichen dafür, dass die Nürnberger<br />

Bundesagentur für Arbeit (BA) kaum mehr Mittel hat,<br />

um die Rehabilitation und Vermittlung behin<strong>der</strong>ter Arbeitsloser<br />

zu finanzieren. <strong>Die</strong> undurchsichtige Informationspolitik <strong>der</strong> BA<br />

und die Nachlässigkeit <strong>der</strong> Bundesregierung bei <strong>der</strong> Ausübung<br />

ihrer Rechtsaufsicht über die BA haben zur Folge, dass sowohl<br />

die Betroffenen als auch Träger beruflicher Reha-<br />

Maßnahmen völlig im Regen stehen gelassen werden. Durch<br />

die Lage auf dem Arbeitsmarkt seien die Vermittlungschancen<br />

schwerbehin<strong>der</strong>ter Menschen erheblich gesunken. Wegen <strong>der</strong><br />

Hartz-IV-Gesetze komme es bei Rehabilitationen zu “Reibungsverlusten”.<br />

Behin<strong>der</strong>tenbeauftragte und Sozialverbände werfen <strong>der</strong> Nürnberger<br />

BA vor, sich systematisch aus <strong>der</strong> Betreuung und Vermittlung<br />

von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen zurückzuziehen,<br />

um Geld zu sparen. (Sie verweisen dabei auf eine Beratungsgrundlage<br />

des Verwaltungsrates <strong>der</strong> BA vom 21.01.2005, die<br />

die “klare Ausrichtung des arbeitsmarktpolitischen Programms”<br />

beschreibt.)<br />

52


Zu den Betreuungskunden zählt die BA “Kunden mit Handlungsbedarf<br />

in mehreren Dimensionen”; neben den Behin<strong>der</strong>ten<br />

sind das auch ältere Langzeitarbeitslose o<strong>der</strong> Menschen<br />

mit massiven familiären o<strong>der</strong> finanziellen Problemen. Zu den<br />

Ermessensleistungen, die mit <strong>der</strong> Formulierung in Frage gestellt<br />

werden, gehören etwa Einglie<strong>der</strong>ungszuschüsse. <strong>Die</strong>se<br />

werden von <strong>der</strong> BA an Firmen gezahlt, die Behin<strong>der</strong>te einstellen.<br />

Für die Ermessensleistungen an Behin<strong>der</strong>te hat die BA in<br />

diesem Jahr (2005) 170 Millionen € in ihren Haushalt eingestellt.<br />

Im Jahr 2004 lag ihre Höhe noch bei 384 Millionen €.<br />

Derzeit sind mit Stand von September 2005 402.470 Menschen<br />

in Berlin von Hartz IV abhängig; im Januar 2005 waren<br />

es 310.331; im Juni 382.000. Zu diesen Menschen gehören<br />

neben den eigentlichen Hart IV-Beziehern auch Mitglie<strong>der</strong> ihrer<br />

jeweiligen Bedarfsgemeinschaft, also Ehe- o<strong>der</strong> Lebenspartner<br />

sowie min<strong>der</strong>jährige Kin<strong>der</strong>, die im selben Haushalt<br />

wohnen. Zum Personenkreis <strong>der</strong> ALG II-Bezieher gehören<br />

auch viele Behin<strong>der</strong>te, die zudem oft auch noch langzeitarbeitslos<br />

sind.<br />

Wirtschaftsminister Wolfgang Clement hatte angekündigt,<br />

dass Arbeitsagenturen und Kommunen künftig strenger kontrollieren<br />

sollten, ob Bezieher von ALG II tatsächlich bedürftig<br />

und arbeitswillig sind. Zu diesem Zweck soll es Hausbesuche<br />

und Anrufaktionen sowie einen intensiveren Datenabgleich<br />

zwischen den Finanzbehörden geben. Außerdem ist geplant,<br />

für Arbeitslose ein ganztägiges Trainingsprogramm einzuführen,<br />

um Schwarzarbeit zu verhin<strong>der</strong>n. Es gibt aber noch eine<br />

ganze Reihe von Missständen bei <strong>der</strong> Betreuung von Arbeitslosen<br />

durch die Arbeitsagenturen, beson<strong>der</strong>s bei Schwerbehin<strong>der</strong>ten<br />

die beseitigt werden müssen, bevor Kontrollen verschärft<br />

werden (es gibt keine speziellen Stellen für Schwerbehin<strong>der</strong>te<br />

in den Arbeitsämtern und Jobcentern seit dem<br />

1.1.2005 mehr; es werden alle in einen Topf geworfen!).<br />

Petra Pau hatte Clement vorgeworfen, durch sein Vorgehen<br />

verkomme die Agentur für Arbeit “zur Agentur gegen Arbeitslose”.<br />

53


Als Besorgnis erregend bezeichnet die DAK die Tatsache,<br />

dass immer mehr Menschen psychisch erkranken, z. B. an<br />

Depressionen o<strong>der</strong> Angstzuständen. Insbeson<strong>der</strong>e die gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse trügen zum Anstieg <strong>der</strong> psychischen<br />

Probleme bei. Als Gründe dafür wurden <strong>der</strong> zunehmende Leistungsdruck<br />

im Berufsleben, Mobbing, fehlen<strong>der</strong> Zusammenhalt<br />

in <strong>der</strong> Familie o<strong>der</strong> unter Kollegen, soziale Isolation, Überfor<strong>der</strong>ung,<br />

Trennungen, Einsamkeit genannt. In Berlin liegen<br />

die psychischen Erkrankungen inzwischen bei 12,1 % und<br />

damit an 4. Stelle bei den Krankheitsbil<strong>der</strong>n. So meldeten sich<br />

in Berlin die Beschäftigten im Gesundheitswesen, in <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Verwaltung und in Organisationen und Verbänden<br />

deutlich häufiger krank als beispielsweise die Mitarbeiter im<br />

Handel, in <strong>der</strong> Datenverarbeitung o<strong>der</strong> Rechtsberatung. <strong>Die</strong><br />

Arbeitsfaktoren lösen nicht unbedingt psychische Probleme<br />

aus, aber sie können diese verschlimmern.<br />

*) Erläuterungen zu den Festbeträgen bei Hörgeräten:<br />

Seit dem 1.1.2005 gibt es nur noch einen einzigen Festbetrag für alle Arten<br />

von Hörgeräten, egal ob IO-Geräte, (Im-Ohr-Geräte), HdO-Geräte (Hinterdem-Ohr-Geräte),<br />

Taschengeräte o<strong>der</strong> Knochleitungsgeräte. <strong>Die</strong> Festbeträge<br />

wurden bundesweit generell um 20 % abgesenkt. Auch die Anpassungsdauer<br />

für Hörgeräte durch den Hörgeräteakustiker wurde zeitlich verkürzt,<br />

ebenso die Zahl <strong>der</strong> auszuprobierenden Geräten bei Neuverordnung und die<br />

Zeitdauer de leihweise überlassenen Probegeräte. Bei einem bzw. mehrkanaligen<br />

IO- o<strong>der</strong> HdO-Gerät ist für das 1. Gerät ein Festbetrag von etwa<br />

420,- € vorgesehen, für ein Taschengerät beträgt <strong>der</strong> Festbetrag etwa 314,-<br />

€, für ein Knochenleitungsgerät ca. 580,- €. Für Ohrpassstücke u. a. m. werden<br />

Zusatzleistungen fällig. Bei einem 2. Hörgerät muss ein Abschlag von<br />

etwa 85,- € vom Festbetrag des ersten Gerätes hingenommen werden. <strong>Die</strong><br />

Krankenkasse übernimmt die Kosten nur für die festgelegten Festbeträge.<br />

Alle darüber hinausgehenden Kosten sind vom Betroffenen selbst zu tragen!<br />

Hochgradig Schwerhörige benötigen beson<strong>der</strong>s leistungsstarke Geräte, so<br />

genannte Powergeräte, die allerdings ihren Preis haben. So kommen nicht<br />

selten Zusatzzahlungen auf den Betroffenen in Höhe bis zu 4.000,- € bei<br />

beidohriger Versorgung zu. Für CI (Cochlear-Implantate) gelten Son<strong>der</strong>regelungen.<br />

54


Probleme <strong>der</strong> Gehörlosen Elke Kittelmann<br />

Im Anschluss auf meine Ausführungen im Referat vom Oktober<br />

2003 in Erkner möchte ich heute weiterhin auf die täglichen<br />

Probleme <strong>der</strong> Gehörlosen aufmerksam machen und Ihnen<br />

die Probleme im Land Berlin, mit denen ich täglich konfrontiert<br />

werde, aufzeigen:<br />

Vor allem, was hat sich seit Oktober 2003 getan:<br />

1. <strong>Die</strong> weitere Umsetzung des Berliner Landesgleichberechtigungsgesetzes<br />

(LGBG - Mai 1999);<br />

2. Kürzung des Nachteilausgleiches „Gehörlosengeld“,<br />

von 119 auf 117 Euro, aber Blindengeld – gestrichen;<br />

3. Gehörlosigkeit - die unsichtbare Behin<strong>der</strong>ung, die uns<br />

ausgrenzt von <strong>der</strong> normalen hörenden Welt<br />

Wer nicht hören kann, muss fühlen!<br />

Wie wahr gerade für gehörlose Menschen. Lei<strong>der</strong> zählen Hörbehin<strong>der</strong>ungen<br />

zu den am meisten verkannten Behin<strong>der</strong>ungen.<br />

Weit verbreitet ist zum Beispiel die Meinung: Gehörlos zu<br />

sein, ist nicht weiter tragisch. Man kann eben „nur“ nicht hören,<br />

dafür aber noch „alles“ lesen. Ja, das stimmt soweit, wenn<br />

ein großer Teil von Gehörlosen einen guten Bildungsgrad besitzt.<br />

Was ist aber mit dem an<strong>der</strong>en Teil, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Basis von<br />

Son<strong>der</strong>schulangeboten das Bildungsniveau nicht so gut – analog<br />

zu den lernschwachen Gruppen – erreicht hat? Den Gehörlosen<br />

fällt es beson<strong>der</strong>s schwer, u. a. die Fremdwörter zu<br />

begreifen. Und in <strong>der</strong> jetzigen Zeit sind viele englische Begriffe<br />

„gang und gebe“ in unserem Wortschatz. Logisch, dass ein<br />

Gehörloser auf Grund seines Nichthörens von englischen<br />

Wörtern – diese nicht richtig aussprechen kann. Man kann sagen,<br />

die arme „Deutsche Sprache“.<br />

55


<strong>Die</strong> Umwelt übersieht o<strong>der</strong> missdeutet immer noch meist<br />

die vielfältigen körperlichen, seelischen und sozialen<br />

Hilflosigkeiten, Lebenserschwernisse und Konfliktbetroffenheiten<br />

gehörloser Menschen. Immer wie<strong>der</strong><br />

müssen die hörenden Menschen auf die komplizierte<br />

Kommunikationssituation <strong>der</strong> Gehörlosen aufmerksam<br />

gemacht werden.<br />

Zwischendurch wurde <strong>der</strong> Nachteilausgleich für die Gehörlosen<br />

von 119 Euro auf 117 Euro gekürzt. Normalerweise war<br />

die Streichung auch vom Land Berlin geplant. Aber, wir haben<br />

gekämpft (z. B. mit Unterschriftensammlungen, Beschwerdebriefen<br />

an die entsprechenden Senatsdienstellen u. v. mehr).<br />

Wir haben somit den Kampf gewonnen. Da das Blindengeld<br />

zuerst rigoros gestrichen (Nie<strong>der</strong>sachsen) wurde, haben wir<br />

dies zum Anlass genommen. Und wir hoffen, dass es in Berlin<br />

nicht soweit kommt. Logisch, dass behin<strong>der</strong>te Menschen mehr<br />

Ausgaben haben, als Nichtbehin<strong>der</strong>te, o<strong>der</strong> ???<br />

Gerade die Probleme <strong>der</strong> täglichen Lebensbewältigung<br />

können den Gehörlosen überfor<strong>der</strong>n und bilden oftmals<br />

unüberwindliche Hin<strong>der</strong>nisse, wenn ihm kein Sozialarbeiter<br />

o<strong>der</strong> Gebärdensprachdolmetscher zur Seite steht. Beson<strong>der</strong>s<br />

gravierend stellen sich die Probleme in <strong>der</strong> Arbeitswelt<br />

dar, denn dem gehörlosen Menschen sind schon<br />

bei <strong>der</strong> Berufswahl Grenzen gesetzt; Umschulungen kann<br />

er nur mit Hilfe eines Gebärdensprachdolmetschers besuchen,<br />

so dass seine Perspektive begrenzt ist. Deshalb ist<br />

er beson<strong>der</strong>s von <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit bedroht bzw. betroffen.<br />

Seit 1967 existiert das noch aus <strong>der</strong> DDR stammende För<strong>der</strong>-,<br />

Kultur- und Kommunikationszentrum <strong>der</strong> Gehörlosen Berlin/Brandenburg,<br />

und es hat im Leben <strong>der</strong> Ostberliner Gehörlosen<br />

eine große Bedeutung, weil es sich nur durch Spenden<br />

und Mitgliedsbeiträge über Wasser halten kann. In diesem<br />

Zentrum wird sozial-, kultur- und bildungspolitische Arbeit geleistet.<br />

56


Seit April 2003 gibt es keine laufende Beratungs- und Dolmetscher-Vermittlungsstelle<br />

in <strong>der</strong> Schönhauser Allee 36, 10435<br />

Berlin, mehr. In <strong>der</strong> Beratungsstelle findet zur Zeit nur eine<br />

„laienhafte“ Beratung durch ehrenamtliche Mitarbeiter statt und<br />

somit ist kein Vertrauensaufbau infolge ständig wechseln<strong>der</strong><br />

Personen bei den Gehörlosen möglich.<br />

Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Arbeitsplatzerhaltung werden die<br />

Beratungs- und die Betreuungsdienste für die Gehörlosen in<br />

Berlin über Projekte und u. a. von Kräften mit 1,50 Euro Jobs<br />

(gemeint ist: Mehraufwandentschädigungen für HARTZ IV –<br />

Empfänger) realisiert, so dass diese Leistungen von Gehörlosen<br />

aus Ost und West, in großem Umfang in Anspruch genommen<br />

werden. <strong>Die</strong> bereits geschaffenen Projekte gilt es zu<br />

erhalten bzw. fortzusetzen. Durch den ständigen Wechsel von<br />

Personal (über 1,50 Euro Job) sind die Qualität und Quantität<br />

einer Beratungsstelle nicht so gewährleistet wie gewünscht.<br />

Aus einem dieser Gründe führt so zum Beispiel jeden Mittwoch<br />

eine Leiterin von <strong>der</strong> im Bezirk Treptow – Köpenick ansässigen<br />

Beratungsstelle zur Unterstützung die Beratungen in<br />

<strong>der</strong> Schönhauser Allee durch. <strong>Die</strong>se Mitarbeiterin wird aber<br />

stellenplanmäßig vom Bezirksamt Treptow – Köpenick finanziert.<br />

Träger dieser Beratungsstelle ist <strong>der</strong> För<strong>der</strong>verein <strong>der</strong><br />

Gehörlosen <strong>der</strong> neuen Bundeslän<strong>der</strong> e.V.<br />

Bisher ist es uns nicht gelungen, eine dauerhafte Finanzierung<br />

(wegen des allgemeinen Sparzwanges im öffentlichen Haushalt)<br />

zu gewährleisten. Aber wir arbeiten weiter daran.<br />

Im <strong>der</strong>zeitigen und täglichen Kampf geht es darum, den<br />

Standort „Schönhauser Allee“ zu erhalten. Das Klubzentrum<br />

wird vom För<strong>der</strong>kreis <strong>der</strong> Gehörlosen finanziell unterstützt; es<br />

handelt sich hierbei um den Kreis aus för<strong>der</strong>nden Mitglie<strong>der</strong>n,<br />

die nichthörend und hörend sind. Man sagt daher nicht umsonst,<br />

dass man sich dort wohl fühlt, wo man verstanden wird.<br />

<strong>Die</strong> Gehörlosen sehen ihren Verein als Heimat an, wo sie mit<br />

ihresgleichen ohne Verständigungsprobleme kommunizieren<br />

können, so auch verstanden werden und sich wohl fühlen<br />

können.<br />

57


Gleichermaßen ist es den Ost- und Westberliner Gehörlosen,<br />

die als Vereinsmitglie<strong>der</strong> für dieses Haus För<strong>der</strong>er sind, zu<br />

danken, dass dieses Kleinod bisher für die sozial- und kulturpolitische<br />

Arbeit erhalten blieb. Ohne diesen Personenkreis<br />

wäre Berlin um eine kulturelle Einrichtung ärmer.<br />

<strong>Die</strong>ses gemeinsame Solidaritätsgefühl stimmt uns froh. Es hat<br />

uns immer wie<strong>der</strong> die Kraft gegeben, unseren For<strong>der</strong>ungen<br />

Nachdruck zu verleihen, dieses Objekt für die Gehörlosen und<br />

ihre Besucher heute und für die Zukunft zu erhalten.<br />

Der För<strong>der</strong>verein <strong>der</strong> Gehörlosen <strong>der</strong> neuen Bundeslän<strong>der</strong><br />

e.V. hat im Moment 22 angeschlossene Vereine, Selbsthilfegruppen<br />

und den Sportverein mit insgesamt ca. 2.000 ordentlichen<br />

und außerordentlichen Mitglie<strong>der</strong>n.<br />

Von Anfang an war die Gehörlosenarbeit auch Kulturarbeit.<br />

Aus diesem Grund gab es auch ein Projekt: „50 Jahre Kulturhäuser<br />

<strong>der</strong> Gehörlosen und Hörbehin<strong>der</strong>ten in Berlin“, das<br />

vom 11. bis zum 24. September diesen Jahres stattfand. Außer<br />

unserem Kultur- und Kommunikationszentrum in <strong>der</strong><br />

Schönhauser Allee gibt es noch einen Standort: das Gehörlosenzentrum<br />

in <strong>der</strong> Friedrichstraße 12 im Altbezirk Kreuzberg<br />

(im Westteil <strong>der</strong> Stadt).<br />

Bei dieser Festwoche wurden u. a. verschiedene Kulturveranstaltungen,<br />

Worksshops, Symposium, sogar ein Politforum mit<br />

Frau Petra Pau durchgeführt. Zum Abschluss fand noch statt:<br />

das 1. Deaffilmfestival und ein Gala-Abend mit Unterhaltung<br />

und Tanz, Auftritt internationaler Künstler sowie die Preisverleihung<br />

vom Fotowettbewerb.<br />

Wenn man die Geschichte ein wenig verfolgt, müssen wir feststellen,<br />

dass sich im ewigen Kampf um unsere Rechte bis<br />

heute nicht viel geän<strong>der</strong>t hat. Wenn wir unsere Ziele erreicht<br />

haben, dürfte eine allgemeine Verbesserung <strong>der</strong> sozialen Stellung<br />

gehörloser Menschen zu erwarten sein. Das reicht von<br />

<strong>der</strong> Einrichtung einer sozialpolitischen Beratung für gehörlose<br />

ratsuchende Menschen, von <strong>der</strong> Ausbildung und Bezahlung<br />

des Gebärdensprachdolmetschers bis hin zur besseren Inte-<br />

58


gration <strong>der</strong> Gehörlosen in unsere Gesellschaft im Zuge <strong>der</strong><br />

weiteren Durchsetzung des Bundesgleichstellungsgesetzes<br />

und des Berliner Landesgleichberechtigungsgesetzes.<br />

Das heißt: Partnerschaft befürworten wir und halten diese für<br />

gut, aber eine Bevormundung lehnen wir rundweg ab.<br />

Als Mitglied des För<strong>der</strong>vereins <strong>der</strong> Gehörlosen <strong>der</strong> neuen<br />

Bundeslän<strong>der</strong> e.V. sowie des För<strong>der</strong>kreises und als 2. Vorsitzende<br />

<strong>der</strong> Berliner Bezirksgruppe <strong>der</strong> Gehörlosen Friedrichshain<br />

– Mitte - Prenzlauer Berg kenne ich diese Situation zur<br />

Genüge.<br />

Beson<strong>der</strong>s betonen möchte ich, dass beim Einsatz von Gebärdendolmetschern<br />

in Ämtern und Behörden usw. sehr wichtig<br />

ist, nur solche Personen auszuwählen, wenn diese Personen<br />

ständig im Kontakt, in <strong>der</strong> Kommunikation mit gehörlosen<br />

Menschen stehen. Ansonsten verlernen diese Mitarbeiter die<br />

Gebärdensprache. Am besten sind diejenigen Mitarbeiter<br />

dran, die in irgendeiner Form mit einem betroffenen Gehörlosen<br />

bzw. Hörgeschädigten im Kontakt stehen (sei es durch<br />

familiäre Bindungen und/o<strong>der</strong> durch Bekanntschaft im persönlichen<br />

Umfeld des jeweiligen Mitarbeiters bedingt). Aus Kostengründen,<br />

also wegen <strong>der</strong> Absenkung <strong>der</strong> Aus- und Weiterbildungskosten<br />

für Gebärdensprachdolmetscher und auch<br />

in <strong>der</strong> Durchsetzung des Landesgleichberechtigungsgesetzes<br />

wurde dazu ein so genannter „Pool“ bei <strong>der</strong> Senatsverwaltung<br />

für Inneres geschaffen, in dem freiwillige Mitarbeiter des öffentlichen<br />

<strong>Die</strong>nstes registriert sind (dazu gehöre auch ich).<br />

<strong>Die</strong>se werden bei Bedarf schnell und unkompliziert von verschiedenen<br />

Ämtern bzw. Behörden angefor<strong>der</strong>t.<br />

<strong>Die</strong> Kosten für den Einsatz eines Gebärdensprachdolmetschers<br />

betragen pro Stunde 40 Euro und für die An- und Abfahrt<br />

werden 40 Euro extra berechnet.<br />

<strong>Die</strong> Beratungsangebote für Gehörlose und Hörbehin<strong>der</strong>te in<br />

<strong>der</strong> Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin sowie im HörBIZ<br />

(Hörbehin<strong>der</strong>ten-Beratungs- und Informationszentrum), Breite<br />

3, 13187 Berlin, sollten unbedingt erhalten und staatlicherseits<br />

geför<strong>der</strong>t werden (durch Senat/Abgeordnetenhaus).<br />

59


Es muss unbedingt eine Gleichstellung und Gleichberechtigung<br />

<strong>der</strong> gehörlosen und hörbehin<strong>der</strong>ten Menschen insbeson<strong>der</strong>e<br />

auf dem Arbeitsmarkt erreicht werden und beson<strong>der</strong>s<br />

Projekte für Behin<strong>der</strong>te über 50 Jahre müssen über den 2. Arbeitsmarkt<br />

geför<strong>der</strong>t und umgesetzt werden.<br />

60


Gleichstellungs- und/o<strong>der</strong><br />

Antidiskriminierungsgesetze –<br />

Garanten für Selbstbestimmung Peter Och<br />

<strong>Die</strong> Überschrift zu dieser Diskussionsrunde hätte meines Erachtens<br />

mit einem Fragezeichen versehen werden müssen.<br />

Nun, ich erlaube mir, für mich ein deutliches Fragezeichen anzubringen.<br />

Grund dafür ist, daß wir uns im Rahmen dieses Themas doch<br />

zunächst die Frage vorlegen müssen, was denn „Garanten“ im<br />

gesellschaftlichen bzw. im politischen Sinne sein können.<br />

Daran schließt sich sodann die Frage an, ob es denn unter<br />

den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen in <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik Deutschland überhaupt „Garanten“ für Gleichstellung<br />

geben kann.<br />

„Garanten“ im gesellschaftlichen bzw. politischen Sinne können<br />

nach meiner Auffassung bestenfalls die jeweiligen Machtverhältnisse<br />

(o<strong>der</strong> auch Klassenverhältnisse) sein.<br />

Zu einem „Garanten“ für eine bestimmte Sache kann sich sicher<br />

auch eine bestimmte Partei erklären, jedoch auch nur unter<br />

dem Vorbehalt <strong>der</strong> Tragung von Regierungsverantwortung.<br />

Schließlich kennen wir die „Garanten“ im Grundgesetz <strong>der</strong><br />

BRD, also Bestimmungen, die selbst nicht durch eine 2/3-<br />

Mehrheit gestrichen o<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>t werden können.<br />

Doch schon hier wird es problematisch, da <strong>der</strong>artige Grundrechtsregelungen<br />

im Allgemeinen <strong>der</strong> Ausgestaltung durch<br />

den Gesetzgeber bedürfen, so daß dadurch bereits wie<strong>der</strong> die<br />

Möglichkeit <strong>der</strong> Aushöhlung gegeben ist, wovon in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

auch genügend Gebrauch gemacht wurde (vgl. Artikel<br />

16 und Artikel 19 GG).<br />

Kann es nun unter den <strong>der</strong>zeitigen gesellschaftlichen Verhältnissen<br />

in <strong>der</strong> BRD „Garanten“ für Gleichstellung geben bzw.<br />

gibt es sie?<br />

61


<strong>Die</strong> Verhältnisse in <strong>der</strong> BRD sind nach meiner Auffassung<br />

mehr denn je durch die offene Dominanz <strong>der</strong> Interessen des<br />

Kapitals gekennzeichnet. Während in früherer Zeit - vor allem<br />

als die DDR und <strong>der</strong> „Ostblock“ insgesamt noch bestanden -<br />

die Herrschaftsverhältnisse noch verschleiert wurden, wird nun<br />

unter dem Deckmantel <strong>der</strong> sich angeblich aus <strong>der</strong> Globalisierung<br />

ergebenden Notwendigkeiten von den bürgerlichen Parteien<br />

einschließlich SPD offen eine Politik betrieben, die die<br />

Profitinteressen <strong>der</strong> Unternehmen zu Lasten <strong>der</strong> Arbeitnehmer,<br />

Arbeitslosen, Rentner und Behin<strong>der</strong>ten sowie an<strong>der</strong>er<br />

Min<strong>der</strong>heiten för<strong>der</strong>t.<br />

Statt von Vermögen<strong>der</strong>en durch höhere Abgaben einen größeren<br />

Beitrag für das Gemeinwohl zu verlangen wird mit Blick<br />

auf vermeintliche Sparzwänge zielgerichteter Sozialabbau betrieben.<br />

Darüber hinaus werden selbst Gesetze, die einem gewissen<br />

Schutz von Min<strong>der</strong>heiten dienen sollen, so gestaltet, daß damit<br />

die Profite <strong>der</strong> Unternehmer so wenig wie möglich beschnitten<br />

werden. Ein Beispiel hierfür ist die nach wie vor sehr<br />

dürftige Regelung über die Schwerbehin<strong>der</strong>tenausgleichsabgabe,<br />

die nicht verhin<strong>der</strong>n kann, daß die Arbeitslosigkeit unter<br />

schwerbehin<strong>der</strong>ten Menschen am höchsten ist und kaum neue<br />

Arbeitsplätze für diese Bevölkerungsgruppe entstehen.<br />

Der noch von <strong>der</strong> rot-grünen Bundesregierung in den Bundestag<br />

eingebrachte Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes<br />

scheiterte letztlich auch am Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Unternehmer und<br />

<strong>der</strong> Parteien, die <strong>der</strong>en Interessen am offensten vertreten.<br />

Nach alledem meine ich, daß Gesetze, die unter den heutigen<br />

Verhältnissen zumeist schon so verwässert werden, daß sie<br />

den Herrschenden nicht zu sehr schaden, keine „Garanten“ für<br />

Gleichstellung sein können, zumal sie je<strong>der</strong>zeit auch wie<strong>der</strong><br />

geän<strong>der</strong>t werden können.<br />

So hat <strong>der</strong> zuständige Abteilungsleiter im Thüringer Ministerium<br />

für Soziales, Familie und Gesundheit anläßlich des alljährlichen<br />

Tages des weißen Stockes am 15.10.2003 in Bad Langensalza<br />

im Auftrag seines Ministers eine ausdrückliche Garantie<br />

für den Erhalt des einkommens- und vermögensunab-<br />

62


hängigen Blindengeldes als Nachteilsausgleich für blindheitsbedingte<br />

Mehraufwendungen abgegeben; inzwischen, da ich<br />

im Januar 2006 den Inhalt meines Diskussionsbeitrages nie<strong>der</strong>schreibe,<br />

ist es in Thüringen bittere Realität, daß dieser<br />

Nachteilsausgleich für alle blinden Menschen, die das 27. Lebensjahr<br />

vollendet haben, gestrichen wurde, so daß ca. 90 %<br />

<strong>der</strong> Betroffenen nun eine Einbuße von monatlich 400 €, Ehepaare<br />

sogar von monatlich 800 €, zu verzeichnen haben.<br />

Ich denke, daß das hinreichend deutlich macht, daß ein Gesetz<br />

kein „Garant“ für Gleichstellung sein kann.<br />

Eine an<strong>der</strong>e Frage ist allerdings, ob ein Gleichstellungs-<br />

und/o<strong>der</strong> ein Antidiskriminierungsgesetz eine gewisse Gleichstellung<br />

garantieren kann.<br />

<strong>Die</strong>s möchte ich auf jeden Fall bejahen, doch hängt dies von<br />

dem jeweiligen Gesetz ab.<br />

Das inzwischen verabschiedete Thüringer Gleichstellungsgesetz<br />

erfüllt diese Anfor<strong>der</strong>ungen nicht. So stellt es in seinem §<br />

2 die meisten Aufgaben und Verpflichtungen <strong>der</strong> Kommunen<br />

unter Finanzierungsvorbehalt. Allein damit wird das Gesetz<br />

Makulatur, da Län<strong>der</strong> wie z. B. Mecklenburg/Vorpommern ohne<br />

Landesgleichstellungsgesetz durch die praktische <strong>Behin<strong>der</strong>tenpolitik</strong><br />

mehr Rechte für die Betroffenen garantieren als<br />

eben Thüringen, das seit einigen Wochen über ein Gleichstellungsgesetz<br />

verfügt, das noch nicht einmal ein Verbandsklagerecht<br />

beinhaltet.<br />

Und wenn <strong>der</strong> Thüringer Landtag mit seiner absoluten CDU-<br />

Mehrheit zwei Wochen nach <strong>der</strong> Verabschiedung des Thüringer<br />

Gleichstellungsgesetzes das Blindengeld, einen wichtigen<br />

Nachteilsausgleich, für 95 % <strong>der</strong> Betroffenen streicht, so demonstrieren<br />

die Herrschenden damit sehr offen, daß dieses<br />

sogenannte „Gleichstellungsgesetz“ für so gut wie nichts ein<br />

„Garant“ ist o<strong>der</strong> sein wird.<br />

Zusammengefaßt muß nach meiner Ansicht also zwischen politischen<br />

Garanten für bestimmte Verhältnisse o<strong>der</strong> Bedingungen<br />

und Garantien für staatlich gewährte Rechte unterschieden<br />

werden.<br />

63


Garanten für wirkliche Gleichstellung gibt es meines Erachtens<br />

in <strong>der</strong> gesamten BRD nicht, da sich die Herrschenden je<strong>der</strong>zeit<br />

vorbehalten können, an<strong>der</strong>e politische Prioritäten zu setzen.<br />

Selbst in einem Land wie Mecklenburg/Vorpommern<br />

könnte im Falle eines Regierungswechsels auch eine Neuorientierung<br />

auf sozialpolitischem Gebiet erfolgen.<br />

Dagegen können gesetzliche Regelungen in Abhängigkeit<br />

vom Willen des jeweiligen Gesetzgebers Garantien für bestimmte<br />

rechtliche Verhältnisse beinhalten, die aber in <strong>der</strong> Regel<br />

je<strong>der</strong>zeit wie<strong>der</strong> aufgehoben o<strong>der</strong> zumindest abgeschwächt<br />

werden können.<br />

We<strong>der</strong> ein Gleichstellungs- noch ein Antidiskriminierungsgesetz<br />

stellen also einen abstrakten Garanten für eine tatsächliche<br />

Gleichstellung dar.<br />

Unabhängig von vorstehenden Ausführungen bin ich natürlich<br />

ein Befürworter <strong>der</strong> Einführung von Gleichstellungsgesetzen in<br />

allen Bundeslän<strong>der</strong>n sowie eines Antidiskriminierungsgesetzes<br />

in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland insgesamt. Es kommt<br />

nur darauf an, im täglichen politischen Kampf dafür einzutreten,<br />

daß diese Gesetze die Rechte <strong>der</strong> Betroffenen und Pflichten<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft so konkret wie möglich formulieren und<br />

daß es entsprechende Kontrollmöglichkeiten (z. B. einen Behin<strong>der</strong>tenbeauftragten,<br />

<strong>der</strong> dem Landtag direkt unterstellt ist)<br />

gibt.<br />

Außerdem wirken <strong>der</strong>artige Gesetze zumindest bewußtseinsbildend,<br />

wodurch sich wie<strong>der</strong>um die Voraussetzungen für den<br />

Abbau von Vorurteilen sowie Barrieren aller Art verbessern.<br />

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