Die Geschichte der Vorurteile: Wieland-Rezeption im ... - Peter Lang
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1 <strong>Wieland</strong>-<strong>Rezeption</strong> <strong>im</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>t –<br />
Ausgangslage: Bisherige Forschung –<br />
Vorgehensweise <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit<br />
Herbert Jaumann schrieb 1994, daß in <strong>der</strong> <strong>Wieland</strong>-Forschung „noch <strong>im</strong>mer eine<br />
analytischen Ansprüchen genügende umfassende <strong>Rezeption</strong>sgeschichte“ 1 fehle.<br />
Den Versuch einer relativ umfassenden <strong>Rezeption</strong>sgeschichte hatte zwar 1980<br />
bereits Harry Ruppel mit seinem Buch <strong>Wieland</strong> in <strong>der</strong> Kritik – <strong>Die</strong> <strong>Rezeption</strong>s-<br />
<strong>Geschichte</strong> eines klassischen Autors in Deutschland unternommen 2 , jedoch hat er<br />
dabei nicht die Wirkung <strong>Wieland</strong>s auf die deutsche und an<strong>der</strong>ssprachige Literatur<br />
sowie auf die deutsche Sprache untersucht, son<strong>der</strong>n lediglich die Stellungnahmen<br />
zu <strong>Wieland</strong> besprochen, so daß ein entscheidend großer Bereich ausgeklammert<br />
blieb. Zum zweiten ist die Frage, ob diese Darstellung wirklich analytischen Ansprüchen<br />
gerecht werde, was Jaumann – 14 Jahre später – offensichtlich bezweifelt.<br />
Das erscheint auch schon aufgrund des zu geringen ausgewerteten Materials<br />
fragwürdig. So n<strong>im</strong>mt Ruppel als Grundlage für seine Darstellung <strong>der</strong> <strong>Wieland</strong>-<br />
<strong>Rezeption</strong> in <strong>der</strong> Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts keine zehn<br />
Literaturgeschichten ausführlicher in den Blick und bezieht auch bei den wenigen,<br />
die er bespricht, überwiegend nur die ausdrücklichen Stellungnahmen <strong>der</strong> Literarhistoriker<br />
ein und geht nur in rud<strong>im</strong>entären Ansätzen auf tieferliegende Schichten<br />
o<strong>der</strong> erst zu erschließende, untergründige Informationen ein, so daß von analytischen<br />
Ansprüchen schwerlich gesprochen werden kann.<br />
Daher schien es für die hier vorgelegte Arbeit geboten, nur einen best<strong>im</strong>mten<br />
Teil <strong>der</strong> <strong>Rezeption</strong>sgeschichte auszuwählen, diesen aber mit analytischer Schärfe<br />
zu durchforsten, um wenigstens für einen best<strong>im</strong>mten Teilbereich fundierte Erkenntnisse<br />
zu gewinnen.<br />
Es ist ohnehin ein <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> anzutreffendes Problem (nicht nur) in <strong>der</strong><br />
<strong>Wieland</strong>-<strong>Rezeption</strong>, daß <strong>Vorurteile</strong> weiter und weiter tradiert werden, ohne daß<br />
die zugrunde gelegten Texte zunächst präzise erfaßt, zum zweiten ebenso gründlich<br />
ausgewertet werden.<br />
Es wäre fatal, wenn eine Darstellung dieser <strong>Rezeption</strong>sgeschichte in dieselben<br />
Fehler verfiele, weil man dann über eine <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Vorurteile</strong> nicht wesentlich<br />
hinauskäme. Es ist übrigens eine wesentliche Absicht <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit<br />
zu zeigen, daß die <strong>Rezeption</strong>sgeschichte <strong>Wieland</strong>s in großen Teilen eine<br />
solche <strong>Geschichte</strong> <strong>der</strong> <strong>Vorurteile</strong> darstellt.<br />
1 Jaumann (1994), S. 205.<br />
2 Vgl. Ruppel (1980).
12 1 <strong>Wieland</strong>-<strong>Rezeption</strong> <strong>im</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
Da eine annähernd vollständige und fundierte <strong>Rezeption</strong>sgeschichte zu dem<br />
frühen We<strong>im</strong>arer Dichter bei <strong>der</strong> Fülle des auszuwertenden Materials vermutlich<br />
ein Werk von vielen Bänden ergeben würde, ist in vorliegen<strong>der</strong> Arbeit eine Beschränkung<br />
auf die Literaturgeschichtsschreibung von 1839-1911 vorgenommen.<br />
Dabei wurden knapp 100 Literaturgeschichten gesichtet und etwa 70 davon<br />
gründlich analysiert. Um Entwicklungen in <strong>der</strong> Bewertung einzelner Werke<br />
<strong>Wieland</strong>s und best<strong>im</strong>mter Themenbereiche vornehmen zu können, wurde das<br />
gesamte Material best<strong>im</strong>mten Themenbereichen zugeordnet. Aus <strong>der</strong> Zusammenstellung<br />
von über 100 solcher Themenblöcke sind hier neun zentrale Bereiche<br />
ausgewertet worden. Bereits aus diesen neun Kapiteln zu zentralen Themen<br />
lassen sich fundierte wie in die Breite gehende Rückschlüsse auf die <strong>Wieland</strong>-<br />
<strong>Rezeption</strong> ziehen.<br />
Auch eine weitere, 1982 erschienene, <strong>Rezeption</strong>sgeschichte 3 erfüllt den analytischen<br />
Anspruch nicht. Hans-Jürgen Gaycken stellt in diesem Werk mit dem Titel<br />
Christoph Martin <strong>Wieland</strong> – Kritik seiner Werke in Aufklärung, Romantik und<br />
Mo<strong>der</strong>ne lediglich die Bewertungen <strong>der</strong> ADB, einiger Romantiker, Gervinus’<br />
und Sengles dar; es handelt sich dabei aber lediglich um Inhaltswie<strong>der</strong>gaben<br />
ohne jegliches analytische Moment.<br />
Sehr bemerkenswert ist hingegen <strong>der</strong> von Herbert Jaumann geschriebene rezeptionsgeschichtliche<br />
Teil in dem Überblicke zu verschiedenen Bereichen liefernden<br />
Studienbuch <strong>Wieland</strong> – Epoche – Werk – Wirkung 4 , das wesentliche<br />
Schemata <strong>der</strong> Urteile über <strong>Wieland</strong> erfaßt und darstellt, die erkennen lassen, in<br />
welcher Weise die Produktion des Biberacher Autors in <strong>der</strong> Kritik aufgenommen<br />
wurde; sie werden bei Jaumann angewendet von den ersten rezeptionsgeschichtlichen<br />
Zeugnissen bis zur Gegenwart. Wie es für ein solches Kompendium natürlich<br />
ist, konnten jedoch die einzelnen Bereiche nicht in ihrer tatsächlichen Komplexität<br />
behandelt werden, zumal ein Großteil <strong>der</strong> dazu nötigen Materialbasis noch<br />
nicht erschlossen war.<br />
Es soll also hier nur ein Abschnitt <strong>der</strong> <strong>Rezeption</strong>sgeschichte <strong>Wieland</strong>s gründlich<br />
beleuchtet werden, gegebenenfalls durchaus als Teil einer noch zu schreibenden<br />
umfassenden <strong>Rezeption</strong>sgeschichte. Das <strong>im</strong> umfangreichen Anhang<br />
analysierte Material ist die erste Darstellung zu neun zentralen Themenbereichen<br />
zu <strong>Wieland</strong> in <strong>der</strong> Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts. <strong>Die</strong>ser<br />
Anhang wurde <strong>im</strong> Kapitel 3 des Hauptteils unter best<strong>im</strong>mten übergreifenden, für<br />
die <strong>Wieland</strong>-<strong>Rezeption</strong> wesentlichen Kriterien analysiert. Er soll aber darüber<br />
hinaus auch <strong>der</strong> Forschung für weitere – auch ganz an<strong>der</strong>sartige – Untersuchungen<br />
hiermit zur Verfügung gestellt werden.<br />
3 Vgl. Gaycken (1982).<br />
4 Jørgensen, Jaumann, McCarty, Thomé (1994).
Bisherige Forschung 13<br />
Abschließend sei darauf hingewiesen, daß für diese Arbeit gerade <strong>der</strong> Abschnitt<br />
1839-1911 gewählt wurde, weil er in <strong>der</strong> Forschung bislang am wenigsten beachtet<br />
worden ist, auch wenn die Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit <strong>Wieland</strong>s Zeitgenossen,<br />
insbeson<strong>der</strong>e den Romantikern, bzw. mit den meist in diesem Kontext<br />
erwähnten Zitaten in diversen Abhandlungen über <strong>Wieland</strong> <strong>im</strong>merhin präsent<br />
sind und die Stellung <strong>der</strong> (auch späteren) Romantiker zu <strong>Wieland</strong> schon mitunter<br />
Interesse geweckt hat. 5 Zu den auf die eigentlich romantische Epoche folgenden<br />
Jahren, in denen eine bewegte Debatte um <strong>Wieland</strong> durchaus getobt hat, wird das<br />
Material <strong>der</strong> bisherigen Forschung jedoch zusehends dünner. <strong>Die</strong> Zeit vor, in und<br />
zwischen den Weltkriegen hingegen zeigt ein zunehmendes Verschwinden jeglichen<br />
Interesses an dem Dichter des Oberon; dennoch wäre eine gründliche Bearbeitung<br />
auch dieser Phase sicher eine weitere lohnende Ergänzung zur <strong>Wieland</strong>-<br />
Forschung. Das berühmte Buch Sengles hingegen eröffnete ein Wie<strong>der</strong>aufleben<br />
<strong>der</strong> wissenschaftlichen Diskussion über <strong>Wieland</strong> – unter deutlich positiveren<br />
Vorzeichen als zuvor –, die seitdem nicht mehr aufgehört hat.<br />
5 Vgl. z.B. Hirzel (1974).
2 <strong>Wieland</strong>-<strong>Rezeption</strong> <strong>im</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>t –<br />
die aktuelle Forschungslage<br />
Zunächst sollen die schon erwähnten jüngeren Studien zur <strong>Rezeption</strong>sgeschichte<br />
<strong>Wieland</strong>s mit ihren Ergebnissen kurz skizziert werden.<br />
<strong>Wieland</strong>-Kritik in Aufklärung, Romantik und Mo<strong>der</strong>ne<br />
2.1 Hans-Jürgen Gaycken: Christoph Martin <strong>Wieland</strong>.<br />
Kritik seiner Werke in Aufklärung, Romantik<br />
und Mo<strong>der</strong>ne<br />
Gaycken stellt fest, daß die ADB <strong>Wieland</strong> sehr positiv beurteile, viele Punkte an<br />
dem Biberacher hervorzuheben wisse und sogar die Singspiele Rosamund und<br />
Alceste lobend bespreche. Kritikpunkte <strong>der</strong> ADB seien lediglich eine nicht <strong>im</strong>mer<br />
grammatikalisch reine und zudem durch Dialekte gefärbte Sprache des<br />
Dichters sowie – beson<strong>der</strong>s bei manchen frühen Werken – eine „gewisse Frivolität<br />
in <strong>Wieland</strong>s Ausdrücken, die manchmal gegen den guten Geschmack zu verstoßen<br />
scheint“. 6<br />
<strong>Die</strong> Shakespeare-Übersetzung sei zunächst nicht so sehr gewürdigt worden,<br />
zuletzt habe man darin aber doch eine große Leistung erkannt. 7 <strong>Die</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Übersetzungen seien fast ausnahmslos in vollem Umfang anerkannt worden,<br />
noch mehr das Projekt des Teutschen Merkurs. 8<br />
Gayckens Fazit zur <strong>Wieland</strong>-<strong>Rezeption</strong> durch die Romantiker lautet:<br />
<strong>Die</strong> Romantiker ignorieren <strong>Wieland</strong> fast völlig, da er ihrem Wesen nicht zu entsprechen<br />
scheint. Das einzige Werk, dem sie Beifall zollen, ist <strong>der</strong> Oberon, weil sie hier die Erregung<br />
des romantischen Gefühls erkennen wollen. Seine philosophischen Romane lehnen sie wegen<br />
<strong>der</strong> darin enthaltenen epikureischen Philosophie und unmännlichen Sittenlehre ab. 9<br />
Bei Gervinus hingegen finde sich wie<strong>der</strong> eine sehr günstige Besprechung <strong>der</strong><br />
<strong>Wieland</strong>schen Leistungen. <strong>Die</strong>ser Literarhistoriker betone, <strong>Wieland</strong> habe die<br />
Dichtung von den „Fesseln <strong>der</strong> Moral und Religion“ 10 befreit.<br />
Da die Bewertungen Sengles mit denen <strong>der</strong> ADB übereinzust<strong>im</strong>men scheinen,<br />
kommt Gaycken zu dem Schluß, die heutige <strong>Wieland</strong>-Forschung sehe den Dich-<br />
6 Gaycken (1982), S. 71.<br />
7 Vgl. ebd., S. 71f.<br />
8 Vgl. ebd., S. 72.<br />
9 Ebd.<br />
10 Ebd.
16 2. <strong>Wieland</strong>-<strong>Rezeption</strong> <strong>im</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>t – Aktuelle Forschung<br />
ter wie<strong>der</strong> genauso wie die ADB <strong>der</strong> Aufklärung 11 ; demzufolge hätte die Romantik<br />
nur eine vorübergehende Trübung des Bildes hervorgebracht.<br />
Auch wenn sich die Darstellung Gayckens durch Klarheit auszeichnet, so ist<br />
doch entschieden in Frage zu stellen, ob ein solches Vorgehen, das – um die<br />
jeweils zeitgenössische Forschung zu ergründen – zur Aufklärung nur die ADB<br />
heranzieht, zur Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts nur eine einzige<br />
Literaturgeschichte und zur Best<strong>im</strong>mung <strong>der</strong> Position <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne lediglich<br />
Sengle, den wahren Sachverhalten gerecht werden kann.<br />
2.2 Harry Ruppel: <strong>Wieland</strong> in <strong>der</strong> Kritik.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Rezeption</strong>sgeschichte eines klassischen Autors<br />
in Deutschland<br />
Harry Ruppel hingegen zieht eine ungleich größere Menge an Material heran, die<br />
aber auch nicht hinreicht, um von <strong>der</strong> <strong>Rezeption</strong>sgeschichte sprechen zu können.<br />
Ruppel geht in seinem Buch chronologisch vor, stellt also die Bewertungen<br />
<strong>Wieland</strong>s eigener Zeitgenossen voran, die er mit den Romantikern abschließt.<br />
Zur <strong>Rezeption</strong> <strong>im</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>t sind dann vor allem relevant <strong>der</strong> große Abschnitt<br />
II seiner Darstellung <strong>Die</strong> kritische Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>Wieland</strong> in <strong>der</strong><br />
Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts sowie <strong>der</strong> erste Teil von<br />
Abschnitt III <strong>Wieland</strong> – neu herausgegeben (1870-1910), <strong>der</strong> seine Erkenntnisse<br />
aus <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Projekt <strong>der</strong> Deutsche[n] National-Litteratur<br />
von Joseph Kürschner bezieht.<br />
2.2.1 Ruppel: <strong>Wieland</strong> in <strong>der</strong> Literaturgeschichtsschreibung<br />
Im Abschnitt II wertet Harry Ruppel einige repräsentative Literaturgeschichten<br />
bezüglich ihrer <strong>Wieland</strong>-<strong>Rezeption</strong> aus. Er konzentriert sich auf die literar-historischen<br />
Darstellungen von Wolfgang Menzel, G.G. Gervinus, Hermann Hettner,<br />
A.F.C. Vilmar, Joseph von Eichendorff, Julian Schmidt, Rudolf Gottschall und<br />
Wilhelm Scherer. Darüber hinaus werden vereinzelte Zitate und Stellungnahmen<br />
aus einigen an<strong>der</strong>en Literaturgeschichten herangezogen.<br />
Zunächst spricht Ruppel über „<strong>Die</strong> Anfänge <strong>der</strong> deutschen Literaturgeschichtsschreibung“<br />
12 (Kap. II.1). In diesem Abschnitt skizziert er einen Weg von „den eher<br />
unkritischen Anfängen <strong>der</strong> Literaturgeschichtsschreibung in Deutschland“ 13 , die<br />
11 Vgl. ebd., S. 73.<br />
12 Vgl. Ruppel (1980), S. 55-61.<br />
13 Ebd., S. 56.
2.2 Harry Ruppel: <strong>Wieland</strong> in <strong>der</strong> Kritik 17<br />
er mit einem Wort von Robert Prutz als „wesentlich positiv, sammelnd, zust<strong>im</strong>mend“<br />
14 bezeichnet, zu einer zweiten – in den 1830ern anhebenden – Phase, die<br />
Prutz als „überwiegend negativ, sichtend, zerstörend“ 15 charakterisiert hat.<br />
Als Beleg für die unkritische Tendenz jener ersten Phase führt Ruppel einige<br />
Zitate an, die sich auf <strong>Wieland</strong> beziehen und aus den Jahren ab 1781 herrühren. 16<br />
Für die zweite Phase erwähnt <strong>der</strong> Verfasser den Einfluß des deutschen Freiheitskampfes<br />
gegen Napoleon, <strong>der</strong> zunehmend zu einer unter nationalen Gesichtspunkten<br />
verfaßten Literaturgeschichtsschreibung geführt habe. <strong>Die</strong> verbreitete<br />
Bewertung <strong>Wieland</strong>s als ein „Aneigner französischer Kultur“ 17 habe sich angesichts<br />
dieser nationalen Tendenzen natürlich äußerst negativ auf die Darstellung<br />
des Biberachers in den Literaturgeschichten <strong>der</strong> folgenden Jahre ausgewirkt. Der<br />
schon von Anfang an zu hörende Vorwurf <strong>der</strong> „Auslän<strong>der</strong>ei“ 18 wurde nun <strong>im</strong>mer<br />
stärker erhoben; zudem habe eine zunehmende Tendenz moralischer und erzieherischer<br />
Aspekte <strong>der</strong> deutschen Literarhistoriographie die Diskussion um <strong>Wieland</strong><br />
verschärft. 19<br />
In dieser Phase sei es darum gegangen, die kulturellen Leistungen <strong>der</strong> Deutschen<br />
herauszustellen und zudem Vorbil<strong>der</strong> und Ideale zu schaffen. „Ein Autor<br />
mit einem fragwürdigen moralischen und weltanschaulichen Ruf war dazu nur<br />
bedingt zu gebrauchen.“ 20 So stellt Ruppel verschiedene Umstände – hauptsächlich<br />
aber den nationalen Aspekt – dar, welche die <strong>Wieland</strong>-<strong>Rezeption</strong> nun deutlich<br />
negativ gefärbt hätten. <strong>Die</strong> Bedeutung, welche die Argumentation aus nationaler<br />
Sicht – unabhängig ob für o<strong>der</strong> gegen <strong>Wieland</strong> – für eine in dieser Zeit als<br />
glaubwürdig geltende Besprechung <strong>Wieland</strong>s hatte, läßt sich bereits aus den<br />
Beispielen Ruppels entnehmen.<br />
Ruppel schließt dieses Kapitel mit <strong>der</strong> Literaturgeschichte Kobersteins, die er<br />
an die Schwelle zu jener kritisch-zerstörerischen Phase <strong>der</strong> Literarhistoriographie<br />
einordnet. Ruppel greift ein paar Aspekte von Kobersteins Bewertungen heraus;<br />
so habe dieser in einem höchst gewandten Stil Sprache und Vers gehandhabt und<br />
damit den Sinn für das Schöne und Anmutige geför<strong>der</strong>t; ferner habe er auf romantische<br />
Stoffe aufmerksam gemacht. 21 Insgesamt erkennt Ruppel bei Koberstein<br />
jedoch eine negative Stellungnahme, da dieser <strong>Wieland</strong> aus nationaler Sicht abge-<br />
14 Prutz (1973), S. 55. Zit. n. Ruppel (1980), S. 56.<br />
15 Ebd.<br />
16 Vgl. Ruppel (1980), S. 55-57.<br />
17 Ebd., S. 57.<br />
18 Ebd., S. 58.<br />
19 Vgl. ebd.<br />
20 Ebd.<br />
21 Vgl. ebd., S. 59f.
18 2. <strong>Wieland</strong>-<strong>Rezeption</strong> <strong>im</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>t – Aktuelle Forschung<br />
wertet habe. 22 Der Agathon werde angesichts des damaligen Zustandes <strong>der</strong> Romankultur<br />
gelobt, aber ebenfalls mit dem nationalen Argument entschieden abgewertet,<br />
was unter dem Vorwurf <strong>der</strong> Frivolität noch zusätzliches Gewicht erhalte. 23 Ferner<br />
klinge eine Kritik an, die <strong>Wieland</strong> ‚Gehaltlosigkeit‘ unterstelle. 24<br />
Ist somit <strong>der</strong> Weg <strong>der</strong> Literarhistoriographie in Bezug auf <strong>Wieland</strong> bis ca.<br />
1830 grob skizziert, so wird die folgende – als ‚zerstörerisch‘ gekennzeichnete –<br />
Phase in einem Kapitel mit <strong>der</strong> Überschrift Vom Jungen Deutschland zum Positivismus<br />
behandelt. Sie setzt ein mit dem Abschnitt Nach dem Ende <strong>der</strong> ‚Kunstperiode‘:<br />
Wolfgang Menzel (die Jungdeutschen). 25 Ruppel sieht in dieser Phase<br />
<strong>der</strong> Literarhistoriographie einen „bedeutenden Aufschwung“ 26 ; dieser führe<br />
schließlich zu einer „nationalistischen Wissenschaft, die sich als Galionsfigur<br />
wilhelminischer Weltmachtpolitik mißbrauchen ließ.“ 27 Goethe, <strong>der</strong> hauptsächliche<br />
Repräsentant jener als überlebt angesehenen ‚Kunstperiode‘ werde nun von<br />
allen Seiten angegriffen, mitunter als bloßes ‚Talent‘ abgewertet. 28<br />
Wolfgang Menzel erscheint bei Ruppel als wesentlicher Repräsentant für diese<br />
Phase. Ruppel verfolgt Menzels Darstellungen über mehrere Auflagen. Erstaunlich<br />
ist jedoch, daß Ruppel die Einordnung Menzels in die ‚zerstörerische‘ Phase<br />
<strong>der</strong> Literarhistoriographie <strong>im</strong> folgenden nicht belegen kann. Er beschreibt, daß<br />
Menzel <strong>Wieland</strong> eine wichtige Funktion zugeschrieben habe, die darin bestehe,<br />
<strong>der</strong> „Strenge Lessings“ 29 entgegenzutreten und sie zu mil<strong>der</strong>n; ferner habe <strong>Wieland</strong><br />
die Anmut <strong>der</strong> Antike gelehrt und sei gegen deutsche Verknöcherung und<br />
Steifheit angegangen. 30 Was Ruppel zu belegen versucht, ist, daß Menzel in dem<br />
Biberacher lediglich eine historische Funktion wahrnehme. Dazu führt Ruppel<br />
folgendes Zitat Menzels an:<br />
<strong>Wieland</strong> trat auf, <strong>der</strong> heitere, liebenswürdige, feine <strong>Wieland</strong>, ein in Anmuth, Leichtigkeit,<br />
Scherz und Witz überfließen<strong>der</strong>, unerschöpflicher Genius. Man muß nothwendig die ganze<br />
steife, verrenkte, manierliche, pathetische Zeit kennen, die ihm vorherging, um den freien<br />
Schwung dieses Genius recht würdigen zu können, und um zugleich, was wir vom höhern<br />
Standpunkt <strong>der</strong> heutigen Zeit, zu dem er uns auf seinen Achseln selbst gehoben hat, etwa an<br />
ihm noch auszusetzen hätten, billig zu entschuldigen. 31<br />
22 Vgl. ebd., S 60.<br />
23 Vgl. ebd.<br />
24 Vgl. ebd.<br />
25 Vgl. ebd., S. 62-76.<br />
26 Ebd., S. 63.<br />
27 Hüppauf, S. 40. Zit. n. Ruppel (1980), S. 64.<br />
28 Vgl. Ruppel (1980), S. 64.<br />
29 Ebd.<br />
30 Vgl. ebd.<br />
31 Menzel (1828), S. 88. Zit. n. Ruppel (1980), S. 65.
2.2 Harry Ruppel: <strong>Wieland</strong> in <strong>der</strong> Kritik 19<br />
Zwar zeigt dieses Zitat auch eine Einordnung in den historischen Kontext, indem<br />
es <strong>Wieland</strong> vom mo<strong>der</strong>neren, als ‚höheren‘ Standpunkt angesehen aus betrachtet.<br />
Aber insgesamt fließt diese Passage von Anerkennung nur so über. Schließlich<br />
habe <strong>Wieland</strong> selber „auf seinen Achseln“ die Menschen so hochgehoben, wird<br />
er als ‚heiter‘, ‚liebenswürdig‘ und fein gekennzeichnet und ihm ‚Anmut‘,<br />
‚Leichtigkeit‘, ‚Scherz‘ und ‚Witz‘ als einem ‚unerschöpflichem Genius‘ in<br />
höchstem Maße zugeschrieben wird. Menzel erwähnt die eigentlich zu dieser<br />
Zeit üblichen Anfeindungen gegen <strong>Wieland</strong> und spricht dann auch selber davon,<br />
daß er diesen Tendenzen mit einer „Apologie <strong>Wieland</strong>s“ 32 entgegentrete. Seine<br />
Literaturgeschichte ist in Bezug auf <strong>Wieland</strong> jedenfalls das Gegenteil von ‚zerstörerisch‘.<br />
Ruppel sieht eine parallele Stellungnahme zu <strong>Wieland</strong> bei Heinrich Laube,<br />
<strong>der</strong> ebenfalls sehr positive Zuschreibungen vorn<strong>im</strong>mt, auch wenn er davon spreche,<br />
<strong>Wieland</strong> sei „von <strong>der</strong> eigentlich mo<strong>der</strong>nen Seele [...] nicht berührt“ 33 gewesen.<br />
Zwar scheint dies Tendenz zu einer mehr historischen Sicht auf <strong>Wieland</strong> mit<br />
einer solchen Aussage stärker als bei Menzel, die These von Ruppel, Laube habe<br />
<strong>Wieland</strong> als schon zu seiner Zeit „veraltet“ 34 angesehen, wird <strong>im</strong> folgenden jedoch<br />
nicht mit Belegen Laubes unterstützt.<br />
Ferner ist Ruppel <strong>der</strong> Meinung, Menzel und Laube sähen <strong>Wieland</strong> nicht in<br />
seiner Vielseitigkeit. Sie sähen lediglich den Versdichter <strong>Wieland</strong>, nicht jedoch<br />
den Prosaisten, was aus <strong>der</strong> Art ihrer Beschreibung von <strong>Wieland</strong>s Werk hervorgehe.<br />
Obwohl Ruppel bemerkt, daß Menzel keinerlei Werke des Biberachers<br />
namentlich erwähnt, sei dies aus <strong>der</strong> Darstellung des „spielerisch heiter[en]“ 35<br />
<strong>Wieland</strong> zu erschließen, wovon man denn auch bei Laube ausgehen könnte. 36 Es<br />
ist offensichtlich, daß diese These nicht abgestützt ist, da gar keine Werke explizit<br />
besprochen werden und <strong>Wieland</strong> sich seine leichte, anmutig-gewandte, spielerische<br />
Art durchaus auch in den Romanen bewahrt.<br />
Der ‚Mangel an Vielseitigkeit‘ wird ebenfalls hergeleitet aus dem Nicht-Erwähnen<br />
<strong>der</strong> Übersetzer- und Essayistentätigkeit <strong>Wieland</strong>s, die auch nicht mit dem Tenor<br />
<strong>der</strong> <strong>Wieland</strong>-Darstellung bei diesen Literarhistorikern vereinbar seien. 37 Dazu<br />
ist zu sagen, daß hier allgemeine Darstellungen vorliegen, die <strong>Wieland</strong> in einer<br />
generalisierenden Weise besprechen; wenn sie schon nicht auf einzelne Werke<br />
eingehen, werden sie wohl kaum auf die Übersetzertätigkeit eingehen, bei <strong>der</strong> Wie-<br />
32 Ruppel (1980), S. 65.<br />
33 Laube (1839), S. 158. Zit. n. Ruppel (1980), S. 66.<br />
34 Ruppel (1980), S. 66.<br />
35 Ebd., S. 67.<br />
36 Vgl. ebd.<br />
37 Vgl. ebd.