GRUNDKURS PHILOSOPHIE DES GEISTES
GRUNDKURS PHILOSOPHIE DES GEISTES GRUNDKURS PHILOSOPHIE DES GEISTES
Thomas Metzinger (Hrsg.) GRUNDKURS PHILOSOPHIE DES GEISTES Band 1: Phänomenales Bewusstsein mentis PADERBORN
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Thomas Metzinger (Hrsg.)<br />
<strong>GRUNDKURS</strong><br />
<strong>PHILOSOPHIE</strong><br />
<strong>DES</strong> <strong>GEISTES</strong><br />
Band 1: Phänomenales Bewusstsein<br />
mentis<br />
PADERBORN
Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;<br />
detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />
Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem<br />
und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706<br />
© 2006 mentis Verlag GmbH<br />
Schulze-Delitzsch-Straße 19, D-33100 Paderborn<br />
Internet: www.mentis.de<br />
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in<br />
anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig.<br />
Printed in Germany<br />
Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen<br />
Satz und Herstellung: Rhema – Tim Doherty, Münster<br />
Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten<br />
ISBN 3-89785-551-8
Inhalt<br />
Vorwort ....................................................................................... 9<br />
Modul B-0: Thomas Metzinger: Generelle Einführung ........................................ 11<br />
Die Philosophie des Geistes und das philosophische Problem des Bewusstseins in<br />
der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts .................................... 11<br />
Einleitung: Wie benutzt man diesen Grundkurs? ...................................... 11<br />
Modul B-1: Phänomenales Bewusstsein: Was genau ist das Problem? ......................... 33<br />
Einleitung ............................................................................. 33<br />
Peter Bieri: Was macht Bewusstsein zu einem Rätsel? .................................... 36<br />
Serviceteil ............................................................................. 55<br />
Modul B-2: Qualia I: Phänomenale Eigenschaften erster Ordnung ............................ 57<br />
Einleitung ............................................................................. 57<br />
Clarence Irving Lewis: Exzerpt ........................................................ 60<br />
Thomas Nagel: Wieistes,eineFledermauszusein? ..................................... 62<br />
Serviceteil ............................................................................. 79<br />
Modul B-3: Qualia II: Die epistemische Asymmetrie ......................................... 81<br />
Einleitung ............................................................................. 81<br />
Frank Jackson: Epiphänomenale Qualia ............................................... 83<br />
Serviceteil ............................................................................. 98<br />
Modul B-4: Qualia III: Die explanatorische Lücke ............................................ 101<br />
Einleitung ............................................................................. 101<br />
Jospeh Levine: Materialismus und Qualia: Die explanatorische Lücke ................... 103<br />
Serviceteil ............................................................................. 116<br />
Modul B-5: Qualia IV: Ontologie des Bewusstseins .......................................... 117<br />
Einleitung ............................................................................. 117<br />
David J. Chalmers: Bewusstsein und sein Platz in der Natur ............................. 119<br />
Serviceteil ............................................................................. 175
6 Inhalt<br />
Modul B-6: Qualia V: Ontologie des Bewusstseins ........................................... 177<br />
Einleitung ............................................................................. 177<br />
Paul Churchland: Die Wiederentdeckung des Lichtes ................................... 179<br />
Serviceteil ............................................................................. 200<br />
Modul B-7: Qualia VI: Introspektion und Kognition ......................................... 203<br />
Einleitung ............................................................................. 203<br />
Daniel Dennett: Qualia eliminieren .................................................... 205<br />
Serviceteil ............................................................................. 250<br />
Modul B-8: Funktionalismus und Bewusstsein I: Fehlende und invertierte Qualia ............. 251<br />
Einleitung ............................................................................. 251<br />
John Locke: Exzerpt ................................................................... 253<br />
David J. Chalmers: Fehlende Qualia, schwindende Qualia, tanzende Qualia ............ 254<br />
Serviceteil ............................................................................. 280<br />
Modul B-9: Funktionalismus und Bewusstsein II: Fehlende und invertierte Qualia ............ 281<br />
Einleitung ............................................................................. 281<br />
Sydney Shoemaker: Funktionalismus und Qualia ...................................... 283<br />
Serviceteil ............................................................................. 312<br />
Modul B-10: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins I:<br />
Naturalismus, mentale Repräsentation und phänomenale Inhalte ...................... 315<br />
Einleitung ............................................................................. 315<br />
Fred Dretske: Exzerpt aus „Die Naturalisierung des Geistes“, Kap. 4 ..................... 317<br />
Serviceteil ............................................................................. 344<br />
Modul B-11: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins II:<br />
Metarepräsentation und innere Wahrnehmung ......................................... 347<br />
Einleitung ............................................................................. 347<br />
Güven Güzeldere: Ist Bewusstsein die Wahrnehmung dessen, was im eigenen<br />
Geist vorgeht? ..................................................................... 349<br />
Serviceteil ............................................................................. 379<br />
Modul B-12: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins III:<br />
Die Theorie der Gedanken höherer Ordnung ......................................... 381<br />
Einleitung ............................................................................. 381
Inhalt 7<br />
David Rosenthal: Bewusstsein erklären ................................................. 383<br />
Serviceteil ............................................................................. 419<br />
Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV:<br />
Das phänomenale Selbst und die Perspektive der ersten Person ........................ 421<br />
Einleitung ............................................................................. 421<br />
Thomas Metzinger: Being No One –<br />
Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung ......................................... 424<br />
Serviceteil ............................................................................. 476<br />
Modul B-14: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins V:<br />
Unaussprechlichkeit ................................................................... 477<br />
Einleitung ............................................................................. 477<br />
Diana Raffman: Die Beharrlichkeit der Phänomenologie ................................ 479<br />
Serviceteil ............................................................................. 501<br />
Modul B-15: Das neuronale Korrelat des Bewusstseins ....................................... 503<br />
Einleitung ............................................................................. 503<br />
Antti Revonsuo: Wie man Bewusstsein in der kognitiven Neurowissenschaft<br />
ernst nehmen kann ................................................................. 505<br />
Serviceteil ............................................................................. 528
Modul B-13<br />
Repräsentationalistische<br />
Theorien des Bewusstseins IV:<br />
Das phänomenale Selbst und die<br />
Perspektive der ersten Person<br />
Einleitung<br />
Der bisherige Gang durch die Primärtexte dieses Grundkurses hat gezeigt,<br />
dass Bewusstsein sowohl ein Problem für die philosophische Phänomenologie<br />
(â B-2) als auch für die Erkenntnistheorie (â B-3, B-4) darstellt.<br />
Außerdem ist deutlich geworden, dass es nicht nur um die einfachsten Bausteine<br />
des subjektiven Erlebens geht, sondern dass Bewusstsein zumindest<br />
in unserem eigenen Fall eine reiche innere Struktur besitzt, die phänomenale<br />
Inhalte auf vielen verschiedenen Organisationsstufen gleichzeitig erzeugt<br />
(â B-10 – B-12). Eine weit verbreitete Annahme ist nun, dass die interessanteste<br />
Form von Inhalt im Grunde das phänomenale Selbst ist: das Subjekt<br />
phänomenaler Zustände, so wie es selbst auf der Ebene des bewussten Erlebens<br />
noch einmal dargestellt wird. Eine korrespondierende philosophische<br />
Intuition besagt, dass die Frage nach der inneren Struktur und den Entstehungsbedingungen<br />
von Selbstbewusstsein aufs engste verknüpft ist mit dem<br />
erkenntnistheoretischen Hauptproblem der modernen Bewusstseinsphilosophie,<br />
nämlich der epistemischen Asymmetrie (â B-3). Wenn wir zum<br />
Beispiel sagen, dass Bewusstsein das einzige Zielphänomen der wissenschaftlichen<br />
Forschung ist, das wir sowohl aus der Dritte-Person-Perspektive als<br />
auch aus der Erste-Person-Perspektive epistemisch erfassen können, meinen<br />
wir dann nicht, dass phänomenales Selbstbewusstsein der Ursprung<br />
der Erste-Person-Perspektive und damit genau das ist, was Bewusstsein zu<br />
einem essentiell subjektiven Phänomen macht? Der nächste Schritt führt<br />
dann zur Ontologie des Bewusstseins. Dort ist häufig die These vertreten<br />
worden, dass sich Erste-Person-Tatsachen nicht auf Dritte-Person-Tatsachen<br />
reduzieren lassen.<br />
Das grundlegende Problem all solcher Thesen und der mit ihnen verknüpften<br />
Argumente ist, dass sie den Begriff der „Erste-Person-Perspektive“<br />
als ein unanalysiertes Primitivum übernehmen. Dabei wird häufig übersehen,<br />
dass es sich hier lediglich um eine philosophische Metapher handelt.<br />
Diese Metapher besitzt zwei Bestandteile: Eine grammatische Komponente<br />
(„die erste Person“) und eine räumlich-visuelle („die Perspektive“). Durch<br />
die erste Komponente wird die Metapher mit sprachphilosophischen Pro-
422 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
blemen verknüpft, die die Logik indexikalischer Ausdrücke und den Subjektgebrauch<br />
des Ausdrucks „Ich“ betreffen. Zum Beispiel ist nicht klar,<br />
ob man den Subjektgebrauch von „Ich“ aus unserer Sprache eliminieren<br />
könnte, ohne gleichzeitig die Fähigkeit zu verlieren, eine bestimmte Klasse<br />
von Wahrheiten über die Welt auszusprechen. Der erste Aspekt ist trotzdem<br />
primär grammatischer Natur: Auf sprachlicher Ebene kann man mithilfe<br />
des Wörtchens „Ich“ Äußerungen in der ersten Person Singular produzieren.<br />
Insbesondere gibt es Selbstzuschreibungen – gerade auch psychologischer<br />
und phänomenaler Eigenschaften – in der linguistischen Erste-Person-Perspektive,<br />
zum Beispiel, wenn wir sagen: „Ich fühle mich gerade besonders<br />
entspannt und glücklich.“ Solche Selbstzuschreibungen folgen einer gewissen<br />
Logik, und dass sie eine bestimmte formale Struktur aufweisen, ist<br />
zunächst nichts weiter als eine einfache grammatische Tatsache. Über die<br />
Tiefenstruktur des phänomenalen Bewusstseins im Allgemeinen folgt aus<br />
dieser grammatischen Tatsache nichts, denn es ist plausibel anzunehmen,<br />
dass zum Beispiel auch viele Tiere, die nicht sprechen oder denken können,<br />
eine nicht-begriffliche und phänomenale Innenperspektive besitzen.<br />
Die zweite Komponente der Metapher, die „Perspektive“, bezieht sich<br />
auf die geometrische Struktur unseres visuellen Modells der Realität, auf die<br />
Phänomenologie des menschlichen Sehens. Es gibt einen Horizont, parallele<br />
Linien scheinen sich in der Unendlichkeit zu berühren und es existiert ein<br />
Standpunkt, um den herum die visuelle Welt organisiert ist. Wir sehen perspektivisch,<br />
weil wir die Welt im Grunde erleben, als würde sie von einem<br />
kleinen Männchen gesehen, dass hinter den Augen sitzt und durch sie wie<br />
durch zwei Fenster in die Welt hinausblickt. Wir wissen natürlich, dass dieser<br />
Homunkulus hinter den Fenstern und sein Blick in die Welt Fiktionen<br />
sind. Aber trotzdem können wir uns nicht von der durch den strukturellen<br />
Aufbau unseres Gesichtsfeldes und unser bewusstes Raumerleben erzeugten<br />
Illusion befreien, dass unser Selbst eine räumliche Lokalisierung besitzt,<br />
nämlich als Mittelpunkt der visuellen Welt. Und natürlich sagt uns auch<br />
dieser zweite Teil der Metapher letztlich nichts darüber, wer oder was eigentlich<br />
wirklich das Subjekt phänomenaler Zustände ist, das den Ursprung<br />
der bewusst erlebten Innenperspektive bildet. Das philosophische Problem<br />
des Selbstbewusstseins und der Erste-Person-Perspektive besteht nun darin,<br />
dass sowohl die grammatische als auch die geometrische Komponente letztlich<br />
nur zufällige Merkmale unserer eigenen Form von Bewusstsein sind.<br />
Denn natürlich könnte es subjektives ErlebenauchinWesengeben,die<br />
keine Sprachfähigkeit besitzen und deren Raumerleben nicht perspektivisch<br />
organisiert ist.<br />
Bevor man also zu begrifflichen Fortschritten in der Ontologie des Bewusstseins<br />
kommen kann, benötigt man eine Theorie über die Subjektivität<br />
des phänomenalen Erlebens. Heute kann eine solche Theorie nicht mehr<br />
aus dem Lehnstuhl heraus entwickelt werden. Sie ist ein interdisziplinäres<br />
Projekt, das auf empirische Plausibilität angewiesen ist. Eine befriedigendende<br />
Theorie muss Antworten auf die folgenden beiden Fragen geben:<br />
Wie entsteht ein phänomenales Selbst? Was genau ist eigentlich eine „Erste-
Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV 423<br />
Person-Perspektive“? Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität versucht,<br />
Antworten auf diese beiden Fragen vorzubereiten, indem sie auf mehreren<br />
Beschreibungsebenen gleichzeitig begriffliche Auflagen für eine umfassendere<br />
Theorie des Bewusstseins entwickelt.<br />
Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität ist zunächst daran interessiert,<br />
wie eigentlich ein phänomenales Selbst entstehen kann. Es geht also nicht<br />
mehr um einfache sensorische Qualitäten wie Röte oder die Entstehung von<br />
Wahrnehmungsobjekten. Es geht vielmehr um das, was wir alltagspsychologisch<br />
manchmal einfach das „Ich-Gefühl“ nennen, also das aller Selbstreflexion<br />
zugrunde liegende und sie überhaupt ermöglichende phänomenale<br />
Erleben des Jemand-Seins, und damit um eine höherstufige und sehr<br />
komplexe phänomenale Eigenschaft. Die Frage ist: Welche repräsentationalen<br />
Eigenschaften müsste ein bewusstes informationsverarbeitendes System<br />
besitzen, damit es sich notwendigerweise als jemand erlebt? Die These der<br />
Selbstmodelltheorie lautet, dass ein phänomenales Selbst in einem bewussten<br />
System genau dann entsteht, wenn dieses über ein transparentes Selbstmodell<br />
verfügt. Ein phänomenales Selbstmodell (PSM) ist ein integriertes und<br />
über die Zeit hinweg stabiles inneres Bild, dass ein System von sich selbst als<br />
einem Ganzen besitzen kann. „Phänomenal transparent“ ist eine Repräsentation<br />
dann, wenn das Wesen, in dem sie auftaucht, sie introspektiv nicht<br />
mehr als eine Repräsentation erkennen kann und sich deshalb als direkt mit<br />
ihrem Inhalt in Kontakt erlebt. Zum Beispiel erkennen Sie das Buch, das sie<br />
gerade in ihren Händen halten, nicht mehr als den Inhalt einer Repräsentation<br />
in ihrem Gehirn, weil die visuelle und taktile Repräsentation des Buchs<br />
in Ihren Händen so schnell und zuverlässig aufgebaut wird, dass Sie sie<br />
nicht mehr als den Inhalt eines inneren Zustands erkennen können. Das<br />
Argument der Selbstmodelltheorie besagt, dass ein bewusst erlebtes Selbst<br />
immer dann entsteht, wenn dasselbe auch für das Selbstmodell gilt: Wir<br />
sind Wesen, die ihr eigenes inneres Modell von sich selbst nicht mehr als<br />
ein Modell erkennen können und die deshalb naive Realisten auch bezüglich<br />
ihrer eigenen Existenz sind. Wir erleben uns notwendigerweise als in direktem<br />
und unmittelbarem Kontakt mit uns selbst – und dies ist der wichtigste<br />
Schritt auf dem Weg zur phänomenalen Erste-Person-Perspektive.
424 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
Primärtext<br />
Thomas Metzinger<br />
Being No One – Eine sehr kurze deutsche Zusammenfassung<br />
Thomas Metzinger, geboren 1958<br />
Einleitung: Bewusstsein, das phänomenale Selbst und<br />
die Perspektive der ersten Person<br />
Der folgende Text ist eine sehr kurze Zusammenfassung einiger zentraler<br />
Ideen, die ich in meinem englischen Buch „Being No One – The<br />
Self-Model Theory of Subjectivity“ (ab hier: BNO) entwickelt habe.<br />
Eine umfassendere und an einem systematischen Katalog von Einzelfragen<br />
orientierte Zusammenfassung findet sich bereits im Buch selbst<br />
(BNO: Abschnitt 8.2; vgl. auch die im Serviceteil angegebene Pflichtlektüre).<br />
Hier lasse ich grundsätzlich alle Überlegungen zu folgenden<br />
Themen außer Acht: die semantische Differenzierung und empirische<br />
Anreicherung des philosophischen Begriffs eines „Quale“ (d.h. vorwiegend<br />
Kap. 2, 3 & 8), alle Vorschläge für die begriffliche Grundlegung<br />
einer umfassenden Theorie (Kap. 2 & 5), alle neurophänomenologischen<br />
Fallstudien, die verwendet wurden, um die Theorie zu testen und<br />
zu verfeinern (Kap. 4 & 7) sowie alle allgemeinen methodologischen<br />
Betrachtungen (Kap. 1 & 8). Insbesondere folgt die vorliegende Zusammenfassung<br />
nicht der Struktur des Buches. Stattdessen fasst sie einfach<br />
zusammen, was die Theorie über ihre drei wichtigsten epistemischen<br />
Ziele zu sagen hat, also über die drei Hauptgegenstände phänomenales<br />
Bewusstsein (Abschnitt 2), phänomenales Selbst (Abschnitt 3) und die<br />
Entstehung einer Perspektive der ersten Person (Abschnitt 4).<br />
Die „Selbstmodell-Theorie der Subjektivität“ (ab hier: SMT) entwickelt<br />
einen neuen, interdisziplinären Ansatz der constraint satisfaction,<br />
der auf mehreren Beschreibungsebenen zugleich operiert. Das<br />
bedeutet, dass auf der phänomenologischen, der repräsentationalistischen,<br />
der funktionalen und der neurobiologischen Beschreibungsebene<br />
gleichzeitig sowohl begriffliche als auch empirische Auflagen<br />
[constraints] für eine Theorie des Bewusstseins formuliert werden. Solche<br />
Auflagen sind also einschränkende Bedingungen, die den Raum<br />
denkbarer Lösungen immer weiter eingrenzen und uns dann innerhalb<br />
eines bestimmten Gegenstandsbereichs dabei helfen sollen, die<br />
folgende Frage zu beantworten: Wann ist ein bestimmter Zustand auch<br />
ein bewusster Zustand? In der Diskussion ist für diesen Ansatz der<br />
Begriff der „method of interdisciplinary constraint-satisfaction“ (MICS)
Metzinger: Being No One 425<br />
eingeführt worden (vgl. Weisberg 2005). Die Selbstmodell-Theorie formuliert<br />
zehn solcher Bedingungen für bewusste Repräsentationen. Hier<br />
werde ich sechs davon herausgreifen und kurz durchgehen, um den allgemeinen<br />
Ansatz zu illustrieren. In dem nun folgenden Abschnitt 1 gebe<br />
ich einen kurzen Überblick über das, was die vorliegende Theorie im<br />
Hinblick auf Bewusstsein, das phänomenale Selbst und die Perspektive<br />
der ersten Person zu sagen hat. Anschließend werde ich bei der<br />
Beschreibung der betreffenden Auflagen etwas mehr ins Detail gehen<br />
(Abschnitte 2, 3 und 4).<br />
1. SMT: Ein erster Überblick<br />
1.1 Phänomenales Bewusstsein<br />
SMT entwickelt eine detaillierte Vorstellung davon, welche Eigenschaften<br />
Repräsentationen in einem gegebenen System besitzen müssen, um<br />
zu phänomenalen Repräsentationen zu werden, d.h. solchen, deren<br />
Inhalt gleichzeitig Inhalt des Bewusstseins ist. Beginnen wir mit dem,<br />
was ich den „Minimalen Begriff des Bewusstseins“ nenne, und reichern<br />
diesen dann an. Phänomenologisch lässt sich minimales Bewusstsein<br />
beschreiben als die Gegenwart einer Welt. Dieser minimale Begriff beinhaltet<br />
(1) die so genannte Globalitätsbedingung, (2) die Gegenwärtigkeitsbedingung<br />
und (3) die Transparenzbedingung.<br />
1.1.1 Globalität. Mentale Repräsentation ist der Prozess, durch den<br />
einige biologische Systeme ein internes Abbild von Teilen der Realität<br />
erzeugen. Nicht alle mentalen Zustände sind auch bewusste Zustände:<br />
phänomenal repräsentierte Information ist genau die Teilmenge der<br />
gerade in dem System aktiven Information, von der gilt, dass sie global<br />
verfügbar ist für viele verschiedene, zeitgleich ablaufende Verarbeitungsvorgänge,<br />
z.B. willentlich gesteuerte Aufmerksamkeit, kognitive<br />
Bezugnahme und selektive Handlungskontrolle. Zu sagen, die Inhalte<br />
bewusster Erfahrung seien „global“ verfügbar für das Subjekt bedeutet,<br />
dass diese Inhalte repräsentational immer in einer Welt zu finden sind.<br />
Dies impliziert, dass individuelle bewusste Zustände in Standardsituationen<br />
immer Teil eines integrierten Weltmodells sind. Mehr dazu in<br />
Abschnitt 2.1.<br />
1.1.2 Gegenwärtigkeit. Ein zweiter Kernaspekt des phänomenalen<br />
Bewusstseins kann als das repräsentationale Hervorbringen einer Gegenwartsinsel<br />
im kontinuierlichen Fluss der physikalischen Zeit beschrieben<br />
werden (Ruhnau 1995). Ausnahmslos gilt von allen meinen<br />
phänomenalen Zuständen, dass ich – was immer es auch ist, das ich subjektiv<br />
erfahre – es immer als jetzt erlebe. Phänomenaler Inhalt ist stets
426 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
Inhalt de nunc, weil er mit einer Repräsentation temporaler Internalität<br />
verbunden ist. Es gibt also einen umfassenden repräsentationalen<br />
Kontext, der die Struktur des phänomenalen Erlebens bestimmt, und<br />
dieser Kontext generiert die Erfahrung von Gegenwart. Bewusstsein<br />
erzeugt mit dem erlebten Jetzt einen zeitlichen Innenraum, weil es eine<br />
Unterscheidung einführt zwischen der Vergangenheit, der Zukunft und<br />
dem, was als diese Zeit definiert ist.<br />
1.1.3 Transparenz. Die dritte einschränkende Bedingung für phänomenales<br />
Bewusstsein ist die Transparenz der zugrunde liegenden Repräsentationen.<br />
Transparenz – so wie der Begriff hier verwendet wird – ist<br />
ausschließlich ein Merkmal bewusster Repräsentationen, unbewusste<br />
Zustände sind weder transparent noch opak. „Transparenz“ ist ein<br />
phänomenologischer Begriff (und kein epistemologischer), der jedoch<br />
eine Abwesenheit von Wissen impliziert. Transparenz ist eine besondere<br />
Form der Dunkelheit. Insbesondere bedeutet phänomenale Transparenz,<br />
dass etwas Bestimmtes der subjektiven Erfahrung selbst nicht<br />
zugänglich ist, nämlich die repräsentationale Natur des Inhalts der<br />
bewussten Erfahrung. Was eine phänomenale Repräsentation transparent<br />
macht, ist, dass frühere Verarbeitungsstufen im Gehirn für<br />
die Introspektion nicht attentional verfügbar sind. Die Mittel der<br />
Repräsentation können selbst nicht als solche repräsentiert werden.<br />
Deshalb ist das System, das die Erfahrungen macht, hinsichtlich der<br />
entsprechenden Inhalte und mit begrifflicher Notwendigkeit in einem<br />
naiven Realismus gefangen: In Standardkonfigurationen haben die<br />
meisten Inhalte des phänomenalen Erlebens einen unhintergehbar realistischen<br />
Charakter.<br />
Der naive Realismus, der das phänomenale Bewusstsein dominiert,<br />
kann auch auf erkenntnistheoretischer Ebene ausgedrückt werden,<br />
indem man den Begriff der „autoepistemischen Geschlossenheit“<br />
einführt. Dies ist dann ein epistemologischer Begriff, und kein (jedenfalls<br />
nicht primär) phänomenologischer. Er bezieht sich auf einen „eingebauten<br />
blinden Fleck“, ein strukturell verankertes Defizit in der Fähigkeit,<br />
introspektives Wissen über sich selbst zu gewinnen. Genauer: Die<br />
autoepistemische Geschlossenheit besteht beim Menschen darin, dass<br />
er in normalen Wachzuständen nicht in der Lage ist, zu realisieren,<br />
dass die Inhalte seiner subjektiven Erfahrungen starke selbstkonstruierte<br />
Aspekte besitzen, weil sie immer repräsentationale Inhalte sind,<br />
und weil es sich letztlich immer um kontrafaktische Inhalte, um Inhalte<br />
von internen Simulationen handelt.<br />
1.1.4 Minimales Bewusstsein. Die Konjunktion der erfüllten Bedingungen<br />
1, 2 und 3 (Globalität, Gegenwärtigkeit und Transparenz) ergibt<br />
die elementarste Form bewusster Erfahrung, die denkbar ist: die Gegen-
Metzinger: Being No One 427<br />
wart einer Welt. Die phänomenale Gegenwart, das Erscheinen einer Welt<br />
besteht somit in der Aktivierung eines einzigen, kohärenten und globalen<br />
Modells der Realität (Bedingung 1), innerhalb eines virtuellen<br />
Gegenwartsfensters (Bedingung 2), das durch das System, welches<br />
es in sich erzeugt, introspektiv nicht als Modell erkannt werden kann<br />
(Bedingung 3). Man darf nicht übersehen, dass die so beschriebene<br />
Klasse von Systemen nur eine äußerst primitive Form von Bewusstsein<br />
besitzen würde: Alles, was ein solches System erlebt, wäre die Existenz<br />
einer einheitlichen, aber unstrukturierten und inhaltlich nicht differenzierten<br />
Welt, eingefroren in einer ewigen, internen Gegenwart. Weder<br />
wäre das System mit seinem Erleben an die äußere Dynamik der physikalischen<br />
Welt angekoppelt, noch besäße es eine reichhaltige innere<br />
Struktur, weder besäße es das subjektive Erleben von Dauer oder einer<br />
fließenden, subjektiven Zeit, noch die bewusst erlebte Innenperspektive,<br />
die mit der Entstehung eines bewussten Selbst einhergeht. Man<br />
könnte diese elementare Form des Bewusstseins selfless snapshot-consciousness<br />
nennen, eine aperspektivische Momentaufnahme.<br />
Im Abschnitt 2 werde ich diese drei Minimalbedingungen genauer<br />
beschreiben und drei weitere hinzufügen (konvolvierter Holismus,<br />
Dynamizität und Perspektivität). Dies wird ein tieferes Verständnis der<br />
minimalen Form des Bewusstseins und seiner Evolution in komplexere<br />
Formen ermöglichen. Aber bereits diese äußerst sparsame Beschreibung<br />
von Bewusstsein erlaubt es, den Grundgedanken der vorliegenden<br />
Theorie im Hinblick auf das phänomenale Selbst (Abschnitt 1.2)<br />
und die Perspektive der ersten Person (Abschnitt 1.3) zu formulieren.<br />
1.2 Das phänomenale Selbst<br />
Zunächst ist es wichtig, die ontologische Generalthese der SMT zu<br />
verstehen: Einzeldinge oder Substanzen wie „Selbste“ existieren in der<br />
Welt nicht. Deshalb kann man den Begriff eines „Selbst“ als einer theoretischen<br />
Entität für alle wissenschaftlichen und philosophischen Zwecke<br />
problemlos eliminieren. Was wir in der Vergangenheit und insbesondere<br />
alltagspsychologisch „das“ Selbst genannt haben, ist keine ontologische<br />
Substanz, keine kontextunabhängige und unwandelbare Essenz und<br />
auch keine besondere Art von Ding (d.h. kein Individuum im Sinne<br />
der philosophischen Metaphysik), sondern ein dynamischer Vorgang,<br />
nämlich eine sehr spezielle Art von repräsentationalem Inhalt in einer<br />
sehr speziellen Art von informationsverarbeitendem System. Es ist der<br />
Inhalt eines Selbstmodells, das von dem System, das es benutzt, introspektiv<br />
nicht als Modell erkannt werden kann. Der dynamische Inhalt<br />
des phänomenalen Selbstmodells (ab hier: PSM; BNO: Kap. 6) ist<br />
somit der Inhalt des bewussten Selbst: Meine aktuellen Körperemp-
428 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
findungen, mein gegenwärtiger emotionaler Zustand und alle Inhalte<br />
meiner phänomenal erlebten Kognition. Diese bilden den Inhalt meines<br />
PSM. All jene Eigenschaften des phänomenalen Selbst, auf die ich<br />
in diesem Moment prinzipiell meine Aufmerksamkeit richten kann,<br />
bilden den Inhalt meines aktuellen PSM. Dieses PSM ist kein Ding,<br />
sondern ein integrierter Vorgang, der kontinuierlich in meinem Gehirn<br />
abläuft.<br />
Intuitiv – und in einem gewissen metaphorischen Sinn – könnte<br />
man vielleicht sagen, dass ich als bewusstes Selbst der Inhalt meines<br />
PSM bin. In Wirklichkeit bin ich natürlich das System als Ganzes:<br />
Ich bin das auch sozial situierte System als Ganzes, inklusive des jetzt<br />
gerade in seinem Gehirn aktiven Selbstmodells. Allerdings kann ich<br />
den Unterschied zwischen dem System und dem Teil des Systems,<br />
der als sein Modell funktioniert, durch die introspektive Lenkung von<br />
Aufmerksamkeit nicht entdecken. Man könnte auch versuchen, den<br />
zentralen Gedanken auszudrücken, indem man sagt, dass wir Systeme<br />
sind, die sich unentwegt selbst mit dem Inhalt ihres PSM verwechseln.<br />
Aber auch diese Metapher der „Ich-Illusion“ enthält natürlich bei<br />
näherem Hinsehen einen logischen Fehler: Täuschung und Wissen im<br />
Sinne propositionaler Inhalte gibt es auf der fraglichen Ebene überhaupt<br />
noch nicht, es gibt niemand, der sich täuschen könnte. Im Gegenteil: Die<br />
phänomenologische Grundstruktur, um die es hier geht, ist ja genau die<br />
Struktur, die die Entstehung eines echten epistemischen Subjekts überhaupt<br />
erst ermöglicht. Das PSM ist die zentrale notwendige Bedingung<br />
der Möglichkeit von Wissen und Erkenntnis. Zumindest für alle uns<br />
bekannten bewussten Wesen gilt, dass sie weder ein Selbst haben, noch<br />
ein Selbst sind. Was sie haben, ist ein Selbstmodell – und dies ist letztlich<br />
ein komplexer Gehirnzustand. Es gibt zwar biologische Organismen,<br />
aber ein Organismus ist natürlich noch lange kein Selbst. Manche<br />
Organismen besitzen bewusste Selbstmodelle, aber solche Selbstmodelle<br />
sind mit Sicherheit keine Selbste – sie sind lediglich komplexe<br />
Gehirnzustände. Wenn ein Organismus auf der Basis eines transparenten<br />
Selbstmodells operiert, dann besitzt er ein phänomenales Selbst.<br />
Die phänomenale Eigenschaft des „Ich-Gefühls“ oder der „Selbstheit“<br />
als solche ist ein repräsentationales Konstrukt, denn sie ist eine interne,<br />
dynamische Repräsentation des Organismus als Ganzem, die in ein<br />
virtuelles Gegenwartsfenster eingebettet wurde und die Transparenz-<br />
Bedingung erfüllt. Sie ist tatsächlich eine phänomenale Eigenschaft in<br />
dem Sinne, dass sie nur eine Erscheinung ist. Das phänomenale Erleben<br />
von Substantialität (d.h. eine unabhängige, seinsmäßig autonome<br />
Entität zu sein, die im Prinzip ganz für sich allein existieren könnte),<br />
von Essentialität (d.h. die Existenz einer unveränderlichen Menge<br />
intrinsischer Eigenschaften, die eine transtemporale Identität der Per-
Metzinger: Being No One 429<br />
son definiert) und Individualität (d.h. das Erleben von Einzigartigkeit<br />
und Unteilbarkeit) sind ebenfalls besondere Formen von bewussten,<br />
repräsentationalen Inhalten. Der Besitz dieser Inhalte auf der Ebene<br />
des phänomenalen Erlebens ist im Laufe der Evolution entstanden und<br />
hat sich als vorteilhaft erwiesen. Er ist aber als solcher (also als phänomenaler<br />
Inhalt) epistemisch nicht gerechtfertigt. Aus der Struktur unseres<br />
inneren Erlebens als solcher lässt sich noch kein Erkenntnisanspruch<br />
ableiten.<br />
Damit läuft die Position der SMT eindeutig unseren tiefsten Intuitionen<br />
zuwider: Während des ständig ablaufenden Vorgangs der bewussten<br />
Erfahrung, die unser normales Leben im Wachen und im Traum<br />
charakterisiert, ist immer ein Selbst gegenwärtig. Wenn man von Sonderfällen<br />
wie bestimmten spirituellen Erfahrungen und schweren psychiatrischen<br />
Störungen einmal absieht, dann gilt, dass Menschen sich<br />
immer als jemand erleben. Die Phänomenologie des Jemand-Seins wird<br />
nicht nur begleitet von dem Wissen, dass man ein Selbst ist, sondern<br />
sogar von dem Wissen, dass man dies weiß. Das Erleben von Gewissheit,<br />
das subjektive Wissen, dass man weiß, ist natürlich genau ein Ausdruck<br />
der Transparenz phänomenaler Repräsentationen, die wir bereits<br />
kennen gelernt haben. Ein Hauptziel der vorliegenden Theorie besteht<br />
deshalb darin, zu erklären, wie genau die eigene personale Identität<br />
und die mit ihr verbundene Selbstgewissheit bezüglich der eigenen<br />
Existenz im bewussten Erleben erscheinen kann. Was ist erforderlich,<br />
um mit begrifflicher Notwendigkeit den Schritt von der repräsentationalen<br />
Eigenschaft des Selbstmodellierens zu der bewusst erlebten<br />
phänomenalen Eigenschaft der „Selbstheit“ oder eines vorbegrifflichen<br />
„Ich-Gefühls“ zu vollziehen?<br />
Ich behaupte, dass die Erfüllung der Transparenzbedingung das entscheidende<br />
definierende Merkmal ist: Wenn ein gegebenes repräsentationales<br />
System alle anderen notwendigen und hinreichenden Bedingungen<br />
für die Entstehung des phänomenalen Erlebens erfüllt, dann<br />
führt das Hinzufügen eines transparenten Selbstmodells notwendigerweise<br />
zum Auftreten eines phänomenalen Selbst. Die Transparenz des<br />
Selbstmodells ist damit, wieder in erkenntnistheoretischer Hinsicht,<br />
eine besondere Form von innerer Dunkelheit. Sie besteht darin, dass<br />
der repräsentationale Charakter der Inhalte des Selbstbewusstseins der<br />
subjektiven Erfahrung selbst nicht zugänglich ist. Die Phänomenologie<br />
der transparenten Selbstmodellierung ist deshalb die Phänomenologie<br />
des Jemand-Seins. Es ist die Phänomenologie eines Systems,<br />
das in einem naiv-realistischen Selbstmissverständnis gefangen ist.<br />
Natürlich kann sich auch ein System, dass kein substantielles Selbst<br />
besitzt, in dem Sinne selbst missverstehen, dass es später sein eigenes<br />
phänomenales Erleben als die tatsächliche Existenz eines cartesianischen
430 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
Selbst voraussetzend fehlinterpretiert. Das phänomenale Ich-Gefühl<br />
entsteht somit aus der autoepistemischen Geschlossenheit in einem<br />
selbstrepräsentierenden System; es ist eine Funktion, die durch einen<br />
funktional blockierten Zugriff, durch einen Mangel an Information realisiert<br />
ist. Deshalb erleben wir die Inhalte unseres Selbstbewusstseins<br />
nicht als die Inhalte eines in uns ablaufenden repräsentationalen Vorgangs,<br />
sondern einfach als uns selbst, hier und jetzt in der Welt anwesend.<br />
1.3 Die bewusst erlebte Perspektive der ersten Person<br />
Die Existenz eines kohärenten Selbstrepräsentats 1 führt zum ersten Mal<br />
eine Selbst-Welt-Grenze in das Realitätsmodell des Systems ein. Zum<br />
ersten Mal ist damit systembezogene Information global als systembezogene<br />
Information verfügbar, weil der Organismus nun ein internes<br />
Bild seiner selbst als eines Ganzen besitzt, als einer distinkten Entität<br />
mit globalen Eigenschaften. Auf der anderen Seite kann er sich nun<br />
erstmals auf umweltbezogene Information als Nicht-Selbst beziehen.<br />
Objektivität entsteht in einem Zug mit Subjektivität. Die funktionale<br />
Relevanz dieser Art, eine fundamentale Aufteilung des repräsentationalen<br />
Inhalts in zwei allgemeine Klassen vorzunehmen, liegt darin,<br />
dass sie die notwendige Vorbedingung für die Aktivierung komplexerer<br />
Formen phänomenalen Inhalts bildet: Beziehungen zwischen dem<br />
Organismus und verschiedenen Objekten in seiner Umgebung können<br />
nun das erste Mal bewusst repräsentiert werden. Ein System, das<br />
über kein stabiles, kohärentes Selbstrepräsentat verfügt, ist nicht in<br />
der Lage, intern all jene Aspekte der Wirklichkeit darzustellen, die<br />
mit Subjekt-Welt-Beziehungen, Subjekt-Objekt-Beziehungen und insbesondere<br />
mit Subjekt-Subjekt-Beziehungen verknüpft sind. Nennen<br />
wirdiesdas„Prinzip der phänomenalen Modellierung von Intentionalität“:<br />
Komplexe Information, die sich auf dynamische Subjekt-<br />
Objekt-Beziehungen bezieht, kann nur dann aus der Realität extrahiert<br />
und für eine selektive und flexible Weiterverarbeitung verwendet<br />
werden, wenn ein bewusstes Selbstmodell existiert. Interessanter<br />
Weise findet sich eine tiefere (aber häufig übersehene) phänomenologische<br />
Einsicht über die Struktur der bewussten Sinneswahrnehmung<br />
auch auf den höheren Ebenen des Selbstbewusstseins wieder:<br />
Ein vollständig entfaltetes phänomenales Selbstbewusstsein beinhaltet<br />
1 Zur Terminologie: Das „Repräsentandum“ ist das Objekt der Repräsentation. Das<br />
„Repräsentat“ ist der konkrete interne Zustand, der die auf dieses Objekt bezogene<br />
Information zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Format darstellt.<br />
„Repräsentation“ ist der Prozess, durch den das System als Ganzes diesen Zustand<br />
erzeugt. Das Repräsentat ist somit eine Zeitscheibe des fortlaufenden, physikalisch<br />
realisierten Repräsentationsprozesses.
Metzinger: Being No One 431<br />
immer eine Relation zwischen dem phänomenalen Selbst und einer<br />
Objektkomponente. Der Inhalt eines Wahrnehmungszustandes ist in<br />
Wirklichkeit nicht ein bestimmter Teil der Umwelt, sondern immer<br />
eine Beziehung zu diesem Teil der Umwelt. Dies gilt auch mit Blick auf<br />
innere Umwelten. Die episodische, sich in der Zeit entfaltende Subjekt-<br />
Objekt-Beziehung ist der Inhalt dessen, was ich das „phänomenale<br />
Modell der Intentionalitätsrelation“ nenne (ab hier: PMIR 2 ,vgl.<br />
Abschnitt 4 unten).<br />
Hier sind vier verschiedene Beispiele für solche phänomenalen Zustände<br />
(ausgedrückt in typischen alltagspsychologischen Beschreibungen):<br />
„Ich bin jemand, der gegenwärtig seine visuelle Aufmerksamkeit<br />
auf die Farbe des Buches in seiner Hand richtet“, „Ich bin jemand, der<br />
gerade den Inhalt des Satzes, den er liest, versteht“, „Ich bin jemand,<br />
der gerade das Geräusch des Kühlschranks hinter sich hört“, „Ich bin<br />
jemand, der sich gerade entscheidet, aufzustehen und etwas mehr Saft<br />
zu holen“.<br />
Das zentrale definierende Merkmal phänomenaler Modelle der Intentionalitätsrelation<br />
ist, dass sie eine bestimmte Beziehung als gegenwärtig<br />
bestehend abbilden, und zwar zwischen einem System als Ganzem,<br />
wie es sich transparent sich selbst gegenüber repräsentiert, und<br />
einer Objektkomponente. Es ist leicht erkennbar, wie das PMIR es<br />
dem System ermöglicht, sich selbst nicht nur als Teil einer Welt bewusst<br />
zu erfahren, sondern als völlig in sie eingetaucht mittels eines dichten<br />
Geflechts aus kausalen, perzeptuellen und kognitiven, aus Aufmerksamkeits-<br />
und Handlungsbeziehungen. Der philosophische Kerngedanke<br />
hinter dem Begriff eines PMIR ist, dass das entscheidende Merkmal,<br />
welches die repräsentationale Architektur menschlichen Bewusstseins<br />
kennzeichnet, in der fortlaufenden Korepräsentation der repräsentationalen<br />
Beziehung selbst liegt. Eine subjektive Innenperspektive<br />
entsteht genau dann, wenn wir uns beim Repräsentieren nochmals<br />
auf nicht-begriffliche und transparente Weise als repräsentierend<br />
darstellen.<br />
1.4 Eine eingehendere Betrachtung der SMT<br />
In den verbleibenden Abschnitten werde ich sechs einschränkende<br />
Bedingungen für die Definition von Bewusstsein, des phänomenalen<br />
Selbst und der Perspektive der ersten Person genauer beschreiben.<br />
In BNO werden diese begrifflich-empirischen Auflagen auf den vier<br />
2 Weitere Details finden sich in BNO: Kap. 6, Metzinger 2006; einige Überlegungen zu<br />
möglichen unbewussten, funktionalen Vorläufern im Gehirn des Makaken, in Metzinger<br />
& Gallese 2003.
432 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
wichtigsten Analyseebenen parallel entwickelt: der phänomenologischen<br />
Ebene der Beschreibung (die von der Perspektive der ersten Person ausgeht<br />
und versucht, detaillierte und klare Beschreibungen der betreffenden<br />
Zielphänomene zu geben), der repräsentationalistischen Ebene (die<br />
diese Zielphänomene als Formen repräsentationalen Inhalts analysiert),<br />
der funktionalistischen Ebene (die ihre kausalen Rollen und computationalen<br />
Eigenschaften beschreibt) und der neurobiologischen Ebene (die<br />
an den Stellen, wo dies schon möglich ist, auf potentielle neuronale<br />
Korrelate für den Gegenstandsbereich der biologischen Systeme hinweist).<br />
Aus Platzgründen werde ich hier manchmal gezwungen sein,<br />
einzelne Abschnitte zu überspringen.<br />
2. Sechs einschränkende Bedingungen für Bewusstsein<br />
2.1 Globalität<br />
Die Globalitätsbedingung ist eine differenziertere und besser ausgearbeitete<br />
Version des Begriffs der „globalen Verfügbarkeit“ (siehe Baars<br />
1988, 1997; Chalmers 1997). Mindestens eine wichtige Einschränkung<br />
dieses Prinzips ist bekannt. Auf einen Großteil einfacher sensorischer<br />
Inhalte kann kognitiv nicht Bezug genommen werden, weil das Wahrnehmungsgedächtnis<br />
keine Inhalte erfassen kann, die intern zu feinkörnig<br />
individuiert sind (â B-14). Im Allgemeinen machen jedoch alle<br />
phänomenalen Repräsentate ihre Inhalte global verfügbar für Aufmerksamkeitslenkung<br />
und motorische Kontrolle, wenn auch nicht unbedingt<br />
für die mentale Begriffsbildung. Eine erste Konsequenz ist, dass es für<br />
den Besitz phänomenaler Zustände nicht notwendig ist, die Fähigkeit<br />
zur mentalen Begriffsbildung oder linguistische Fähigkeiten zu<br />
besitzen. Die Globalitätsbedingung erfordert lediglich, dass individuelle<br />
phänomenale Ereignisse immer in einen globalen situativen Kontext<br />
eingebunden sind (eine mögliche Ausnahme könnte der akinetische<br />
Mutismus darstellen; siehe die Diskussion in BNO Kap. 6 & 8,<br />
und Metzinger 2006). In der Terminologie der vorliegenden Theorie<br />
heißt dies, dass individuelle bewusste Zustände in den Standardsituationen<br />
immer Teil eines bewussten Weltmodells sind. Wir können<br />
diese Bedingung von der subpersonalen Ebene auf die personale Ebene<br />
heben, indem wir sagen: Eine Welt existiert für eine Person genau<br />
dann, wenn sie über Bewusstsein verfügt, und genau dann, wenn sie<br />
über Bewusstsein verfügt, kann sie die Tatsache, dass sie tatsächlich<br />
in einer Welt existiert, für sich selbst sowohl kognitiv als auch in der<br />
Handlungskontrolle verfügbar machen.<br />
2.1.1 Die Phänomenologie globaler Verfügbarkeit. Die Inhalte bewusster<br />
Erfahrung werden durch meine Fähigkeit charakterisiert, mit
Metzinger: Being No One 433<br />
einer Vielzahl mentaler und körperlicher Fähigkeiten direkt auf sie zu<br />
reagieren: Ich kann meine Aufmerksamkeit auf eine wahrgenommene<br />
Farbe richten oder auf eine Körperempfindung, um sie näher zu untersuchen<br />
(„attentionale Verfügbarkeit“). Zumindest in einigen Fällen kann<br />
ich Gedanken über diese bestimmte Farbe bilden. Ich kann versuchen,<br />
eine kategoriale Repräsentation, einen Begriff auszubilden („Verfügbarkeit<br />
für phänomenale Kognition“), der sie mit früheren Farberfahrungen<br />
assoziiert („Verfügbarkeit für das autobiographische Gedächtnis“) und<br />
ich kann mit anderen Menschen über Farbe kommunizieren, indem ich<br />
Sprache verwende („Verfügbarkeit für die Kommunikation“). Ich kann<br />
farbige Objekte ergreifen und sie nach ihren phänomenalen Eigenschaften<br />
sortieren („Verfügbarkeit für die Handlungskontrolle“). Kurz: Globale<br />
Verfügbarkeit ist eine alles durchdringende funktionale Eigenschaft<br />
meiner Bewusstseinsinhalte, die ich selbst, also als solche noch einmal<br />
subjektiv erlebe, und zwar als meine eigene Flexibilität und Autonomie<br />
in der Interaktion mit diesen Inhalten.<br />
2.1.2 Globalität als repräsentationale Eigenschaft. Phänomenale<br />
Repräsentate sind durch die Tatsache gekennzeichnet, dass ihr intentionaler<br />
Inhalt direkt für die weitere Verarbeitung durch subsymbolische<br />
Mechanismen wie die Aufmerksamkeit oder das implizite Gedächtnis<br />
verfügbar ist, gleichzeitig aber auch für die mentale Begriffsbildung, für<br />
Metakognition und verbales Berichten, für die Planung oder auch für<br />
motorische Simulationen mit unmittelbaren Verhaltenskonsequenzen.<br />
Ihre Globalität besteht darin, dass sie zu jedem Zeitpunkt in ein funktional<br />
aktives Modell der Welt eingebettet sind (Yates 1985), in eine<br />
einzige, übergeordnete und kohärente Repräsentation der Realität als<br />
Ganzer. Auf der repräsentationalistischen Beschreibungsebene sind insbesondere<br />
drei Aspekte dieses Weltmodells von besonderem Interesse:<br />
die numerische Identität der Realität, welche durch das Weltmodell<br />
dargestellt wird, seine Kohärenz und die kontinuierliche dynamische<br />
Integration einzelner Inhalte, auf der diese Kohärenz beruht.<br />
2.1.3 Globalität auf der funktionalen Analyseebene: Die Erzeugung<br />
einer inneren Welt als eine informationale/computationale<br />
Strategie. Es gibt im Gehirn keine wirklich „letzte“ Stufe der Informationsverarbeitung.<br />
Aber die Erzeugung eines einzigen kohärenten<br />
Weltmodells ist eine Strategie zur Reduktion von Ambiguität, die<br />
ihren Ursprung im überschießenden Informationsreichtum der externen<br />
Welt hat, in der es von Doppeldeutigkeiten und vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten<br />
nur so wimmelt. Gleichzeitig führt dies zu einer<br />
Datenreduktion: Die Informationsmenge, die für das System unmittelbar<br />
zur Verfügung steht, z.B. für die Auswahl von motorischen<br />
Prozessen oder die willentliche Steuerung der Aufmerksamkeit, wird
434 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
minimiert. Dadurch wird die computationale Last für all jene Mechanismen<br />
verringert, die auf dem phänomenalen Weltmodell operieren.<br />
Die funktionalistische Lesart unserer ersten Bedingung lautet folgendermaßen:<br />
Mit begrifflicher Notwendigkeit sind phänomenale Repräsentate<br />
die Gegenstände einer höchststufigen Integrationsfunktion.<br />
Diese Funktion bindet eine große Zahl mikrokausaler Beziehungen<br />
auf dynamische Weise zu einer einzigen, einheitlichen und distinkten<br />
kausalen Rolle. An anderer Stelle habe ich für diese Hypothese ein spekulatives<br />
Konzept eingeführt, das die Bildung eines ganzheitlichen Realitätsmodells<br />
als eine Form der globalen Metarepräsentation beschreibt,<br />
das Konzept des „highest-order binding“ oder kurz HOB (Metzinger<br />
1995). Nachdem sie in das phänomenale Weltmodell integriert wurden,<br />
können repräsentationale Zustände in kurzen Zeiträumen und auf<br />
eine kontextsensitive, flexible Art und Weise mit einer großen Zahl von<br />
spezialisierten Modulen interagieren. Damit erhöhen sie auch die adaptive<br />
Flexibilität des Verhaltensprofils des Systems. Je mehr Information<br />
bewusst repräsentiert wird, desto größer wird auch der Grad der Flexibilität<br />
und der Kontextsensitivität in den Reaktionen des Systems auf<br />
die Umwelt sein, da viele verschiedene funktionale Module nun gleichzeitig<br />
auf diese Information zugreifen und sie direkt benutzen können,<br />
um in differenzierter Weise auf Herausforderungen aus der Umwelt zu<br />
reagieren. Globale Lernvorgänge und eine Aktualisierung des Weltmodells<br />
in einem einzigen Schritt werden nun möglich. Aber es eröffnen<br />
sich auch neue kognitive Dimensionen: Nur wenn man die Erfahrung<br />
einer einheitlichen Welt besitzt, die in diesem Augenblick gegenwärtig<br />
ist, kann man den Begriff einer einzigen Realität bilden. In unserem eigenen<br />
Fall macht das Weltmodell sogar den Unterschied zwischen Sein<br />
und Erscheinung, zwischen der Wirklichkeit und ihrer Repräsentation<br />
noch einmal für Aufmerksamkeitslenkung und Kognition verfügbar.<br />
2.1.4 Neuronale Korrelate einer globalen Integrationsfunktion.<br />
Bisher existieren noch keine detaillierten Theorien über mögliche neuronale<br />
Korrelate, vor allem nicht über minimal hinreichende Korrelate<br />
(Chalmers 2000; â B-15) für die Entstehung eines kohärenten,<br />
bewussten Weltmodells. Allerdings gibt es eine Reihe interessanter spekulativer<br />
Hypothesen.<br />
Eine erste zentrale Intuition war es, die Mechanismen zu untersuchen,<br />
die verschiedenen Anästhetika gemeinsam sind, d.h. die Bedingungen<br />
zu studieren, unter denen phänomenale Erfahrung als ganze<br />
verschwindet und wiederkehrt. 3 Eine zweite wichtige Einsicht ist, dass<br />
3 Weitere Literaturangaben und eine neuere Diskussion der möglichen Rolle des<br />
NMDA-Rezeptor-Komplexes bei der Integration räumlich weit verteilter neurona-
Metzinger: Being No One 435<br />
die Globalitätsbedingung für zwei grundlegend verschiedene Klassen<br />
phänomenaler Zustände gilt: für Träume (siehe BNO, Abschnitt 4.2.5)<br />
und für Wachzustände. Genau wie in normalen Wachphasen operiert<br />
das System im Traumzustand unter einem einzigen, mehr oder weniger<br />
kohärenten Weltmodell, während sich seine globalen funktionalen<br />
Eigenschaften stark unterscheiden. Rodolfo Llinás und seine Mitarbeiter<br />
haben seit längerem darauf hingewiesen, dass eine der fruchtbarsten<br />
Strategien bei der Suche nach einem allgemeinen und globalen neuronalen<br />
Korrelat von Bewusstsein darin bestehen könnte, bestimmte globale<br />
Eigenschaften des Weltmodells im Wachen von dem im Träumen zu<br />
„subtrahieren“ und so einen gemeinsamen neurophysiologischen Nenner<br />
oder globale funktionale Eigenschaften zu entdecken, die eine generelle<br />
Äquivalenz zwischen den phänomenalen Erfahrungen des REM-<br />
Schlafs und des Wachens aufweisen (Llinás und Paré 1991: 522ff). Kritiker<br />
haben darauf hingewiesen, dass der Traumzustand bei näherem<br />
Hinsehen doch sehr verschieden vom eigentlichen Zielphänomen ist<br />
(z.B. besitzt er keine stabile Erste-Person-Perspektive). Interessant ist<br />
jedoch, dass die Intuition hinter diesem neurowissenschaftlichen Forschungsprogramm<br />
klare philosophische Züge zeigt: Was wir unser<br />
waches Leben nennen, ist in Wirklichkeit eine Form von „Online-<br />
Traum“. Falls es eine gemeinsame funktionale Basis für beide globale<br />
Zustandsklassen gibt, dann wäre der bewusste Wachzustand lediglich<br />
ein traumähnlicher Zustand, in dem die autonome innere Aktivität des<br />
Systems fortlaufend durch die Einschränkungen moduliert würde, die<br />
sich aus dem aktuellen sensorischen Input ergeben (Llinás und Ribary<br />
1993, 1994; Llinás und Paré 1991). Ein spezifischer Kandidat für eine<br />
globale Integrationsfunktion, den Llinás und seine Kollegen nennen,<br />
ist eine rostrokaudale Phasenverschiebung der 40Hz-Aktivität in einer<br />
Größenordnung von 12ms, die in enger Verbindung mit synchronen<br />
Aktivitätsmustern des thalamokortikalen Systems steht und ihrerseits<br />
durch den Hirnstamm moduliert wird. 4<br />
Die Strategie, sich der Globalitätsbedingung dadurch anzunähern,<br />
dass man (wie ursprünglich in Metzinger 1995 vorgeschlagen) global<br />
kohärente Zustände untersucht, führt zu einer neuen Art, Forschungsziele<br />
in der computationalen Neurowissenschaft zu definieren (vgl. etwa<br />
von der Malsburg 1997). Man darf aber nicht übersehen, dass das, was<br />
ler Aktivität finden sich in Flohr 2000, Franks und Lieb 2000, Hardcastle 2000 und<br />
Andrade 2000.<br />
4 Die ausführlichste Darstellung von Llinás’ thalamokortikalen Modell findet sich in<br />
Llinás und Paré 1991, S. 531; siehe auch Llinás und Ribary 1992; Llinás, Ribary, Joliot<br />
und Wang 1994; Llinás und Ribary 1998; Llinás, Ribary, Contreras und Pedroarena<br />
1998.
436 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
in Wirklichkeit benötigt wird, ein theoretisches Modell ist, das es uns<br />
erlaubt, globale neuronale Eigenschaften zu beschreiben, die ein hohes<br />
Maß an Integration und Differenzierung gleichzeitig aufweisen. Das<br />
neuronale Korrelat des globalen, bewussten Modells der Welt muss<br />
ein weit verteilter Vorgang sein, der als die Realisierung eines funktionalen<br />
Clusters beschrieben werden kann, welcher eine hohe interne<br />
Korrelation zwischen seinen Elementen mit der Existenz klar umschriebener<br />
funktionaler Grenzen verbindet. Dieser Cluster entspricht dann<br />
unmittelbar der oben erwähnten distinkten kausalen Rolle. Edelman<br />
und Tononi haben dies die „dynamic core hypothesis“ genannt. 5 Die<br />
Hypothese des dynamischen Kernzustandes besagt, dass eine Gruppe<br />
von Neuronen nur dann direkt den Inhalt des bewussten Erlebens mitbestimmen<br />
kann, wenn sie in einen dynamischen Kernzustand eingebettet<br />
ist, der durch stark rückgekoppelte Wechselwirkungen innerhalb<br />
des thalamokortikalen Systems innerhalb eines Zeitraums von wenigen<br />
hundert Millisekunden eine hohe Integration erreicht. Gleichzeitig ist<br />
es aber wesentlich, dass dieser funktionale Cluster intern einen hohen<br />
Grad an Komplexität besitzt. Eine Reihe von konvergierenden Befunden<br />
legen inzwischen das folgende Bild nah: die Integration von Information<br />
über große Reichweiten wird im Gehirn durch transiente dynamische<br />
Kopplungen auf der Grundlage von neuronaler Synchronizität<br />
in multiplen Frequenzbändern hergestellt (Varela, Lachaux, Rodriguez<br />
und Martinerie 2001, Singer 2004).<br />
Diese Perspektive auf die Art und Weise, wie die Globalitätsbedingung<br />
auf der neuronalen Ebene erfüllt sein könnte, ist philosophisch aus<br />
einer Reihe von Gründen interessant. Erstens macht sie die Voraussage,<br />
dass jedes biologische System, das unter einem bewussten Realitätsmodell<br />
operiert, durch die Existenz eines einzigen Bereichs maximaler<br />
kausaler Dichte innerhalb seiner Informationsverarbeitungsmechanismen<br />
charakterisiert werden kann. Ein integriertes, globales Modell der<br />
Welt zu haben, bedeutet dann, einen globalen funktionalen Cluster<br />
zu erzeugen, also eine Insel maximaler kausaler Dichte innerhalb des<br />
Informationsflusses des eigenen repräsentationalen Systems. Philosophischen<br />
Funktionalisten (â L-11 – L-13) wird dieser Ansatz gefallen,<br />
weil er eine spezifische, globale und funktionale Eigenschaft anbietet,<br />
durch die die globale phänomenale Eigenschaft der Einheit des<br />
Bewusstseins realisiert sein könnte. Das, was wir subjektiv erleben,<br />
wenn wir unsere Welt als kohärent erleben, ist die hohe interne Korrelation<br />
einer Teilmenge der physikalischen Ereignisse in unserem Gehirn.<br />
5 Vgl. Tononi und Edelman 1998a, b; Edelmann und Tononi 2000a, Tononi 2003; für eine<br />
umfassende, auch für den Nicht-Fachmann verständliche Darstellung siehe Edelmann<br />
und Tononi 2000b.
Metzinger: Being No One 437<br />
Zweitens ist es interessant festzustellen, dass der große Neuronenverband,<br />
der jeweils den dynamischen Kernzustand des Gehirns eines<br />
Organismus mit einem integrierten bewussten Realitätsmodell ausmacht,<br />
höchstwahrscheinlich zu jedem Zeitpunkt ein anderer ist. Die<br />
physikalische Zusammensetzung dieses Kernzustandes wechselt von<br />
Millisekunde zu Millisekunde. Zu jedem bestimmten Zeitpunkt gibt<br />
es ein globales, minimal hinreichendes Korrelat des Bewusstseins, aber<br />
im nächsten Augenblick hat diese neuronale Realisierung sich bereits<br />
leicht verändert, weil der Bewusstseinscluster lediglich eine funktionale<br />
Grenze konstituiert, die anatomische Grenzen von Moment zu<br />
Moment mit Leichtigkeit überspringen kann. Drittens ist festzustellen,<br />
dass der informationale Inhalt des dynamischen Kerns zu einem<br />
höheren Grad durch interne Information bestimmt wird, die bereits<br />
vorher im System aktiv ist, als durch externe Stimuli. So entsteht<br />
ein allgemeines Bild des bewussten Realitätsmodells als eines essentiell<br />
internen Konstrukts, das von externen Ereignissen lediglich perturbiert,<br />
also gestört und dadurch gezwungen wird, sich in immer neue stabile<br />
Zustände hineinzubewegen.<br />
Kurz gesagt kann es in einem System eine Vielzahl von funktionalen<br />
Bündeln oder Ganzheiten geben – individuelle und episodisch<br />
unteilbare, weil integrierte neuronale Prozesse – und typischerweise<br />
gibt es eine einzige, größte und dem gegenwärtigen bewussten Modell<br />
der Welt zugrunde liegende Insel maximaler kausaler Dichte. „Unteilbar“<br />
bedeutet hier, dass – obwohl man aus der Perspektive der dritten<br />
Person noch eine kausale Feinstruktur finden könnte, die die fragliche<br />
Menge von Ereignissen charakterisiert, die durch einen solchen<br />
Prozess integriert werden – diese doch für einen gewissen Zeitraum<br />
für das System selbst, in dem sie auftreten, unteilbar sind. Denn die<br />
dynamische Kohärenz dieser Bündel oder Ganzheiten ist etwas, das<br />
vom System mittels seiner eigenen Ressourcen der kausalen Interaktion<br />
nicht aufgelöst werden könnte. Dies berührt allerdings noch nicht<br />
die philosophische Frage, was genau es ist, das diesen Cluster zu der<br />
subjektiven Welt macht, in der der Organismus sein bewusstes Leben<br />
lebt. Es ist plausibel anzunehmen, dass dieser Cluster typischerweise zu<br />
jedem Zeitpunkt der größte Cluster ist (eine andere Ansicht vertreten<br />
Zeki und Bartels 1998). Dennoch bleibt die Frage bestehen, wie ein<br />
solcher Cluster mit einer individuellen Erste-Person-Perspektive verbunden<br />
sein kann, mit einer Repräsentation des Systems selbst, und<br />
wie er dadurch ein wirklich subjektives globales Modell der Realität<br />
wird (vgl. die Perspektivitätsbedingung in BNO: Abschnitt 3.2.6 und<br />
Kap. 6, sowie Abschnitt 4 unten).
438 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
2.2 Gegenwärtigkeit<br />
Die Welt, die mir erscheint, tut dies indem sie gegenwärtig ist. Möglicherweise<br />
ist die Erfahrung von Gegenwärtigkeit, die unser phänomenales<br />
Modell der Realität begleitet, ein zentraler Aspekt, der nicht<br />
im Husserlschen Sinne „eingeklammert“ werden kann: Sie ist sozusagen<br />
die temporale Unmittelbarkeit der Existenz als solcher.Wennwir<br />
das globale Merkmal der Gegenwärtigkeit von unserem phänomenalen<br />
Weltmodell subtrahieren, subtrahieren wir schlichtweg seine Existenz.<br />
Wenn es keinen stabilen phänomenalen Inhalt mehr gäbe, der als Inhalt<br />
eines Jetzt definiert wäre, dann würden wir bewusstes Erleben insgesamt<br />
subtrahieren. Die Welt würde uns nicht mehr erscheinen.Betrachtenwir<br />
diesen Zusammenhang etwas genauer.<br />
William James (1842–1910)<br />
Kurz gesagt ist die praktisch erkannte<br />
Gegenwart nicht scharf wie<br />
die Klinge eines Messers, sondern<br />
wie ein Sattel, dessen Oberfläche<br />
eine bestimmte Breite besitzt, auf<br />
dem wir sitzen und in zwei Richtungen<br />
in die Zeit schauen. Die<br />
kleinste Einheit, aus der sich unsere<br />
Zeitwahrnehmung aufbaut, ist eine<br />
Dauer, die sozusagen einen Bug<br />
und ein Heck besitzt, ein nach hinten<br />
gerichtetes Ende und ein nach<br />
vorne schauendes. Die Beziehung<br />
der Aufeinanderfolge zwischen den<br />
beiden Enden kann nur als Teil<br />
dieses Dauerblocks wahrgenommen<br />
werden. Wir erleben nicht<br />
erst das eine Ende und danach das<br />
andere und erschließen dann ein<br />
dazwischen liegendes Zeitintervall,<br />
sondern wir scheinen das Zeitintervall<br />
als ein Ganzes zu erleben,<br />
in das seine beiden Enden bereits<br />
eingebettet sind.<br />
(Übersetzung Thomas Metzinger)<br />
The Principles of Psychology (New<br />
York 1950 [1890])<br />
Kapitel 15<br />
2.2.1 Die Phänomenologie des Gegenwartserlebens. Etwas bewusst<br />
zu erfahren bedeutet in einer Gegenwart zu sein. Esheißt,dassich<br />
Information verarbeite, indem ich wiederholt und fortlaufend einzelne<br />
Ereignisse, die als solche bereits repräsentiert sind, in größere zeitliche<br />
Gestalten integriere, d.h. in einen einzigen psychologischen Augenblick.<br />
Was ist ein bewusster Augenblick? Die phänomenale Erfahrung<br />
von Zeit im Allgemeinen besteht aus einer Reihe wichtiger Leistungen:<br />
der phänomenalen Repräsentation zeitlicher Identität (erlebter Simultaneität),<br />
zeitlicher Unterschiedlichkeit (erlebter Nicht-Simultaneität),<br />
Serialität (die Ordnung des Nacheinander) und der Unidirektionalität<br />
(die einheitliche Gerichtetheit der erlebten Abfolge von Ereignissen),<br />
der Erzeugung einer zeitlichen Ganzheit (einer ausgedehnten, einheitlichen<br />
Gegenwart, einem phänomenalen Jetzt im Sinne von William<br />
James’ ‚specious present‘) und schließlich der Repräsentation von zeitlicher<br />
Permanenz (d.h. der Erfahrung von Dauer). Der entscheidende<br />
Übergang zum subjektiven Erleben, d.h. zu einer genuin phänomenalen<br />
Repräsentation von Zeit findet ab dem vorletzten Schritt statt:<br />
Nämlich wenn Repräsentationen von Einzelereignissen fortlaufend in<br />
ineinander eingebettete psychologische Augenblicke integriert werden.<br />
Die kritische Eigenschaft, die begrifflich so schwer zu fassen ist,<br />
besteht darin, dass wir eine voll entfaltete Gegenwart als eingebettet<br />
in einen gerichteten Fluss erleben können, also die Erfahrung einer<br />
Überlagerung von Präsenz und Dauer. Es existieren zeitliche Gestalten,<br />
Inseln aus individuell charakterisierten Momenten, aber der Hintergrund<br />
vor dem diese Inseln sowohl unterschieden als auch inhaltlich<br />
verkettet werden, ist selbst nicht statisch, sondern besitzt eine Richtung.<br />
2.2.2 Phänomenales Gegenwartserleben ist eine Form repräsentationalen<br />
Inhalts de nunc. Wenn wir uns der repräsentationalistischen<br />
Beschreibungsebene zuwenden, stellen wir fest, dass der phänome-
Metzinger: Being No One 439<br />
nale Prozess der Repräsentation nicht nur räumliche, sondern auch<br />
zeitliche Internalität hervorbringt: Phänomenaler Inhalt besitzt einen<br />
spezifischen de-nunc-Charakter. Er erscheint immer in einem Jetzt. Ein<br />
zentraler Punkt, den es zu beachten gilt, wenn man zu der Perspektive<br />
der dritten Person zurückkehrt, ist, dass die physikalische Welt<br />
„jetzt-los“ ist, ebenso wie sie vergangenheitslos und zukunftslos ist.<br />
Eine vollständige physikalische Beschreibung des Universums enthielte<br />
keine Information darüber, welcher Zeitpunkt „jetzt“ ist, noch eine<br />
Analyse von Zeit als einem unidirektionalen Phänomen. Im Gegensatz<br />
dazu besitzt die bewusste Erfahrung von Zeit immer eine indexikalische<br />
Komponente im zeitlichen Gegenstandsbereich. DieseArt<br />
von mentalem Inhalt ist simulational: Es ist keine epistemisch gerechtfertigte<br />
Art von Inhalt, da er streng genommen kein Wissen über den<br />
gegenwärtigen Zustand der tatsächlichen Welt beinhaltet. Obwohl wir<br />
uns subjektiv als in direktem und unmittelbarem Kontakt mit dem<br />
„Jetzt“ erleben, besagen alle empirischen Befunde, dass streng genommen<br />
alle bewusste Erfahrung eine Form von Erinnerung ist. Durch<br />
phänomenale Weltmodelle repräsentierte Information wird dem Subjekt<br />
der Erfahrung immer als aktuelle Information präsentiert. Aus der<br />
Perspektive der dritten Person ist diese Form temporaler Internalität<br />
aber eine simulationale Fiktion.<br />
2.2.3 Das Gegenwartsfenster als funktionale Eigenschaft. Allgemein<br />
gesprochen erlaubt kein rein datengetriebenes Weltmodell explizite<br />
Vorhersagen in der Zeit (Cruse 1999). Nur zusätzliche, rekurrente<br />
Netzwerke gestatten die Erzeugung zeitabhängiger Zustände.<br />
Die Repräsentation eines „Jetzt“ ist die einfachste Form einer expliziten<br />
Zeitrepräsentation, z.B. als einer rekurrenten Schleife mit einer<br />
gewissen Zerfallsfunktion. Es scheint deshalb, als bildete die Modellierung<br />
des Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnisses das Kernstück jeder<br />
kognitivistischen oder funktionalistischen Analyse der Gegenwärtigkeitsbedingung<br />
für phänomenale Inhalte.<br />
2.2.4 Neuronale Korrelate des Gegenwartsfensters. Man weiß jedoch<br />
wenig über die Details der Implementierung. In einer Reihe<br />
von Veröffentlichungen hat Ernst Pöppel betont, wie bestimmte empirisch<br />
gut dokumentierte oszillatorische Phänomene im Gehirn als fester<br />
interner Rhythmus für interne Informationsverarbeitung fungieren<br />
könnten, indem sie sogenannte „elementary integration units“ (EIUs;<br />
dies ist Pöppels Terminologie, siehe Pöppel 1994, 1995 und auch 1998)<br />
erzeugen. Das Hervorbringen solcher EIUs kann man wieder als Prozess<br />
der internen Datenreduktion interpretieren: Das System löscht<br />
Information über seine eigene physikalische Prozessualität, indem es<br />
die zeitlichen Beziehungen zwischen Elementen, die innerhalb eines
440 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
solchen basalen Fensters von Simultaneität auftreten, undefiniert lässt.<br />
Philosophisch ausgedrückt könnte man sagen, dass die physikalische<br />
Temporalität der tatsächlichen Träger des elementaren repräsentationalen<br />
Vorgangs nicht mehr auf der Ebene ihres Inhalts reflektiert wird.<br />
Die Feinstruktur der physikalischen Zeit und damit die Entstehung des<br />
internen Jetzt ist nunmehr für das System unsichtbar, weil sie transparent<br />
wird (BNO: Abschnitt 3.2.7).<br />
2.3 Transparenz<br />
Phänomenale Transparenz ist mit Sicherheit eine der (wenn nicht die)<br />
wichtigste Bedingung auf der Suche nach einem fundamentaleren theoretischen<br />
Verständnis danach, was phänomenales Erleben in Wirklichkeit<br />
ist. Deshalb sollte man sorgfältig darauf bedacht sein, eine<br />
begriffliche Vermischung mit anderen bereits bestehenden Begriffen<br />
von „Transparenz“ zu vermeiden (BNO: Abschnitt 3.2.6 und Metzinger<br />
2003 für weitere Details).<br />
Eine heute weithin geteilte Standarddefinition phänomenaler Transparenz<br />
besagt, dass sie darin besteht, dass nur Inhaltseigenschaften<br />
einer bewussten mentalen Repräsentation für die introspektive Aufmerksamkeit<br />
6 verfügbar sind, nicht aber ihre nicht-intentionalen oder<br />
„Träger-Eigenschaften“. In der Gegenwartsdiskussion wird typischerweise<br />
angenommen, dass Transparenz in diesem Sinne eine Eigenschaft<br />
aller phänomenalen Zustände ist.<br />
Diese Definition – vor allem ihr zu stark verallgemeinerter Gebrauch<br />
– ist jedoch unbefriedigend, weil sie wichtige phänomenologische<br />
Bedingungen verletzt: Die Abwesenheit introspektiver Verfügbarkeit<br />
von Trägereigenschaften ist keine notwendige Bedingung für Phänomenalität,<br />
da nicht-intentionale und Träger-Eigenschaften häufig tatsächlich<br />
der Introspektion zugänglich sind. Erstens muss man verstehen,<br />
dass Transparenz in dem hier verwendeten Sinne ausschließlich<br />
eine Eigenschaft bewusster Zustände ist: unbewusste repräsentationale<br />
Zustände sind in diesem Sinne weder transparent noch opak. Zweitens<br />
muss man erkennen, dass Transparenz – obwohl von zentraler<br />
Bedeutung für ein tieferes philosophisches Verständnis phänomenaler<br />
Subjektivität – keine notwendige Eigenschaft bewusster Zustände ist.<br />
Nicht alle phänomenalen Zustände sind transparent – Transparenz ist<br />
eine graduelle Eigenschaft.<br />
Lassen Sie mich meine eigene Arbeitsdefinition von phänomenaler<br />
Transparenz einführen: Transparenz liegt genau dann vor, wenn frühere<br />
6 Im Interesse der Kürze vereinfache ich den Sachverhalt hier, vielleicht etwas zu stark.<br />
In BNO (S. 36) unterscheide ich vier verschiedene Begriffe von Introspektion.
Metzinger: Being No One 441<br />
Verarbeitungsstufen ihrerseits für die Verarbeitung durch die Aufmerksamkeit<br />
nicht verfügbar sind. Transparenz ergibt sich aus einer funktionalen<br />
Eigenschaft der neuronalen Informationsverarbeitung in unserem<br />
Gehirn, die häufig frühere Verarbeitungsschritte für die Aufmerksamkeit<br />
nicht verfügbar macht. Unter SMT geht es ausschließlich um<br />
phänomenale Transparenz, d.h. unbewusste Repräsentationen sind<br />
weder transparent noch opak. Dies bedeutet, dass Transparenz eine<br />
Eigenschaft aktiver mentaler Repräsentationen ist, die bereits die minimal<br />
hinreichenden Bedingungen für bewusstes Erleben erfüllen. Insbesondere<br />
werden phänomenal transparente Repräsentationen immer<br />
innerhalb eines virtuellen Gegenwartsfensters aktiviert und sind funktional<br />
in ein einheitliches, globales Modell der Welt integriert.<br />
In diesem Zusammenhang ist die folgende Tatsache von besonderem<br />
philosophischen Interesse: Je mehr frühere Verarbeitungsstufen<br />
und je mehr frühere Aspekte des internen Konstruktionsprozesses,<br />
die zu dem endgültigen, expliziten und disambiguierten phänomenalen<br />
Inhalt führen, der introspektiven Aufmerksamkeit zugänglich<br />
sind, desto mehr wird das System in der Lage sein, diese phänomenalen<br />
Zustände als interne, selbst erzeugte Konstrukte zu erkennen.<br />
Vollständige Transparenz bedeutet vollständiges Fehlen der Verfügbarkeit<br />
früherer Verarbeitungsschritte für die introspektive Aufmerksamkeit.<br />
Grade der Opazität sind Grade der attentionalen Verfügbarkeit.<br />
Daraus ergibt sich das folgende, allgemeine Prinzip: Für jeden bewussten<br />
Zustand ist der Grad seiner phänomenalen Transparenz umgekehrt<br />
proportional zu dem Grad der introspektiven Verfügbarkeit<br />
früherer Verarbeitungsschritte für die Aufmerksamkeit.<br />
2.3.1 Die Phänomenologie der Transparenz. Was für die bewusste<br />
Erfahrung unzugänglich ist, ist die einfache Tatsache, dass diese Erfahrung<br />
in einem Medium stattfindet. Daher führt die Transparenz phänomenalen<br />
Inhalts zu einem weiteren Merkmal des Erlebens, nämlich<br />
dem subjektiven Eindruck der Unmittelbarkeit. Viele schlechte philosophische<br />
Argumente über direkte Bekanntheit [direct acquaintance],<br />
unfehlbares Wissen der ersten Person und direkte Referenz beruhen<br />
auf einer Äquivokation von epistemischer und phänomenaler Unmittelbarkeit:<br />
Aus der Tatsache, dass das bewusste Erleben, z.B. der Farbe<br />
eines Objektes, die Charakteristika der phänomenalen Unmittelbarkeit<br />
und des direkten Gegebenseins besitzt, folgt nicht, dass irgendeine Art<br />
von unmittelbarem oder direktem Wissen involviert ist.<br />
Viele Autoren beschreiben phänomenale Transparenz als ein Allesoder-Nichts-Phänomen.<br />
Dem bewussten Erleben phänomenologisch<br />
gerecht zu werden erfordert jedoch eine differenziertere Beschreibung.<br />
Sensorisches Erleben ist das paradigmatische Beispiel für vollständig<br />
George Edward Moore (1873–<br />
1958)<br />
(…) die Tatsache, dass wenn wir<br />
uns der Introspektion zuwenden<br />
und zu entdecken versuchen, was<br />
die Empfindung von Blau ist, man<br />
sehr leicht zu der Annahme gelangen<br />
kann, dass das, was wir vor<br />
uns haben, nur einem einzelnen<br />
Ausdruck [single term] entspricht.<br />
Der Ausdruck „blau“ ist ganz leicht<br />
zu unterscheiden, aber das, was ich<br />
„Bewusstsein“ genannt habe – also<br />
das, was eine Blauempfindung mit<br />
einer Grünempfindung gemeinsam<br />
hat – ist extrem schwer festzulegen.<br />
(…) Und ganz allgemein<br />
scheint zu gelten, dass das, was die<br />
Blauempfindung zu einer mentalen<br />
Tatsache macht, sich uns entzieht;<br />
es scheint, wenn ich eine Metapher<br />
verwenden darf, transparent zu sein<br />
– wir schauen durch es hindurch<br />
und sehen nichts als das Blau. Wir<br />
mögen davon überzeugt sein, dass<br />
da etwas ist,aberwas es ist, das hat,<br />
so denke ich, bis jetzt noch kein<br />
Philosoph klar erkannt. (S. 446)<br />
(…) dass in dem Moment, in dem<br />
wir versuchen, unsere Aufmerksamkeit<br />
fest aus das Bewusstsein<br />
zu richten und deutlich zu sehen,<br />
was genauesist,eszuverschwinden<br />
scheint: Es scheint, als hätten<br />
wir vor uns nichts als eine bloße
442 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
Leere. Wenn wir introspektiv auf<br />
die Blauempfindung zuzugreifen<br />
versuchen, dann ist alles, was wir<br />
sehen können, das Blau: Das andere<br />
Element ist als ob es durchsichtig<br />
[diaphanous] wäre. Trotzdem<br />
können wir es unterscheiden, wenn<br />
wir aufmerksam genug schauen,<br />
und wenn wir wissen, dass es da<br />
etwas gibt, nach dem man suchen<br />
kann.<br />
(Übersetzung Thomas Metzinger)<br />
The refutation of idealism [Mind<br />
1903: 450]<br />
transparenten phänomenalen Inhalt. Es gibt jedoch Beispiele sensorischer<br />
Opazität, z.B. während der kurzen Übergangsphasen in bistabilen<br />
Phänomenen, wenn beispielsweise ein bewusst wahrgenommener<br />
Neckerwürfel von einer Interpretation in die andere und zurück wechselt,<br />
oder während des Phänomens des binokularen Wettstreits (siehe<br />
z.B. Leopold und Logothetis 1999). Im bewussten Denken haben wir<br />
ein paradigmatisches Beispiel für Opazität (wir erleben die Tatsache,<br />
dass wir mit Repräsentationen operieren), mit der Ausnahme des manifesten<br />
Tagtraums (bei dem wir genau diese Tatsache nicht mehr subjektiv<br />
erleben). Die Emotionen liegen zwischen den beiden Enden des<br />
Spektrums und weisen eine viel größere Variabilität auf. Diese einfachen<br />
phänomenologischen Beobachtungen weisen auf eine wichtige<br />
funktionale Eigenschaft opaker phänomenaler Repräsentationen hin:<br />
Sie machen die Möglichkeit, dass sie in Wirklichkeit Fehlrepräsentationen<br />
sein könnten, für die Kognition, die Aufmerksamkeit und die<br />
Verhaltenskontrolle global verfügbar.<br />
Wenn man die Phänomenologie von Transparenz und Opazität diskutiert,<br />
sollte man sich vor Augen führen, dass nicht nur individuelle<br />
phänomenale Inhalte einen großen Grad an Variabilität hinsichtlich ihrer<br />
Transparenz aufweisen, sondern dass das Gleiche für globale phänomenale<br />
Weltmodelle gilt. Direkt nach einem Verkehrsunfall oder nach<br />
einem Schockerlebnis kann uns die ganze Welt „irreal“ oder „wie im<br />
Traum“ erscheinen. Das gleiche Phänomen ist aus Stresssituationen und<br />
Übergangsphasen im Rahmen bestimmter psychiatrischer Syndrome<br />
bekannt („Derealisation“). Das beste und grundlegendste Beispiel für<br />
einen fast vollständig opaken globalen phänomenalen Zustand ist allerdings<br />
der luzide Traum (siehe LaBerge und Gackenbach 2000; BNO:<br />
Abschnitt 7.2.5).<br />
Eine der philosophisch interessantesten Fragen an dieser Stelle ist, ob<br />
Transparenz tatsächlich eine notwendige Bedingung für Phänomenalität<br />
ist. Falls dies so ist, wie sind dann die soeben erwähnten Fälle opaker<br />
phänomenaler Repräsentationen zu erklären? Ist darüber hinaus die<br />
von mir gerade gegebene Analyse nicht schon deshalb zirkulär, weil der<br />
Begriff der Transparenz von vornherein als eine Eigenschaft eingeführt<br />
war, die nur phänomenale Repräsentationen besitzen?<br />
Die Antwort auf diese Frage kann ich erst in Abschnitt 3.3 geben,<br />
weil wir erst dann verstehen werden, warum phänomenale Transparenz<br />
wichtig für das Verständnis der Subjektivität unseres Zielphänomens ist.<br />
Lassen Sie uns an dieser Stelle feststellen, dass es so scheinen könnte,<br />
als sei der luzide Traum (also der Traum, bei dem man weiß, dass man<br />
träumt) ein Kandidat für einen globalen Bewusstseinszustand, in dem<br />
alles als Inhalt einer Repräsentation im eigenen Geist erlebt wird, und<br />
der deshalb die Bedingungen 1 und 2 erfüllt, nicht aber die Bedingung 3.
Metzinger: Being No One 443<br />
Bei einer näheren phänomenologischen Analyse zeigt sich jedoch, dass<br />
das bewusst repräsentierte Subjekt des Erlebens, das phänomenale<br />
Selbst des Klarträumers, selbst wiederum nicht als repräsentationaler<br />
Inhalt erscheint – phänomenologisch bleibt seine Realität erhalten.<br />
Es gibt immer noch jemanden, der den Traum hat. Dievorläufige<br />
Schlussfolgerung ist, dass es für jede Form der subjektiven bewussten<br />
Erfahrung einen notwendigen minimalen Grad an Transparenz gibt.<br />
Zu diesem phänomenologischen Punkt und seinen begrifflichen Implikationen<br />
werden wir später zurückkehren (siehe Abschnitt 3.3).<br />
Bevor wir auf die repräsentationalistische Beschreibungsebene absteigen,<br />
muss ich darauf hinweisen, dass es drei wichtige Äquivokationen<br />
und damit auch mögliche Missverständnisse bezüglich des Begriffs<br />
„phänomenale Transparenz“, so wie er hier eingeführt wurde, gibt<br />
(siehe Metzinger 2003 für Details). Erstens ist Transparenz kein epistemologischer<br />
Begriff, sondern ein phänomenologischer. Insbesondere<br />
hat er nichts mit dem cartesianischen Begriff der epistemischen Transparenz<br />
zu tun, der philosophischen Intuition, dass ich mich prinzipiell<br />
nicht über den Inhalt meines eigenen Bewusstseins täuschen kann, der<br />
Idee, dass ein unbemerkter Irrtum beim introspektiven Zugriff auf<br />
die Inhalte des eigenen Geistes logisch unmöglich ist. Darüber hinaus<br />
wird Transparenz hier als eine Eigenschaft phänomenaler Repräsentationen<br />
in einem subsymbolischen Medium angesehen, d.h. als Eigenschaft<br />
nicht-linguistischer Entitäten in einer empirisch plausiblen Theorie<br />
mentaler Repräsentation, und nicht als Eigenschaft eines Kontextes.<br />
Die zweite potentielle Äquivokation ist nämlich die Extensionalitätsäquivokation:<br />
Transparenz als eine Eigenschaft von extensionalen<br />
(d.h. referentiell transparenten) Kontexten ist etwas völlig anderes.<br />
Phänomenale Transparenz kann es auch in Wesen ohne linguistische<br />
Fähigkeiten geben, denen auch jede Form der symbolischen, kognitiven<br />
Referenz fehlt. Es gibt eine dritte, bereits etablierte Verwendung des<br />
Begriffs der „Transparenz“, die ebenfalls nicht mit dem hier intendierten<br />
Begriff verwechselt werden sollte: In der Kommunikationstheorie wird<br />
Transparenz als eine Eigenschaft von Medien aufgefasst. So kann z.B. in<br />
technischen Systemen der Telekommunikation Transparenz eine Eigenschaft<br />
eines Kanals oder eines Systems für die Informationsübertragung<br />
im Allgemeinen sein.<br />
2.3.2 Transparenz als eine Eigenschaft bewusster Repräsentationen.<br />
Phänomenale Repräsentationen sind transparent, weil es scheint,<br />
dass ihr Inhalt in allen möglichen Kontexten festgelegt ist: Das Buch,<br />
das ich jetzt in den Händen halte, bleibt für meine subjektive Erfahrung<br />
immer dasselbe, ganz und gar reale Buch, gleichgültig, wie stark sich<br />
die externe Wahrnehmungssituation ändert. Vielleicht ist es auf dieser
444 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
Ebene hilfreich, den Begriff der Transparenz dadurch klarer zu machen,<br />
dass man auf ein eher traditionelles begriffliches Werkzeug zurückgreift<br />
und zwischen dem Träger und dem Inhalt einer Repräsentation unterscheidet.<br />
Der repräsentationale Träger unserer phänomenalen Erfahrung ist<br />
ein bestimmter Gehirnprozess. Dieser Prozess, der in keinem konkreten<br />
Sinn etwas „Buchhaftes“ besitzt, wird von mir nicht bewusst<br />
erlebt, er ist in dem Sinne transparent, dass ich durch ihn hindurch<br />
sehe. Das, worauf ich blicke, ist der repräsentationale Inhalt, die Existenz<br />
eines Buchs, hier und jetzt, so, wie es mir durch meine Sinnesorgane<br />
gegeben ist. Dieser Inhalt ist also eine abstrakte Eigenschaft des<br />
konkreten repräsentationalen Zustandes in meinem Gehirn. Allerdings<br />
gibt es mindestens zwei Arten von Inhalt. Der intentionale Inhalt<br />
der relevanten Zustände in meinem Gehirn hängt in seinem epistemischen<br />
Status davon ab, dass dieses Buch tatsächlich existiert, und davon,<br />
dass der entsprechende Zustand ganz allgemein ein zuverlässiges Mittel<br />
zum Erwerb von Wissen ist. Wenn der repräsentationale Träger ein<br />
gutes und reliabel arbeitendes Instrument zum Erwerb von Wissen über<br />
die externe Welt ist, dann gestattet er mir aufgrund seiner Transparenz,<br />
direkt „durch“ ihn selbst hindurch auf das Buch zu sehen. Dadurch wird<br />
die Information, die er trägt, global verfügbar (Bedingung 1), ohne dass<br />
ich mir darüber Gedanken machen muss, wie dieses kleine Wunder<br />
zustande kommt. Der phänomenale Inhalt meiner gegenwärtig aktiven<br />
Buchrepräsentation im Gehirn dagegen ist genau der Aspekt, der<br />
unabhängig davon gleich bleibt, ob das Buch existiert oder nicht. Er<br />
wird ausschließlich durch die internen und gleichzeitigen Eigenschaften<br />
meines Nervensystems determiniert, er superveniert lokal (â L-9).<br />
Wenn meine gegenwärtige Wahrnehmung, ohne dass ich dies weiß, in<br />
Wirklichkeit eine Halluzination ist, dann schaue ich als ganzes System<br />
nicht mehr „durch“ den Zustand in meinem Kopf auf die Welt, sondern<br />
nur auf das repräsentationale Vehikel selbst – freilich ohne dass mir<br />
diese Tatsache global zur Verfügung steht. Das besondere und philosophisch<br />
interessante Merkmal der phänomenalen Variante der mentalen<br />
Repräsentation ist die Tatsache, dass dieser Inhalt selbst in der eben<br />
beschriebenen Situation noch als maximal konkret, als absolut eindeutig,<br />
also als maximal determiniert und desambiguiert, als mir direkt und<br />
unmittelbar gegeben erlebt wird.<br />
2.3.3 Transparenz als informationale/computationale Strategie.<br />
Die Transparenz interner Datenstrukturen bringt jedem biologischen<br />
System, das mit begrenzten zeitlichen und neuronalen Ressourcen<br />
operieren muss, einen großen Vorteil. Sie minimiert die computationale<br />
Last durch einen Wegfall von Information auf dieser Verar-
Metzinger: Being No One 445<br />
beitungsstufe: Unsere repräsentationale Architektur erlaubt auf der<br />
personalen Ebene nur einen sehr begrenzten introspektiven Zugang<br />
zu der tatsächlichen Dynamik aus Myriaden von individuellen neuronalen<br />
Einzelereignissen, aus denen am Ende unsere phänomenale<br />
Welt scheinbar anstrengungslos auftaucht. Phänomenales Bewusstsein<br />
funktioniert wie eine evolutionär entstandene Benutzeroberfläche,<br />
ein multimodales Interface, dass es dem Organismus erlaubt, globale<br />
Eigenschaften der eigenen Informationsverarbeitung schnell und<br />
zuverlässig zu erfassen. Transparenz ist die Geschlossenheit dieser Benutzeroberfläche<br />
und sie erzeugt den naiven Realismus der phänomenalen<br />
Ebene.<br />
Der naive Realismus hindert das System daran, sich in einer introspektiven<br />
Erkundung interner Mechanismen zu verlieren und dadurch<br />
den Kontakt mit der Wirklichkeit abreißen zu lassen. Auf erkenntnistheoretischer<br />
Ebene korrespondiert dem naiven Realismus das, was ich<br />
„autoepistemische Geschlossenheit“ genannt habe. So wie der Begriff<br />
der autoepistemischen Geschlossenheit in BNO verwendet wird, bezieht<br />
er sich nicht auf cognitive closure im Sinne von McGinn (1989,<br />
1991) oder epistemic „boundedness“ bei Fodor (1983) in dem Sinne<br />
der Unverfügbarkeit theoretischen, propositional strukturierten Selbstwissens.<br />
Vielmehr bezieht sich der Begriff auf eine Geschlossenheit<br />
oder epistemische Begrenztheit der attentionalen Verarbeitung im Hinblick<br />
auf die eigene und interne repräsentationale Dynamik: Unsere<br />
Form des subjektiven Erlebens hat sich leider nicht in der Verfolgung<br />
des klassischen philosophischen Ideals der Selbsterkenntnis entwickelt.<br />
2.3.4 Transparenz als eine funktionale Eigenschaft. Systeme,die<br />
mit einem transparenten Weltmodell arbeiten, leben zum ersten Mal<br />
in einer Realität, die für sie nicht transzendierbar ist: Auf der funktionalen<br />
Ebene werden sie zu Realisten. Dies bedeutet wiederum nicht,<br />
dass sie bestimmte Überzeugungen besitzen müssen oder in der Lage<br />
sein müssen, solche zu bilden oder explizite Symbolstrukturen in ihrer<br />
Kommunikation zu benutzen. Es bedeutet vielmehr, dass die implizite<br />
Annahme der tatsächlichen Gegenwart einer Welt kausal wirksam<br />
wird. Das transparente Weltmodell gestattet einem System, Information<br />
als tatsachenbezogene Information zu behandeln, d.h. es ermöglicht<br />
die interne Repräsentation von Faktizität. Ein weiterer funktionaler<br />
Vorteil ergibt sich dann, wenn ein gewisser Grad an Opazität zur<br />
Verfügung steht: Die Unterscheidung zwischen Erscheinung und<br />
Wirklichkeit kann nun entdeckt und repräsentiert werden, sie wird<br />
selbst ein Element der Wirklichkeit. Die Tatsache, dass bestimmte Elemente<br />
der laufenden bewussten Erfahrung tatsächlich repräsentatio-
446 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
nale Inhalte sind, und damit falsch sein können, steht nun global zur<br />
Verfügung – und es ist schwer, das funktionale Potential dieses Schrittes<br />
zu überschätzen.<br />
2.3.5 Der nächste Schritt: Differenziertes Bewusstsein. Wir erinnern<br />
uns: Die Konjunktion der Bedingungen 1, 2 und 3 ergibt die<br />
elementarste Form des bewussten Erlebens, nämlich die Gegenwart<br />
einer Welt. Die phänomenale Gegenwart einer Welt ist die Aktivierung<br />
eines kohärenten, globalen Modells der Realität (Bedingung 1)in<br />
einem virtuellen Gegenwartsfenster (Bedingung 2), die beide – sowohl<br />
das globale Realitätsmodell als auch das Gegenwartsfenster – in der<br />
Hinsicht transparent sind, dass sie introspektiv und auf der Ebene<br />
des phänomenalen Erlebens nicht als Modelle erkannt werden können<br />
(Bedingung 3).<br />
Unser Minimalbegriff von Bewusstsein erfasst noch keine subjektive<br />
Erfahrung in dem Sinne, dass sie auch an eine bewusst erlebte<br />
Perspektive der ersten Person gebunden wäre. Sie ist subjektiv nur<br />
in dem sehr schwachen Sinne, Inhalt eines internen Modells innerhalb<br />
eines individuellen Organismus zu sein. Dieser Minimalbegriff ist<br />
daher noch sehr simplistisch (und wahrscheinlich empirisch leer), weil<br />
er völlig undifferenziert in seiner Repräsentation von Kausalität, Raum<br />
und Zeit ist. Ein System, das minimales Bewusstsein besitzt, das nur<br />
durch die Konjunktion der ersten drei Bedingungen beschrieben werden<br />
kann, wüsste nichts von seiner eigenen Existenz und wäre in einem<br />
ewigen Jetzt und einer phänomenalen Welt ohne jede interne Struktur<br />
gefangen.<br />
Deshalb werde ich jetzt (allerdings wesentlich kürzer) drei weitere<br />
begriffliche Auflagen beschreiben, die eine Charakterisierung höher<br />
entwickelter Formen von Bewusstsein gestatten. Wenn wir eine interne<br />
mereologische Struktur als Bedingung 4 (Konvolvierter Holismus)<br />
hinzufügen, werden Objektbildung, die Segmentierung von Szenen<br />
und das Entstehen komplexer Situationen möglich. Es entsteht eine<br />
Hierarchie ganzheitlicher, ineinander eingebetteter Inhalte. Wenn wir<br />
zudem nicht den äußerst unwahrscheinlichen Fall eines „Schnappschuss-Bewusstseins“<br />
annehmen wollen, einer phänomenalen Momentaufnahme<br />
im Sinne einer einzigen vorsegmentierten Szene, die auf<br />
der phänomenalen Ebene in einem ewigen Jetzt arretiert ist, müssen<br />
wir eine temporale Struktur im Sinne der Bedingung 5 (Dynamizität)<br />
einführen. Auf dieser Stufe ist phänomenales Erleben als ein<br />
dynamisch evolvierendes Phänomen möglich, d.h. eine mereologische<br />
Hierarchie verschiedener, miteinander wechselseitig in Beziehung stehender<br />
Inhalte, die sich über die Zeit hin entfaltet und eine dynamische<br />
Struktur aufweist. Bedingung 6 ist dann Perspektivität: Bewusstsein
Metzinger: Being No One 447<br />
ist die Erscheinung einer Welt, gebunden an eine individuelle Erste-Person-Perspektive.<br />
2.4 Konvolvierter Holismus<br />
Konvolution [nestedness; convolution] ist eine allgemeine Eigenschaft<br />
hierarchischer Systeme, in denen größere Entitäten kleinere umschließen<br />
(Salthe 1985: 61). Man kann das bewusste Erleben selbst als ein<br />
Phänomen beschreiben, das eine solche hierarchische Struktur besitzt,<br />
z.B. indem es sich aus konvolvierten repräsentationalen, funktionalen<br />
und neurobiologischen Ganzheiten aufbaut, die jeweils verschiedenen<br />
Organisationsebenen zugeordnet werden können.<br />
2.4.1 Die Phänomenologie ineinander eingebetteter Ganzheiten.<br />
Betrachten wir die paradigmatischen Beispiele für phänomenalen Holismus.<br />
Die niedrigste Ebene, auf der sich die Integration von Merkmalen<br />
in eine repräsentationale Einheit mit globalen Merkmalen wie<br />
Holismus findet, ist die Ebene der perzeptuellen Objektbildung. Bewusst<br />
wahrgenommene, für die Aufmerksamkeit verfügbare Gegenstände<br />
sind sensorische Ganzheiten, auch wenn sie noch nicht mit begrifflichen<br />
oder Erinnerungsstrukturen verbunden sind. Ein zweites paradigmatisches<br />
Beispiel für eine holistische, kohärente Form von Inhalt ist das<br />
phänomenale Selbst. In Standardsituationen bildet das bewusst erlebte<br />
Selbst nicht nur eine Einheit, sondern ein integriertes Ganzes. Eine dritte<br />
Ebene, auf der wir die phänomenale Eigenschaft des Holismus finden,<br />
sind komplexe Szenen und Situationen: integrierte Gegenstandsanordnungen<br />
einschließlich der Relationen zwischen diesen Objekten<br />
und impliziter kontextueller Information. Eine visuell wahrgenommene,<br />
vorsegmentierte Szene – z.B. eine schöne Landschaft, die Sie<br />
anschauen – oder eine komplexe multimodale Szene, die Geräusche,<br />
Gerüche und einen bestimmten sozialen Kontext enthält, sind weitere<br />
Beispiele für phänomenalen Holismus. Die bewusst repräsentierten,<br />
kurzen Integrationen zwischen Subjekt und Objekt, die phänomenale<br />
Erfahrung eines „Selbst im Akt des Wissens“, bilden ein weiteres Paradigma<br />
für eine kurzfristig hervortretende phänomenale Ganzheit.<br />
Was genau bedeutet es, von „Ganzheit“ zu sprechen? Holismus<br />
bedeutet auf begrifflicher Ebene, dass wir subjektiv diskriminierbare<br />
Aspekte einer Erlebniseinheit nicht als isolierte Elemente einer Menge<br />
beschreiben können. Diese Tatsache liefert eine wichtige begriffliche<br />
Auflage für jede ernsthafte Neurophänomenologie. Denn wenn man<br />
solche Subregionen oder diskriminierbaren Aspekte im Fluss des phänomenalen<br />
Erlebens als individuelle Bestandteile einer Klasse analysiert,<br />
übersieht man eines der wesentlichsten Merkmale des Bewusstseins. Es<br />
gibt keine dekontextualisierten Atome. Die Beziehung zwischen den
448 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
Aspekten oder Subregionen ist eine mereologische Beziehung. Auf<br />
niedrigeren phänomenalen Organisationsstufen können verschiedene<br />
Merkmale in verschiedenen erststufigen Ganzheiten verbunden werden<br />
(verschiedene Farben oder Gerüche können zu verschiedenen perzeptuellen<br />
Objekten gehören), aber letztendlich sind sie alle Teile ein und<br />
desselben globalen Ganzen.<br />
2.4.2 Konvolvierter Holismus als eine repräsentationale Eigenschaft<br />
und als eine informationale/computationale Strategie. In<br />
einem holistischen Format präsentierte Information ist hochgradig kohärent.<br />
Phänomenale Information ist somit die Teilmenge aktiver Information,<br />
die dem System in integrierter Form zur Verfügung steht.<br />
Darüber hinaus erzeugt Information, die innerhalb eines konvolvierten,<br />
holistischen Weltmodells präsentiert wird, eine starke Interdependenz:<br />
individuelle Eigenschaftsmerkmale, Wahrnehmungsgegenstände oder<br />
globale Aspekte einer Szene beeinflussen sich gegenseitig und auf diese<br />
Weise kann die komplexe kausale Struktur der externen Welt sehr<br />
genau repräsentiert werden. Einer der funktionalen Vorteile ist, dass<br />
der repräsentationale Inhalt eines globalen Weltmodells prinzipiell in<br />
einem einzigen Schritt aktualisiert werden kann, da alles in ihm Enthaltene<br />
gleichzeitig alles andere beeinflusst. Falls notwendig, können<br />
lokale Veränderungen globale Zustandsübergänge auslösen.<br />
2.4.3 Neuronale Korrelate des konvolvierten Holismus. Auchhier<br />
müssen wir zugeben, dass noch nicht genügend empirische Daten vorliegen,<br />
um genaue Aussagen zu machen (vgl. aber Singer 2000, 2004,<br />
2005; Varela, Lauchaux, Rodriguez und Martinerie 2001).<br />
In einer früheren Arbeit (Metzinger 1995) habe ich ausgeführt,<br />
dass eine subsymbolische und globale integrative Funktion notwendig<br />
ist, die zwei Bedingungen erfüllt. Erstens müsste diese Funktion<br />
in der Lage sein, im Gehirn eine globale Integration aktiver repräsentationaler<br />
Inhalte zu erreichen, ohne eine „Superpositionskatastrophe“<br />
zu verursachen, d.h. ohne Interferenzen, Fehlassoziationen und die<br />
gegenseitige Löschung verschiedener repräsentationaler Muster hervorzurufen.<br />
Nehmen wir einmal an, dass die korrekte neurobiologische<br />
Theorie, die den Integrationsmechanismus beschreibt, diesen durch<br />
temporale Kohärenz neuronaler Antworten aufgrund von synchronen<br />
Entladungen erklärt. Dann würde die zu vermeidende Situation<br />
den Zuständen globaler Synchronizität bei epileptischen Anfällen oder<br />
im Tiefschlaf entsprechen. In diesen Zuständen liegt typischerweise<br />
keinerlei bewusste Erfahrung vor. Daher benötigen wir eine Funktion,<br />
die eine dynamische und globale Form einer Metarepräsentation<br />
durch funktionale Integration erzeugt, und die nicht einfach alle niederstufigeren<br />
Inhalte löscht oder homogenisiert, sondern ihre diffe-
Metzinger: Being No One 449<br />
renzierte Struktur erhält. Zweitens müsste es denkbar sein, dass der<br />
den phänomenalen Holismus erzeugende Mechanismus gleichzeitig<br />
auf Ebenen unterschiedlicher Auflösung operiert. Eine differenzierte<br />
Form von Kohärenz über größere Reichweiten im Gehirn herzustellen<br />
erfordert also nicht eine uniforme Synchronizität, sondern dynamische<br />
Relationen zwischen Subsignalen, die Untergruppen von Signalen in<br />
verschiedenen Modalitäten binden, vielleicht, indem sie dafür verschiedene<br />
Frequenzbänder verwenden (s. Engel und Singer 2000; Singer<br />
2004, 2005).<br />
2.5 Dynamizität<br />
In einem gewissen Sinne kehrt das, was soeben als konvolvierter Holismus<br />
beschrieben wurde, auch in der Phänomenologie des Zeiterlebens<br />
wieder. Unser bewusstes Innenleben entsteht aus semantisch verketteten<br />
und ineinander eingebetteten psychologischen Momenten, die ihrerseits<br />
selbst in den unidirektionalen Fluss einer subjektiven Zeit integriert<br />
sind. Bedingung 5 (Dynamizität) trägt der Tatsache Rechnung, dass<br />
phänomenale Zustände nur selten statische oder hochgradig invariante<br />
Formen mentalen Inhalts tragen und dass sie nicht das Ergebnis passiver,<br />
nicht-rekursiver repräsentationaler Prozesse sind. Der eben eingeführte<br />
Begriff des „konvolvierten Holismus“ war eine natürliche Erweiterung<br />
der ersten begrifflichen Auflage, der Globalitätsbedingung, und zwar<br />
auf subglobalen Beschreibungsebenen. Die fünfte begriffliche Auflage,<br />
die Dynamizitätsbedingung, ist eine ebenso natürliche Erweiterung der<br />
zweiten begrifflichen Auflage, der Gegenwärtigkeitsbedingung.<br />
2.5.1 Phänomenologie der Dynamizität. Die wichtigsten Arten temporaler<br />
Inhalte sind (wie bereits durch Bedingung 2 gefordert) Gegenwart,<br />
Dauer und Wandel. Aber die Erfahrung des Fließens, der Dauer<br />
und des Wandels ist kontinuierlich und bruchlos in den zeitlichen Hintergrund<br />
einer Gegenwart integriert. Für die philosophische Phänomenologie<br />
ist es auf der Basis des introspektiv erlebten Zeitgefühls allein<br />
traditionell schwer, auf begrifflich überzeugende Weise den hohen Grad<br />
an Integration zu beschreiben, der zwischen der Erfahrung von Gegenwart<br />
und der kontinuierlichen bewussten Repräsentation von Wandel<br />
und Dauer besteht. Es ist nicht so, dass das Jetzt wie eine Insel in einem<br />
Fluss aufsteigt, in einem fortlaufenden Strom bewusst erlebter Ereignisse<br />
– vielmehr ist die Insel auf eine merkwürdige Art selbst ein Teil<br />
des Flusses.
450 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
2.6 Perspektivität<br />
In BNO wird eine „Selbstmodell-Theorie der Subjektivität“ vorgeschlagen<br />
und wenn man Subjektivität zunächst als ein Phänomen ansieht, das<br />
auf der Ebene phänomenaler Erfahrung angesiedelt ist, dann können<br />
wir sie nur verstehen, wenn wir umfassende theoretische Antworten<br />
auf die folgenden beiden Fragen finden.<br />
Erstens: Was ist ein bewusst erlebtes, phänomenales Selbst? Zweitens:<br />
Was ist eine bewusst erlebte, phänomenale Perspektive der ersten<br />
Person? Die verbleibenden beiden Abschnitte dieser Zusammenfassung<br />
werden sich ausschließlich mit diesem zentralen Aspekt des Problems<br />
beschäftigen. Da aber Perspektivität auch eine der zentralen Bedingungenist,dievondenmeistenZuständendesBewusstseins<br />
erfüllt wird,<br />
will ich hier eine kurze Beschreibung dieser letzten Bedingung geben.<br />
Gleichzeitig dient dies als eine Einführung zu dem letzten Teil dieser<br />
kurzen Zusammenfassung.<br />
Man muss sich zunächst vor Augen führen, dass Perspektivität keine<br />
notwendige Bedingung ist, um einem gegebenen System bewusstes<br />
Erleben zuzuschreiben. Es gibt eine Reihe phänomenaler Zustandsklassen<br />
– z.B. bestimmte Arten spiritueller und religiöser Erfahrungen<br />
oder vollständig depersonalisierte Zustände bei schweren psychiatrischen<br />
Störungen – in denen uns der Schluss auf die plausibelste<br />
phänomenologische Erklärung nahe legt, dass kein bewusstes Selbst<br />
und keine bewusst wahrgenommene Perspektive der ersten Person<br />
existiert. Ich gehe davon aus, dass solche globalen Zustände Fälle von<br />
nicht-subjektivem Bewusstsein sind. Auf der Ebene ihres phänomenalen<br />
Inhalts sind sie nicht mehr an eine individuelle, bewusst erlebte Perspektive<br />
der ersten Person gebunden. Dies bedeutet nicht, dass sie unter<br />
Zugrundelegung eines nicht-phänomenologischen, z.B. eines epistemologischen<br />
Begriffs von Subjektivität nicht immer noch als schwach<br />
subjektive Zustände beschrieben werden könnten, z.B. als ausschließlich<br />
interne, von individuellen Systemen hervorgebrachte Modelle der<br />
Realität. Es wäre begrifflich möglich, solche Zustände als epistemisch<br />
subjektiv und somit als eine Form von Wissen zu beschreiben, und<br />
zugleich als phänomenal nicht-subjektiv in dem Sinne, dass sie während<br />
ihres Auftretens nicht an eine bewusst erlebte Erste-Person-Perspektive<br />
gebunden sind.<br />
2.6.1 Die Phänomenologie der Perspektivität. Perspektivität ist eine<br />
strukturelle Eigenschaft des phänomenalen Raumes als Ganzem.<br />
Sie besteht in der Existenz eines einzigen kohärenten und zeitlich stabilen<br />
Modells der Realität, das repräsentational auf ein einziges, kohärentes<br />
und zeitlich ausgedehntes phänomenales Subjekt zentriert ist (Metzinger<br />
1993, 2000b). Die erlebte Perspektivität des eigenen Bewusstseins
Metzinger: Being No One 451<br />
besteht darin, dass der phänomenale Raum ein phänomenales Selbst als<br />
Zentrum hat: Er besitzt einen Brennpunkt des Erlebens, einen „point<br />
of view“. Allen höherstufigen, sozial und begrifflich vermittelten Formen<br />
von Selbstbewusstsein scheint eine primitive und präreflexive<br />
Form phänomenalen Selbstbewusstseins zugrunde zu liegen (siehe<br />
BNO Abschnitt 5.4 und 6.4), und in dieser nichtbegrifflichen Form<br />
der Selbstrepräsentation liegt der Ursprung der Perspektive der ersten<br />
Person.<br />
2.6.2 Zentriertheit als eine funktionale Eigenschaft. Die erlebte Zentriertheit<br />
unseres bewussten Modells der Realität hat sein Spiegelbild<br />
in der Zentriertheit des Verhaltensraumes. Diese funktionale Hintergrundbedingung<br />
ist so allgemein und offensichtlich, dass sie häufig<br />
übersehen wird: Beim Menschen und allen uns zurzeit bekannten<br />
bewussten Systemen sind sensorische und motorische Systeme physisch<br />
in den Körper eines einzigen Organismus integriert. Dies könnte man<br />
den „single-embodiment constraint“ nennen, oder die Bedingung der<br />
partikularen Realisierung. In unserem Gegenstandsbereich superveniert<br />
Bewusstsein nicht nur lokal, sondern es superveniert sogar lokal<br />
auf Teilen von individuellen Einzelorganismen (zum Begriff der „Supervenienz“<br />
vgl. Modul L-9).<br />
2.6.3 Neuronale Korrelate der Zentriertheit des repräsentationalen<br />
Raumes. SMT macht die Voraussage, dass das menschliche Selbstmodell<br />
die einzige phänomenale Repräsentation ist, die durch ein dauerhaftes<br />
funktionales Bindeglied direkt mit bestimmten Hirnregionen<br />
verbunden ist. Es liegen eine Reihe von empirischen Ergebnissen vor, die<br />
auf Mechanismen hindeuten, welche Kandidaten für ein dauerhaftes<br />
funktionales Bindeglied zwischen bestimmten lokalisierten Gehirnvorgängen<br />
und dem Zentrum des repräsentationalen Raums erzeugen.<br />
Diese Mechanismen schließen zum Beispiel die Aktivität des Vestibularorgans,<br />
der räumlichen Matrix des Körperschemas, viszerale Formen<br />
der Selbstrepräsentation und insbesondere den Input spezifischer Kerne<br />
im oberen Hirnstamm ein, die der homöostatischen Regulierung des<br />
„internen Milieus“ dienen, (siehe Parvizi und Damasio 2001, Damasio<br />
1999: Kap. 8; Damasio 2000). Die Funktion dieser Mechanismen<br />
besteht darin, dass sie ein hohes Maß an Invarianz und Stabilität erzeugen,<br />
indem sie das System mit einer kontinuierlichen Quelle inneren,<br />
im Gehirn selbst erzeugten Inputs versorgen. Diese Inputquelle verankert<br />
das menschliche Selbstmodell: Das bewusste Selbstmodell unterscheidet<br />
sich in charakteristischer Weise von allen anderen phänomenalen<br />
Repräsentationen, indem es kausal über diese dauerhafte funktionale<br />
Verknüpfung an den Organismus als Ganzen, insbesondere an
452 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
Vorgänge der elementaren Regulation und Selbsterhaltung des Lebensprozesses<br />
selbst angekoppelt ist.<br />
3. Das PSM: Einschränkende Bedingungen für Selbstbewusstsein<br />
auf multiplen Beschreibungsebenen.<br />
Oder: Was macht ein neuronales Systemmodell zu<br />
einem phänomenalen Selbst?<br />
Ich habe eben sechs begriffliche Auflagen für eine adäquate Theorie<br />
des Bewusstseins skizziert. Diese Auflagen lassen sich nun auf den<br />
Sonderfall eines phänomenalen Selbstmodells (PSM) anwenden.<br />
Rufen wir uns zunächst ins Gedächtnis zurück, wie die SMT das<br />
Selbstmodell definiert. Erstens: Unter einem rein formalen Gesichtspunkt<br />
existiert ein Beweis, dass jeder Regulator eines komplexen Systems<br />
automatisch und notwendigerweise ein Modell dieses Systems<br />
wird (Conant und Ashby 1970). Aus einer logischen und epistemologischen<br />
Perspektive ist es dann hilfreich, zwischen Simulation und<br />
Emulation zu unterscheiden, um den Begriff des PSM weiter anzureichern.<br />
In einem zweiten Schritt lässt sich das PSM begrifflich als eine<br />
bestimmte Variante, nämlich als eine Kombination aus Selbstsimulation<br />
und Selbstemulation analysieren.<br />
Was ist Simulation und was ist Emulation? Einige informationsverarbeitende<br />
Systeme können intern das äußere Verhalten eines Zielobjektes<br />
simulieren (BNO: Abschnitt 2.3). Die Simulation eines Zielsystems<br />
besteht darin, die Eigenschaften, die der sensorischen Verarbeitung<br />
zugänglich sind, zu repräsentieren, und zwar so, wie sie sich<br />
wahrscheinlich über die Zeit hinweg entwickeln. Einige informationsverarbeitende<br />
Systeme sind jedoch Sonderfälle, insofern als sie auch das<br />
Verhalten eines anderen informationsverarbeitenden Systems emulieren<br />
können. Sie tun dies, indem sie intern nicht nur den beobachtbaren<br />
Output simulieren, sondern auch seine „Psychologie“ – also verborgene<br />
Aspekte der Informationsverarbeitung innerhalb des anderen Systems.<br />
Solche verborgenen Aspekte können in abstrakten Eigenschaften<br />
bestehen wie seiner funktionalen Architektur oder der Software,<br />
die es gerade verwendet. Eine dritte Möglichkeit, die philosophisch<br />
besonders interessant ist, ist die selbstgerichtete Emulation. Selbstmodellierung<br />
ist der Spezialfall, in dem das Zielsystem und das simulierende/emulierende<br />
System identisch sind: Ein selbstmodellierendes<br />
informationsverarbeitendes System simuliert intern fortlaufend seinen<br />
eigenen beobachtbaren Output und emuliert abstrakte Eigenschaften<br />
seiner eigenen internen Informationsverarbeitung – und es tut dies für<br />
sich selbst.
Metzinger: Being No One 453<br />
Drittens: Ein Selbstmodell ist ein integriertes Modell genau desjenigen<br />
repräsentationalen Systems als Ganzem, das es gerade in sich selbst<br />
aktiviert. Es besitzt typischerweise eine bottom-up Komponente (in<br />
BNO wird hierfür der Begriff der „Selbstpräsentation“ eingeführt), die<br />
durch sensorischen Input getrieben wird. Dieser Input stört oder moduliert<br />
die unablässige Aktivität der top-down Prozesse die fortwährend<br />
neue Hypothesen über den augenblicklichen Systemzustand generieren<br />
(Selbstsimulation) und gelangen dadurch zu einem funktional mehr<br />
oder weniger adäquaten internen Bild des tatsächlichen Gesamtzustandes<br />
des Systems (Selbstrepräsentation). Die zentrale Frage ist jetzt: Was<br />
rechtfertigt es, diese äußerst verschiedenen Arten von phänomenaler<br />
Information und repräsentationalem Inhalt als zu einer einzigen Entität<br />
gehörend anzusehen?<br />
Das, was diese verschiedenen Formen phänomenaler Inhalte bündelt,<br />
ist eine höherstufige phänomenale Eigenschaft: Die Eigenschaft<br />
der Meinigkeit (oft auch „sense of ownership“ genannt). Meinigkeit<br />
ist eine Eigenschaft einzelner Formen phänomenalen Inhalts, die in<br />
unserem eigenen Fall introspektiv auf der Ebene der inneren Aufmerksamkeit<br />
und auf der Ebene der selbstgerichteten Kognition zugänglich<br />
sind. Hier sind wieder einige typische Beispiele dafür, wie wir uns<br />
in alltagspsychologischen Kontexten linguistisch auf diese besondere,<br />
höherstufige phänomenale Qualität beziehen: „Ich erlebe mein Bein<br />
subjektiv als etwas, das immer zu mir gehört hat.“, „Ich erlebe meine<br />
Gedanken, meine fokussierte Aufmerksamkeit und meine Emotionen<br />
als einen Teil meines eigenen Bewusstseinsstromes“ oder „Absichtliche<br />
Handlungen und Willensakte werden von mir selbst initiiert“.<br />
Die phänomenale Eigenschaft der Meinigkeit ist eng mit der Eigenschaft<br />
der phänomenalen Selbstheit, dem phänomenalen Ichgefühl<br />
verwandt. Schauen wir uns wieder einige Beispiele dafür an, wie wir<br />
häufig versuchen, mit sprachlichen Mitteln aus dem öffentlichen Raum<br />
heraus auf den phänomenalen Inhalt der internen repräsentationalen<br />
Zustände, die dieser Eigenschaft zugrunde liegen, zu verweisen: „Ich<br />
bin jemand“; „Ich erlebe mich selbst als über die Zeit identisch“; „Die<br />
Inhalte meines phänomenalen Selbstbewusstseins bilden ein kohärentes<br />
Ganzes“, „Bevor ich irgendwelche intellektuellen oder Aufmerksamkeitsoperationen<br />
durchführe (und unabhängig von solchen Operationen),<br />
bin ich bereits unmittelbar und „direkt“ mit den fundamentalen<br />
Inhalten meines Selbstbewusstseins vertraut.“<br />
Kurz: Ein phänomenales Selbstmodell ist eine integrierte Repräsentation<br />
des Systems als Ganzem, die verschiedene Organisationsebenen<br />
besitzt und auf deren repräsentationalen Inhalt wir sprachlich Bezug<br />
nehmen können. Jetzt werde ich einige der bereits formulierten Bedingungen<br />
anwenden, um den Begriff des PSM weiter anzureichern.
454 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
3.1 Globale Verfügbarkeit von systembezogener Information<br />
3.1.1 Die Phänomenologie der globalen Verfügbarkeit von systembezogener<br />
Information. Es scheint, dass die Inhalte meines phänomenalen<br />
Selbstbewusstseins für eine Vielzahl meiner mentalen und physischen<br />
Fähigkeiten gleichzeitig und direkt verfügbar sind. Ich erlebe die<br />
allgemeine globale Verfügbarkeit der Inhalte meines Selbstbewusstseins<br />
als meine eigene Flexibilität und Autonomie im Umgang mit diesen<br />
Inhalten und durch das subjektive Gefühl der Unmittelbarkeit, mit der<br />
sie mir gegeben sind.<br />
Es ist jedoch wichtig, auf drei noch spezifischere phänomenologische<br />
Charakteristika hinzuweisen. Erstens kann der Grad der Flexibilität<br />
und der Autonomie im Umgang mit den Inhalten des Selbstbewusstseins<br />
deutlich schwanken: Emotionen, Schmerzempfindungen<br />
und Hunger sind sehr viel schwerer zu beeinflussen als z.B. die<br />
Inhalte des kognitiven Selbstmodells. Es gibt einen Gradienten der<br />
funktionalen Starrheit und der Grad der Starrheit ist selbst für die<br />
phänomenale Erfahrung verfügbar. Zweitens ist auch das phänomenale<br />
Erleben von Unmittelbarkeit eine abgestufte Eigenschaft: Gedanken<br />
sind typischerweise etwas, das vielleicht nicht einmal in seinem ganzen<br />
Inhalt determiniert ist, ehe es nicht laut ausgesprochen oder auf<br />
einem Blatt Papier niedergeschrieben wird, während körperliche Empfindungen<br />
wie Schmerz oder Durst direkt als explizite und „fertige“<br />
Elemente des phänomenalen Selbst gegeben sind. Das menschliche<br />
Selbstmodell zeigt ein Kontinuum zwischen Transparenz und Opazität:<br />
Der selbstkonstruierte Charakter, welcher verschiedene Inhalte<br />
des bewussten Selbst begleitet, ist äußerst variabel. Drittens ist eine<br />
interessante Beobachtung, dass sowohl Zustände erster Ordnung, die<br />
in das PSM integriert sind, als auch Aufmerksamkeitszustände oder<br />
kognitive Vorgänge zweiter Ordnung, die auf diesen Inhalten operieren,<br />
beide durch die phänomenale Qualität der „Meinigkeit“ charakterisiert<br />
sind. Die bewussten Inhalte unseres aktuellen Körperbildes<br />
werden nicht als repräsentationale Inhalte erlebt, aber sie sind mit einem<br />
phänomenalen Gefühl des Besitzens ausgestattet: Zu jedem Zeitpunkt<br />
ist dies mein eigener Körper. Während ich bewusst über den Zustand<br />
meines Körpers nachdenke, bin ich mir typischerweise des repräsentationalen<br />
Charakters der kognitiven Konstrukte, die im Verlauf dieses<br />
Prozesses auftreten, sehr wohl bewusst. Zugleich sind solche Gedanken<br />
über meinen aktuellen Körperzustand aber durch eine nicht transzendierbare<br />
bewusste Erfahrung der „Meinigkeit“, durch genau das gleiche<br />
unmittelbare Gefühl des Besitzens charakterisiert. Dies ist die Art und<br />
Weise, in der Wesen wie wir eine repräsentationale Struktur als in das<br />
PSM integriert erleben.
Metzinger: Being No One 455<br />
Bewusste menschliche Wesen richten ihre Aufmerksamkeit nicht<br />
allein auf körperliche Empfindungen, sondern können auch Gedanken<br />
de se formen. Der Inhalt dieser de-se-Gedanken wird von meinen<br />
eigenen kognitiven Zuständen über mich selbst gebildet. Reflexives,<br />
begrifflich vermitteltes Selbstbewusstsein stellt systembezogene<br />
Information kognitiv zur Verfügung und es tut dies ganz offensichtlich<br />
dadurch, dass es eine höherstufige Form phänomenalen Inhalts bildet<br />
(Metzinger 2003). Wieder erscheint dieser Inhalt jedoch nicht als eine<br />
isolierte Entität, sondern ist rekursiv in dasselbe einheitliche phänomenale<br />
Ganze – eben das Selbstmodell – eingebettet.<br />
3.1.2 Globale Verfügbarkeit selbstrepräsentationaler Inhalte. Wie<br />
in Abschnitt 1.3 erwähnt, führt die Existenz einer kohärenten Selbstrepräsentation<br />
zum ersten Mal eine Selbst-Welt-Grenze in das Realitätsmodell<br />
des Systems ein. Systembezogene Information wird nun<br />
global verfügbar als systembezogene Information, weil der Organismus<br />
jetzt erstmals ein inneres Bild von sich selbst als Ganzem besitzt,<br />
als einer distinkten Entität mit globalen Eigenschaften. Dieses innere<br />
Bild von sich selbst als Ganzem ist eine notwendige Vorbedingung für<br />
die bewusste Repräsentation von dynamischen Beziehungen zwischen<br />
dem Organismus und verschiedenen Gegenständen in seiner Umgebung.<br />
3.1.3 Informationale/computationale Verfügbarkeit systembezogener<br />
Information. Selbstbezogene phänomenale Information ist<br />
äquivalent zu global verfügbarer systembezogener Information. Eines<br />
der faszinierenden Merkmale des menschlichen Selbstmodells ist, dass<br />
diese Information sich von der molekularen bis zur sozialen Ebene<br />
erstreckt. So ist das Selbstmodell zum Beispiel wichtig für die Verarbeitung<br />
interner Informationen, die für die grundlegende Bioregulation<br />
relevant ist, d.h. es spielt eine Rolle in der Selbststabilisierung auf<br />
der molekularen Ebene, z.B. der Hormone und des Immunsystems<br />
(Damasio 1999). Es ist ebenso wichtig dabei, Information über die<br />
Tatsache, dass das System selbst ständig mit Informationsverarbeitung<br />
und der Modellierung der Realität beschäftigt ist, für eine große Zahl<br />
verschiedener metarepräsentationaler Prozesse verfügbar zu machen.<br />
Diese höheren Stufen schließen die Modellierung anderer Agenten und<br />
sozialer Beziehungen mit ein.<br />
3.1.4 Globale Verfügbarkeit von selbstbezogener Information als<br />
eine funktionale Eigenschaft. Unter einer funktionalistischen Analyse<br />
ist das PSM eine diskrete, zusammenhängende Menge kausaler<br />
Relationen. Es spielt eine wichtige kausale Rolle, nicht nur, indem
456 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
es das Verhaltensprofil des Organismus differenziert und flexibilisiert,<br />
sondern auch, indem es dieses integriert. Wenn die eigenen<br />
Körperbewegungen zum ersten Mal global als die eigenen Bewegungen<br />
verfügbar werden, sind die Fundamente für willensgesteuertes Handeln<br />
und Autonomie gelegt, weil der Organismus nun ein internes Modell<br />
von sich selbst als einer Ganzheit besitzt. Eine spezifische Menge von in<br />
der Welt wahrgenommenen Ereignissen kann nun zum ersten Mal als<br />
systematisch mit selbsterzeugten Ereignissen korreliert behandelt werden.<br />
Und die Tatsache, dass es Ereignisse in der Welt gibt, die gleichzeitig<br />
selbsterzeugt und auf den Organismus als Ganzen selbst gerichtet<br />
– also reflexiv – sind, kann entdeckt und global verfügbar gemacht werden.<br />
Der wichtigste Aspekt der distinkten kausalen Rolle, die das PSM<br />
spielt, besteht vielleicht darin, dass es das System später in die Lage versetzt,<br />
ein intentionales System zweiter Ordnung zu werden und sich<br />
selbst auch als ein solches zu behandeln (Dennett 1981: 273–84; Dennett<br />
1987a,b, Metzinger 2006; â Modul I–11). Dadurch kann es von<br />
einem System, das sich lediglich verhält, zu einem Handlungssubjekt<br />
werden.<br />
3.2 Anwesenheit: Situiertheit und virtuelle Selbstgegenwart<br />
Lassen Sie uns nun die Gegenwärtigkeitsbedingung auf den Begriff<br />
eines global verfügbaren Selbstmodells anwenden. Was auch immer ich<br />
als Inhalt meines phänomenalen Selbstbewusstseins erlebe, erlebe ich<br />
jetzt. Darüber hinaus ist es nicht nur so, dass eine Welt gegenwärtig ist,<br />
sondern ich bin ein gegenwärtiges Selbst innerhalb dieser Welt – ich bin<br />
anwesend. Meine eigene Existenz besitzt zeitliche Unmittelbarkeit:<br />
Das Gefühl, mit mir selbst auf eine absolut direkte und nicht vermittelte<br />
Weise in Kontakt zu sein, die nicht eingeklammert werden kann. Wenn<br />
es möglich wäre, den phänomenalen Inhalt zu subtrahieren, um den<br />
es in diesem Abschnitt geht, dann würde ich auf der Ebene subjektiver<br />
Erfahrung einfach aufhören zu existieren.<br />
3.2.1 Die Phänomenologie der Anwesenheit und zeitlichen Situiertheit.<br />
Wir Menschen sind Wesen, die sich als anwesend erscheinen.<br />
Phänomenales Erleben besteht nicht einfach darin, „gegenwärtig<br />
zu sein“. Es besteht auch darin, „als ein Selbst gegenwärtig zu sein“.<br />
Interessanterweise gibt es nun einen spezielleren Sinn von „Internalität“<br />
– nämlich zeitliche Internalität – der sich mit dem allgemeineren<br />
Sinn von Internalität überschneidet, wie er durch den Begriff<br />
der Selbstrepräsentation konstituiert wird. Phänomenologisch gesprochen<br />
bin ich nicht nur jemand, sondern jemand, der in einer zeitlichen<br />
Ordnung situiert ist. Dadurch entsteht ein subjektiver psychologischer<br />
Augenblick, der nun in das autobiographische Gedächtnis integriert
Metzinger: Being No One 457<br />
werden kann. Menschen können die Geschichtlichkeit ihrer eigenen<br />
Person bewusst erleben: die bewusste Erfahrung, ein Selbst zu sein,<br />
das eine Vergangenheit und eine Zukunft hat, während es momentan<br />
an einem bestimmten Punkt in einer gegebenen zeitlichen Ordnung<br />
lokalisiert ist.<br />
3.2.2 Der de-nunc-Charakter des PSM. Selbst wenn ich eine phänomenale<br />
Selbstsimulation durchführe, z.B. wenn ich Pläne über meine<br />
eigene entfernte Zukunft mache, oder wenn ich spontan vergangene<br />
Zustände meiner selbst mental simuliere, ist es doch immer klar, dass<br />
ich diese Pläne jetzt mache und dass ich diese Erinnerungen jetzt habe.<br />
Interessanterweise ist unsere Fähigkeit zu mentalen Zeitreisen niemals<br />
vollständig. Zwar mag unsere Aufmerksamkeit temporär völlig absorbiert<br />
werden von dem simulationalen Inhalt, der zukünftige Selbste<br />
generiert, oder von der Wiederauferstehung eines legendären Selbst,<br />
welches in der Vergangenheit angeblich einmal anwesend war. Trotzdem<br />
bleibt der subtile Hintergrund des Leiberlebens, die phänomenale<br />
Gegenwärtigkeit des körperlichen Selbstbewusstseins, welche niemals<br />
ganz verloren geht. Es verankert uns nicht nur im Körper selbst, sondern<br />
auch in dem phänomenalen Gegenwartsfenster, das von dem<br />
physischen System, das wir sind, erzeugt wird. Ich denke, dass dies<br />
eine der größten Leistungen des menschlichen Selbstmodells ist: Es<br />
integriert den repräsentationalen Inhalt, der erzeugt wird durch die<br />
grundlegende, bioregulatorische Informationsverarbeitung, die aktuell<br />
ausgeführt wird, um die physische Verfassung des Körpers stabil<br />
zu halten, mit dem Gegenwartserleben und den kognitiven Inhalten<br />
höherer Ordnung, die mögliche Zustände des Organismus simulieren.<br />
Es ist das Selbstmodell, das die Kluft vom Tatsächlichen zum Möglichen,<br />
vom Körperlichen zum Kognitiven überbrückt. Es verbindet<br />
Selbstrepräsentation und Selbstsimulation durch die gemeinsame<br />
phänomenale Eigenschaft der Meinigkeit. Die Erzeugung dieser Eigenschaft<br />
hängt aber entscheidend von dem stabilen temporalen Kontext<br />
ab, der durch die Darstellung zeitlicher Internalität geliefert wird. Sie<br />
entsteht aus transparenten Inhalten de nunc, die es erstmals erlauben,<br />
zwischen dem Selbst, das anwesend ist, und möglichen, vergangenen<br />
oder zukünftigen Selbsten zu unterscheiden.<br />
3.2.3 Anwesenheit als eine informationale/computationale Eigenschaft.<br />
Hier möchte ich auf meine Lieblingsmetapher zurückgreifen,<br />
den Begriff der „virtuellen Realität“. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive<br />
ist jede Selbstrepräsentation in Wirklichkeit eine Selbstsimulation:<br />
Aus der Perspektive der dritten Person betrachtet, modelliert<br />
oder „erfasst“ auch sie niemals den aktuellen physikalischen Zustand<br />
des Systems. Dies gilt auch für Selbst-Präsentation: Anwesenheit, die
458 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
robuste phänomenale Erfahrung, als ein Selbst gegenwärtig zu sein,<br />
ist streng genommen nur eine Form von Erinnerung. Wenn dem System<br />
jedoch eine funktional adäquate Annäherung an die Zieleigenschaften,<br />
die den intentionalen Inhalt seiner Selbstsimulation bilden,<br />
gelingt, wenn es seine eigene physikalische Dynamik mit hinreichender<br />
Genauigkeit simuliert, dann kann es solche Inhalte einfach als zeitlich<br />
intern behandeln. Indem es das tut, kann es sich so verhalten, als<br />
sei es tatsächlich völlig in die von ihm simulierte Realität eingetaucht.<br />
Interessanter Weise gibt es technische Systeme – z.B. virtual-reality<br />
interfaces – deren Ziel die Realisierung genau derselben computationalen<br />
Eigenschaft ist (manchmal wird sie auch full immersion oder schlicht<br />
presence genannt; BNO: 553f; â B-15).<br />
3.2.4 Selbstgegenwart als eine funktionale Eigenschaft. Ein System,<br />
das sich selbst fortlaufend innerhalb eines Gegenwartsfensters als<br />
eine Ganzheit modelliert, gewinnt dadurch eine Reihe neuer funktionaler<br />
Eigenschaften. Es erzeugt einen Referenzpunkt für phänomenale<br />
Selbstsimulationen. Zum Beispiel können autobiographische Erinnerungen<br />
nun verglichen und mit dem aktuellen Systemzustand in<br />
Beziehung gesetzt werden. Explizite Planung wird möglich. Unter<br />
einem teleofunktionalistischen Ansatz (â L-13) können Selbstsimulationen,<br />
die nicht mit den tatsächlichen Systemeigenschaften kovariieren,<br />
nur dann als nützliche Instrumente beschrieben werden (z.B. bei<br />
der Vorwärtsmodellierung motorischen Verhaltens oder der Zukunftsplanung<br />
im allgemeinen), wenn es eine Repräsentation des aktuellen<br />
Systemzustands als des aktuellen Systemzustands gibt. Selbstmodellierung<br />
innerhalb eines Gegenwartsfensters erreicht genau dies. In BNO<br />
(S. 285, 313, 338) habe ich dies die „Selbst-Null-Hypothese“ [self-zero<br />
hypothesis] genannt und es gibt auch eine korrespondierende „Welt-<br />
Null-Hypothese“ [world-zero hypothesis] im Hinblick auf die allgemeine<br />
Funktion von Bewusstsein (z.B. BNO: 61).<br />
3.3 Transparenz: Vom Systemmodell zum phänomenalen Selbst<br />
Der entscheidende Schritt für ein Verständnis der reduktiven Erklärbarkeit<br />
des bewussten Erlebens von Selbstheit besteht darin, die Transparenzbedingung<br />
auf den Begriff eines bewussten Selbstmodells anzuwenden.<br />
Bei genauerer Betrachtung ist ein aktives dynamisches „Selbstmodell“<br />
lediglich eine Repräsentation des Systems als Ganzem; es<br />
ist ein Systemmodell und mit Sicherheit kein Selbst. Ein besonders<br />
bösartiger Kritiker könnte sogar argumentieren, dass ich durch die<br />
Einführung des Begriffs „Selbstmodell“ ein bisschen geschummelt habe,<br />
und würde mir vielleicht vorwerfen, durch die Substantivierung eine<br />
Intuitionspumpe installiert zu haben. Man darf durch die „Selbst“-
Metzinger: Being No One 459<br />
Komponente des Begriffs keine Äquivokation in das Argument einschmuggeln:<br />
Ein selbstgerichteter („reflexiver“) Prozess, durch den ein<br />
dynamisches inneres Bild des Organismus als Ganzem geschaffen wird,<br />
ist nicht dasselbe, wie die mentale Repräsentation eines Selbst. In diesem<br />
Sinne ist das Systemmodell einfach kein Selbstmodell. Im Grunde<br />
sind viele künstliche Systeme zu selbstgerichtetem Modellieren fähig<br />
und tatsächlich besitzen bereits heute viele Maschinen ein integriertes<br />
Selbstmodell in diesem Sinne. Im Gegenteil: Die ontologische Hintergrundannahme<br />
der SMT ist ja gerade, dass es so etwas wie Selbste<br />
im Sinne nichtphysikalischer Einzeldinge oder Substanzen in der Welt<br />
nicht gibt.<br />
Was genau ist notwendig und hinreichend, um zu garantieren, dass<br />
ein robustes Ichgefühl, die genuine Erfahrung jemand zu sein tatsächlich<br />
entsteht? Die vorreflexive, prä-attentionale Erfahrung jemand zu sein,<br />
resultiert direkt daraus, dass die Inhalte des gegenwärtig aktiven Selbstmodells<br />
transparent sind. Jedes System, das unter einem transparenten<br />
Selbstmodell operiert, wird sich, falls alle anderen notwendigen<br />
Bedingungen für die Entstehung phänomenalen Erlebens erfüllt sind,<br />
notwendigerweise als in direktem und unmittelbarem Kontakt mit sich<br />
selbst erleben.<br />
3.3.1 Die Phänomenologie transparenter Selbstmodellierung. Wie<br />
bereits erwähnt sind wir Systeme, die zunächst in einem naiv-realistischen<br />
Selbstmissverständnis gefangen sind. Es gibt breite Klassen<br />
phänomenaler Zustände, in denen unser Selbstmodell völlig transparent<br />
ist und wir nicht denken oder mit höherstufigen Prozessen der<br />
Selbstmodellierung wie selbstgerichteter Aufmerksamkeit und Kognition<br />
beschäftigt sind. Auf eine gewisse Weise sind wir in solchen Situationen<br />
„eins mit uns selbst“. Wir distanzieren uns nicht von uns selbst,<br />
indem wir einen höherstufigen selbstrepräsentationalen Inhalt erzeugen.<br />
Viele Tiere und die meisten Kleinkinder mögen auf dieser Stufe<br />
sein. Aus rein phänomenologischer Perspektive ist es deshalb interessant<br />
zu fragen, was das exakte Gegenteil dieser Konfiguration wäre.<br />
Die Antwort ist, dass es so etwas wie ein Gegenteil nicht zu geben<br />
scheint: Es existiert keine Form der bewussten Selbstrepräsentation, die<br />
durch einen völlig opaken Inhalt gekennzeichnet ist und ein phänomenales<br />
Ego mit sich bringt. Kognitive Selbstbezugnahme findet immer<br />
vor dem Hintergrund transparenter, vorbegrifflicher Selbstmodellierung<br />
statt (Metzinger 2003). Das bedeutet, dass es keine phänomenalen<br />
Zustandsklassen gibt, in denen wir uns selbst als reine körperlose Geister<br />
empfinden, die nicht innerhalb eines Verhaltensraums oder einer<br />
zeitlichen Ordnung realisiert sind (BNO: Abschnitt 7.2.3). Die SMT<br />
macht eine eindeutige neurophänomenologische Vorhersage: Wenn das
460 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
PSM gänzlich opak würde, verschwände das Ichgefühl, die phänomenale<br />
Eigenschaft der Selbstheit.<br />
An diesem Punkt müssen wir zu dem oben kurz erwähnten Problem<br />
zurückkehren: Droht an dieser Stelle ein Zirkularitätsvorwurf?<br />
Ist phänomenale Transparenz wirklich eine notwendige Bedingung für<br />
Phänomenalität? Die terminologischen Konventionen, denen wir folgen,<br />
sind zum Teil interessengebunden, da sie von unseren epistemischen<br />
Zielen abhängen: Wenn wir verstehen wollen, wie das ganz normale<br />
phänomenale Erleben ein subjektives Phänomen wird, indem es<br />
an eine Erste-Person-Perspektive gebunden wird, die ihrerseits ihren<br />
Ursprung in einem robusten phänomenalen Selbst hat, dann müssen<br />
wir eine stabile transparente Partition im Selbstmodell annehmen. Wir<br />
brauchen die Transparenzbedingung, weil nur die Transparenz des PSM<br />
ein robustes phänomenales Selbst ermöglicht. Wenn wir den explanatorischen<br />
Skopus erweitern, so dass wir auch selbstlose phänomenale<br />
Zustände – wie man sie bei bestimmten spirituellen Erfahrungen oder<br />
schweren psychiatrischen Störungen findet – in den Gegenstandsbereich<br />
mit aufnehmen, dann kann die Transparenzbedingung möglicherweise<br />
entbehrlich sein. Zum Beispiel könnte es phänomenologisch<br />
nicht-subjektive Zustandsklassen geben, in denen das System<br />
als Ganzes nur unter einem integrierten, aber phänomenal opaken Systemmodell<br />
operiert. Stellen Sie sich zum Beispiel eine Situation vor, in<br />
der eine luzide Träumerin nicht nur erlebnismäßig erkannt hat, dass<br />
sie sich gerade in einem Traum befindet, sondern sich selbst als eine<br />
Traumfigur erkennt, als ein simuliertes Selbst, eine repräsentationale<br />
Fiktion – eine Situation, in der das träumende System sozusagen für<br />
sich selbst luzide wird. Für eine zukünftige, etwas tiefergehende Philosophie<br />
des Geistes könnten solche Zustände hochgradig relevant sein.<br />
In BNO (566) habe ich den Begriff des „Systembewusstseins“ [system<br />
consciousness] eingeführt, um diese Zustandsklasse zu benennen. Die<br />
terminologisch-begriffliche Entscheidung, die wir hier treffen müssen,<br />
ist, ob wir solche Zustände noch „bewusste Erlebnisse“ oder „Erfahrungen“<br />
nennen wollen. Wenn wir es tun, dann ist Transparenz weder eine<br />
notwendige Bedingung für Subjektivität noch für Phänomenalität. Für<br />
analytische Philosophen wie mich selbst wird allerdings ein zentrales<br />
Problem immer darin bestehen, dass autophänomenologische Berichte<br />
über solche Zustände logisch inkohärent sind (denn sie enthalten einen<br />
„performativen Selbstwiderspruch“): Wie kann ich widerspruchsfrei<br />
über einen selbstlosen Bewusstseinszustand sprechen und mich dabei<br />
auf mein eigenes autobiographisches Gedächtnis beziehen?<br />
Um der wirklichen Phänomenologie deskriptiv gerecht zu werden,<br />
muss man zugeben, dass die Eigenschaft der phänomenalen Transparenz,<br />
um die es geht, kein Alles-oder-nichts-Phänomen ist, sondern in
Metzinger: Being No One 461<br />
ihrer Verteilung auf verschiedene Schichten des menschlichen Selbstmodells<br />
unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Im Allgemeinen<br />
ist das körperliche Selbstmodell völlig transparent, während höhere<br />
kognitive Prozesse wie etwa das rationale Denken phänomenal opak<br />
sind. Ein besonders interessantes Merkmal der Phänomenologie des<br />
menschlichen Selbstbewusstseins ist jedoch, dass es Aspekte besitzt, die<br />
auf der Ebene des subjektiven Erlebens wiederholt zwischen Transparenz<br />
und Opazität oszillieren können – z.B. emotionale Vorgänge. Dies<br />
ist vor allem im bewussten Erleben sozialer Beziehungen offensichtlich.<br />
Das subjektive Erleben von Vertrauen, Eifersucht oder leichtem<br />
Verfolgungswahn sind interessante Beispiele. Die Phänomenologie des<br />
transparenten Erlebens ist die Phänomenologie nicht nur des Wissens,<br />
sondern auch des Wissens, dass man weiß, während man weiß; opakes<br />
Erleben ist das Erleben von Wissen, während man gleichzeitig (nichtbegrifflich,<br />
attentional) weiß, dass man sich auch irren könnte. Wenn<br />
wir einem anderen Menschen vertrauen, hat ein bestimmter Teil unseres<br />
emotionalen Selbstmodells eine quasi-direkte und wahrnehmungsähnliche<br />
Qualität: Wir wissen einfach, dass wir wissen, dass ein bestimmter<br />
Mitmensch vertrauenswürdig ist, und dieses bewusste Erleben wird<br />
von einem maximalen Gefühl der Gewissheit begleitet. Falls mich diese<br />
Person aber enttäuscht, verändert sich nicht nur mein phänomenales<br />
Modell der Person, sondern es entsteht gleichzeitig eine bestimmte<br />
interne De-Kohärenz oder Dissoziation in meinem eigenen Selbstmodell:<br />
Ich erkenne plötzlich, dass mein emotionaler Vertrauenszustand<br />
lediglich eine Repräsentation der sozialen Wirklichkeit war, und zwar in<br />
diesem Falle eine Fehlrepräsentation. Er wird opak: Phänomenologisch<br />
wird eine Unterscheidung zwischen Träger und Inhalt verfügbar, wo<br />
vorher noch keine bestand. Wieder stellen wir fest, dass die emotionale<br />
Ebene der Selbstrepräsentation eine mittlere Position innerhalb des<br />
Spektrums zwischen Transparenz und Opazität einnimmt.<br />
Die transparente Partition des bewussten Selbstmodells ist von besonderer<br />
Bedeutung für die Hervorbringung der phänomenalen Eigenschaft<br />
der Selbstheit, weil sie Vorgänge der sensomotorischen Integration<br />
global verfügbar macht und dadurch eine interne Benutzeroberfläche<br />
für motorische Kontrolle erzeugt. Hätte es jedoch nicht die opake<br />
Partition meines Selbstmodells gegeben, dann hätte ich weder diese<br />
Zusammenfassung noch das Buch, auf das sie sich bezieht, schreiben<br />
können. Was das bewusste Selbstmodell des Menschen so einzigartig<br />
macht und es ein so ausgesprochen erfolgreiches Bindeglied zwischen<br />
der biologischen und kulturellen Evolution sein lässt, ist die Tatsache,<br />
dass es das Prinzip der autoepistemischen Geschlossenheit verletzt. Die<br />
Tatsache, dass unser Selbstmodell einen opaken Teil enthält, erlaubt, die<br />
Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen Erscheinung und Realität
462 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
nicht nur bei der Wahrnehmung äußerer Gegenstände zu erfassen, sondern<br />
eben auch für die Inhalte des Selbstbewusstseins. Es erlaubt uns,<br />
uns von uns selbst zu distanzieren, indem wir die Inhalte des PSM<br />
kritisch untersuchen, und es gestattet uns – mittels opaker Simulation<br />
– erstmals bestimmte Möglichkeiten begrifflich zu erfassen, z.B.<br />
die epistemologische Möglichkeit, dass jede phänomenale Repräsentation<br />
in Wirklichkeit eine Simulation sein könnte, wenn man sie aus<br />
einer objektiven Perspektive der dritten Person betrachtet (BNO: Kapitel<br />
2). Es gestattet uns auch zum ersten Mal, die Möglichkeit in Betracht<br />
zu ziehen, dass jede phänomenale Selbstrepräsentation in Wirklichkeit<br />
eine Selbstsimulation sein könnte. Solche rein kognitiven Entdeckungen<br />
verändern allerdings noch lange nicht die generelle und sehr robuste<br />
Architektur unseres phänomenalen Raumes.<br />
3.3.2 Transparenz als eine Eigenschaft der Selbstrepräsentation.<br />
Der repräsentationale Träger des bewussten Selbst-Erlebens ist ein<br />
bestimmter Prozess in unserem Gehirn, ein komplexes neuronales<br />
Aktivierungsmuster. Diesen Prozess der Selbstrepräsentation erleben<br />
wir nicht bewusst. Er ist nicht global verfügbar für die Aufmerksamkeitslenkung<br />
und ist in dem Sinne transparent, dass Sie gegenwärtig<br />
durch ihn hindurch schauen. Das, was Sie in diesem Sonderfall anschauen,<br />
sind Sie selbst: die Person als Ganze. Das, worauf Sie schauen,<br />
ist der repräsentationale Inhalt des Selbstmodells, z.B. die Existenz<br />
Ihrer eigenen Hände, hier und jetzt, die Ihnen durch eine Vielzahl<br />
sowohl innerer als auch äußerer sensorischer Kanäle gegeben ist. Dieser<br />
Inhalt ist, obwohl er als konkret erlebt wird, eine abstrakte Eigenschaft,<br />
und zwar des konkreten selbstrepräsentationalen Zustands in Ihrem<br />
Kopf.<br />
Nun müssen wir uns erinnern, dass es mindestens zwei Arten<br />
von mentalen Inhalten gibt: den intentionalen Inhalt und den lokal<br />
supervenierenden phänomenalen Inhalt der Selbstrepräsentation (siehe<br />
Abschnitt 2.3 oben). Ein körperloses Gehirn im Tank könnte sich mit<br />
Sicherheit der phänomenalen Erfahrung erfreuen, ein Buch wie dieses<br />
in genau diesem Moment in seinen eigenen Händen zu halten.<br />
Der phänomenale Inhalt meiner körperlichen Selbstwahrnehmung ist<br />
vollständig durch die internen Eigenschaften meines Gehirns determiniert.<br />
Für phänomenales Leiberleben ist kein Körper notwendig, genau<br />
wie man für ein subjektives Seherlebnis keine Augen besitzen muss.<br />
Wenn ich, während ich diese Sätze lese, in Wirklichkeit ein Gehirn in<br />
einem Tank bin, dann sehe ich gewissermaßen nicht mehr „intentional“<br />
oder „epistemisch“ durch einen phänomenalen Zustand in meinem<br />
Kopf auf meine Hände, sondern nur auf diesen Zustand selbst – ohne<br />
dass mir diese Tatsache auf der Ebene der phänomenalen Repräsenta-
Metzinger: Being No One 463<br />
tion global zur Verfügung steht. Die tiefere Frage ist, ob wir mich noch<br />
als eine Person bezeichnen sollten.<br />
Die phänomenale Qualität der Selbstheit, des Ich-Gefühls, wird<br />
durch eine transparente, nicht-epistemische Form von Selbstrepräsentation<br />
konstituiert und es ist auf dieser Ebene der repräsentationalistischen<br />
Analyse, auf der die Widerlegung des korrespondierenden phänomenologischen<br />
Fehlschlusses 7 wirklich radikal wird, da sie eine einfache<br />
und geradlinige ontologische Interpretation besitzt: Es gibt kein Selbst<br />
in der Welt.<br />
3.3.3 Transparente Selbstmodellierung als informationale/computationale<br />
Eigenschaft. Als computationale Strategie betrachtet, führt<br />
transparente Selbstmodellierung zu einer deutlichen Reduktion der<br />
computationalen Last. Insbesondere verhindert sie, dass sich das System<br />
in einem infiniten Regress der Selbstmodellierung verfängt. Man<br />
darf nämlich nicht übersehen, dass Selbstmodellierung von ihrer logischen<br />
Struktur her gesehen ein infiniter Prozess ist: Ein System, das<br />
sich als gegenwärtig sich selbst modellierendes System modellieren<br />
würde, würde dadurch eine unendliche, konvolvierte Kette von systembezogenen<br />
Inhalten beginnen, die schnell seine gesamten computationalen<br />
Ressourcen verschlingen und es in jeder praktischen Hinsicht<br />
paralysieren würde. Es muss deshalb einen effizienten Weg finden,<br />
die reflexive Schleife zu durchbrechen. Eine einfache und effiziente<br />
Methode zur Unterbrechung einer zirkulären Struktur besteht in der<br />
Einführung eines nicht transzendierbaren Objekts. Es ist meine Hypothese,<br />
dass sich das Phänomen der transparenten Selbstmodellierung<br />
auch deshalb als eine evolutionär gangbare Strategie durchgesetzt hat,<br />
weil sie eine zuverlässige Möglichkeit darstellte, systembezogene Information<br />
global verfügbar zu machen, ohne dabei das System in endlose<br />
interne Schleifen der höherstufigen Selbstmodellierung zu verwickeln.<br />
Ich nenne dies das „Prinzip der notwendigen Selbst-Reifikation“:<br />
Was wir als das phänomenale Selbst erleben, ist auf seiner grundlegendsten<br />
Ebene genau das transparente repräsentationale Objekt, das<br />
7 Dieser Fehlschluss besteht in dem ungerechtfertigten Gebrauch eines Existenzquantors<br />
innerhalb eines psychologischen Operators: Wenn ich in ein rotes Blitzlicht schaue,<br />
meine Augen schließe und dann ein grünes Nachbild erlebe, bedeutet dies nicht, dass<br />
nunmehr ein nicht-physikalischer Gegenstand entstanden ist, der die Eigenschaft der<br />
„Grünheit“ besitzt. Vergleiche eine frühe Formulierung von Place, 1956, Abschnitt V<br />
(â L-2): „Dieser logische Fehler, den ich den ‚phänomenologischen Fehlschluss‘ nennen<br />
werde, ist der Fehler anzunehmen, dass, wenn das Subjekt seine Erfahrung beschreibt,<br />
wenn es beschreibt, wie Dinge aussehen, klingen, riechen, schmecken oder sich für ihn<br />
anfühlen, es wörtliche Qualitäten von Objekten und Ereignissen auf einer seltsamen<br />
Art innerer Kinoleinwand oder Fernsehbildschirm beschreibt, welche in der modernen<br />
psychologischen Literatur gewöhnlich als ‚phänomenales Feld‘ bezeichnet wird.“
464 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
die unendliche selbstrepräsentationale Schleife blockiert. Interessanterweise<br />
zeigt sich aber bei näherer Betrachtung, wie dieser Vorgang nicht<br />
in einer Objektbildung kulminierte, sondern in einer Subjektbildung<br />
(BNO: Abschnitt 6.5).<br />
3.3.4 Transparente Selbstmodellierung als funktionale Eigenschaft.<br />
Systeme, die unter einem transparenten Selbstmodell operieren,<br />
setzen dadurch fortwährend ihre eigene Existenz als eine individuelle,<br />
zusammenhängende Entität voraus. Sie werden zu Realisten –zunaiven<br />
Realisten – im Hinblick auf sich selbst, insbesondere auch mit Blick<br />
auf ins Selbstmodell eingebettete Bedürfnisrepräsentationen und Zielzustände,<br />
und es ist klar, dass dies funktionale Konsequenzen hat. Ich<br />
drücke diesen Punkt gerne aus, indem ich sage, dass der Besitz eines<br />
transparenten PSM ein System maximal egoistisch macht.<br />
Mit Blick auf neue funktionale Eigenschaften ist es interessant zu<br />
sehen, wie das Selbstmodell erstens eine theoretische Entität ist, die<br />
vollständig auf subpersonalen Beschreibungsebenen angesiedelt ist,<br />
während sie zweitens gleichzeitig das entscheidende Bindeglied ist,<br />
das Kommunikation auf einer personalen Ebene zwischen einzelnen<br />
Menschen und innerhalb größerer Gruppen ermöglicht hat. Man wird<br />
eine Personen, indem man die richtige Art von Selbstmodell besitzt<br />
– nämlich eines, das die funktionalen Bedingungen der Möglichkeit<br />
realisiert, um innerhalb eines sozialen Kontextes in Beziehungen einzutreten,<br />
die den Personenstatus anderer Menschen explizit anerkennen.<br />
Das humane PSM ermöglichte es erstmals, dass bewusste Lebewesen<br />
sich gegenseitig als rationale Individuen modellieren konnten.<br />
3.3.5 Neuronale Korrelate transparenter Selbstmodellierung.Auch<br />
über die neuronalen Grundlagen des transparenten Selbstmodells beim<br />
Menschen weiß man bisher nicht viel. Der Begriff eines transparenten<br />
PSM hat jedoch zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit Antonio<br />
Damasios Begriff des „Kernselbst“ [core-self ] (vgl. Damasio 1999,<br />
2000).<br />
3.4 Konvolvierter Holismus und das phänomenale Selbst<br />
Der Teilbereich der Realität, der phänomenal als intern erlebt wird, d.h.<br />
das Selbstmodell, besitzt einen holistischen Charakter und dieser Holismus<br />
durchdringt viele Organisationsebenen, weil er gleichzeitig für viele<br />
verschiedene Formen des sich fortwährend verändernden phänomenalen<br />
Inhalts gilt, aus denen er sich aufbaut.<br />
3.4.1 Konvolvierter Holismus als ein phänomenologisches Merkmal<br />
von Selbstbewusstsein. Das phänomenale Selbst konstituiert ein<br />
subglobales Ganzes (eine „Welt innerhalb der Welt“). Die konkrete
Metzinger: Being No One 465<br />
Ganzheit meines eigenen Selbst entsteht aus einer Vielzahl interner<br />
Teil-Ganzes-Beziehungen. Allerdings muss jede realistische Phänomenologie<br />
der Tatsache Rechnung tragen, dass diese mereologische Hierarchie<br />
eine extrem flexible, „fließende“ Hierarchie ist. Auch wenn sich<br />
der Fokus meiner introspektiven Aufmerksamkeit verlagert und neue<br />
innere Ganzheiten erzeugt, ist doch die alles umfassende Qualität der<br />
Ganzheit niemals bedroht. Was sich jedoch ständig verändert, ist die Art<br />
und Weise, in der körperliche, emotionale und kognitive Erlebnisinhalte<br />
integriert und ineinander eingebettet werden.<br />
3.4.2 Konvolvierter Holismus als eine informationale/computationale<br />
Strategie der Selbstrepräsentation. Systembezogene, in<br />
einem holistischen Format dargestellte Information ist kohärente Information,<br />
die dem System als ein einziges mögliches Objekt für absichtlich<br />
eingeleitete Denkvorgänge und die willkürliche Aufmerksamkeitslenkung<br />
zur Verfügung steht. Zugleich erzeugt Information, die in<br />
ein konvolviertes holistisches Selbstmodell integriert ist, eine interne<br />
Art von wechselseitiger Abhängigkeit: Weil sich einzelne Aspekte<br />
– z.B. Körperwahrnehmungen, Hintergrundgefühle und kognitive<br />
Zustände – innerhalb des Modells direkt gegenseitig beeinflussen<br />
können, macht es eine neue Repräsentationsebene global verfügbar,<br />
auf der die komplexe kausale Struktur und die das System antreibende<br />
innere Dynamik dargestellt werden können.<br />
3.5 Dynamik des phänomenalen Selbst<br />
3.5.1 Phänomenologie des dynamischen Selbst. Was auch immer<br />
meine wahre Natur sein mag, ich bin eine Entität, die Veränderungen<br />
unterliegt. Ich kann alle phänomenologischen Aspekte der Zeiterfahrung<br />
(BNO: Abschnitt 3.2.5) introspektiv in mir selbst entdecken: Es<br />
gibt die Simultanität körperlicher Empfindungen; es gibt Sukzession<br />
und Serialität, wie man sie paradigmatisch beim bewussten, rationalen<br />
Denken erlebt; ich erlebe mich selbst als Teil und in direktem Kontakt<br />
mit der Realität, indem ich ein anwesendes Selbst bin; und schließlich<br />
ist die Phänomenologie des Selbstbewusstseins unbestreitbar durch ein<br />
starkes Element der Dauer charakterisiert. Letzteres ist besonders interessant.<br />
Denn es ist eine triviale Tatsache, dass Kohärenz und Dauer des<br />
phänomenalen Selbst hochgradig diskontinuierlich sind, da sie z.B.<br />
wiederholt durch Phasen des Tief- und des Traumschlafs unterbrochen<br />
werden. Es sind die Invarianz der körperlichen Selbstwahrnehmung<br />
und die fiktive Verkettung phänomenaler Erlebnisse durch das<br />
autobiographische Gedächtnis, die das bewusste Erleben eines die Zeit<br />
überdauernden Selbst, die subjektive Repräsentation einer transtemporalen<br />
Identität konstituieren. Die begriffliche Reifikation dieses an sich
466 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
äußerst instabilen und episodischen Vorgangs wird dann später durch<br />
den phänomenologischen Fehlschluss iteriert, der nahezu den gesamten<br />
alltagspsychologischen Diskurs und einen Großteil des philosophischen<br />
Diskurses über „das“ Selbst durchsetzt. Das naiv-realistische Reden von<br />
„dem“ oder sogar „unserem“ Selbst ist nicht nur ontologisch, sondern<br />
sogar phänomenologisch falsch: Selbstbewusstsein ist kein Ding, sondern<br />
ein episodisch auftretender Vorgang.<br />
3.5.2 Dynamizität als Eigenschaft phänomenaler Selbstrepräsentation.<br />
Eine der wichtigsten Ideen der dynamistischen Kognitionswissenschaft<br />
ist, Intentionalität nicht als eine rigide, abstrakte Beziehung zu<br />
betrachten, die von einem Subjekt auf ein intentionales Objekt gerichtet<br />
ist, sondern als einen dynamischen, letztlich physikalischen Prozess.<br />
Ebenso ist Reflexivität nicht eine rigide, abstrakte Beziehung, in der ein<br />
Subjekt zu sich selbst steht, sondern ein konstruktiver und dynamischer<br />
Vorgang, der ein kontinuierlich aktualisiertes Selbstmodell erzeugt.<br />
3.6 Perspektivität<br />
So etwas wie Perspektivität lässt sich interessanterweise sogar innerhalb<br />
des Selbstmodells erzeugen, nämlich in höherstufigen Varianten<br />
kognitiven Selbstbewusstseins. Im Kontext dieser Zusammenfassung<br />
ist dies jedoch nicht von zentralem Interesse. Wichtiger ist, wie ein<br />
transparentes Selbstmodell als Ursprung der bewusst erlebten Erste-<br />
Person-Perspektive fungieren kann, indem es zum invarianteren Teil<br />
einer noch komplexeren Form phänomenalen Inhalts wird. Diesen<br />
Zusammenhang werde ich nun sehr kurz in einem letzten Abschnitt<br />
skizzieren.<br />
4. Das PMIR: Die bewusst erlebte Perspektive der<br />
ersten Person<br />
Ein computationales System, das unter einem durch ein kohärentes<br />
Selbstmodell zentrierten Weltmodell operiert, hat die grundlegendste<br />
Partitionierung seines Informationsraumes eingeführt, die überhaupt<br />
möglich ist: Es ist die Unterscheidung zwischen der Verarbeitung<br />
umweltbezogener und systembezogener Information. Ein phänomenales<br />
Subjekt – im Gegensatz zu einem bloßen phänomenalen Selbst –<br />
ist aber wesentlich mehr, es ist ein bewusstes Modell des Systems als<br />
handelnd und wissend. Meine These ist, dass ein phänomenales Subjekt<br />
genau dadurch entsteht, dass die Intentionalitätsbeziehung, die Gerichtetheit<br />
psychischer Akte auf einen Gegenstand, selbst auf der Ebene des<br />
phänomenalen Erlebens noch einmal abgebildet wird. Wir brauchen
Metzinger: Being No One 467<br />
eine begrifflich überzeugende und empirisch plausible Theorie über<br />
das, was ich in anderen Publikationen als das „phänomenale Modell<br />
der Intentionalitätsrelation“ bezeichnet habe. (Metzinger 1993: 128ff,<br />
2000b: 300, 2006).<br />
4.1 Das Konzept des PMIR: Eine kurze repräsentationalistische Analyse<br />
Das phänomenale Modell der Intentionalitätsrelation (PMIR) ist ein<br />
bewusstes mentales Modell und sein Inhalt ist eine episodische, sich<br />
aktuell entfaltende Subjekt-Objekt-Beziehung. Phänomenologisch gesehen<br />
erzeugt ein PMIR typischerweise das Erlebnis eines Selbst im Akt<br />
des Wissens, eines Selbst im Akt des Wahrnehmens, eines Selbst im Akt<br />
des Erfassens eines abstrakten kognitiven Inhalts oder auch das Erleben<br />
eines wollenden Selbst im Akt des Intendierens und Handelns, also im<br />
Akt des auf bestimmte Erfüllungsbedingungen oder einen konkreten<br />
Zielzustand Gerichtetseins.<br />
Abbildung 1: Das phänomenale Modell der Intentionalitätsrelation (PMIR): Eine<br />
Subjektkomponente (S; das PSM, ein internes, bewusstes Modell des Systems<br />
als Ganzem) wird phänomenal als auf eine Objektkomponente (O; das „intentionale<br />
Objekt“) gerichtet dargestellt.<br />
Den Begriff eines PMIR muss man deutlich von dem klassischen<br />
Begriff der Intentionalität, wie man ihn etwa bei Brentano (1874) findet,<br />
unterscheiden. Gute, altmodische Intentionalität [good old-fashioned<br />
intentionality; GOFI ] war die Gerichtetheit eines psychischen Akts<br />
auf eine Objektkomponente, die mental im Modus der „intentionalen<br />
Inexistenz“ enthalten ist.<br />
Ich möchte die Aufmerksamkeit auf einen Punkt lenken, der in<br />
der Vergangenheit häufig übersehen wurde: Die klassische Intentionalitätsrelation<br />
kann selbst zum Inhalt einer bewussten, aber nichtbegrifflichen<br />
mentalen Repräsentation werden. Sie ist nicht nur ein<br />
theoretisches Problem für Philosophen. Wesen wie wir Menschen verfügen<br />
über ein phänomenales Modell der Intentionalitätsrelation selbst.
468 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
Abbildung 2: Gute, altmodische Intentionalität (good old-fashioned intentionality;<br />
GOFI): Eine Subjektkomponente (S; der „mentale Akt“) ist auf eine<br />
Objektkomponente (O; das „intentionale Objekt“) gerichtet. Da O nicht existieren<br />
muss, ist GOFI eine nicht-physikalische Relation.<br />
Wir haben gewissermaßen die Fähigkeit, uns selbst in flagranti zu<br />
ertappen, im Akt des Repräsentierens selbst, denn manchmal haben<br />
wir höherstufige phänomenale Repräsentationen von uns selbst als<br />
repräsentierend. Auf der anderen Seite ist aus empirischer Perspektive<br />
die Annahme plausibel, dass viele nicht-menschliche Systeme intentionale<br />
Systeme (im Sinne von Daniel Dennett; â I-11) sind, ihr Nervensystem<br />
es ihnen aber nicht gestattet, diese Tatsache global verfügbar<br />
zu machen, sich ihr jemals bewusst zu werden. In unserem eigenen Fall<br />
darf man jedoch nicht übersehen, dass die gute altmodische Intentionalität<br />
(GOFI) selbst eine Form phänomenalen Inhalts sein kann. Der<br />
Kerngedanke ist, dass wir nicht nur individuelle Objekte repräsentieren,<br />
sondern in vielen repräsentationalen Akten auch die repräsentationale<br />
Beziehung selbst mitrepräsentieren – auch wenn unser Gehirn dies auf<br />
eine ganz andere Weise tut als die Theorien der Philosophen. Insbesondere<br />
behaupte ich, dass diese Tatsache von zentraler Bedeutung ist,<br />
wenn wir verstehen wollen, was die bewusst erlebte Erste-Person-Perspektive<br />
in Wirklichkeit ist.<br />
4.2 Welche Funktion hat das PMIR?<br />
Phänomenale Modelle sind Instrumente, die dafür verwendet werden,<br />
eine bestimmte Teilmenge der Information, die gerade im System aktiv<br />
ist, für die Handlungskontrolle, für fokale Aufmerksamkeit und kognitive<br />
Weiterverarbeitung global verfügbar zu machen. Ein phänomenales<br />
Modell transienter Subjekt-Objekt-Relationen macht auf funktionaler<br />
Ebene eine sehr große Menge an neuer Information für das System<br />
global verfügbar. Das ist z.B. alle Information darüber, dass es<br />
gerade von Wahrnehmungsgegenständen perturbiert wird, dass gerade
Metzinger: Being No One 469<br />
bestimmte kognitive Zustände in ihm auftreten, oder auch die Tatsache,<br />
dass jetzt gerade bestimmte abstrakte Zielrepräsentationen aktiv<br />
sind, die ihrerseits zu einer Reihe von konkreten Selbstsimulationen<br />
führen, welche den augenblicklichen Systemzustand mit dem Zustand<br />
verknüpft, den das System hätte, wenn der Zielzustand tatsächlich realisiert<br />
würde, dass es deshalb ein System ist, das zu selektivem Verhalten<br />
in der Lage ist, usw. Es könnte auch die Information sein, dass es<br />
selbst ein System ist, welches seinen eigenen sensorischen Input manipulieren<br />
kann, indem es etwa seinen Kopf dreht und seinen Blick auf<br />
ein bestimmtes visuelles Objekt richtet, oder die Information, dass es<br />
gerade von einem anderen Subjekt aufmerksam beobachtet wird. Ein<br />
PMIR macht diese spezifischen Arten von Information innerhalb eines<br />
Gegenwartsfensters global verfügbar. Global verfügbare Information<br />
ermöglicht eine selektive und flexible Verhaltenskontrolle.<br />
Indem ein PMIR die dynamische Repräsentation transienter Subjekt-Objekt-Relationen<br />
erlaubt, macht es – dies ist jetzt der erkenntnistheoretische<br />
Aspekt – eine neue Klasse von Tatsachen global verfügbar.<br />
Der Besitz einer Erste-Person-Perspektive ist damit eine Form von<br />
Intelligenz, eine radikal neue Möglichkeit, Wissen zu erzeugen und<br />
für die Verhaltenssteuerung zu benutzen. Wenn das System zudem<br />
die Fähigkeit besitzt, die Konstruktion eines PMIR zu iterieren (d.h.<br />
einen Pfeil zweiter Ordnung auf einen bereits existierenden Pfeil erster<br />
Stufe zu richten und dadurch ein erststufiges PMIR in die Objektkomponente<br />
eines höherstufigen PMIR zu verwandeln), dann entstehen<br />
zwei völlig neue Formen von Intelligenz, weil das System nun flexibel<br />
und selektiv auf zwei vollständig neue (und sehr große) Klassen von<br />
Tatsachen reagieren kann:<br />
Introspektive Intelligenz<br />
– Agentivität [agency]: Das System kann sich der Tatsache bewusst<br />
werden, dass es einen Willen besitzt und dass es ein Handlungssubjekt<br />
(also: selektiv auf Zielzustände gerichtet) ist.<br />
– Attentionale Subjektivität: Das System kann sich der Tatsache bewusst<br />
werden, dass es überhaupt eine willentlich kontrollierbare und<br />
selektive Form der Aufmerksamkeitslenkung besitzt. Dies ermöglicht<br />
komplexere Formen des Lernens und der epistemischen Selbstregulation.<br />
– Reflexives Selbstbewusstsein: Falls es über die Fähigkeit zu begrifflichem<br />
Denken verfügt, kann das System die Tatsache, dass es überhaupt<br />
eine Erste-Person-Perspektive besitzt, nocheinmalmentalrepräsentieren<br />
und sich selbst auch sprachlich zuschreiben. Genau dies<br />
ermöglicht dann den typisch menschlichen Übergang von phänomenaler<br />
zu kognitiver Subjektivität.
470 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
Abbildung 3: Introspektive Intelligenz: EinPMIR zweiter Ordnung ist auf ein<br />
PMIR erster Ordnung als seine Objektkomponente gerichtet. Das zugrunde<br />
liegende Prinzip relationaler Kodierung ist iteriert.<br />
Im Sonderfall bewusster Volition zweiter Ordnung etwa ist das PMIR erster<br />
Ordnung eine sich aktuell entfaltende Repräsentation des Systems als gerade auf<br />
eine Zielkomponente gerichtet. Das volitionale PMIR zweiter Ordnung kann<br />
ihm innerhalb bestimmter zeitlicher Rahmenbedingungen erlauben, die Initiierung<br />
einer Handlung abzubrechen oder ihm die Tatsache, dass es selbst etwas<br />
Bestimmtes wollen will, bewusst machen. Im Sonderfall bewusster Kognition<br />
zweiter Ordnung erlaubt es dem System, sich erstmals als ein denkendes Subjekt<br />
zu begreifen.<br />
Soziale Intelligenz:<br />
– Modellierung anderer Agenten: Das System kann sich erstmals der<br />
Tatsache bewusst werden, dass andere Systeme ebenfalls eine Erste-<br />
Person-Perspektive besitzen. Dies erlaubt Handlungskoordination<br />
und kooperatives Verhalten, aber auch absichtliche Täuschungsmanöver<br />
in sozialen Kontexten.<br />
– Empathie und soziale Kognition [mind reading]: Das System kann<br />
intern externe PMIRs simulieren, die gerade in anderen Agenten<br />
aktiv sind. Einfühlung und empathisches Verstehen der Intentionen<br />
anderer Handlungssubjekte werden möglich.<br />
– Hochstufige Intersubjektivität: Systeme mit kognitiven PMIRs<br />
(also Systeme, die für sich selbst die Tatsache, dass sie kognitive<br />
Subjekte sind, global verfügbar gemacht haben; s.o.) können sich<br />
gegenseitig in ihrem Personenstatus anerkennen. Dies ermöglicht<br />
die Entstehung normativer Intersubjektivität und komplexer Gesellschaften.<br />
Eine allgemeinere Einsicht, die für alle Formen phänomenaler Inhalte<br />
gilt, die in BNO oder in dieser sehr kurzen Zusammenfassung<br />
behandelt wurden, könnte die folgende sein: Phänomenale Zustände<br />
sind in der Evolution entstandene virtuelle Organe, neurocomputationale<br />
Werkzeuge, die einen Organismus vorübergehend mit neuen
Metzinger: Being No One 471<br />
Abbildung 4: Soziale Intelligenz:EinPMIR zweiter Ordnung ist auf ein PMIR<br />
erster Ordnung gerichtet, das in das Modell eines anderen Handelnden integriert<br />
wurde. Das zugrunde liegende Prinzip relationaler Kodierung ist nun auf der<br />
sozialen Ebene iteriert.<br />
Für den Sonderfall der bewusst erlebten soziovolitionalen Kognition z.B. ist<br />
das PMIR zweiter Ordnung eine dynamische Repräsentation des Systems als<br />
gegenwärtig auf die Intention eines anderen Handelnden gerichtet. Das Gehirn<br />
integriert das volitionale PMIR erster Ordnung in ein Modell eines anderen<br />
Handelnden wie er entweder gerade wahrgenommen oder mental simuliert<br />
wird. Wiederum besteht die funktionale Relevanz dieser Architektur darin,<br />
dass eine neue Klasse von Tatsachen auf der Ebene des bewussten Erlebens<br />
integriert werden kann. Für den Sonderfall der kognitiven Subjektivität besteht<br />
nun erstmals die Möglichkeit, ein anderes System ebenfalls als denkendes Subjekt<br />
zu repräsentieren.<br />
funktionalen Eigenschaften ausstatten, weil sie bestimmte Arten von<br />
Tatsachen in einem Gegenwartsfenster global verfügbar machen und<br />
dadurch gleichzeitig einen einzigen integrierten Kontext und einen zeitlichen<br />
Referenzrahmen erzeugen. Das transparente PSM von Homo<br />
sapiens besitzt die besondere Eigenschaft, dass es uns durch seine Einbettung<br />
in ein kohärentes, globales Realitätsmodell nicht nur die Fähigkeit<br />
verliehen hat, uns unserer eigenen Existenz bewusst zu werden.<br />
Der eigentlich interessante Schritt war die phänomenal opake Partition:<br />
Sie gestattete es uns erstmals, uns unserer eigenen Existenz als<br />
unter einer individuellen Erste-Person-Perspektive operierende Repräsentationssysteme<br />
bewusst zu werden. Nachdem wir die Sprachfähigkeit<br />
entwickelt hatten, konnten wir uns diese Eigenschaft auf begrifflicher<br />
Ebene selbst zuschreiben, sie sprachlich kommunizieren und dadurch<br />
die Tür öffnen, die den Aufstieg von der biologischen in die kulturelle<br />
Evolution ermöglichte.
472 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
Quelle: Dieser Beitrag erschien zuerst 2005 auf Englisch unter dem Titel Précis<br />
of Being No One, und zwar als Teil eines Buchsymposiums in der elektronischen<br />
Zeitschrift PSYCHE – An Interdisciplinary Journal of Research on Consciousness,<br />
11 (5), 1–35.<br />
<br />
Die deutsche Übersetzung dieser leicht überarbeiteten Version stammt von<br />
Antonia Barke.<br />
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476 Modul B-13: Repräsentationalistische Theorien des Bewusstseins IV<br />
Serviceteil<br />
Bachelor/Proseminar<br />
Pflichtlektüre:<br />
Metzinger, T. (2005). Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität: Eine Kurzdarstellung<br />
in sechs Schritten. In C.S. Herrmann, M. Pauen, J.W. Rieger<br />
und S. Schicktanz [Hrsg.], Bewusstsein: Philosophie, Neurowissenschaften,<br />
Ethik. München:UTB/Fink.<br />
Tipp:<br />
Blau, U. (1986). Die Paradoxie des Selbst. Erkenntnis, 25, 177–196.<br />
Master/Hauptseminar<br />
Pflichtlektüre:<br />
Metzinger, T. ( 2 2004). Being No One – The Self-Model Theory of Subjectivity.<br />
Cambridge, MA: MIT Press. Individuelle Auswahl aus Abschnitt 8.2.<br />
Tipp:<br />
Online Buchsymposium in PSYCHE – An Interdisciplinary Journal of Research<br />
on Consciousness, 11(5)<br />
<br />
Promotion<br />
Tipps und weiterführende Hinweise:<br />
Bermúdez, J.L. (1998). The Paradox of Self-Consciousness. Cambridge,MA:<br />
MIT Press.<br />
Feinberg, T. (2001). Altered Egos – How the Brain creates the Self .Oxford:<br />
Oxford University Press.<br />
Georgieff, N. and Jeannerod, M. (1998). Beyond consciousness of external reality:<br />
A „Who“ system for consciousness and action and self-consciousness.<br />
Consciousness and Cognition, 7, 465–77.<br />
Grush, R. (2000). Self, world and space: The meaning and mechanisms of egoand<br />
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Newen, A. & Vogeley, K. (2000) [Hrsg.] Selbst und Gehirn. Paderborn: mentis.<br />
Newen, A. (1997). The logic of indexical thoughts and the metaphysics of the<br />
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Indexicality and Propositional Attitudes. Stanford: CSLI.<br />
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Perspective and Other Essays. Cambridge: Cambridge University Press.<br />
Deutsch in P. Bieri (1993) [Hrsg.], Analytische Philosophie des Geistes.<br />
Königstein: Hain 1981; 2 1993; 3 1997, Weinheim: Beltz Athenäum.<br />
Strauss, J., and Goethals, G.R. (1991) [eds.], The Self: Interdisciplinary Approaches.<br />
New York, Berlin, London: Springer.