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Was ist eine wissenschaftliche Theorie? - Philosophisches Seminar

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Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie<br />

<strong>Philosophisches</strong> <strong>Seminar</strong><br />

Name: Prof. Dr. Elke Brendel<br />

Telefon: +49 6131 39- 22527<br />

Übersicht über zentrale Themen der Wissenschaftstheorie<br />

1. <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> Wissenschaft? <strong>Was</strong> <strong>ist</strong> <strong>eine</strong> <strong>wissenschaftliche</strong> <strong>Theorie</strong>?<br />

Angabe von Kriterien, die <strong>wissenschaftliche</strong> von nicht<br />

<strong>wissenschaftliche</strong>n (pseudo<strong>wissenschaftliche</strong>n) Disziplinen unterscheiden<br />

2. Grundbegriffe der Wissenschaften<br />

Definition – Axiom – Hypothese – Theorem – Gesetz<br />

3. Grundbegriffe <strong>wissenschaftliche</strong>r Methoden<br />

Deduktion, Induktion, Abduktion<br />

4. Wissenschaftliche Rationalität<br />

Kons<strong>ist</strong>enz, Kohärenz, Prüfbarkeit, intersubjektive Verständlichkeit etc.<br />

5. Wissenschaftliche Erklärung/Bestätigung<br />

• Klassisches deduktiv-nomologisches bzw. induktiv-stat<strong>ist</strong>isches<br />

Erklärungsmodell<br />

• Kausal-stat<strong>ist</strong>ische <strong>Theorie</strong> der Erklärung<br />

• Vereinheitlichungstheorien der Erklärung: Erklärungskraft von<br />

<strong>Theorie</strong>n bzw. Hypothesen durch Systematisierungs- und<br />

Vereinheitlichungsle<strong>ist</strong>ungen<br />

6. <strong>Theorie</strong>n der Wissenschaftsdynamik<br />

Wodurch wird ein <strong>Theorie</strong>nwandel ausgelöst? <strong>Was</strong> bedeutet<br />

<strong>wissenschaftliche</strong>r Fortschritt?<br />

7. Wissenschaftlicher Realismus vs. Antirealismus<br />

Welchen ontologischen und erkenntn<strong>ist</strong>heoretischen Status haben die<br />

„theoretischen Entitäten“ der Wissenschaften (wie String, Quarks etc.)?<br />

8. Grenzen <strong>wissenschaftliche</strong>r Erkenntnis<br />

9. Kulturelle und gesellschaftliche Konsequenzen des<br />

Wissenschaftsfortschritts<br />

10. Wissenschaftsethik<br />

Telefax: +49 6131 39- 25141<br />

e-mail: brendel@uni-mainz.de<br />

1


Wichtige einführende Literatur:<br />

• M. Curd/J.A. Cover (eds.): Philosophy of Science, New<br />

York/London 1998.<br />

• W.K. Essler: Wissenschaftstheorie, Bd. I-IV,<br />

Freiburg/München.<br />

• V. Gadenne/A. Visintin (Hg.): Wissenschaftsphilosophie,<br />

Freiburg/München 1999.<br />

• K. Lambert/G.G. Brittan: Eine Einführung in die<br />

Wissenschaftsphilosophie, Berlin/New York 1991.<br />

• B. Lauth/J. Sareiter: Wissenschaftliche Erkenntnis,<br />

Paderborn 2002.<br />

• J. Losee: Wissenschaftstheorie, München 1977.<br />

• G. Schurz: Einführung in die Wissenschaftstheorie, Darmstadt<br />

2006.<br />

• E. Brendel: Wissenschaft, in: Neues Handbuch philosophischer<br />

Grundbegriffe, hrsg. von A.G. Wildfeuer/P. Kolmer,<br />

Freiburg/München 2007.<br />

2


Idealtypische Kriterien an Wissenschaftlichkeit<br />

• Wissenschaft <strong>ist</strong> mit <strong>eine</strong>m Objektivitätsanspruch verbunden,<br />

<strong>ist</strong> mit dem Ideal objektiver Gültigkeit und intersubjektiver<br />

Nachprüfbarkeit verbunden (unterscheidet sich daher von<br />

bloßen subjektiven Meinungen, von Dogmen und Ideologien)<br />

• Wissenschaft <strong>ist</strong> mit <strong>eine</strong>m Erklärungsanspruch verbunden,<br />

die vielfältigen Phänomene unserer Natur und Lebenswelt<br />

sollen verstehbar werden.<br />

• Weitere Kriterien <strong>wissenschaftliche</strong>r Rationalität:<br />

- (weitestgehende) logische Widerspruchsfreiheit und<br />

Zirkelfreiheit<br />

- Korrekte Anwendung <strong>wissenschaftliche</strong>r Methoden des<br />

Schließens (Deduktion, Induktion, stat<strong>ist</strong>isches Schließen<br />

etc., Abduktion)<br />

- Reliabilität und Validität<br />

- Kohärenz mit bestehenden <strong>wissenschaftliche</strong>n <strong>Theorie</strong>n<br />

- Theoretische Fruchtbarkeit<br />

- Prognostische Relevanz<br />

- Empirische Adäquatheit: K<strong>eine</strong> zu große Diskrepanz<br />

zwischen <strong>wissenschaftliche</strong>r <strong>Theorie</strong> und Erfahrung<br />

- Möglichst wenige Anomalien<br />

- Wenig ad hoc Annahmen<br />

- Genauigkeit und Einfachheit<br />

Diese Kriterien können manchmal im Konflikt zueinander stehen<br />

und müssen in ein ausgewogenes Gleichgewicht gebracht werden<br />

(„reflective equilibrium“).<br />

3


Beispiel 1: Zenons <strong>Theorie</strong> über die Unmöglichkeit von Bewegung<br />

Zenon von Elea<br />

(um 490 – 430 v. Chr.)<br />

Die Paradoxie von Achilles und der Schildkröte<br />

Der schnelle Achill (A) und die Schildkröte (S) sollen <strong>eine</strong>n Wettlauf austragen. Die<br />

Schildkröte erhält der Fairness halber <strong>eine</strong>n Vorsprung. Nachdem der Wettlauf<br />

gestartet <strong>ist</strong>, muss A, um die Schildkröte zu überholen, zunächst den Punkt P 0<br />

erreichen, von dem aus S gestartet <strong>ist</strong>. In der Zwischenzeit <strong>ist</strong> aber die Schildkröte auf<br />

den Punkt P 1 vorgerückt, den A nun wiederum zunächst erreichen muss, um S zu<br />

überholen, die nun aber ihrerseits wieder <strong>eine</strong> kl<strong>eine</strong> Wegstrecke bis zum Punkt P 2<br />

vorgerückt <strong>ist</strong> – u.s.w. ad infinitum. A müsste also, um die Schildkröte einzuholen,<br />

zunächst unendlich viele Strecken zurücklegen, was unmöglich erscheint.<br />

A wird daher S niemals einholen.<br />

Zenon: Bewegung <strong>ist</strong> unmöglich und <strong>eine</strong> bloße Illusion!<br />

⇒ <strong>Theorie</strong> <strong>ist</strong> empirisch inadäquat, schien aber ein Resultat der Anwendung<br />

korrekter damaliger <strong>wissenschaftliche</strong>r Methoden zu sein und war kohärent zu<br />

damaligen philosophischen <strong>Theorie</strong>n über Unendlichkeit und Bewegung<br />

(Parmenides).<br />

4


Beispiel 2: Descartes’ Leib-Seele Dualismus<br />

René Descartes<br />

(1596-1650)<br />

Es gibt in der Welt genau zwei Arten von Substanzen:<br />

Die körperlichen Substanzen (res extensa), deren<br />

wesentliches Attribut ihre Ausgedehntheit <strong>ist</strong>, und die<br />

ge<strong>ist</strong>igen Substanzen (res cogitans), deren wesentliches<br />

Attribut das Denken <strong>ist</strong>.<br />

Dualismus Hypothese erscheint<br />

• empirisch adäquat<br />

• theoretisch fruchtbar und steht in Kohärenz zu anderen von Descartes’<br />

vertretenen Auffassungen und kann diese zusätzlich stützen (mechan<strong>ist</strong>ische<br />

Physik, Unsterblichkeit der Seele)<br />

Sie we<strong>ist</strong> jedoch auch Erklärungsanomalien auf:<br />

• Interaktionismusproblem: das kausale Einwirken von Körperlichem auf<br />

Ge<strong>ist</strong>iges und Ge<strong>ist</strong>iges auf Körperliches kann nicht erklärt werden.<br />

⇒ Descartes’ ad hoc Erklärung dieser Anomalie: Die Zirbeldrüse (Drüse<br />

zwischen Groß- und Kleinhirn) <strong>ist</strong> Sitz der Seele und Ort der Kausalrelation von<br />

Körper und Ge<strong>ist</strong>.<br />

⇒ Diese Erklärung <strong>ist</strong> jedoch unbefriedigend: Wie kann <strong>eine</strong> rein ge<strong>ist</strong>ige<br />

Substanz an <strong>eine</strong>n bestimmten materiellen Ort angesiedelt sein?<br />

Diese Probleme führten zur Aufgabe von sustanzdual<strong>ist</strong>ischen Positionen. Die<br />

mon<strong>ist</strong>ische Alternativtheorie scheint heute theoretisch fruchtbarer und einfacher<br />

zu sein. Dies bedeutet aber, dass man sich von der Annahme <strong>eine</strong>r vom Körper<br />

unabhängigen, rein ge<strong>ist</strong>igen Substanz, <strong>eine</strong>r Seele, verabschieden muss.<br />

Ockhams „Rasiermesser“ (Occam’s Razor):<br />

Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem<br />

Wilhelm von Ockham (um 1285-1350)<br />

5


Beispiel 3: Die Phlog<strong>ist</strong>ontheorie<br />

Chemische <strong>Theorie</strong> (spätes 17. Jahrhundert/18. Jahrhundert), wonach es<br />

<strong>eine</strong>n chemischen Bestandteil von Materie geben soll (Phlog<strong>ist</strong>on), der bei<br />

Verbrennung oder Verrostung entweicht.<br />

Die Phlog<strong>ist</strong>ontheorie war:<br />

• zunächst theoretisch fruchtbar, da sie viele chemische Phänomene<br />

gut erklären konnte (Verbrennung organischer Stoffe war mit<br />

Gewichtsverlust verbunden; dass ein Teil der Luft (der spätere<br />

Sauerstoff) Verbrennung länger unterhalten kann, wurde dadurch<br />

erklärt, dass dieser Teil als „dephlog<strong>ist</strong>ierte Luft“ angesehen wurde,<br />

die besonderes viel Phlog<strong>ist</strong>on aufnehmen kann).<br />

Die Phlog<strong>ist</strong>ontheorie hat sich jedoch im Laufe der Zeit als problematisch<br />

erwiesen, da durch die Verbesserung chemischer Messmethoden immer<br />

mehr Anomalien zu Tage traten, wie z.B.<br />

• Metalle und andere Stoffe, die beim Verbrennen schwerer wurden.<br />

⇒ Ad hoc Annahmen zur Erklärung dieser Anomalien:<br />

• Phlog<strong>ist</strong>on hat negatives Gewicht (war jedoch mit anderen <strong>Theorie</strong>n<br />

– Newtons Gravitationsgesetzen – inkohärent)<br />

• Feuerpartikel dringen in den Körper ein, wenn das Phlog<strong>ist</strong>on ihn<br />

verlässt.<br />

⇒ Ablösung der Phlog<strong>ist</strong>ontheorie durch die Oxidationstheorie nach<br />

Lavoisiers Entdeckung des Sauerstoffs<br />

⇒ Anwendung von „Ockhams Rasiermesser“: Die Annahme von<br />

Phlog<strong>ist</strong>on erwies sich als empirisch inadäquat. <strong>Theorie</strong>n, die ohne die<br />

Annahme von Phlog<strong>ist</strong>on auskommen, waren theoretisch fruchtbarer und<br />

einfacher. Daher: Es gibt kein Phlog<strong>ist</strong>on!<br />

6


Wissenschaftliche Methoden: Deduktion, Induktion,<br />

Abduktion<br />

Deduktives Schließen:<br />

Ein Schluss <strong>ist</strong> deduktiv-logisch gültig genau dann, wenn die Konklusion<br />

wahr sein muss, falls die Prämisse(n) wahr sind.<br />

Ein deduktiv gültiger Schluss <strong>ist</strong> ein wahrheitserhaltender Schluss.<br />

Bsp.:<br />

Alle Menschen sind sterblich. Sokrates <strong>ist</strong> ein Mensch. Ergo: Sokrates <strong>ist</strong><br />

sterblich.<br />

Beispiele für deduktiv gültige Schlussformen:<br />

- modus ponens<br />

Bsp.: Wenn Gott ein vollkommenes Wesen <strong>ist</strong>, dann ex<strong>ist</strong>iert er auch. Gott<br />

<strong>ist</strong> ein vollkommenes Wesen. Also ex<strong>ist</strong>iert Gott.<br />

- modus tollens<br />

Bsp.: Wenn Gott ex<strong>ist</strong>iert, gibt es k<strong>eine</strong> Übel auf der Welt. Es gibt aber<br />

Übel auf der Welt. Also ex<strong>ist</strong>iert Gott nicht.<br />

- konjunktiver Syllogismus<br />

Bsp.: Diese Handlung kann nicht sowohl verboten als auch erlaubt sein.<br />

Die Handlung <strong>ist</strong> aber erlaubt. Also kann sie nicht verboten sein.<br />

- adjunktiver Syllogismus<br />

Bsp.: Peter hält ein Referat oder er schreibt <strong>eine</strong> Hausarbeit. Peter hält kein<br />

Referat. Also schreibt Peter <strong>eine</strong> Hausarbeit.<br />

- Allgem<strong>eine</strong>s Dilemma (Fallunterscheidung)<br />

Bsp.: Menschliche Handlungen sind entweder kausal determiniert oder<br />

bloß zufällige Ereignisse. Wenn sie kausal determiniert sind, dann sind sie<br />

nicht aus freiem Willen entstanden. Wenn sie bloß zufällige Ereignisse<br />

sind, dann sind sie auch nicht aus freiem Willen entstanden. Also sind<br />

menschliche Handlungen nicht aus freiem Willen entstanden.<br />

- Reductio ad absurdum<br />

Angenommen, <strong>eine</strong> wahre Meinung sei hinreichend für Wissen. Dann<br />

müsste <strong>eine</strong> wahre Meinung, die aus bloßem Wunschdenken entstanden<br />

<strong>ist</strong>, als Wissen bezeichnet werden. Dies erscheint aber kontraintuitiv.<br />

Daher kann wahre Meinung nicht hinreichend für Wissen sein.<br />

7


Nachweis <strong>eine</strong>s logisch-deduktiven Fehlschlusses durch Modellbilden!<br />

Bsp.: Alle Menschen sind sterblich. Sokrates <strong>ist</strong> sterblich. Ergo (?)<br />

Sokrates <strong>ist</strong> ein Mensch.<br />

Modell:<br />

Alle Hunde sind Säugetiere. Mein Hamster Harry <strong>ist</strong> ein Säugetier. Ergo:<br />

Harry <strong>ist</strong> ein Hund ⇒ Fehlschluss!<br />

Deduktive Schlusstypen (nach Schurz 2006, 49):<br />

Vom Allgem<strong>eine</strong>n auf das Besondere – z.B. Alle F sind G, dies <strong>ist</strong> ein F,<br />

daher: dies <strong>ist</strong> ein G.<br />

Vom Allgem<strong>eine</strong>n auf das Allgem<strong>eine</strong> – z.B. Alle F sind G, Alle G sind H,<br />

daher: Alle F sind H.<br />

Vom Besonderen auf das Besondere – z.B. dies <strong>ist</strong> F oder G, dies <strong>ist</strong> nicht<br />

F, daher: dies <strong>ist</strong> G.<br />

8


Induktives Schließen:<br />

Schluss, bei dem die Konklusion aus den Prämissen nur mit <strong>eine</strong>r<br />

bestimmten Wahrscheinlichkeit folgt.<br />

Ein induktiver Schluss <strong>ist</strong> ein gehaltserweiternder Schluss.<br />

Induktive Schlusstypen (nach Schurz 2006, 49)<br />

Vom Besonderen auf das Allgem<strong>eine</strong>:<br />

1. Der strikt-induktive Generalisierungsschluss: Alle bisher beobachteten<br />

Fs waren Gs, also sind (wahrscheinlich) alle Fs Gs.<br />

(Bsp.: Alle bisher beobachteten Fische waren Kiemenatmer. Also sind<br />

(wahrscheinlich) alle Fische Kiemenatmer.)<br />

2. Der stat<strong>ist</strong>isch-induktive Generalisierungsschluss: r% aller bisher<br />

beobachteten Fs waren Gs, also sind (wahrscheinlich) zirka r% aller Fs Gs.<br />

(Bsp.: 90 % aller bisher befragten Studierenden der Universität Mainz<br />

gaben an, mit der Betreuungssituation durch ihre DozentInnen zufrieden<br />

zu sein. Also sind (wahrscheinlich) zirka 90% aller Studierenden der<br />

Universität Mainz mit der Betreuungssituation durch ihre DozentInnen<br />

zufrieden.)<br />

Vom Besonderen auf das Besondere:<br />

Der induktive Voraussageschluss: Alle bisher beobachteten Fs waren Gs,<br />

also <strong>ist</strong> wahrscheinlich, dass auch das nächste F G sein wird.<br />

(Bsp.: Bisher <strong>ist</strong> die Sonne jeden Morgen aufgegangen. Also <strong>ist</strong><br />

wahrscheinlich, dass auch die Sonne morgen wieder aufgehen wird.)<br />

Vom Allgem<strong>eine</strong>n auf das Besondere:<br />

Der induktiv-stat<strong>ist</strong>ische Spezialisierungsschluss: r% aller Fs sind Gs, dies<br />

<strong>ist</strong> ein F, also wird dies mit r% Wahrscheinlichkeit ein G sein.<br />

(Bsp.: 65% aller mitteleuropäischen Männer zwischen 30 und 60 sind<br />

übergewichtig. Hans <strong>ist</strong> ein Mann. Also wird Hans mit 65%<br />

Wahrscheinlichkeit übergewichtig sein.)<br />

9


Kritik an induktiven Argumenten:<br />

Nachweis, dass die behauptete Wahrscheinlichkeit, mit der die Konklusion<br />

aus den Prämissen folgt, nicht plausibel <strong>ist</strong>. Nachweis, dass die Prämissen<br />

für die Konklusion nicht stat<strong>ist</strong>isch relevant sind, dass die<br />

Prämissenmenge k<strong>eine</strong> repräsentative Stichprobe darstellt, dass die<br />

unterstellte Uniformitätsannahme nicht plausibel <strong>ist</strong>.<br />

Abduktives Schließen (Schluss auf die beste Erklärung):<br />

Gegeben sei <strong>eine</strong> Datenmenge (ein zu erklärendes Phänomen). Da A diese<br />

Datenmenge am besten erklärt, wird auf A geschlossen.<br />

Bsp. 1:<br />

Unsere <strong>wissenschaftliche</strong>n <strong>Theorie</strong>n sind erfolgreich. Die beste Erklärung<br />

dafür <strong>ist</strong>, dass sie (approximativ) wahr sind. Ergo: Unsere<br />

<strong>wissenschaftliche</strong>n <strong>Theorie</strong>n sind (approximativ) wahr.<br />

Bsp. 2:<br />

Die beste Erklärung für die Bewegung der Planeten um die Sonne <strong>ist</strong> die<br />

Ex<strong>ist</strong>enz <strong>eine</strong>r Gravitationskraft.<br />

Charles Sanders Peirce (1878): Eine abduktiv erschlossene Hypothese <strong>ist</strong><br />

zunächst <strong>eine</strong> Vermutung und muss durch Deduktion und Induktion<br />

empirisch getestet werden.<br />

Kritik an abduktiven Schlüssen:<br />

Nachweis, dass es bessere Erklärungen gibt; Nachweis, dass die<br />

behauptete Datenmenge so gar nicht vorliegt.<br />

10


Übung: Überprüfen Sie, welche Schlussform (deduktiver, induktiver oder<br />

abduktiver Schluss) vorliegt und untersuchen Sie die Gültigkeit des<br />

Schlusses!<br />

1. Wenn Tiere leidensfähige Lebewesen sind, dann darf man sie nicht ohne Not<br />

töten. Tiere sind leidensfähige Lebewesen. Also darf man Sie nicht ohne Not<br />

töten.<br />

2. Hans kann nicht sowohl im Kino als auch im <strong>Seminar</strong> sein. Hans <strong>ist</strong> jedoch<br />

nicht im <strong>Seminar</strong>. Somit muss er im Kino sein.<br />

3. Angenommen, es gäbe <strong>eine</strong> alles umfassende Allmenge A. Da jedoch die<br />

Potenzmenge (die Menge aller Teilmengen) <strong>eine</strong>r beliebigen Menge X größer<br />

<strong>ist</strong> als X, müsste die Potenzmenge von A größer sein als die alles umfassende<br />

Allmenge A. Dies <strong>ist</strong> jedoch ein Widerspruch. Daher kann es k<strong>eine</strong> alles<br />

umfassende Allmenge geben.<br />

4. Jeder Franzose <strong>ist</strong> Europäer. Einige Europäer leben in Paris. Ergo: Einige<br />

Franzosen leben in Paris.<br />

5. Kein Logiker schätzt Fehlschlüsse. Alle Philosophen sind Logiker. Ergo: Kein<br />

Philosoph schätzt Fehlschlüsse.<br />

6. In <strong>eine</strong>m Reisemagazin wurde behauptet, dass Haie lieber Männer als Frauen<br />

fressen, denn neun von zehn Haiopfern sind Männer.<br />

7. Der Anteil der Selbstmorde an allen Todesfällen <strong>ist</strong> bei Jugendlichen am<br />

größten, rund 25 Prozent bei unter 20-jährigen, verglichen mit 10 Prozent bei<br />

30- bis 40-jährigen und weniger als 2 Prozent bei über 70-jährigen. Mit<br />

fortschreitendem Alter verringert sich somit der Entschluss, sich das Leben zu<br />

nehmen, immer mehr. Je älter man wird, desto glücklicher.<br />

8. Die Natur <strong>ist</strong> geordnet und folgt Gesetzmäßigkeiten. Die beste Erklärung für<br />

die Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Natur <strong>ist</strong> die Annahme <strong>eine</strong>s<br />

allmächtigen Schöpfergottes, der die Natur erschaffen und nach Ordnung und<br />

Gesetzmäßigkeiten eingerichtet hat.<br />

11


Karl Popper vs. Thomas Kuhn<br />

Zentrale Fragen, mit denen sich u. a. diese<br />

Wissenschaftstheoretiker befasst haben:<br />

• <strong>Was</strong> zeichnet <strong>eine</strong> <strong>wissenschaftliche</strong> gegenüber <strong>eine</strong>r<br />

pseudo<strong>wissenschaftliche</strong>n <strong>Theorie</strong> aus?<br />

• Wodurch entstehen <strong>wissenschaftliche</strong> <strong>Theorie</strong>n?<br />

• <strong>Was</strong> sind die rationalen <strong>wissenschaftliche</strong>n Methoden zur<br />

Erkenntnisgewinnung?<br />

• Wodurch wird ein <strong>Theorie</strong>nwandel ausgelöst?<br />

• <strong>Was</strong> bedeutet <strong>wissenschaftliche</strong>r Fortschritt?<br />

• Gibt es <strong>wissenschaftliche</strong> Wahrheit?<br />

12


Sir Karl Popper (1902-1994)<br />

Zentrale wissenschaftstheoretische Thesen:<br />

• Kritischer Rationalismus<br />

• Ablehnung des Empirismus und Verifikationismus<br />

• Ablehnung des Induktivismus<br />

• Ablehnung <strong>eine</strong>r sicheren Erkenntnisbasis<br />

• Deduktiv-hypothetische Methode der Wissenschaft<br />

• Kumulativer und teleologischer Wissenschaftsprozess<br />

• Falsifikation<strong>ist</strong>isches Abgrenzungskriterium (Eine empirisch<strong>wissenschaftliche</strong><br />

<strong>Theorie</strong> muss falsifizierbar sein. Eine <strong>Theorie</strong> <strong>ist</strong><br />

nur dann empirisch-wissenschaftlich, wenn die Klasse ihrer<br />

möglichen Falsifikatoren nicht leer <strong>ist</strong>. Ein empirisch<strong>wissenschaftliche</strong>s<br />

System muss an der Erfahrung scheitern können.)<br />

13


Poppers Abgrenzungskriterium:<br />

„Nun wollen wir aber doch ein solches System als empirisch<br />

anerkennen, das <strong>eine</strong>r Nachprüfung durch die „Erfahrung“ fähig<br />

<strong>ist</strong>. Diese Überlegung legt den Gedanken nahe, als<br />

Abgrenzungskriterium nicht die Verifizierbarkeit, sondern die<br />

Falsifizierbarkeit des Systems vorzuschlagen; mit anderen<br />

Worten: Wir fordern zwar nicht, dass das System auf empirischmethodischem<br />

Wege endgültig positiv ausgezeichnet werden<br />

kann, aber wir fordern, dass es die logische Form des Systems<br />

ermöglicht, dieses auf dem Wege der methodischen<br />

Nachprüfung negativ auszuzeichnen. Ein empirisch<strong>wissenschaftliche</strong>s<br />

System muss an der Erfahrung scheitern<br />

können.“<br />

(aus: „Logik der Forschung“ 1934)<br />

• Bestätigungen sind nur dann wissenschaftlich ernst zu<br />

nehmen, wenn sie das Resultat riskanter Vorhersagen sind.<br />

• Gute <strong>wissenschaftliche</strong> <strong>Theorie</strong>n verbieten das Eintreten<br />

gewisser Ereignisse.<br />

• Unwiderlegbarkeit <strong>ist</strong> ein Merkmal für <strong>eine</strong><br />

un<strong>wissenschaftliche</strong> (pseudo<strong>wissenschaftliche</strong>) <strong>Theorie</strong>.<br />

• Überprüfung <strong>eine</strong>r <strong>Theorie</strong> muss in dem Versuch bestehen,<br />

sie zu falsifizieren.<br />

• Bestätigende Beobachtungen müssen bewährende<br />

Beobachtungen sein, d.h. Beobachtungen, die missglückte<br />

Widerlegungsversuche darstellen.<br />

• Eine <strong>Theorie</strong> mindert ihren Charakter der<br />

Wissenschaftlichkeit durch ad hoc Immunisierungsversuche.<br />

• Das Kriterium der Wissenschaftlichkeit <strong>eine</strong>r <strong>Theorie</strong> <strong>ist</strong><br />

daher ihre Falsifizierbarkeit, ihre Widerlegbarkeit, ihre<br />

Überprüfbarkeit.<br />

14


Immunität <strong>eine</strong>r <strong>Theorie</strong> gegenüber Falsifikation <strong>ist</strong> ein Zeichen für <strong>eine</strong><br />

pseudo-<strong>wissenschaftliche</strong> <strong>Theorie</strong> nach Popper:<br />

„<strong>Was</strong> <strong>ist</strong> es denn, was mit den drei <strong>Theorie</strong>n nicht in Ordnung <strong>ist</strong>, dem<br />

Marxismus, der Psychoanalyse und der Individualpsychologie? […] diese drei<br />

<strong>Theorie</strong>n schienen fähig zu sein, alles zu erklären, was in ihren<br />

Anwendungsbereich fiel. […] Die Welt war übervoll von Verifikationen der<br />

<strong>Theorie</strong>. <strong>Was</strong> immer sich ereignete, war <strong>eine</strong> Bestätigung für sie. So schien ihre<br />

Wahrheit offenbar zu sein, und die, die nicht daran glaubten, waren sicher nur<br />

Leute, die die offenbare Wahrheit nicht sehen wollten, sei es, weil sie gegen ihr<br />

Klasseninteresse war, sei es, weil sie „unanalysierte“ Verdrängungen hatten, die<br />

erst <strong>eine</strong> Behandlung brauchten. Als das charakter<strong>ist</strong>ische Element in dieser<br />

Situation erschien mir der unaufhörliche Strom von Bestätigungen, von<br />

Beobachtungen, die die betreffenden <strong>Theorie</strong>n „verifizierten“ […].<br />

Aber was, so fragte ich mich, wurde damit bestätigt? Nicht mehr als die Tatsache,<br />

dass ein Fall im Sinne der <strong>Theorie</strong> gedeutet werden konnte. […] stellen Sie sich<br />

<strong>eine</strong>n Mann vor, der ein Kind ins <strong>Was</strong>ser stößt in der Absicht, es zu ertränken, und<br />

<strong>eine</strong>n anderen, der sein Leben opfert, um das Kind zu retten. Beide Fälle kann<br />

man gleich gut im Sinne der Psychoanalyse und der Individualpsychologie<br />

erklären. Nach der Freudschen Lehre leidet der erste Mann an <strong>eine</strong>r Verdrängung<br />

(etwa der <strong>eine</strong>r Komponente s<strong>eine</strong>s Ödipuskomplexes), während der zweite zu<br />

<strong>eine</strong>r Sublimierung gelangt <strong>ist</strong>. Nach Adlers <strong>Theorie</strong> leidet der erste Mann an<br />

Minderwertigkeitsgefühlen (die ihn vielleicht dazu zwingen, sich zu beweisen,<br />

dass er es wagt, ein Verbrechen zu begehen), und der zweite leidet in derselben<br />

Weise (aber er muss sich beweisen, dass er es wagt, das Kind zu retten). Ich<br />

konnte mir kein menschliches Verhalten ausdenken, das man nicht durch beide<br />

<strong>Theorie</strong>n interpretieren konnte. Es war gerade diese Tatsache – dass die <strong>Theorie</strong>n<br />

immer passten, dass sie immer bestätigt wurden –, die in den Augen ihrer<br />

Bewunderer so sehr für sie sprach und die sie für ihre größte Stärke hielten. Mir<br />

dämmerte, dass diese scheinbare Stärke in Wirklichkeit die Schwäche dieser<br />

<strong>Theorie</strong>n war.“<br />

(Popper: „Wissenschaft: Vermutungen und Widerlegungen“, 1953)<br />

15


Mögliche Widerlegbarkeit <strong>eine</strong>r <strong>Theorie</strong> als Zeichen ihrer Wissenschaftlichkeit<br />

nach Popper:<br />

„Einsteins Gravitationstheorie ergibt, dass das Licht von schweren Körpern (etwa so<br />

schwer wie die Sonne) angezogen wird, genau wie ein materieller Körper. Daraus<br />

kann gefolgert werden, dass ein weit entfernter Fixstern, wenn s<strong>eine</strong> Position am<br />

Himmel nahe der Sonne <strong>ist</strong>, etwas weiter von der Sonne ersch<strong>eine</strong>n muss, als erwartet<br />

werden müsste, wenn sein Licht nicht von der Sonne angezogen wird; mit anderen<br />

Worten: ein Stern nahe der Sonne sieht aus, als ob er sich etwas von der Sonne<br />

entfernt hätte, und mehrere Sterne sch<strong>eine</strong>n sich von der Sonne – und daher<br />

voneinander – wegbewegt zu haben. Gewöhnlich kann man diesen Effekt nicht<br />

beobachten, weil der alles überstrahlende Glanz der Sonne diese Sterne am Tag<br />

unsichtbar macht. Aber während <strong>eine</strong>r Sonnenfinsternis kann man sie<br />

photographieren, und wenn man dasselbe Sternbild auch in der Nacht (sechs Monate<br />

später oder früher) photographiert, so kann man die Abstände auf den beiden Bildern<br />

vergleichen und so die Voraussage prüfen.<br />

<strong>Was</strong> nun an diesem Fall so eindrucksvoll <strong>ist</strong>, <strong>ist</strong> das Risiko, das mit <strong>eine</strong>r Vorhersage<br />

dieser Art verbunden <strong>ist</strong>. Denn sollte die Beobachtung zeigen, dass der vorhergesagte<br />

Effekt überhaupt nicht vorhanden <strong>ist</strong>, dann <strong>ist</strong> die <strong>Theorie</strong> einfach widerlegt. Die<br />

<strong>Theorie</strong> <strong>ist</strong> also unvereinbar mit gewissen möglichen Beobachtungsergebnissen – und<br />

zwar mit Ergebnissen, die vor Einstein allgemein erwartet wurden. […]<br />

Man kann all das kurz dahingehend zusammenfassen, dass das Kriterium der<br />

Wissenschaftlichkeit <strong>eine</strong>r <strong>Theorie</strong> ihre Falsifikation <strong>ist</strong>, ihre Widerlegbarkeit, ihre<br />

Prüfbarkeit.“<br />

(Popper: „Wissenschaft: Vermutungen und Widerlegungen“, 1953)<br />

16


Thomas S. Kuhn (1922-1996)<br />

Wissenschaftstheoretisches Hauptwerk:<br />

„Die Struktur <strong>wissenschaftliche</strong>r Revolutionen“ (1992)<br />

Zentrale wissenschaftstheoretische Thesen:<br />

• Die Wissenschaftsentwicklung folgt <strong>eine</strong>m 3-Phasenmodell<br />

(vorparadigmatische Phase ⇒ paradigmatische Phase ⇒<br />

revolutionäre Phase)<br />

• <strong>Theorie</strong>nwandel durch Paradigmenwechsel, nicht durch Falsifikation<br />

• <strong>Theorie</strong>ndynamik <strong>ist</strong> weder kumulativ noch teleologisch<br />

• Inkommensurabilität <strong>wissenschaftliche</strong>r <strong>Theorie</strong>n<br />

17


Vorparadigmatische (vornormale) Phase der Wissenschaft<br />

• Pluralismus konkurrierender Ansätze<br />

• Kein Konsens bezüglich der Grundlagen <strong>eine</strong>s Fachgebietes<br />

• Kein einheitlicher Wissenskanon<br />

• K<strong>eine</strong> einheitlichen Methodologien<br />

Paradigmatische (normale) Phase der Wissenschaft<br />

• Ein <strong>wissenschaftliche</strong>s Paradigma leitet das Fachgebiet<br />

• Einheitliche Methodologie<br />

• Konsens der Fachleute bezüglich der <strong>wissenschaftliche</strong>n<br />

Grundfragen<br />

• Wissen <strong>ist</strong> (z.B. in Lehrbüchern) kanonisiert<br />

Revolutionäre Phase<br />

• Auftreten von Anomalien, die zu immer größeren theoretischen<br />

Schwierigkeiten der paradigmatischen <strong>Theorie</strong> führen<br />

• Fach<strong>wissenschaftliche</strong> Unsicherheit<br />

• Krisensituation<br />

• Es taucht <strong>eine</strong> neue <strong>Theorie</strong> auf, die die Anomalien besser erklären.<br />

Diese <strong>Theorie</strong> findet immer mehr Anhänger. Die alte <strong>Theorie</strong> (und<br />

ihre Anhänger) werden immer stärker verdrängt.<br />

• Wissenschaftliche Revolution<br />

18


Beispiel für vorparadigmatische Wissenschaft:<br />

Physikalische Optik von der Antike bis ins 17. Jahrhundert<br />

„K<strong>eine</strong> Zeit von der Antike bis zum Anfang des siebzehnten Jahrhunderts<br />

besaß <strong>eine</strong> einheitliche, allgemein anerkannte Anschauung über das Wesen<br />

des Lichts. Es gab vielmehr <strong>eine</strong> Anzahl miteinander streitender Schulen<br />

und Zweigschulen, von denen die me<strong>ist</strong>en sich für die <strong>eine</strong> oder andere<br />

Variante der Epikureischen, Ar<strong>ist</strong>otelischen oder Platonischen <strong>Theorie</strong><br />

einsetzen. Eine Gruppe nahm an, das Licht seien Partikel, die von<br />

materiellen Körpern ausgehen; für <strong>eine</strong> andere war es <strong>eine</strong> Modifikation<br />

des zwischen dem Körper und dem Auge liegenden Mediums, wieder <strong>eine</strong><br />

andere Gruppe erklärte das Licht als Wechselwirkung zwischen dem<br />

Medium und <strong>eine</strong>r Emanation aus dem Auge; außerdem gab es noch<br />

andere Kombinationen und Abwandlungen. Jeder der entsprechenden<br />

Schulen leitete ihre Stärke von ihrer Beziehung zu <strong>eine</strong>r bestimmten<br />

Metaphysik her, und jede hob nachdrücklich als paradigmatische<br />

Beobachtungen die besonderen optischen Phänomene hervor, die ihre<br />

eigene <strong>Theorie</strong> am besten erklären vermochte. Andere Beobachtungen<br />

wurden ad hoc erklärt, oder sie blieben als unerledigte Probleme weiterer<br />

Forschung überlassen.“<br />

(Kuhn 1962, 28.)<br />

19


Paradigma im Sinne Kuhns:<br />

• Wissenschaftlich anerkanntes <strong>Theorie</strong>ngebäude (z.B. Newtonsche<br />

Mechanik) mit intendierten Anwendungen (z.B. Planetenbahnen im<br />

Sonnensystem), anerkannten und<br />

bindenden Probleme und<br />

<strong>wissenschaftliche</strong> Methoden,<br />

gemeinsame <strong>wissenschaftliche</strong> Werte<br />

Paradigmatische oder normale Wissenschaft<br />

„[…] <strong>eine</strong> Forschung, die fest auf <strong>eine</strong>r oder mehreren <strong>wissenschaftliche</strong>n<br />

Le<strong>ist</strong>ungen der Vergangenheit beruht, Le<strong>ist</strong>ungen, die von <strong>eine</strong>r<br />

bestimmten <strong>wissenschaftliche</strong>n Gemeinschaft <strong>eine</strong> Zeitlang als Grundlagen<br />

für ihre weitere Arbeit anerkannt werden. Heute werden solche Le<strong>ist</strong>ungen<br />

in <strong>wissenschaftliche</strong>n Lehrbüchern, für Anfänger und Fortgeschrittene, im<br />

einzelnen geschildert, wenn auch selten in ihrer ursprünglichen Form.<br />

Diese Lehrbücher legen das anerkannte <strong>Theorie</strong>ngebäude dar, erläutern<br />

viele oder alle ihrer erfolgreichen Anwendungen und vergleichen diese<br />

Anwendungen mit exemplarischen Beobachtungen und Experimenten.“<br />

(Kuhn 1962, 25.)<br />

„Aufräumarbeiten sind das, was die me<strong>ist</strong>en Wissenschaftler während<br />

ihrer gesamten Laufbahn beschäftigt, und sie machen das aus, was ich hier<br />

normale Wissenschaft nenne. Bei näherer Untersuchung, sei sie h<strong>ist</strong>orisch<br />

oder im modernen Labor, erscheint dieses Unternehmen als Versuch, die<br />

Natur in die vorgeformte und relativ starre Schublade, welche das<br />

Paradigma darstellt, hineinzuzwängen. In k<strong>eine</strong>r Weise <strong>ist</strong> es das Ziel der<br />

normalen Wissenschaft, neue Phänomene zu finden; und tatsächlich<br />

werden die nicht in die Schublade hineinpassenden oft überhaupt nicht<br />

gesehen. Normalerweise erheben die Wissenschaftler auch nicht den<br />

Anspruch, neue <strong>Theorie</strong>n zu finden, und oft genug sind sie intolerant<br />

gegenüber den von anderen gefundenen. Normal<strong>wissenschaftliche</strong><br />

Forschung <strong>ist</strong> vielmehr auf die Verdeutlichung der vom Paradigma bereits<br />

vertretenen Phänomene und <strong>Theorie</strong>n ausgerichtet.“ (Kuhn 1962, 38.)<br />

20


Wissenschaftliche Krisen und <strong>wissenschaftliche</strong><br />

Revolutionen<br />

Symptome für <strong>eine</strong> <strong>wissenschaftliche</strong> Krise:<br />

• „Fach<strong>wissenschaftliche</strong> Unsicherheit“: Für die Rätsel der normalen<br />

Wissenschaft finden sich k<strong>eine</strong> erwarteten Auflösungen,<br />

„Zusammenbruch der normalen Technik des Rätsellösens“<br />

• „Wucherung von Versionen <strong>eine</strong>r <strong>Theorie</strong>“<br />

• Der Versuch, die Anomalie im Rahmen des bestehenden Paradigmas<br />

zu erklären, führt zu <strong>eine</strong>r immer komplizierteren <strong>Theorie</strong><br />

• Korrekturen an <strong>eine</strong>r Stelle der <strong>Theorie</strong> führen zu Ungereimtheiten<br />

an <strong>eine</strong>r anderen Stelle<br />

• Eingeständnis der Krisensituation von anerkannten Fachleuten<br />

(Einstein: Es war, wie wenn <strong>eine</strong>m der Boden unter den Füßen<br />

weggezogen worden wäre, ohne dass sich irgendwo fester Grund<br />

zeigte, auf dem man hätte bauen können“ (S. 96f.); Pauli: „Zur Zeit<br />

<strong>ist</strong> die Physik wieder einmal furchtbar durcheinander. Auf jeden Fall<br />

<strong>ist</strong> sie für mich zu schwierig und ich wünschte, ich wäre<br />

Filmschauspieler oder etwas Ähnliches und hätte von der Physik nie<br />

etwas gehört.“ (S. 97))<br />

Paradigmenwechsel aber nur dann, wenn ein neues, Erfolg<br />

versprechendes, bereits sich entwickelt hat:<br />

„Ein Paradigma ablehnen, ohne gleichzeitig ein anderes an s<strong>eine</strong> Stelle zu<br />

setzen, heißt die Wissenschaft selbst ablehnen. Es <strong>ist</strong> ein Schritt, der nicht<br />

auf das Paradigma, sondern auf den Menschen zurückfällt, der ihn tut. In<br />

den Augen s<strong>eine</strong>r Kollegen erscheint er unvermeidlich als „der<br />

Zimmermann, der s<strong>eine</strong>m Werkzeug die Schuld gibt.““ (S. 92)<br />

21


Aspekte der Inkommensurabilitätsthese:<br />

• Bedeutungsänderung der Begriffe durch das neue Paradigma<br />

• Normen, Methoden und Definition der Wissenschaft ändern sich<br />

• „Wandlung des Weltbildes“ durch das neue Paradigma<br />

⇒ <strong>Theorie</strong>nwechsel wird mit „Gestaltwandel“ verglichen<br />

⇒ <strong>Theorie</strong>nabhängigkeit der Erfahrung!<br />

Wissenschaftlicher Fortschritt bei Kuhn:<br />

• Ablehnung der Popperschen Idee, dass der Wissenschaftsprozess<br />

kumulativ verläuft, k<strong>eine</strong> zunehmende Wahrheitsnähe durch den<br />

fortschreitenden Wissenschaftsprozess<br />

„[…] wir müssen vielleicht die – ausdrückliche oder unausdrückliche –<br />

Vorstellung aufgeben, dass der Wechsel der Paradigmata die<br />

Wissenschaftler und die von ihnen Lernenden näher und näher an die<br />

Wahrheit heranführt.“ (S. 182)<br />

• Ablehnung <strong>eine</strong>s teleologischen Wissenschaftsprozesses<br />

• Evolutionärer Prozess der Wissenschaft (Analogie zwischen<br />

Evolution von Organismen und der Evolution <strong>wissenschaftliche</strong>r<br />

Ideen, vgl. S. 184)<br />

22


Konsequenzen der Kuhnschen Wissenschaftstheorie, Kritik:<br />

• <strong>Theorie</strong>n sind weitestgehend immun gegenüber Falsifikationen<br />

Imre Lakatos (1922-1974): <strong>Theorie</strong>n können niemals isoliert, sondern<br />

nur im Rahmen von Forschungsprogrammen bewertet werden.<br />

Duhem-Quine These:<br />

Hypothesen nicht isoliert, sondern nur unter<br />

Zusatzbedingungen/Voraussetzungen/Hilfshypothesen nachprüfbar. Bei<br />

Anomalien sind immer mehrere Revisionsalternativen möglich. Hierbei<br />

wird man sich vom <strong>wissenschaftliche</strong>n Konservatismus leiten lassen<br />

und versuchen, zentrale Gesetze der <strong>Theorie</strong> so lange wie möglich<br />

beizubehalten.<br />

• Irrationalismus und methodischer Relativismus?<br />

• Wandlungen von <strong>wissenschaftliche</strong>n Forschungsfeldern vollziehen<br />

sich nicht immer revolutionär, sondern durch Veränderungen von<br />

Fragestellungen und Methoden z.B. durch stärkere trans- und<br />

interdisziplinäre Vernetzung (siehe z.B. neuro- und<br />

kognitions<strong>wissenschaftliche</strong> Forschung).<br />

23


• Die gesellschaftlichen, kulturellen und ethisch-moralischen<br />

Konsequenzen <strong>wissenschaftliche</strong>r Revolutionen bleiben<br />

ausgeblendet.<br />

⇒ „Zeit der Ungleichzeitigkeit“: Das wissenschaftlich-technologische<br />

Weltbild zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht im Missverhältnis zu<br />

unserem Menschenbild und unseren metaphysischen und religiösen<br />

Weltanschauungen, die mehrheitlich aus Mythen geprägt sind, die vor<br />

vielen Jahrhunderten entstanden sind.<br />

„Im Zuge der <strong>wissenschaftliche</strong> Fortschritte insbesondere der letzten<br />

Jahrzehnte hat sich Homo sapiens, die vermeintliche „Krone der<br />

Schöpfung“, selbst entzaubert. Das Wissen um die hierdurch<br />

notwendige, grundlegende Revision unserer Menschen- und Weltbilder<br />

<strong>ist</strong> bislang allerdings nur in mehr oder weniger exklusive Kreise<br />

vorgedrungen. Die me<strong>ist</strong>en Menschen hängen noch immer<br />

Vorstellungen nach, die in Anbetracht des aktuellen Forschungsstands<br />

ähnlich obskur wirken wie die einst so populäre Idee, die Erde sei s<strong>eine</strong><br />

Scheibe.“ (Michael Schmidt-Salomon: Manifest des Evolutionären<br />

Humanismus 2005, 12.)<br />

Bsp.: Veränderungen des Menschenbildes durch die Neuro-,<br />

Informations- und Kognitionswissenschaften:<br />

„Das allgem<strong>eine</strong> Bild vom Menschen wird sich im kommenden<br />

Jahrhundert durch die Fortschritte der Neuro-, Informations- und<br />

Kognitionswissenschaften tief greifender verändern als durch jede<br />

andere <strong>wissenschaftliche</strong> Revolution der Vergangenheit.“<br />

(Thomas Metzinger: „Der Begriff <strong>eine</strong>r ‚Bewusstseinskultur’“, 2007)<br />

⇒ „natural<strong>ist</strong>ische Entzauberung des Menschen“<br />

- Einsicht in radikale Endlichkeit des menschlichen Lebens<br />

- Begriffe des Selbst, Seele, freier Wille werden fragwürdig<br />

- Subjektives Erleben wird zunehmend manipulierbar (cognitive<br />

enhancement etc.)<br />

- Speziez<strong>ist</strong>ische Argumente, die z.B. Tierversuche, das Quälen und<br />

Töten von Tieren zu Zwecken der Nahrung und Kleidung etc.<br />

moralisch legitimieren sollen, werden auch angesichts neuerer<br />

Erkenntnisse der Tierkognition zunehmend problematisch.<br />

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