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Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Band 4 - Peter Lang

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Sektion (51)<br />

Kontakt <strong>und</strong> Transfer in<br />

<strong>der</strong> Sprach- <strong>und</strong> Literaturgeschichte<br />

des Mittelalters <strong>und</strong> <strong>der</strong> Frühen Neuzeit<br />

Betreut <strong>und</strong> bearbeitet<br />

von<br />

Alexan<strong>der</strong> Schwarz, Sabine Seelbach<br />

<strong>und</strong> Gerhild Scholz Williams


192


Alexan<strong>der</strong> Schwarz, Sabine Seelbach <strong>und</strong> Gerhild Scholz Williams:<br />

Einleitung<br />

Die Literatur- <strong>und</strong> Sprachwissenschaft <strong>der</strong> Gegenwart erk<strong>und</strong>et <strong>und</strong> überwindet<br />

unter dem Stichwort new philology auf vielfältige Weise die Grenzen<br />

zwischen Text <strong>und</strong> Kontext. So öffnet sie den Text zu Vorgängern (Intertextualität)<br />

<strong>und</strong> Nachfolgern (Varianz). Sie spürt dem materiellen <strong>und</strong> körperlichen<br />

Ausdruckspotential (Performativität) <strong>und</strong> den Aktualisierungen in verschiedenen<br />

Epochen nach (Performanz). Sie setzt die aktuelle o<strong>der</strong> zudem<br />

konzeptuelle Schriftlichkeit des handschriftlichen o<strong>der</strong> gedruckten Textes in<br />

Beziehung zu den Medien Mündlichkeit (sprachliche <strong>und</strong> musikalische) <strong>und</strong><br />

Bildlichkeit (Körpersprache wie Abbildung). Sie sucht nach Spuren seiner<br />

sozialen Konstruktion, Transmission, Rezeption <strong>und</strong> Transformation (offener<br />

<strong>und</strong> geschlossener Text, Autorstatus, Autorisierung <strong>und</strong> Zensur, Netzwerke,<br />

Genese einer Öffentlichkeit). Damit stellt sie dem individualen Kontaktbegriff<br />

<strong>der</strong> traditionellen Transferlinguistik (<strong>der</strong> mehrsprachige Mensch als Ort<br />

des Sprachkontaktes, die Rolle des Übersetzens) einen dialogischen gegenüber,<br />

wie er neueren literaturwissenschaftlichen Konzepten von Kultur (sowie<br />

von Inter- <strong>und</strong> Transkulturalität) <strong>und</strong> linguistischen des Transfers (in <strong>der</strong><br />

bis heute primär gegenwartsorientierten Transferwissenschaft) entgegen<br />

kommt.<br />

Es erschien an <strong>der</strong> Zeit, diese Vielfalt in einem Versuch <strong>der</strong> Zusammenschau<br />

kritisch auf ihre Tragfähigkeit als gemeinsame Basis zukünftiger<br />

Sprach- <strong>und</strong> Literaturgeschichte hin zu prüfen. Das sollte in <strong>der</strong> Sektion<br />

durch die Verknüpfung von Theorie- <strong>und</strong> Korpusarbeit geleistet werden.<br />

Einzelne <strong>der</strong> erwähnten Ansätze o<strong>der</strong> auch die skizzierte Forschungsperspektive<br />

insgesamt sollten in den Vorträgen je zu einem Korpus in Beziehung<br />

gesetzt werden. Dieses konnte synchron o<strong>der</strong> longitudinal angelegt sein,<br />

sollte aber in jedem Fall seinen zeitlichen Schwerpunkt zwischen dem Beginn<br />

deutscher Schriftlichkeit <strong>und</strong> dem Ende des 30jährigen Krieges setzen.<br />

Die Ausschreibung richtete sich denn auch primär an Forschende im Bereich<br />

des Mittelalters <strong>und</strong> <strong>der</strong> Frühen Neuzeit.<br />

Alexan<strong>der</strong> Schwarz, Sabine Seelbach <strong>und</strong> Gerhild Scholz Williams


194


TILO RENZ (Deutschland, Hamburg/Berlin)<br />

Rache an wem?<br />

Juristisches Wissen von Täterschaft <strong>und</strong><br />

Schuld im Nibelungenlied<br />

Es gehört zu den gr<strong>und</strong>legenden ästhetischen Charakteristika des Nibelungenlieds,<br />

dass die sukzessive Verknüpfung von Teilhandlungen vielfach Verständnisprobleme<br />

aufwirft: Erzählelemente werden schlicht aneinan<strong>der</strong> gereiht,<br />

kausal-logische Verknüpfungen einzelner Handlungssequenzen fehlen<br />

o<strong>der</strong> mitgeteilte Informationen wi<strong>der</strong>sprechen einan<strong>der</strong>. In den Spielregeln<br />

für den Untergang hat Jan-Dirk Müller vorgeschlagen, die syntagmatischen<br />

Inkohärenzen des Nibelungenlieds nicht nur als Resultat <strong>der</strong> Probleme zu<br />

verstehen, vor die eine komplizierte mündliche Überlieferungstradition des<br />

Stoffes den (o<strong>der</strong> die) Schreiber gestellt hat, son<strong>der</strong>n sie als schriftspezifische<br />

Technik <strong>der</strong> Steigerung von Komplexität ernst zu nehmen. Er beobachtet im<br />

Nibelungenlied die „Herstellung von Sinnbezügen durch Addition ähnlicher<br />

o<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>sprüchlicher, jedenfalls aufeinan<strong>der</strong> beziehbarer Komponenten“<br />

(J.-D. Müller 1998: 137)). Müller behauptet nicht, dass dem Nibelungenlied<br />

generell eine hoch elaborierte künstlerische Konzeption zugr<strong>und</strong>e liegt, 1<br />

son<strong>der</strong>n er impliziert ein Forschungsprogramm: Anhand von Einzeluntersuchungen<br />

ist zu zeigen, ob <strong>und</strong> auf welche Weise je spezifische Inkohärenzen<br />

des Textes bedeutsam sind. Mit <strong>der</strong> Frage nach Konzepten von Täterschaft<br />

<strong>und</strong> Schuld im Zusammenhang <strong>der</strong> Darstellung von Siegfrieds Tod schließe<br />

ich an dieses Programm an. Ich erweitere es, indem ich nicht nur textimmanent<br />

verfahre, son<strong>der</strong>n auf Korrespondenzen <strong>der</strong> literarischen Darstellung mit<br />

zeitgenössischen Rechtstexten hinweise. Ziel des Vorgehens ist es, Ansatzpunkte<br />

für eine nibelungische Poetik <strong>der</strong> Rückführung einer Tat auf einen<br />

o<strong>der</strong> mehrere Täter zu liefern <strong>und</strong> diese wissenshistorisch zu situieren.<br />

Der Frage, wer für den Tod Siegfrieds verantwortlich ist, wird im Nibelungenlied<br />

große Bedeutung zugemessen. Der Text greift sie in unterschiedlichen<br />

Situationen <strong>und</strong> mit variierten Formulierungen auf. Unmittelbar nach<br />

dem Mord tritt das Problem, einen Schuldigen zu bestimmen, prominent<br />

hervor. Kriemhild kündigt an, den Mör<strong>der</strong> ihres Mannes erst dann zu verfol-<br />

1 In diesem Sinne hat Haug Müllers Einsatz aufgefasst; Müller unterstellt jedoch<br />

nicht das kompositionelle Gelingen des gesamten Textes (vgl. J.-D. Müller 1998:<br />

94).


196 Tilo Renz<br />

gen, wenn gewiss sei, um wen es sich handele (1012,4), <strong>und</strong> sie stellt Siegfrieds<br />

Vater in Aussicht, die Vergeltung voranzutreiben, sobald man den<br />

Täter festgestellt habe (1033,3–4). Als Gunther <strong>und</strong> Hagen alle Anschuldigungen<br />

zurückweisen (1041,4–1042,4; 1043,1), lässt Kriemhild ein formalisiertes<br />

Verfahren durchführen, um den o<strong>der</strong> die Schuldigen an Siegfrieds Tod<br />

zu bestimmen: die Bahrprobe (1043,2–1045,2).<br />

Der Ausgang des Gottesurteils ist auf den ersten Blick eindeutig. Die<br />

W<strong>und</strong>en des Leichnams beginnen bei Hagens Anwesenheit erneut zu bluten<br />

<strong>und</strong> weisen ihn als Mör<strong>der</strong> aus: „dâ von man die schulde dâ ze Hagene gesach“<br />

(1044,4). Gunther bezeugt darauf Hagens Unschuld <strong>und</strong> wie<strong>der</strong>holt die<br />

verabredete Lüge, Räuber hätten Siegfried erschlagen. Anschließend bezeichnet<br />

Kriemhild beide Männer als Täter: „Gunther <strong>und</strong> Hagene, jâ habt ir<br />

iz getân“ (1046,1–3). Indem Kriemhild ohne Rücksicht auf das Resultat <strong>der</strong><br />

Bahrprobe nicht nur Hagen, son<strong>der</strong>n auch Gunther als Täter anspricht, steht<br />

die Bedeutung des Verfahrens zur Feststellung von Schuld in Frage. Zugleich<br />

tritt das gr<strong>und</strong>sätzliche Problem hervor, was Täterschaft <strong>und</strong> Schuld im Sinne<br />

<strong>der</strong> Rechtsvorstellungen des Nibelungenlieds konstituiert: Wer gilt anhand<br />

welcher Kriterien als Siegfrieds Mör<strong>der</strong>, <strong>und</strong> wer ist für die Tat mit-verantwortlich?<br />

Wie Kriemhild selbst zuvor konstatiert hat, müssen Antworten<br />

auf diese Frage Konsequenzen haben für das weitere Vorgehen <strong>der</strong> verletzten<br />

Partei: Gegen wen wird die Rache gerichtet? 2<br />

Dass die Schuldfrage mit dem Gottesurteil keineswegs geklärt ist, zeigt<br />

sich, sobald im Verlauf <strong>der</strong> Handlung weiterhin versucht wird, Schuldige an<br />

Siegfried Tod zu bestimmen. Auf Gernots Gesprächseröffnung beim ersten<br />

Vermittlungsversuch, <strong>der</strong> König lasse ausrichten, er habe Siegfried nicht<br />

erschlagen (1110,2–3), antwortet Kriemhild, dass es um den Vorwurf dieser<br />

Tat nicht gehe: „des zîhet in niemen: in sluoc diu Hagenen hant“ (1111,1).<br />

Der eigenhändige Vollzug <strong>der</strong> Handlung identifiziert hier wie an an<strong>der</strong>en<br />

Stellen des Textes den Schuldigen (vgl. 1392,2–3; 1459,3; 1626,2). Überraschend<br />

schließt Kriemhild die Erörterung <strong>der</strong> Schuldfrage dann mit den Worten<br />

ab: „holt wird’ ich in nimmer, die ez dâ hânt getân [Hervorhebung T. R]“<br />

(1112,3). Wie schon nach <strong>der</strong> Bahrprobe behauptet sie die Tatbeteiligung<br />

mehrerer <strong>und</strong> qualifiziert dieses Verhalten als Handeln, scheint es aber dennoch<br />

nicht mit dem Akt des Tötens gleichzusetzen. Wenn Gunther <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e<br />

als Täter gelten können, so muss unter Täterschaft mehr zu subsumieren<br />

sein als <strong>der</strong> körperliche Vollzug einer todbringenden Handlung. Die enge<br />

Verbindung zwischen einer Tat <strong>und</strong> einem einzelnen Täter, auf den die Tat<br />

2 Dass die genannten Fragen nur unzureichend beantwortet werden, könnte erklären,<br />

warum auf die Bahrprobe keine Rechtshandlung folgt; ein weiterer gewichtiger<br />

Gr<strong>und</strong> dafür sind die geringen Machtmittel <strong>der</strong> Witwe.


Juristisches Wissen von Täterschaft u. Schuld im Nibelungenlied 197<br />

verweist, wird mit dieser Formulierung in Frage gestellt <strong>und</strong> durch ein erweitertes<br />

Verständnis von Täterschaft ersetzt.<br />

Die folgende Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Begegnung mit Gunther, in die Kriemhild<br />

am Ende <strong>der</strong> Vermittlung einwilligt, enthält dann eine Differenzierung unterschiedlicher<br />

Arten von Tatbeteiligung. Hagen erscheint nicht vor Kriemhild:<br />

„wol wesse er sîne schulde, er het ir leide getân“ (1113,4). Und auch Gunther<br />

wäre mit weniger Unbehagen zu seiner Schwester gegangen, „wære ir von<br />

sînem râte leide niht getân [Hervorhebung T. R.]“ (1114,3). Die Ergänzung<br />

macht deutlich, dass es sich im Falle Gunthers um das Betreiben einer Tat<br />

handelt, nicht um den tatsächlichen Vollzug. Zum Abschluss <strong>der</strong> Sequenz<br />

wird die Bedeutung <strong>der</strong> Tatausführung für Kriemhilds unterschiedlichen<br />

Umgang mit den einzelnen Beteiligten noch einmal herausgestellt:<br />

si verkôs ûf si alle wan ûf den einen man.<br />

in het erslagen niemen, het ez nicht Hagene getân [Hervorhebung T. R.].<br />

(1115,3–4)<br />

Im Sinne dieser Betonung von Hagens Handeln <strong>und</strong> <strong>der</strong> Verantwortlichkeit<br />

für Kriemhilds Leid, die sich daraus ergibt, wird <strong>der</strong> Tronjer für den weiteren<br />

Verlauf <strong>der</strong> Narration nach Kriemhilds Heirat mit Etzel zum Hauptziel <strong>der</strong><br />

Rache <strong>und</strong> zum zentralen Schuldigen (vgl. dagegen J.-D. Müller 1998: 156).<br />

Jedoch bedeutet die Zuspitzung auf Hagen nicht, dass nicht auch im abschließenden<br />

Teil des Nibelungenlieds weitere Schuldige benannt <strong>und</strong> weitere<br />

Figuren in die Rache einbezogen werden. Kriemhild selbst macht auf dem<br />

Höhepunkt ihrer Macht an Etzels Hof Hagen <strong>und</strong> Gunther dafür verantwortlich,<br />

dass sie schließlich einen Mann nicht-christlichen Glaubens habe heiraten<br />

müssen (1395). Und als Kriemhild Etzels Bru<strong>der</strong> Bloedel für ihre Rache<br />

gewinnen will, schickt sie ihn gegen eine Gruppe von Personen:<br />

jâ sint in disem hûse die vîande mîn,<br />

die Sîfriden sluogen, den mînen lieben man [Hervorhebung T. R.]. (1904,2–3)<br />

Mehrere Figuren erscheinen hier nicht als Täter im erweiterten Sinn, son<strong>der</strong>n<br />

als tatsächlich Ausführende <strong>der</strong> todbringenden Handlung. In seiner Replik<br />

verengt Bloedel den Fokus <strong>der</strong> Rache <strong>und</strong> sagt Kriemhild zu, Hagen müsse<br />

entgelten, was er ihr angetan habe (1909,3). Darauf greift er aber nicht den<br />

Tronjer an, son<strong>der</strong>n das Gefolge <strong>der</strong> Burg<strong>und</strong>en, das separat untergebracht ist<br />

(1921ff.). An dieser Stelle wird die Fokussierung <strong>der</strong> Rache auf Hagen doppelt<br />

irritiert: durch Kriemhilds Rede <strong>und</strong> durch das Handeln Bloedels.<br />

Die Beispiele zeigen, dass das Nibelungenlied von einer Rache berichtet,<br />

die auf einen Hauptverantwortlichen zugespitzt wird. Zugleich wird diese<br />

Konzentration auf einen einzelnen Schuldigen als handelnden Akteur immer


198 Tilo Renz<br />

wie<strong>der</strong> durch Hinweise auf an<strong>der</strong>e Beteiligte <strong>und</strong> Mitschuldige ergänzt <strong>und</strong> in<br />

Frage gestellt.<br />

Um die rekonstruierten Rechtsvorstellungen des Nibelungenlieds zu kontextualisieren,<br />

können die Landfrieden des 12. <strong>und</strong> frühen 13. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

als Referenztexte herangezogen werden. Sie teilen mit dem Nibelungenlied<br />

das zentrale Thema Fehde: Ihr Ziel ist es, den Ablauf von Fehdehandlungen<br />

zu reglementieren. Verstöße gegen den vorgesehenen Fehdeverlauf werden<br />

mit spiegelnden Strafen bedroht, <strong>der</strong>en Maß sich in <strong>der</strong> Regel am Schaden<br />

<strong>der</strong> verletzten Partei orientiert. Damit folgen die Sanktionen dem Prinzip <strong>der</strong><br />

Erfolgshaftung, wonach „<strong>der</strong> Unwert <strong>der</strong> Taten gr<strong>und</strong>sätzlich vom Erfolge,<br />

d. h. von dem durch die Tat verursachten Schaden her bestimmt“ wird (E.<br />

Schmidt 1965: 31). 3 Der Täter wird auf formale Weise identifiziert: Die Tat<br />

verweist unmittelbar auf ihn, <strong>und</strong> er erscheint im Umkehrschluss lediglich als<br />

ihr Werkzeug (vgl. M. Klementowski 1996: 226; E. Schmidt 1965: 71).<br />

Die Landfrieden lassen jedoch erkennen, dass hochmittelalterliches<br />

Recht nicht durchweg dem strikten Automatismus <strong>der</strong> Verkettung von Verletzung<br />

<strong>und</strong> Rache o<strong>der</strong> Strafe sowie <strong>der</strong> formalen Verbindung von Täter <strong>und</strong><br />

Tat folgt, die das Prinzip <strong>der</strong> Erfolgshaftung vorsieht. Sie ergänzen es vielmehr<br />

durch Regelungen, die Tatumstände auf <strong>der</strong> Seite des Täters berücksichtigen.<br />

Dem für das Nibelungenlied beschriebenen Rechtsproblem entsprechend,<br />

finden sich einige wenige Rechtsvorschriften, die Verantwortlichkeit<br />

für Dritte regeln. 4 Danach ist nicht <strong>der</strong> Ausführende einer Tat, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> sie gestattet, also etwa <strong>der</strong> Lehnsherr, für ein Vergehen zur<br />

Verantwortung zu ziehen. Darüber hinaus enthalten die Rechtstexte eine<br />

Reihe weiterer Bestimmungen, die den Zusammenhang, in dem eine Tat<br />

steht, zumindest in Ansätzen erfassen: Sie berücksichtigen das Bewusstsein<br />

des Täters für sein Tun, halten seine Verantwortlichkeit für die eigenen<br />

Handlungen fest o<strong>der</strong> benennen seine böse Absicht; sie rechnen aber auch<br />

mit altersbedingter Unreife, mangeln<strong>der</strong> kognitiver Verantwortlichkeit o<strong>der</strong><br />

mit dem Handeln aus Notwehr (vgl. M. Klementowski 1996: 221ff.). 5<br />

3 Zur Forschungsgeschichte <strong>der</strong> Erfolgshaftung sowie zur Frage ihrer Geltung im<br />

germanischen Strafrecht vgl. S. Stübinger <strong>und</strong> J. Weitzel.<br />

4 Die Regelungen sind uneinheitlich: Während nach Art. 11 des Friedebriefs gegen<br />

die Brandstifter (1186) ein Herr den Brandleger verstoßen muss, um nicht selbst<br />

belangt zu werden, schließt <strong>der</strong> Sachsenspiegel die Haftung des Sohnes für Taten<br />

des Vaters nach dessen Ableben aus (Ssp. Ldr. II 17 §1).<br />

5 Die Strafbestimmungen des Hoch- <strong>und</strong> Spätmittelalters zeigen insbeson<strong>der</strong>e die<br />

Tendenz, „psychische Beziehungen des Täters zu seiner Tat“ zu berücksichtigen<br />

(W. Sellert / H. Rüping 1989: 103). Allmählich entwickelt sich daraus ein mo<strong>der</strong>nes<br />

Verständnis von Schuld als „Verknüpfung von Wille, Handlung <strong>und</strong> Erfolg“<br />

(E. Kaufmann 1971: 989).


Juristisches Wissen von Täterschaft u. Schuld im Nibelungenlied 199<br />

Diese schlaglichtartigen Hinweise auf die Landfrieden stützen die These,<br />

dass die zahlreichen <strong>und</strong> variierten Rekurse des Nibelungenlieds auf Täter<br />

<strong>und</strong> Schuldige an Siegfrieds Tod nicht einfach uneinheitlich, inkonsequent<br />

o<strong>der</strong> unpräzise sind. Vielmehr sind sie die literarische Form, mit <strong>der</strong> Vorstellungen<br />

von Täterschaft <strong>und</strong> Schuld zum Ausdruck gebracht werden, die sich<br />

synchron auch in Rechtstexten finden. Der spezifische Darstellungsmodus<br />

des Nibelungenlieds korrespondiert bei <strong>der</strong> Frage nach den Schuldigen an<br />

Siegfrieds Tod mit zeitgenössischen rechtlichen Regelungen, die nicht unmittelbar<br />

von <strong>der</strong> Tat auf einen Täter schließen, son<strong>der</strong>n zusätzlich Formulierungen<br />

finden, mit <strong>der</strong>en Hilfe die Umstände des Geschehens erfasst werden<br />

können. Das Nibelungenlied vertritt die Einschätzung, Hagen sei <strong>der</strong> Mör<strong>der</strong><br />

Siegfrieds <strong>und</strong> <strong>der</strong> zu verfolgende Hauptverantwortliche des Geschehens; <strong>der</strong><br />

Text ergänzt <strong>und</strong> verunsichert dieses Urteil aber auch kontinuierlich.<br />

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WERKMÜLLER, D. / SCHMIDT-WIEGAND, R. (Hg.): Handwörterbuch<br />

zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2., völlig überarb. u. erw.<br />

Auflage, Berlin, Sp. 1395–1405.

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