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WO ES STINKT UND KRACHT - Perspektive 21

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Heft 56 | April 2013 | www.perspektive<strong>21</strong>.de<br />

Brandenburgische Hefte<br />

für Wissenschaft und Politik<br />

MAGAZIN<br />

150 Jahre SPD<br />

Eine kleine Chronik<br />

Heinrich August Winkler<br />

Die Ehre der deutschen Republik<br />

Norbert Frei<br />

Die „Volksgemein schaft“<br />

als Terror und Traum<br />

SCHWERPUNKT<br />

<strong>WO</strong> <strong>ES</strong><br />

DAS STRASSENSCHILD<br />

Christian Neusser<br />

über Otto Wels<br />

Ehre, wem Ehre gebührt<br />

<strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong><br />

<strong>KRACHT</strong><br />

Wo unser Wohlstand herkommt<br />

Ralf Holzschuher<br />

Zukunft gibt’s nicht von allein<br />

Ulrich Freese<br />

Zwei Seiten einer Medaille<br />

Ulrich Berger<br />

Die industrielle Produktion<br />

von morgen<br />

Philipp Fink<br />

Ungeliebt, begehrt<br />

und doch nicht verstanden<br />

Andrea Wicklein<br />

Wohlstand muss<br />

erwirtschaftet werden!


Eine persönliche Bestandsaufnahme<br />

20 Jahre nach<br />

der friedlichen<br />

Revolution von<br />

1989:<br />

Wie viel Einheit<br />

haben wir erreicht?<br />

Welchen Aufbruch<br />

braucht Deutschland<br />

jetzt?<br />

224 Seiten,<br />

gebunden<br />

| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen


VOR<strong>WO</strong>RT<br />

Industriepolitik? Ist das nicht ein Thema aus dem 19. und 20. Jahrhundert?<br />

Wenn viele Menschen diesen Begriff hören, denken sie an rauchende Schlote<br />

und erbarmungswürdige Arbeitsbedingungen, vielleicht noch an Umwelt zer -<br />

stö rung und CO2-Austoß. Jedenfalls löst der Begriff Industriepolitik häufig – zu<br />

häufig! – Assoziationen aus, die eher mit Vergangenheit denn mit Gegenwart und<br />

Zukunft unseres Landes verbunden werden. Das ist ein großer, ja fast tragischer<br />

Irrtum: Die industrielle Produktion ist in Deutschland nach wie vor das Rückgrat<br />

unseres materiellen Wohlstandes. Der Gewerkschafter Ulrich Freese weist in diesem<br />

Heft zu Recht darauf hin, dass sich 60 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutsch -<br />

land direkt oder indirekt dem produzierenden Gewerbe und industrienahen Dienst -<br />

leistern zuordnen. Welche Bedeutung Industriepolitik in Brandenburg hat, will ich<br />

an zwei Beispielen illustrieren: Die Städte Schwedt und Eisenhüttenstadt sind zu<br />

DDR-Zeiten als Industriestädte entstanden. Nur mit großen finanziellen Anstren -<br />

gungen ist es der Landesregierung gelungen, nach 1989 die industriellen Kerne<br />

Petrolchemie (Schwedt) und Stahlindustrie (Eisenhüttenstadt) zu erhalten. Wäre<br />

dies nicht gelungen, gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass beide<br />

Städte einen dramatischen Verelendungsprozess durchlaufen hätten. Uns allen<br />

muss bewusst sein, dass wir in Brandenburg, ja in ganz Deutschland auch in Zu -<br />

kunft industrielle Produktion brauchen, wenn wir unser jetziges Wohlstands niveau<br />

halten wollen. Das hat Voraussetzungen: eine ausreichende Anzahl gut qualifizierter<br />

Beschäftigter, eine sichere und bezahlbare Energieversorgung und eine gute For -<br />

schungslandschaft gehören dazu. In unserem Schwerpunkt diskutieren wir, wie<br />

Politik diese Voraussetzungen sichern helfen kann.<br />

Dieses Heft hat im Magazinteil noch einen zweiten Schwerpunkt. In diesem Jahr<br />

feiert die SPD am 23. Mai ihren 150.Geburtstag und es jährt sich zum 80. Mal der<br />

Beginn der Terrorherrschaft der Nazis. Beide Jahrestage sind uns Anlass genug, mit<br />

einigen Beiträgen daran zu erinnern.<br />

Wie die SPD, so gehen auch wir mit der Zeit. Zwar ist die <strong>Perspektive</strong> <strong>21</strong> sicher lich<br />

nicht 150 Jahre alt. Aber nach neun Jahren fanden wir, dass es an der Zeit war, unser<br />

Layout ein wenig zu modernisieren. Funktional, konzentriert und frisch – so wollen<br />

wir unsere Zeitschrift sehen. Und wir hoffen, dass Sie das als Leserinnen und Leser<br />

genauso empfinden.<br />

Ich wünsche eine erhellende Lektüre!<br />

Ihr Klaus Ness<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

3


IMPR<strong>ES</strong>SUM<br />

Herausgeber<br />

– SPD-Landesverband Brandenburg<br />

– Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie<br />

in Berlin, Brandenburg und<br />

Mecklenburg-Vorpommern e.V.<br />

Die perspektive <strong>21</strong> steht für die<br />

Gleichberechtigung von Frauen und<br />

Männern. Der besseren Lesbarkeit<br />

halber wurden an manchen Stellen<br />

im Text ausschließlich männliche<br />

oder weibliche Bezeichnungen<br />

verwendet. Diese Bezeichnungen<br />

stehen dann jeweils stellvertretend<br />

für beide Geschlechter.<br />

Redaktion<br />

Klaus Ness (V.i.S.d.P.),<br />

Thomas Kralinski (Chefredakteur),<br />

Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr,<br />

Klaus Faber,Tina Fischer,<br />

Klara Gey witz, Lars Krumrey,<br />

Christian Maaß, Till Meyer,<br />

Dr. Manja Orlowski, John Siegel<br />

Anschrift<br />

Alleestraße 9<br />

14469 Potsdam<br />

Telefon +49 (0) 331 730 980 00<br />

Telefax +49 (0) 331 730 980 60<br />

E-Mail<br />

perspektive-<strong>21</strong>@spd.de<br />

Internet<br />

www.perspektive<strong>21</strong>.de<br />

www.facebook.com/perspektive<strong>21</strong><br />

Herstellung<br />

Gestaltungskonzept, Layout & Satz:<br />

statement Designstudio, Berlin<br />

www.statementdesign.de<br />

Druck: LEWERENZ Medien+Druck GmbH,<br />

Coswig (Anhalt)<br />

Bezug<br />

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Abonnement direkt beim Herausgeber.<br />

Senden Sie uns eine E-Mail.<br />

4 April 2013 | Heft 56


INHALT<br />

MAGAZIN<br />

7 150 Jahre SPD<br />

Eine kleine Chronik, zusammengestellt<br />

von Thomas Kralinski<br />

19 Die Ehre der deutschen Republik<br />

Vor achtzig Jahren hielten allein<br />

die Sozial demokraten gegen Hitlers<br />

Ermächtigungsgesetz stand<br />

von Heinrich August Winkler<br />

29 Die „Volksgemein schaft“<br />

als Terror und Traum<br />

Woher die durchaus vorhandene<br />

Zustimmung zum Nazi-Regime kam<br />

von Norbert Frei<br />

DAS STRASSENSCHILD<br />

37 Ehre, wem Ehre gebührt<br />

Christian Neusser über Otto Wels<br />

SCHWERPUNKT<br />

<strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong> | <strong>WO</strong> UNSER <strong>WO</strong>HLSTAND HERKOMMT<br />

41 Zukunft gibt’s nicht von allein<br />

Wie die vierte industrielle Revolution<br />

in Brandenburg gelingen kann<br />

von Ralf Holzschuher<br />

49 Zwei Seiten einer Medaille<br />

Eckpunkte einer nachhaltigen<br />

Energie- und Rohstoff politik für den<br />

Industriestandort Deutschland<br />

von Ulrich Freese<br />

55 Die industrielle<br />

Produktion von morgen<br />

Wie eine Vision für die Haupt -<br />

stadtregion aussehen kann<br />

von Ulrich Berger<br />

65 Ungeliebt, begehrt und<br />

doch nicht verstanden<br />

Die deutsche Industrie ist<br />

entscheidend für Wachstum<br />

und Beschäftigung<br />

von Philipp Fink<br />

75 Wohlstand muss<br />

erwirtschaftet werden!<br />

Wie die kleinen und mittleren<br />

Unternehmen weiter für<br />

wirt schaftlichen Aufschwung<br />

sorgen können<br />

von Andrea Wicklein<br />

perspektive<strong>21</strong> 5


MAGAZIN<br />

6 April 2013 | Heft 56


MAGAZIN<br />

150 Jahre SPD<br />

Eine kleine Chronik, zusammengestellt<br />

von Thomas Kralinski<br />

19. Jahrhundert +++ Die rasante Industriealisierung Deutschlands führt zu<br />

Woh nungsnot, Hunger, Krankheiten, Kinderarmut und Bildungsarmut und somit<br />

zum Aufkommen der „sozialen Frage“ – die sich zunehmend politisch artikuliert.<br />

1863 +++ Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV)<br />

durch Ferdinand Lassalle in Leipzig ist die Geburtsstunde der Sozialdemokratie.<br />

Ein wichtiges Ziel waren freie und geheime Wahlen sowie Bildung für alle. Ein<br />

Jahr später hat der Verein bereits fast 5.000 Mitglieder.<br />

1864 +++ Lassalle gründet mit Unterstützung u. a. von Friedrich Engels und Karl<br />

Marx die Zeitschrift „Der Sozial-Demokrat“, die zum offiziellen Organ des ADAV wird.<br />

1866 +++ „Der Sozial-Demokrat“ veröffentlicht ein „Programm der sozialdemo -<br />

kratischen Partei Deutschlands“. Zentrale Ziele: ein geeintes Deutschland, freie<br />

Wahlen und die Lösung der sozialen Frage.<br />

1869 +++ August Bebel und Wilhelm Liebknecht gründen in Eisenach die Sozial -<br />

demo kratische Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP).<br />

1875 +++ Der ADAV mit seinen 15.000 Mitgliedern und die SDAP (9.000 Mitglieder)<br />

vereinigen sich in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Die<br />

zentralen Ziele des „Gothaer Programms“ sind Bildung, gleiches Wahlrecht für alle,<br />

Presse- und Versammlungsfreiheit sowie Schutz der Arbeiter.<br />

1876 +++ Die Sozialdemokraten gründen in Leipzig eine Parteizeitung: Der Vorwärts.<br />

1877 +++ Erstmals hält August Bebel eine Rede über die „Stellung der Frau im heutigen<br />

Staat und im Sozialismus“. Er fordert die Frauen auf, sich an den nächsten<br />

Reichs tagswahlen zu beteiligen.<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

7


MAGAZIN<br />

1878 +++ Mit den Sozialistengesetzen wird die SAP verboten. Gleichzeitig ent -<br />

wickeln sich die Parteistrukturen in der Verbotszeit besonders intensiv, so in Bil -<br />

dungs-, Sport- und Naturvereinen. Auch die Zahl der Wähler steigt trotz Verbot.<br />

1883 +++ Reichskanzler Bismarck versucht mit seiner Sozialgesetzgebung die sozi -<br />

ale Frage zu entschärfen. Er schafft die Krankenversicherung, später die Unfall- und<br />

Rentenversicherung. Die Arbeiterbewegung wird dadurch jedoch nicht gebremst.<br />

1890 +++ Die Sozialistengesetze werden aufgehoben, das Verbot der SAP beendet.<br />

Die Partei gibt sich auf einem Parteitag in Halle einen neuen Namen: SPD. +++<br />

Mit 19,8 Prozent wird die SPD bei den Reichstagswahlen die wählerstärkste Par tei.<br />

Paul Singer bildet mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht in den Folge jahren das<br />

„Dreigestirn“ der SPD.<br />

1891 +++ Die SPD verabschiedet in Erfurt ihr neues Grundsatzprogramm. Darin<br />

wird erstmals das Wahlrecht für Frauen und die Gleichstellung von Männern und<br />

Frauen gefordert.<br />

1899 +++ Eduard Bernstein und Karl Kautsky beginnen einen Programmstreit<br />

über die Frage, ob die SPD ihre Ziele durch „Revolution“ oder „Reformen“ anstrebt.<br />

Dieser Theorie streit wird die SPD viele Jahre beschäftigen.<br />

1900 +++ Unter Clara Zetkin und Ottilie Baader findet die erste Konferenz der<br />

sozialdemokratischen Frauen in Mainz statt.<br />

1906 +++ Erstmals gibt es eine genaue Mitgliedszahl der SPD: 384.327. Der Partei -<br />

vor stand hat 16 Parteisekretäre angestellt. Der „Vorwärts“ hat 112.000 Abonnenten.<br />

+++ Im „Mannheimer Abkommen“ mit den Gewerkschaften entscheidet sich die<br />

SPD gegen politische Massenstreiks, allein die Gewerkschaften sollen über Streiks<br />

entscheiden. +++ Die Parteischule der SPD wird gegründet. In ihr werden Sozial -<br />

demokraten ein halbes Jahr auf Kosten der Partei geschult und auf das Regieren<br />

vorbereitet.<br />

1908 +++ In Preußen, Sachsen und anderen Teilen Deutschlands kommt es – wie<br />

auch in den Folgejahren – immer wieder zu von der SPD veranstalteten Massen de -<br />

mon s tra tionen gegen das geltende Wahlrecht.<br />

8 April 2013 | Heft 56


<strong>21</strong>,6 20,4<br />

18,3<br />

150 JAHRE SPD<br />

Wahlergebnisse der SPD in der<br />

Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland<br />

in Prozent<br />

37,9<br />

45,8<br />

42,7 42,6 42,9<br />

39,3<br />

38,2<br />

36,2<br />

37,0<br />

40,9<br />

38,5<br />

36,4<br />

34,2<br />

33,5<br />

<strong>21</strong>,7 20,5<br />

26,0<br />

29,8<br />

24,5<br />

29,2 31,8<br />

28,8<br />

<strong>21</strong>,9<br />

23,0<br />

1919 1920 1924<br />

I<br />

1924<br />

II<br />

1928 1930 1932<br />

I<br />

1932 1933<br />

II<br />

1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990<br />

(VK)<br />

1990 1994 1998 2002 2005 2009<br />

(BT)<br />

1911 +++ Zum ersten Mal wird der sozialdemokratische „Frauentag“ – damals noch<br />

am 19. März – durchgeführt. Sein Motto: Volles Bürgerrecht für die Frau. +++ Zum<br />

ersten Mal gibt es eine sozialdemokratische Mehrheit in einem deutschen Landtag,<br />

dem von Schwarzburg-Rudolstadt. Die SPD bekommt neun von 17 Sitzen.<br />

1912 +++ Bei den Wahlen wird die SPD erstmals stärkste Fraktion im Reichstag.<br />

Die SPD hat erstmals über eine Million Mitglieder.<br />

1913 +++ Nach dem Tode August Bebels werden Friedrich Ebert und Hugo Haase<br />

Parteivorsitzende. +++ Die SPD hat 983.000 Mitglieder, darunter 141.000 Frauen.<br />

Es erscheinen 90 Partei zeitungen täglich, deren Gesamtauflage 1,5 Millionen<br />

beträgt. Der „Vorwärts“ hat 157.000 Abonennten, „Der Wahre Jacob“ 371.000.<br />

1914 +++ Die SPD-Reichstagsfraktion stimmt für die Kriegskredite für den ersten<br />

Weltkrieg und begründet dies mit der „Verteidigung des Landes“. Die innerpartei -<br />

liche Auseinandersetzung darüber führt letztlich zur Gründung der USPD 1917.<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

9


MAGAZIN<br />

1918 +++ Der erste Weltkrieg ist zu Ende, der Kaiser wird gestürzt. Der Sozialde mo -<br />

krat Philip Scheidemann ruft am 9. November die Republik aus. +++ Die (Mehr heits-)<br />

SPD bildet mit der USPD einen „Rat der Volksbeauftragten“ als Übergangsregierung.<br />

1919 +++ Die SPD führt das Frauenwahlrecht und den 8-Stunden-Tag ein. +++<br />

Die SPD gewinnt die ersten Reichstagswahlen der Weimarer Republik. Mit Friedrich<br />

Ebert wird ein Sozialdemokrat erster Präsident. Er stirbt 1925 im Amt. +++ In einer<br />

Koa lition aus SPD, Zentrum und Liberalen wird die neue Weimarer Reichs verfas -<br />

sung verabschiedet. +++ Otto Wels wird Vorsitzender der SPD und bleibt bis zum<br />

Verbot der SPD 1933 im Amt. +++ Mit Marie Juchacz redet zum ersten Mal eine<br />

Frau in einem deutschen Parlament. Im gleichen Jahr gründet sie die Arbeiter wohl -<br />

fahrt, der sie bis 1933 vorsitzt.<br />

1920 +++ Die SPD stellt bis 1932 mit Otto Braun den Ministerpräsidenten in Preu -<br />

ßen, dem größten deutschen Teilstaat. Er entwickelt sich zum „Bollwerk der Demo -<br />

kra tie“ in der Weimarer Republik. +++ Der Kapp-Putsch gegen die Republik wird<br />

von SPD, USPD und Gewerkschaften niedergeschlagen. +++ Die SPD hat 1,2 Mil lio -<br />

nen Mit glie der, davon über 200.000 Frauen. Sie unterhält 91 Parteizeitungen mit<br />

zusammen über 1,2 Millionen Abonnenten.<br />

19<strong>21</strong> +++ Die SPD verabschiedet ihr viertes Grundsatzprogramm in Görlitz. Darin<br />

bekennt sie sich zur Republik und spricht erstmals auch gesellschaftliche Gruppen<br />

jenseits der Arbeiter an. Der 1. Mai und 9. November sollen Feiertage werden.<br />

1922 +++ Die Jugendverbände von SPD und USPD vereinigen sich zur „Sozialis -<br />

tischen Arbeiterjugend – Die Falken“. +++ Der größte Teil der USPD kehrt zur<br />

SPD zurück.<br />

1925 +++ Nach dem Tod Friedrich Eberts wird die Friedrich-Ebert-Stiftung gegründet.<br />

+++ Die SPD beschließt ihr neues Grundsatzprogramm in Heidelberg. Darin<br />

bekennt sie sich zu den „Vereinigten Staaten von Europa“.<br />

1927 +++ Das erste Agrarprogramm der SPD wird veröffentlicht. Es beinhaltet u. a.<br />

eine Bodenreform, ein Kleingartengesetz, den Ausbau des ländlichen Volkschul we -<br />

sens und Bildung für Agrararbeiter sowie Unterstützung bei der Verbreitung von<br />

moderner Technik.<br />

10 April 2013 | Heft 56


150 JAHRE SPD<br />

Die Vorsitzenden der Deutschen Sozialdemokratie<br />

SPD<br />

1890-1911 Paul Singer<br />

1890-1892 Alwin Gerisch<br />

1892-1913 August Bebel<br />

1911-1916 Hugo Haase<br />

1913-1919 Friedrich Ebert<br />

1917-1919 Philipp Scheidemann<br />

1919-1939 Otto Wels<br />

1919-1928 Hermann Müller<br />

1922-1933 Arthur Crispien<br />

1931-1945 Hans Vogel<br />

1945-1952 Kurt Schumacher<br />

1952-1963 Erich Ollenhauer<br />

1964-1987 Willy Brandt<br />

1987-1991 Hans-Jochen Vogel<br />

1991-1993 Björn Engholm<br />

1993-1995 Rudolf Scharping<br />

1995-1999 Oskar Lafontaine<br />

1999-2004 Gerhard Schröder<br />

2004-2005 Franz Müntefering<br />

2005-2006 Matthias Platzeck<br />

2006-2008 Kurt Beck<br />

2008-2009 Franz Müntefering<br />

seit 2009 Sigmar Gabriel<br />

SPD in der sowjetischen<br />

Besatzungszone<br />

1945-1946 Otto Grotewohl<br />

SDP/SPD in der DDR<br />

1989-90 Stephan Hilsberg<br />

1990 Ibrahim Böhme<br />

1990 Markus Meckel<br />

1990 Wolfgang Thierse<br />

Ehrenvorsitzender<br />

1987-1992 Willy Brandt<br />

1928 +++ Die SPD gewinnt die Reichstagswahlen und bildet eine breite Koalitions -<br />

re gie rung unter Reichskanzler Hermann Müller. Die Regierung scheitert 1930 an der<br />

Bewältigung der Weltwirtschaftskrise.<br />

1931 +++ Die „Eiserne Front“ aus SPD, Gewerkschaften, Reichsbanner Schwarz-<br />

Rot-Gold und Arbeitersportverbänden wird gegründet – ihr Ziel ist die Abwehr<br />

der Fa schisten. Die SPD hat 1,0 Millionen Mitglieder. Die Gewerkschaften haben<br />

4,1 Mil lio nen, davon sind 43 Prozent arbeitslos, 22 Prozent arbeiten kurz.<br />

1932 +++ Um Hitler zu schlagen unterstützt die SPD Paul von Hindenburg bei<br />

seiner Wiederwahl zum Reichspräsidenten. +++ In Ländern, in denen die NSDAP<br />

die Mehrheit hat, werden sozialdemokratische Zei tungen, wie der Vorwärts<br />

ver boten. +++ Die preußische Regierung unter Otto Braun wird per Notverordnung<br />

abgesetzt („Preußenschlag“). Braun versucht dies – erfolglos – auf gerichtlichem<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

11


MAGAZIN<br />

Weg zu verhindern. Aus Furcht vor einem Bürgerkrieg verzichtet die SPD auf den<br />

Auf ruf zu einem Generalstreik.<br />

1933 +++ Im Januar wird Hitler mit Unterstützung bürgerlicher Parteien Reichs -<br />

kanzler. +++ In der letzten freien Rede im Reichstag begründet SPD-Chef Otto Wels<br />

am 23. März die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes durch die SPD. Das Gesetz<br />

wird nur von den 94 SPD-Abgeordneten abgelehnt. 26 SPD-Abgeordnete sind zu diesem<br />

Zeitpunkt bereits verhaftet oder auf der Flucht. +++ Im Juni wird die SPD<br />

durch die Nazis verboten, worauf es zur Auflösung der Partei kommt. Im Juli werden<br />

sämtliche Parlamentsmandate im Reichstag, in den Ländern und Kommunen<br />

aufgehoben. Viele Sozialdemokraten werden in „Schutzhaft“ ge nom men oder in<br />

Konzen trationslager verschleppt. +++ Die Exilorganisation der SPD, die SOPADE,<br />

wird in Prag gegründet. Später verlagert sie ihren Sitz nach Paris und London.<br />

1934 +++ Die Exil-SPD (SOPADE) ruft im „Prager Manifest“ zum Sturz Hitlers auf.<br />

1944 +++ Einige Sozialdemokraten, wie Wilhelm Leuschner und Julius Leber,<br />

sind an den Vorbereitungen zum Putsch gegen Hitler am 20. Juli beteiligt und<br />

gehören dem Kreisauer Kreis an.<br />

1945 +++ In Hannover erfolgt unter Kurt Schumacher die Wiedergründung der SPD<br />

für die Westzonen. +++ In der Ostzone beginnt der Wiederaufbau der SPD mit dem<br />

„Zentralausschuss“ unter Otto Grotewohl.<br />

1946 +++ In der amerikanischen Besatzungszone wird die Verschmelzung von SPD<br />

und KPD abgelehnt. +++ In der Sowjetischen Besatzungszone hat die SPD 600.000<br />

Mitglieder und wird zur Zwangs vereinigung mit der KPD zur SED gedrängt. In Ost-<br />

Berlin existiert die SPD noch bis 1961. +++ Nach den ersten Landtagswahlen beteiligt<br />

sich die SPD an allen neuen Landes re gie rungen. Ihre Regierungschefs werden zu<br />

prägenden Figuren des Wiederaufbaus: so zum Beispiel Ernst Reuter (Berlin), Georg<br />

August Zinn (Hessen), Max Brauer (Hamburg), Wilhelm Kaisen (Bremen), Wilhelm<br />

Hoegner (Bayern). +++ Die SPD hat 630.000 Mitglieder in 7.500 Orts ver einen.<br />

1949 +++ Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland entsteht unter<br />

großem Einfluss der SPD. +++ Bei den ersten Bundestagswahlen unterliegt die SPD<br />

der CDU nur knapp und geht daraufhin in die Opposition. +++ Der Parteivorstand<br />

12 April 2013 | Heft 56


150 JAHRE SPD<br />

erlässt neue Richtlinien für die Arbeit der Jungsozialisten – ihre Altersgrenze wird<br />

bei 30 Jahren festgelegt. +++ Die SPD lehnt die von Bundeskanzler Adenauer vorgeschlagene<br />

Wiederbewaffnung Deutschlands kategorisch ab.<br />

1951 +++ Der SPD-Parteivorstand verlegt seinen Sitz von Hannover nach Bonn.<br />

1952 +++ Nach dem Tod von Kurt Schumacher wird Erich Ollenhauer Vorsitzender<br />

der SPD.<br />

1953 +++ Nach der Niederlage bei der 2. Bundestagswahl beginnt mit Carlo<br />

Schmids „Erklärung zur Lage der Sozialdemokratie“ eine Debatte um die Zukunft<br />

der SPD als Volkspartei, die über die Arbeiterschaft hinaus attraktiv werden und<br />

sich von einer Weltanschauungspartei wegbewegen will.<br />

1956 +++ Die SPD widersetzt sich der Einführung der Wehrpflicht, da diese die<br />

deutsche Spaltung vertiefe.<br />

1957 +++ Die SPD unterstützt die Römischen Verträge zur Schaffung einer Euro -<br />

päischen Wirtschaftsgemeinschaft.<br />

1959 +++ Die SPD verabschiedet das „Godesberger Programm“ und entwickelt sich<br />

damit zur Volkspartei. Sie akzeptiert die Westbindung und die soziale Markt wirt -<br />

schaft und wird so für breitere Wählerschichten wählbar.<br />

1961 +++ „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden“ – mit diesem<br />

visionären Satz führt der SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt ein neues Thema<br />

in die Bundespolitik ein: den Umweltschutz. +++ Nach dem Mauerbau schließt in<br />

Ost-Berlin das letzte verbliebene Büro der SPD. +++ Die CDU verliert bei der<br />

Bundes tagswahl zwar ihre absolute Mehrheit, der SPD gelingt jedoch trotz großer<br />

Stim men gewinne auch beim vierten Anlauf der Machtwechsel nicht.<br />

1962 +++ In Folge der Spiegel-Affäre kommt es erstmals zwischen CDU und SPD zu<br />

Gesprächen über die Bildung einer Großen Koalition, die aber nicht zum Erfolg führen.<br />

1963 +++ Egon Bahr hält seine „Tutzinger Rede“, in der er erstmals die Konturen<br />

einer neuen Ostpolitik nach dem Prinzip „Wandel durch Annäherung“ umreißt.<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

13


MAGAZIN<br />

Staatsoberhäupter und Regierungschefs der SPD in Deutschland<br />

1919-1925 Reichspräsident Friedrich Ebert<br />

1969-1974 Bundespräsident Gustav Heinemann<br />

1999-2004 Bundespräsident Johannes Rau<br />

1918-1919 Reichskanzler Friedrich Ebert<br />

1919 Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann<br />

1919-1929 Reichskanzler Gustav Bauer<br />

1920 und<br />

1928-1930 Reichskanzler Hermann Müller<br />

1969-1974 Bundeskanzler Willy Brandt<br />

1974-1982 Bundeskanzler Helmut Schmidt<br />

1998-2005 Bundeskanzler Gerhard Schröder<br />

Dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, gelingt der Abschluss<br />

eines ersten Passierscheinabkommens mit der DDR-Regierung. Damit sind erstmals<br />

seit dem Mauerbau für West-Berliner Familienbesuche in Ost-Berlin möglich.<br />

1964 +++ Nach dem Tod von Erich Ollenhauer wird Willy Brandt Partei vorsit zen -<br />

der, er trat bereits 1961 für die SPD als Kanzlerkandidat an.<br />

1966 +++ Die SPD bildet mit der CDU eine Große Koalition unter Bundeskanzler<br />

Kurt-Georg Kiesinger. Sie ist damit erstmals nach dem Krieg an einer Bundes re gie -<br />

rung beteiligt. Willy Brandt wird Außenminister und Vizekanzler. Der Gro ßen Koa -<br />

lition gelingt es, die erste Wirtschaftskrise der Bundesrepublik schnell zu lösen.<br />

1969 +++ Mit Gustav Heinemann wird erstmals ein Sozialdemokrat Bundesprä -<br />

sident. Er bleibt bis 1974 im Amt. +++ Erstmals seit 1928 ist ein Sozialdemokrat<br />

wieder deutscher Regierungschef: Willy Brandt wird Bundeskanzler einer sozialliberalen<br />

Koalition, deren Motto „Mehr Demokratie wagen“ ist.<br />

1970 +++ Der Bundestag beschließt, das Wahlalter von <strong>21</strong> auf 18 Jahre zu senken.<br />

+++ Der „Warschauer Vertrag“ wird unterzeichnet, er sieht die Oder-Neiße-Linie als<br />

Westgrenze Polens vor. Vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos kniet Bundes -<br />

kanzler Willy Brandt für eine Gedenkminute nieder.<br />

14 April 2013 | Heft 56


150 JAHRE SPD<br />

1971 +++ Willy Brandt wird mit dem Friedensnobelpreis für seine Ostpolitik ausgezeichnet.<br />

Sie trägt maßgeblich zum Ende des Kalten Krieges bei.<br />

1972 +++ Nach der Neuwahl des Bundestages ist die SPD erstmals stärkste Kraft<br />

und fährt mit knapp 46 Prozent den größten Wahlsieg ihrer Geschichte ein. Die neu<br />

gebildete Koalition mit der FDP setzt ihr Reformprogramm im Bereich der Familien-,<br />

Bildungs- und Rechtspolitik fort. +++ Die Sozialdemokratin Annemarie Renger ist<br />

die erste Frau weltweit, die Präsidentin eines Parlaments wird.<br />

1974 +++ Nach dem Rücktritt Willy Brandts wird Helmut Schmidt Bundeskanzler.<br />

Er setzt die gesellschaftliche Liberalisierung fort.<br />

1976 +++ Die SPD hat erstmals nach dem Krieg über eine Million Mitglieder. Allein<br />

1976 wurden 68.000 neue Mitglieder aufgenommen, zwei Drittel von ihnen sind unter<br />

35 Jahre alt.<br />

1977 +++ In Deutschland finden erste Großkundgebungen gegen Kernkraftwerke,<br />

u. a. in Brokdorf und Grohnde, statt. +++ Die Attentate der RAF finden im „deutschen<br />

Herbst“ ihren Höhepunkt. Bundes kanzler Helmut Schmidt legt Wert auf eine<br />

rechtsstaatliche Bekämpfung der RAF.<br />

1980 +++ Die SPD gewinnt zum vierten Mal in Folge die Bundestagswahl, Helmut<br />

Schmidt bleibt Bundeskanzler.<br />

1982 +++ Helmut Schmidt wird nach dem Koalitionswechsel der FDP durch ein<br />

Miss trauensvotum als Bundeskanzler gestürzt. Damit endet die 16-jährige Regie -<br />

rungs zeit der SPD.<br />

1986 +++ Nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl beschließt die SPD den Aus -<br />

stieg aus der Atomkraft.<br />

1987 +++ Nach über 23 Jahren legt Willy Brandt den Parteivorsitz nieder. Er wird<br />

Ehrenvorsitzender der SPD. Hans-Jochen Vogel wird SPD-Vorsitzender.<br />

1989 +++ 30 mutige Frauen und Männer gründen am 7. Oktober die Sozialdemo -<br />

kratische Partei in der DDR (SDP) in Schwante bei Berlin. Damit wird der Macht an -<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

15


MAGAZIN<br />

spruch der SED offen in Frage gestellt. +++ Am 9. November fällt die Mauer. Einen<br />

Tag später sagt Willy Brandt den berühmten Satz: „Jetzt wächst zusammen, was<br />

zusammengehört.“ +++ In Berlin beschließt die (West-)SPD ihr neues Grundsatz -<br />

pro gramm. Mit ihm will sie ökologische Modernisierung mit wirtschaftlichem<br />

Wachstum verbinden.<br />

1990 +++ Auf einem Parteitag in Leipzig benennt sich die SDP in SPD um. +++<br />

Nach den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR tritt die SPD in die Regie -<br />

rung de Maiziere ein. +++ Am 27. September findet der Vereinigungsparteitag von<br />

(Ost-) und (West-)SPD statt. Die ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen verliert<br />

die SPD deutlich. +++ Bei den ersten Landtagswahlen in Ostdeutschland gewinnt<br />

die SPD nur in Brandenburg. Manfred Stolpe wird dort Ministerpräsident.<br />

1991 +++ Nach dem Rücktritt von Hans-Jochen Vogel wird Björn Engholm neuer<br />

Parteivorsitzender.<br />

1993 +++ Zum ersten Mal findet ein Mitgliederentscheid über den neuen SPD-<br />

Vor sitzenden statt, den Rudolf Scharping gewinnt. +++ Mit der Sozialdemokratin<br />

Heide Simonis wird in Schleswig-Holstein erstmals eine Frau Ministerpräsidentin<br />

eines Bundeslandes.<br />

1995 +++ Auf dem Mannheimer Parteitag wird Oskar Lafontaine in einer Kampf -<br />

abstimmung zum neuen SPD-Vorsitzenden gewählt.<br />

1998 +++ Die SPD gewinnt die Bundestagswahl und stellt nach 16 Jahren mit Gerhard<br />

Schröder wieder den Bundeskanzler in einer rot-grünen Koalition. Sie verfolgt eine Po -<br />

li tik der gesellschaftlichen Modernisierung und setzt den Atomausstieg durch.<br />

1999 +++ Nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine wird Gerhard Schröder Partei -<br />

vor sitzender. +++ Die rot-grüne Bundesregierung entscheidet, dass erstmals nach<br />

dem Krieg die Bundeswehr an Kampfeinsätzen im Ausland – im Kosovo – beteiligt<br />

wird. +++ Mit Johannes Rau wird der zweite Sozialdemokrat Bundespräsident. Er<br />

ist bis 2004 im Amt.<br />

2003 +++ Nach seiner Wiederwahl stellt Gerhard Schröder die „Agenda 2010“ vor.<br />

Mit dem wirtschafts- und sozialpolitischen Reformprogramm wird die Basis für die<br />

16 April 2013 | Heft 56


150 JAHRE SPD<br />

Halbierung der Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Erfolg in Deutschland gelegt.<br />

Im Streit um die „Agenda 2010“ verliert die SPD viele Mitglieder.<br />

2004 +++ Gerhard Schröder gibt den Parteivorsitz an Franz Müntefering ab.<br />

Münte fering wird das Amt 2008 ein zweites Mal übernehmen.<br />

2005 +++ Nach der Bundestagswahl tritt die SPD in eine Große Koalition unter<br />

Angela Merkel ein. Franz Müntefering wird Vizekanzler, Matthias Platzeck SPD-<br />

Vor sitzender. Die Große Koalition führt das Elterngeld ein, beschließt den Ausbau<br />

der Kleinkinderbetreuung und die Rente mit 67.<br />

2006 +++ Nachdem Matthias Platzeck aus gesundheitlichen Gründen zurückge -<br />

treten ist, wird Kurt Beck neuer SPD-Vorsitzender.<br />

2007 +++ In Hamburg beschließt die SPD ihr achtes Grundsatzprogramm, in<br />

dessen Kern das Prinzip des „vorsorgenden Sozialstaates“ steht.<br />

2009 +++ Die SPD verliert die Bundestagswahl und geht nach elf Jahren wieder<br />

in die Opposition. Sigmar Gabriel wird neuer Parteivorsitzender.<br />

2011 +++ Mit einer umfassenden Parteireform werden die Strukturen der SPD<br />

gestrafft und Beteiligungsrechte ausgebaut.<br />

2013 +++ Mit der gewonnenen Niedersachsen-Wahl erobert die SPD erstmals seit<br />

1999 wieder die Mehrheit im Bundesrat. Sie stellt neun Ministerpräsidentinnen<br />

und -präsidenten.|<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

17


MAGAZIN<br />

18 April 2013 | Heft 56


HEINRICH AUGUST WINKLER | DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK<br />

Die Ehre der<br />

deutschen Republik<br />

Vor achtzig Jahren hielten allein die<br />

Sozial demokraten gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz<br />

stand — Von Heinrich August Winkler<br />

Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“: Kein Satz aus der<br />

Rede, mit der Otto Wels am 23. März 1933 das Nein der Sozial demo kraten zu<br />

dem sogenannten Ermächtigungsgesetz begründete, hat sich der Nachwelt<br />

so eingeprägt wie dieser. Was Wels der deutschen Sozialdemo kratie zur Ehre anrechnete,<br />

waren vor allem die Leistungen, die die SPD in der Weimarer Republik<br />

erbracht hatte. Der Parteivorsitzende nannte „unsere Leistungen für den Wieder -<br />

auf bau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der besetzten Gebiete“; er verwies<br />

darauf, dass die Sozialdemokraten an einem Deutschland mitgewirkt hätten,<br />

„in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiter -<br />

klasse der Weg zur Führung des Staates offensteht“. Die Weimarer Verfassung<br />

sei keine sozialistische Verfassung, wohl aber eine Verfassung, die auf den Grund -<br />

sätzen des Rechtsstaates, der Gleichbe rech tigung und des sozialen Rechts beruhe –<br />

Grund sätzen, die einen unabdingbaren Teil des politischen Glaubensbekenntnisses<br />

der Sozialdemokraten ausmachten.<br />

Demokratie braucht Arbeiterschaft und Bürgertum<br />

Wels’ Rückblick auf die erste deutsche Republik war eine Antwort auf das Zerr bild,<br />

das Hitler von Weimar zeichnete. „Vierzehn Jahre Marxismus haben Deutsch land<br />

ruiniert“ – so lautete die plakative Formel im Aufruf der Regierung Hitler an das<br />

deutsche Volk vom 1. Februar 1933. Natürlich war die Weimarer Republik nie eine<br />

marxistische gewesen, nicht einmal eine sozialdemokratische Republik. Aber ohne<br />

die Sozialdemo kraten um Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann hätte es die<br />

erste deutsche Demokratie nicht gegeben.<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

19


MAGAZIN<br />

An ihrem Anfang stand der Entschluss der SPD, die Zusammenarbeit mit den<br />

Parteien der bürgerlichen Mitte fortzusetzen, zu der sich die Mehrheits sozial de -<br />

mokraten während des Ersten Weltkriegs durchgerungen hatten. Es bedurfte<br />

dazu der Abkehr von jenem entschiedenen Nein zu Koalitionen mit bürgerlichen<br />

Par teien, auf das sich die SPD und unter ihrer Führung die Parteien der Zweiten<br />

Internationale im Jahr 1900 festgelegt hatten. Die Unabhängigen Sozialdemo -<br />

kraten, die sich 1916/17 auf Grund ihrer Gegnerschaft zur Bewilligung von Kriegs -<br />

krediten von der Mutterpartei abgespalten hatten, beharrten hingegen auf der<br />

Vorkriegsposition. Auf paradoxe Weise war die Spaltung der Sozialdemokraten<br />

also beides: eine Vorbelastung und eine Vorbedingung der ersten deutschen Demo -<br />

kratie. Eine Vorbelastung, weil Gegensätze innerhalb der Arbeiterbewegung ihren<br />

Gegnern höchst gelegen kamen, eine Vorbedingung, weil eine parlamentarische<br />

Demokratie ohne die Zusammenarbeit der gemäßigten Kräfte in Arbeiterschaft<br />

und Bürgertum nicht möglich war.<br />

Selbstmord aus Furcht vor dem Tod?<br />

Nach dem Untergang Weimars hielten sich viele führende Sozialdemokraten wirk -<br />

liche oder vermeintliche Versäumnisse und Fehlentscheidungen der ersten Stunde<br />

vor. Die SPD hätte in der revolutionären Übergangszeit zwischen der Ausrufung<br />

der Republik am 9. November 1918 und der Wahl der verfassunggebenden National -<br />

versammlung am 19. Januar 1919 weniger bewahren müssen und mehr verändern<br />

können, und das vor allem im Hinblick auf die Unterordnung des Militärs unter die<br />

zivile Staatsgewalt und die Ablösung antirepublikanischer Beamter namentlich in<br />

Ostelbien. An der Richtigkeit der Grundsatzentscheidung für die rasche Wahl einer<br />

Konstituante und für die Zusammenarbeit mit den Parteien der bürgerlichen Mitte<br />

aber gab es auch im Rückblick nichts zu deuteln. Ohne diese Selbstfestlegungen<br />

wäre nichts von dem zustande gekommen, was Otto Wels am 23. März 1933 zu den<br />

historischen Leistungen der Weimarer Republik rechnete.<br />

Von den 14 Jahren der ersten deutschen Republik entfielen elf auf die Zeit der<br />

parlamentarischen Demokratie. Sie endete am 27. März 1930 mit der Auflösung der<br />

letzten parlamentarischen Mehrheitsregierung unter dem sozialdemokratischen<br />

Reichskanzler Hermann Müller, eines Kabinetts der Großen Koalition, die von der<br />

SPD bis hin zur unternehmernahen Deutschen Volkspartei, der Partei des 1929<br />

verstorbenen Gustav Stresemann, reichte. Die SPD hätte durch mehr Kompro miss -<br />

bereitschaft bei der Sanierung der Arbeitslosenversicherung das Scheitern der<br />

20 April 2013 | Heft 56


HEINRICH AUGUST WINKLER | DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK<br />

Regierung Müller verhindern können. Dass die Mehrheit der Reichstagsfraktion<br />

sich anders entschied, trug ihr heftigen Widerspruch seitens der unterlegenen<br />

Min derheit ein. Rudolf Hilferding, der zweimalige Reichsfinanzminister und theoretische<br />

Kopf der Partei, kam damals schon zu dem Schluss, die Sozialdemokraten<br />

hätten gut daran getan, sich nochmals mit den bürgerlichen Parteien zu verstän -<br />

digen, statt „aus Furcht vor dem Tode Selbstmord zu verüben“.<br />

Auf die parlamentarische Demokratie folgte die Zeit der Präsidialkabinette, des<br />

Regierens mit Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Artikel 48 Absatz 2<br />

der Weimarer Verfassung. Nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten zur zweitstärksten<br />

Partei in der Reichstagswahl vom 14. September 1930 beschlossen die<br />

Sozial demokraten, das Minderheitskabinett des Reichskanzlers Heinrich Brüning<br />

aus der katholischen Zentrumspartei zu tolerieren. Dass sie diesen Kurs bis zur<br />

Entlassung Brünings Ende Mai 1932 durchhielten, gehört zu den damals und später<br />

leidenschaftlich umstrittenen Entscheidungen der Weimarer SPD.<br />

Für die unpopuläre Tolerierungspolitik gab es zunächst zwei Gründe: Die Sozial -<br />

demokraten wollten erstens eine weiter rechts stehende, von den Nationalso zia listen<br />

abhängige Reichsregierung verhindern. Zweitens ging es ihnen darum, in Preußen,<br />

dem größten deutschen Staat, an der Regierung zu bleiben. An der Spitze eines Kabi -<br />

netts der „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrum und Deutscher Demo kra tischer<br />

Partei, die sich seit 1930 Deutsche Staatspartei nannte, stand dort der Sozialdemokrat<br />

Otto Braun. Hätte die SPD Brüning gestürzt, wäre Braun vom Zen trum zu Fall gebracht<br />

worden. Mit der Regierungsmacht in Preußen hätten die Sozialdemokraten die Kon -<br />

trolle über die preußische Polizei verloren, das wichtigste staatliche Machtinstrument<br />

im Kampf gegen Umsturzbestrebungen von rechts und links außen.<br />

Mit dem Zentrum sollte Hitler verhindert werden<br />

Zu diesen beiden Gründen der Tolerierungspolitik trat im Lauf der Zeit noch ein<br />

dritter hinzu: Im Frühjahr 1932 sollte die Volkswahl des Reichspräsidenten stattfinden.<br />

Je stärker die Nationalsozialisten wurden, desto mehr wuchs die Gefahr, dass<br />

sie den Mann an der Spitze des Reiches stellen, also ins Machtzentrum vorstoßen<br />

könnten. Nur zusammen mit dem Zentrum und der übrigen bürgerlichen Mitte ließ<br />

sich verhindern, dass Weimar auf diese Weise zugrunde ging.<br />

Die Kommunisten bekannten sich zum revolutionären Bürgerkrieg und zur<br />

Errich tung von „Sowjetdeutschland“. Hätte die SPD auf eine linke Einheitsfront<br />

gesetzt, wäre dies das Ende jedweder Art von Machtbeteiligung gewesen. Die SPD<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

<strong>21</strong>


MAGAZIN<br />

hätte einen erheblichen Teil ihrer Wähler und Mitglieder verloren und noch mehr<br />

verschreckte bürgerliche Wähler in die Arme der Nationalsozialisten getrieben. Die<br />

Vorstellung, man könne auf diese Weise die Demokratie retten, war angesichts des<br />

unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen SPD und KPD reines Wunschdenken, ja<br />

nach Einschätzung der sozialdemokratischen Parteiführung um Otto Wels ein Aus -<br />

druck von politischem Abenteurertum.<br />

Die „tragische Situation“ der SPD<br />

Die Tolerierung der Regierung Brüning war eine Politik ohne verantwortbare Alter -<br />

native, aber auch nicht mehr als eine Politik des kleineren Übels. Ihre Kehrseite<br />

war die Radikalisierung der Massen, die entweder den Kommunisten oder, in sehr<br />

viel größerer Zahl, den Nationalsozialisten zuströmten. Hitler zog einen zusätzlichen<br />

Vorteil daraus, dass er seine Partei als Alternative sowohl zu der bolschewis -<br />

tischen als auch zu der reformistischen Spielart des „Marxismus“ und als einzige<br />

systemverändernde Massenpartei rechts von den Kommunisten präsentieren<br />

konnte. Er sprach einerseits das verbreitete Ressentiment gegenüber der Demo -<br />

kratie an, die aus der Sicht der Rechten mit dem Makel der Niederlage von 1918<br />

behaftet war und als Staatsform der Sieger des Westens, mithin als „undeutsch“,<br />

galt. Auf der anderen Seite appellierte er pseudodemokratisch an den seit Bis -<br />

marcks Zeiten verbrieften Teilhabeanspruch des Volkes in Gestalt des allgemeinen<br />

gleichen Wahlrechts, das seit dem Übergang zum Präsidialsystem viel von seiner<br />

Wirkung verloren hatte. Hitler wurde also nach 1930 zum Hauptnutznießer der<br />

ungleichzeitigen Demokra tisierung Deutschlands: der frühen Einführung eines<br />

demokratischen Reichstags-Wahlrechts und der späten Parlamentarisierung des<br />

Regierungssystems im Zeichen der Niederlage von 1918.<br />

Das Dilemma der Sozialdemokratie hat Rudolf Hilferding im Juli-Heft 1931<br />

der von ihm herausgegebenen theoretischen Zeitschrift Die Gesellschaft in einem<br />

denkwürdigen Verdikt zusammengefasst. Er sprach von einer „tragischen Situa -<br />

tion“ seiner Partei. Begründet sei diese Tragik in dem Zusammentreffen der schweren<br />

Wirtschaftskrise mit dem politischen Ausnahmezustand, den die Wahlen vom<br />

14. September 1930 geschaffen hätten. „Der Reichstag ist ein Parlament gegen den<br />

Parlamentarismus, seine Existenz eine Gefahr für die Demokratie, für die Arbei -<br />

terschaft, für die Außenpolitik . . . Die Demokratie zu behaupten gegen eine Mehr -<br />

heit, die die Demokratie verwirft, und das mit den politischen Mitteln einer demokratischen<br />

Verfassung, die das Funktionieren des Parlamentarismus voraussetzt,<br />

22 April 2013 | Heft 56


HEINRICH AUGUST WINKLER | DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK<br />

das ist fast die Quadratur des Kreises, die da der Sozialdemokratie als Aufgabe<br />

gestellt wird – eine wirklich noch nicht dagewesene Situation.“<br />

Noch nicht dagewesen war auch die Zumutung, mit der die SPD im Frühjahr 1932<br />

ihre Anhänger konfrontierte: die Parole „Schlagt Hitler! Darum wählt Hindenburg!“<br />

So weit war es inzwischen mit Weimar gekommen. Der einzige Kandidat, der einen<br />

Reichs präsidenten Hitler verhindern konnte, war der monarchistische Amts in ha -<br />

ber, der einstige kaiserliche Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Hätte<br />

dieser nicht, gestützt auf die Sozialdemokraten, das katholische Zentrum und die<br />

bürger lichen Wähler von der Mitte bis zur gemäßigten Rechten, im zweiten Wahl -<br />

gang am 10. April 1932 über Hitler obsiegt, wäre das „Dritte Reich“ noch am gleichen<br />

Abend angebrochen.<br />

Zum Wendepunkt der deutschen Staatskrise wurde der 30. Mai 1932: der Tag,<br />

an dem Hindenburg den wichtigsten Betreiber seiner Wiederwahl, Reichskanzler<br />

Heinrich Brüning, entließ, um zwei Tage später das „Kabinett der Barone“ unter<br />

dem ehemaligen rechten Flügelmann der preußischen Zentrumspartei Franz von<br />

Papen zu berufen. Mit dem vom Reichspräsidenten, von der Reichswehrführung<br />

und dem ostelbischen Rittergutsbesitz betriebenen Rechtsruck endete die sozial -<br />

demokratische Tolerierungspolitik und mit ihr die erste, die gemäßigte Phase des<br />

Präsi dialregimes. Die Kennzeichen der nun beginnenden zweiten Phase waren<br />

der offen zur Schau getragene autoritäre Antiparlamentarismus und das Bemühen<br />

um ein Arrangement mit den Nationalsozialisten.<br />

In Preußen wurde Otto Braun entmachtet<br />

Zu den Forderungen Hitlers, die die neue Regierung sogleich erfüllte, gehörten<br />

die Aufhebung des im April verhängten Verbots von SA und SS und die Auflösung<br />

des im September 1930 gewählten Reichstages. Der Neuwahltermin wurde auf<br />

den 31. Juli 1932 festgelegt. Elf Tage vor der Wahl, am 20. Juli 1932, ließ der<br />

Reichspräsident auf dem Weg einer Reichsexekution nach Artikel 48 Absatz 1 der<br />

Reichsverfassung die Weimarer Koalition in Preußen, das Kabinett Otto Braun,<br />

absetzen, das seit der Landtagswahl vom 24. April über keine parlamentarische<br />

Mehrheit mehr verfügte und nur noch geschäftsführend im Amt war. Nur das<br />

Reich sei noch in der Lage, die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Preußen<br />

wiederherzustellen: So lautete die offizielle Begründung des „Preußenschlags“.<br />

Der Aufruf der Sozialdemokraten, den Gewaltakt des 20. Juli 1932 am 31. Juli<br />

mit einer Stimme für die SPD zu beantworten, fand nicht das erhoffte Echo. Bei der<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

23


MAGAZIN<br />

Reichstagswahl stiegen die Nationalsozialisten mit einem Stimmenanteil von<br />

37,4 Pro zent zur stärksten Partei auf; die SPD kam auf <strong>21</strong>,6, die KPD auf 14,3 Pro -<br />

zent. Das Ergebnis bedeutete eine Mehrheit gegen die Demokratie – eine negative<br />

Mehrheit aus Nationalsozialisten und Kommunisten, der man rechts auch noch<br />

die Stimmen der monarchistischen Deutschnationalen hinzurechnen musste. Von<br />

einer Mehr heit im Reichstag aber waren die Rechtsparteien weit entfernt.<br />

Die Wahlniederlage der NSDAP<br />

Eine parlamentarische Krisenlösung wäre eine „braun-schwarze Koalition“ ge -<br />

wesen: ein auf die Einhaltung der Weimarer Verfassung festgelegtes Bündnis<br />

aus NSDAP, Zentrum und Bayerischer Volkspartei, wie die beiden katholischen<br />

Parteien es anstrebten. Es scheiterte daran, dass Hitler auf der Bildung eines<br />

Präsidial ka binetts mit den Vollmachten des Artikels 48 bestand. Einen mit diesen<br />

Befugnissen ausgestatteten Reichskanzler Hitler aber lehnte Hindenburg zu<br />

diesem Zeitpunkt noch kategorisch ab. Hingegen war er bereit, den Reichstag<br />

unter Berufung auf einen Verfassungs- oder Staatsnotstand abermals aufzulö sen,<br />

ohne gleichzeitig Neuwahlen innerhalb der verfassungsmäßigen Frist anzuordnen.<br />

Da die Regierung von Papen vor diesem Schritt aus Furcht vor einem Bür -<br />

gerkrieg zurückschreckte, kam es am 6. November zur zweiten Reichs tags wahl<br />

des Jahres 1932.<br />

Das Ergebnis dieser Wahl wirkte sensationell: Erstmals seit 1930 verloren die<br />

Nationalsozialisten an Stimmen. Gegenüber der Juli-Wahl büßte die NSDAP mehr<br />

als zwei Millionen Stimmen ein, während die Kommunisten fast 700.000 Stimmen<br />

hinzugewannen, was ihnen zur magischen Zahl von 100 Sitzen verhalf. Die SPD,<br />

so stellte Otto Wels vier Tage später im Parteiausschuss fest, habe im Verlauf des<br />

Jahres 1932 fünf Schlachten mit dem Ruf „Schlagt Hitler!“ geschlagen, „und nach<br />

der fünften war er geschlagen“. Die andere Seite des Wahlergebnisses kommentierte<br />

der Chemnitzer Bezirksvorsitzende Karl Böckel, ein Vertreter des linken Partei -<br />

flügels, in der gleichen Sitzung mit den Worten: „Wir sind im Endspurt mit den<br />

Kommunisten. Wir brauchen nur noch ein Dutzend Mandate zu verlieren, dann sind<br />

die Kommunisten stärker als wir.“ Die kommunistische Sicht brachte am 10. No vem -<br />

ber die Prawda zum Ausdruck. Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei der<br />

Sowjetunion sah Deutschland unterwegs „zum politischen Massenstreik und zum<br />

Generalstreik unter der Führung der Kommunistischen Partei, zum Kampf um die<br />

proletarische Diktatur“.<br />

24 April 2013 | Heft 56


HEINRICH AUGUST WINKLER | DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK<br />

Mit ihrer Revolutionspropaganda schürten die Kommunisten die Angst vor dem<br />

Bürgerkrieg, und diese Angst wurde zu einer wichtigen Verbündeten Hitlers. Sie<br />

trug entscheidend dazu bei, dass die Niederlage der NSDAP vom 6. November 1932<br />

um ihren politischen Sinn gebracht wurde und Hitler die Chance erhielt, sich als<br />

Retter vor der roten Revolution zu präsentieren. Im Januar 1933 gelang es Papen,<br />

der das Amt des Reichskanzlers inzwischen an den eher vorsichtig agierenden<br />

Reichswehrminister General Kurt von Schleicher hatte abgeben müssen, den Reichs -<br />

präsidenten von seinem bisherigen klaren Nein zu einer Kanzlerschaft Hitlers abzubringen.<br />

Papen sprach nicht nur für sich, sondern auch für den rechten Flügel der<br />

rheinisch-westfälischen Schwerindustrie. Im gleichen Sinn versuchten Vertreter<br />

des hochverschuldeten ostelbischen Rittergutbesitzes und der Reichslandbund auf<br />

das Staatsoberhaupt einzuwirken. Ein von einer konservativen Kabinettsmehrheit<br />

„eingerahmter“ Reichskanzler Hitler erschien dem Kreis um Hindenburg, der viel -<br />

zitierten „Kamarilla“, und schließlich dem Reichspräsidenten selbst als ungefährlichste,<br />

vielleicht sogar ideale Krisenlösung: Sie sollte den alten Eliten die Herr -<br />

schaft und zugleich, in Gestalt der Nationalsozialisten als Juniorpartner, die lange<br />

ersehnte Massenbasis verschaffen.<br />

Die Grundrechte wurden außer Kraft gesetzt<br />

Einen Zwang, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, gab es für Hindenburg nicht.<br />

Hindenburg hätte Reichskanzler von Schleicher auch nach dem zu erwartenden<br />

Misstrauensvotum einer negativen Reichstagsmehrheit geschäftsführend im Amt<br />

belassen oder einen möglichst wenig polarisierenden, „unpolitischen“ Nachfolger<br />

berufen können. Der mehrfach erwogene verfassungswidrige Aufschub einer Neu -<br />

wahl war keineswegs die einzige Alternative zur Ernennung Hitlers. Dieser war<br />

zwar immer noch der Führer der größten Partei, von einer parlamentarischen<br />

Mehr heit nach den Wahlen vom 6. November aber weiter entfernt als nach der<br />

Wahl vom 31. Juli 1932. Dass er trotzdem am 30. Januar 1933 von Hindenburg zum<br />

Reichskanzler ernannt wurde, verdankte er jenem Teil der Machtelite, der seit langem<br />

darauf aus war, mit der verhassten Republik von Weimar radikal zu brechen.<br />

Als am 5. März 1933 ein neuer Reichstag gewählt wurde, war Deutschland schon<br />

kein Rechtsstaat mehr. Die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat, am<br />

28. Februar, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, erlassen, hatte die wichtigsten<br />

Grundrechte „bis auf weiteres“ außer Kraft gesetzt. Die Wahlen erbrachten eine<br />

klare Mehrheit, nämlich 51,9 Prozent, für die Regierung Hitler: 43,9 Prozent für die<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

25


MAGAZIN<br />

NSDAP, acht Prozent für ihren Koalitionspartner, die „Kampffront Schwarz-Weiß-<br />

Rot“. Eine Zweidrittelmehrheit für das von Hitler erstrebte Ermächtigungsgesetz<br />

aber war damit noch längst nicht erreicht. Um diese sicherzustellen, brach die<br />

sogenannte „Nationale Regierung“ die Verfassung: Sie behandelte die Mandate<br />

der Kommunisten als nicht existent, wodurch sich die „gesetzliche Mitgliederzahl“<br />

des Reichstags von 566 um 81 Mandate verminderte. Sodann änderte der Reichstag<br />

am 23. März seine Geschäftsordnung: Abgeordnete, die der Reichstagspräsident,<br />

der Nationalsozialist Hermann Göring, wegen unentschuldigten Fehlens von den<br />

Sitzungen ausschließen konnte, galten dennoch als „anwesend“. Selbst wenn die<br />

Abgeordneten der SPD geschlossen der Sitzung ferngeblieben wären, hätten sie<br />

nach dieser verfassungswidrigen Manipulation die Verfassungsänderungen nicht<br />

verhindern können.<br />

Das Nein erforderte großen Mut<br />

Das Ermächtigungsgesetz gab der Reichsregierung pauschal das Recht, für die<br />

Dauer von vier Jahren Gesetze zu beschließen, die von der Reichsverfassung ab -<br />

wichen. Die einzigen „Schranken“ bestanden darin, dass die Gesetze die „Ein -<br />

richtung des Reichstags und des Reichsrats nicht als solche zum Gegenstand<br />

haben“ und nicht die Rechte des Reichspräsidenten berühren durften. Reichstag<br />

und Reichsrat waren von der Gesetzgebung fortan ausgeschlossen. Das galt ausdrücklich<br />

auch für Verträge mit fremden Staaten.<br />

Die Gründe, die das Zentrum veranlassten, dem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen,<br />

sind ein Thema für sich: Die Abgeordneten der zweitgrößten demokratischen<br />

Partei setzten auf die kirchenpolitischen Zusicherungen, die Hitler dem Partei vor -<br />

sitzenden, dem Prälaten Kaas, mündlich gemacht hatte, auf deren schriftliche Be -<br />

stätigung das Zentrum aber am 23. März, dem Tag der Abstimmung, vergeblich<br />

wartete. Die zu Splittergruppen gewordenen liberalen Parteien gingen ebenso wie<br />

die beiden katholischen Parteien, das Zentrum und die Bayerische Volkspartei, von<br />

der Annahme aus, dass eine „legale“ Diktatur ein kleineres Übel sei als die illegale<br />

Diktatur, die bei Ablehnung des Gesetzes drohte. Das Ja der bürgerlichen Parteien<br />

war das Ergebnis von Täuschung, Selbsttäuschung und Erpressung.<br />

Das Nein der SPD war von der Regierung einkalkuliert, erforderte aber ein hohes<br />

Maß an Mut. Vor der Kroll-Oper, dem provisorischen Tagungsort des Reichstags,<br />

mussten sich die Abgeordneten, die nicht zum Regierungslager gehörten, ihren<br />

Weg durch grölende Massen von Parteigängern der Nationalsozialisten bahnen,<br />

26 April 2013 | Heft 56


HEINRICH AUGUST WINKLER | DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK<br />

aus deren Reihen Rufe wie „Zentrumsschwein“ und „Marxistensau“ ertönten. Im<br />

Innern des Gebäudes wimmelte es von Angehörigen der SA und SS, die besonders<br />

dort an den Saalausgängen postiert waren, wo die Sozialdemokraten saßen. An der<br />

Sitzung nahmen 93 von insgesamt 120 Abgeordneten der SPD teil. Als vierundneunzigster<br />

kam vor der Abstimmung noch der kurz zuvor verhaftete, inzwischen aber<br />

wieder freigekommene Carl Severing, der langjährige preußische Innenminister,<br />

hinzu. Von den Abwesenden waren einige bereits inhaftiert, darunter der Lübecker<br />

Abgeordnete Julius Leber, der auf dem Weg in den Reichstag festgenommen worden<br />

war. Von den Politikern jüdischer Abstammung hatten sich einige, wie zum<br />

Beispiel Hilferding, im Einvernehmen mit der Fraktionsführung wegen Krankheit<br />

entschuldigt; andere waren bereits emigriert. Ein Abgeordneter, der ehemalige<br />

Reichsinnenminister Wilhelm Sollmann, war zwei Wochen zuvor von SA- und SS-<br />

Männern in seiner Kölner Wohnung überfallen und zusammengeschlagen worden<br />

und lag seitdem im Krankenhaus. Otto Wels, der an Bluthochdruck litt, hatte sieben<br />

Wochen zuvor gegen den Rat seiner Ärzte das Sanatorium verlassen.<br />

Die Nationalsozialisten hätten die verfassungsändernde Mehrheit für das Er -<br />

mächtigungsgesetz auch ohne ihre verfassungswidrigen Maßnahmen vor der Ab -<br />

stimmung erreicht. Mit 444 Ja-Stimmen gegenüber 94 Nein-Stimmen nahm das<br />

Gesetz die entsprechende Hürde bequem. Die Macht hätte die NSDAP freilich auch<br />

dann nicht wieder aus der Hand gegeben, wenn das Ermächtigungsgesetz an der<br />

Barriere der verfassungsändernden Mehrheit gescheitert wäre. Die Verabschie dung<br />

des Gesetzes erleichterte die Errichtung der Diktatur aber außerordentlich. Der<br />

Schein der Legalität förderte den Schein der Legitimität und sicherte dem Regime<br />

die Loyalität der Mehrheit, darunter, was besonders wichtig war, der Beamten.<br />

Weimar scheiterte an den bürgerlichen Parteien<br />

Hitlers Legalitätstaktik – sein Versprechen vom September 1930, die Macht nur<br />

auf legalem Weg zu übernehmen – war eine wesentliche Vorbedingung der Macht -<br />

über tragung vom 30. Januar 1933, hatte an diesem Tag ihren Zweck jedoch noch<br />

nicht zur Gänze erfüllt. Sie bewährte sich ein weiteres Mal am 23. März 1933, als sie<br />

zur faktischen Abschaffung der Weimarer Reichsverfassung herangezogen wurde.<br />

Hitler konnte fortan die Ausschaltung des Reichstags als Erfüllung eines Auftrags<br />

erscheinen lassen, der ihm vom Reichstag selbst erteilt worden war.<br />

Dem massiven Druck der Nationalsozialisten hielten allein die Sozialdemo kra -<br />

ten stand. Dass nicht ein einziger Abgeordneter aus den Reihen der katholischen<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

27


MAGAZIN<br />

und der liberalen Parteien mit ihnen gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte,<br />

machte nochmals deutlich, woran Weimar letztlich gescheitert war: Der Staats -<br />

gründungs partei von 1918 waren die bürgerlichen Partner abhanden gekommen.<br />

Was die Sozialdemokraten, auf sich allein gestellt, noch zu tun vermochten, taten<br />

sie. Durch ihr Nein zum Ermächtigungsgesetz retteten sie nicht nur ihre eigene<br />

Ehre, sondern auch die Ehre der ersten deutschen Republik. |<br />

PROF. DR. HEINRICH AUGUST WINKLER<br />

ist emeritierter Professor für Neueste Geschichte an der<br />

Humboldt-Universität Berlin.<br />

Dem Text liegt ein Vortrag zugrunde, der am 20. März 2013 vor der<br />

SPD-Bundestags fraktion gehalten wurde und am 23. März in der<br />

Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.<br />

28 April 2013 | Heft 56


NORBERT FREI | DIE „VOLKSGEMEIN SCHAFT“ ALS TERROR <strong>UND</strong> TRAUM<br />

Die „Volksgemein schaft“<br />

als Terror und Traum<br />

Woher die durchaus vorhandene Zustimmung zum<br />

Nazi-Regime kam — Von Norbert Frei<br />

An das Faktum, dass die Nationalsozialisten nicht aus eigener Kraft an die<br />

Macht gelangten, wird in diesen Tagen vielfach erinnert. Und es ist ja rich tig:<br />

Es hätte vor 80 Jahren auch anders ausgehen können. Deshalb kann es auch<br />

heute nicht verkehrt sein, sich vor Augen zu führen, wie viel damals von der Entschei -<br />

dung eines Einzelnen abhing – nämlich vom Reichspräsidenten und vielleicht noch<br />

von einigen Wenigen, die auf ihn Einfluss hatten. Die Ernennung Hitlers war kein<br />

„Betriebs un fall“, wie nach 1945 oft entschuldigend gesagt worden ist, und dennoch<br />

war einiges an Zufall im Spiel. Das anzuerkennen scheint uns seit 1989/90 wieder<br />

leichter geworden zu sein: Seit wir in anderer Weise als zuvor offen sind für den Ge -<br />

dan ken, dass Menschen Geschichte machen, und dass diese nicht nur aus Strukturen<br />

erwächst. Hindenburgs Entscheidung vom 30. Januar 1933 war weder Zufall noch<br />

Zwangs läufigkeit. Sie war bedacht und sie war gewollt, und sie hatte eine benennbare<br />

Lo gik auf ihrer Seite. In ihr kam eine Koalition von Kräften und Inte ressen<br />

zum Tra gen, die trotz mancher Unterschiede ein gemeinsames Ziel verband: die<br />

Über win dung der parlamentarischen Demokratie.<br />

Hindenburgs Schwäche<br />

Aber Hindenburgs Entschluss war auch ein Zeichen der Schwäche. Er offenbarte<br />

den dramatischen Verlust an politischer Integrationsfähigkeit – vor allem an par -<br />

tei poli ti scher Bindekraft –, der auf Seiten der Alten Rechten in den letzten Jahren<br />

der Weimarer Republik eingetreten war. Und zugleich bestätigte er die im Zeichen<br />

der ökonomischen Krise so rasant gewachsene soziale Attraktivität der nationalso -<br />

zia lis tischen Bewegung. Dass Hitler in dem Moment Kanzler wurde, da es mit der<br />

NSDAP eigentlich abwärts und mit der Wirtschaft endlich wieder ein wenig aufwärts<br />

ging, bleibt bittere Ironie.<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

29


MAGAZIN<br />

Doch wir wissen ja auch, wie rasch es dem neuen Regime gelang, die gegnerischen<br />

politischen Strukturen zu zerschlagen oder „gleichzuschalten“, und wie letztlich<br />

gering der Widerstand war, auf den es dabei traf. Und wir wissen, wie schnell die<br />

Zu stimmung wuchs, die es nach der Phase des unverhüllten Terrors schon seit dem<br />

Sommer 1933 fand. Diese Zustimmung war ein Gemisch aus persönlichen Er war -<br />

tungen und allgemeinen Hoffnungen, aus Opportunismus und Angst, aus der Bereit -<br />

schaft, sich überzeugen zu lassen und zu glauben: nicht zuletzt an den Traum von<br />

der „Volks gemeinschaft“.<br />

Die Wahlergebnisse entsprachen der Stimmung<br />

Als Hitler die Deutschen im November 1933 zum zweiten Mal binnen acht Mo na ten<br />

an die Wahlurnen rief, entfielen auf die Einheitsliste der NSDAP 92,2 Prozent der<br />

Stim men. Noch höher, nämlich bei 95,1 Prozent, lag die gleichzeitig abgefragte Zu -<br />

stim mung zum Austritt aus dem Völkerbund. Solche Zahlen machten misstrauisch.<br />

Sie hätten, so konstatierte die linkssozialistische Widerstandsgruppe Neu Beginnen<br />

in einer internen Analyse, „auch kritische Beobachter des Auslandes dazu verleitet,<br />

dieses Ergebnis als gefälschtes oder auf unmittelbaren Zwang und Terror zurück -<br />

zuführendes anzusehen“.<br />

„Dem liegt aber“, so heißt es weiter, „eine irrtümliche Auffassung über den<br />

wirklichen Einbruch faschistischer Ideologien in alle Klassen der deutschen Gesell -<br />

schaft zugrunde. (...) Genaue Beobachtungen (...) zeigen, dass die Wahlergebnisse<br />

im großen und ganzen der wirklichen Stimmung entsprechen. Mögen auch in der<br />

Haupt sache in Landbezirken und kleineren Orten zahlreiche ,Korrekturen‘ vorgekommen<br />

sein. Das Gesamtergebnis zeigt einen ungemein raschen und starken<br />

Faschi sie rungs prozess der Gesellschaft an.“<br />

Aus der Rückschau wissen wir, dass die Stimmung der Deutschen vorderhand<br />

gleichwohl labil blieb: Trotz eben demonstrierter Einigkeit, trotz der Geschwin dig -<br />

keit, mit der sich das Gesicht des Landes verändert hatte, trotz der Radika li tät, mit<br />

der eine politisch freie, in Maßen pluralistische Gesellschaft in eine konsequent als<br />

solche adressierte Gemeinschaft von „Volksgenossinnen und Volks genossen“ um -<br />

codiert worden war. Kurz: trotz einer unbestreitbar effektiven Politik der Macht -<br />

mono po li sie rung und Machtsicherung.<br />

Im Spätwinter und Frühjahr 1934 zeigte sich allenthalben Unzufriedenheit – in der<br />

Wirtschaft, bei den Bauern, im Beamtenapparat und nicht zuletzt bei der Reichs wehr,<br />

wo man die Machtansprüche der SA-Führung unter Ernst Röhm mit höchstem Miss -<br />

30 April 2013 | Heft 56


NORBERT FREI | DIE „VOLKSGEMEIN SCHAFT“ ALS TERROR <strong>UND</strong> TRAUM<br />

trauen beäugte. Diese veritable Krise beendete erst Hitlers doppelter Coup vom<br />

30. Juni 1934: ein Blutbad gegen die konservativen Kritiker von rechts genauso wie<br />

gegen die Unzufriedenen in den eigenen Reihen, den Deut schen damals aber verkauft<br />

als die Vereitelung eines angeblichen Putschversuchs seines Duz-Freundes Röhm.<br />

Das erneute Plebiszit ein paar Wochen später, nach Hindenburgs Tod, bestätigte<br />

Hitler nicht nur in seiner nunmehr erreichten Omnipotenzstellung als Staats ober -<br />

haupt, Regierungschef, Oberster Parteiführer und Oberbefehlshaber. Es bekräftigte<br />

darüber hinaus ein Funktionsprinzip des „Führerstaats“: Parti zi pation per Akkla ma -<br />

tion – mit einer Zustimmungsrate von 89,9 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von<br />

95,7 Prozent. Die „Volksgemeinschaft“ als soziale Praxis, von der in der For schung<br />

neuerdings so gerne gesprochen wird – sie fand nicht zuletzt im Stimm lokal statt.<br />

Denn wie sagte doch der „Führer“ über den „Füh rer staat“: „Das ist die schönste Art<br />

der Demokratie, die es gibt.“<br />

Der Satz entstammt einer Rede vom April 1937, und man darf ihn als die frappierend<br />

ehrliche Auskunft eines Mörders lesen, der mit sich und seinen „Volks ge nos -<br />

sen“ im Reinen war; der wusste, dass die Hitler-Begeisterung der Deut schen seit<br />

dem Sommer 1934 in phantastische Höhen gewachsen war. „Das Volk ist heute in<br />

Deutschland glücklicher als irgendwo in der Welt“, erklärte Hitler vor 800 Kreis -<br />

leitern, die sich auf der „Ordensburg“ Vogelsang in der Eifel versammelt hatten.<br />

Ein Reich der Chancengleichheit?<br />

Ein Jahr zuvor, nur wenige Wochen nach der vertragswidrigen Besetzung des ent -<br />

militarisierten Rheinlands durch die Wehrmacht, hatte Hitler noch einmal eine<br />

„Reichs tagswahl“ veranstalten lassen – diesmal mit einer Zustimmungs quote von<br />

99 Prozent. Das Kalkül dahinter legte er nun offen: „Ich habe aber erst gehandelt.<br />

Erst gehandelt, und dann allerdings habe ich der anderen Welt nur zeigen wollen,<br />

dass das deutsche Volk hinter mir steht (...). Wäre ich der Überzeugung gewesen,<br />

dass das deutsche Volk vielleicht hier nicht ganz mitgehen könnte, hätte ich trotzdem<br />

gehandelt, aber ich hätte dann keine Abstimmung gemacht.“<br />

Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle lebhaften Beifall, und diesen als Höf -<br />

lichkeitsapplaus zu deuten, wäre ein Fehler. Denn was Hitler seinen Unter führern<br />

zwei Stunden lang auseinandersetzte, das leuchtete damals den meisten Deut -<br />

schen ein: „Man kann nur, glauben Sie, diese Krise der heutigen Zeit beheben<br />

durch einen wirklichen Führungs- und damit Führerstaat. Dabei ist es ganz klar,<br />

dass der Sinn einer solchen Führung darin liegt zu versuchen, auf allen Gebieten<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

31


MAGAZIN<br />

des Lebens durch eine natürliche Auslese, immer aus dem Volk heraus, die Men -<br />

schen zu gewinnen, die für so eine Führung geeignet sind. Und das ist auch die<br />

schönste und in meinen Augen germanischste Demokratie. Denn was kann es<br />

Schö neres für ein Volk geben als das Bewusstsein: Aus unseren Rei hen kann der<br />

Fä higste ohne Rücksicht auf Herkunft und Geburt oder irgendetwas anderes bis<br />

zur höchsten Stelle kommen. Er muss nur die Fähigkeit dazu haben. Wir bemühen<br />

uns, die fähigen Menschen zu suchen. Was sie gewesen sind, was ihre Eltern wa -<br />

ren, was ihre Mütterchen gewesen sind, das ist gänzlich gleichgültig. Wenn sie<br />

fähig sind, steht ihnen jeder Weg offen.“<br />

Kein Wort zwar über die Volkgemeinschaft – aber jede Menge Gründe dafür,<br />

in ihr ein Reich der Chancengleichheit zu erblicken! Die Sympathie, die Hitler und<br />

sein Re gime in diesen mittleren Jahren erfuhren, beruhte nicht zuletzt auf solchen<br />

Parolen. Belege für diese affektive Bindekraft sind naturgemäß nicht ganz leicht<br />

zu erschließen. Was dazu in den Lage- und Monatsberichten der Behörden zu finden<br />

ist – von den Gendarmerieposten über die Landratsämter bis in die Innen -<br />

ministerien – unterliegt noch stets dem Verdacht der Schönfärberei. Breit ange -<br />

legte Oral-History-Pro jekte, wie sie vor allem in den frühen achtziger Jahren von<br />

der Gruppe um Lutz Niethammer geführt worden sind, kamen dem Gefühls haus -<br />

halt der Zeitgenossen schon näher – ohne freilich das Problem lösen zu können,<br />

dass es erinnerte Emotio nen waren, die in den lebensgeschichtlichen Inter views<br />

an die Oberfläche kamen.<br />

Ein neues soziales Bewusstsein wird konstruiert<br />

Ich habe solche großen Befragungen nie gemacht, aber ich werde das Ge spräch<br />

nicht vergessen, das ich als Doktorand mit einem eher wehmütigen als auf Selbst -<br />

recht fer tigung erpichten Gau-Funktionär in Bayreuth führte. Plötzlich entfuhr<br />

es der Ehe frau, die dem Gespräch bis dahin still zugehört hatte: „Aber eines<br />

muss man sagen, beim Hitler wurden wir Bauersleut’ überhaupt zum ersten Mal<br />

estimiert.“<br />

Dass der Traum von der „Volksgemeinschaft“ von seiner ständigen gezielten<br />

Aktualisierung lebte, lag in der Natur des Mobilisierungsregimes. Unentwegt wurden<br />

symbolische Loyalitätsbekundungen eingefordert. Darin hatte das of fizielle<br />

„Heil Hitler“ seine Funktion, aber auch die Häufung öffentlicher Ver an staltungen,<br />

auf denen die Partei den „Volksgenossen“ Anerkennung zollte, sie aber auch stets<br />

aufs Neue zum Bekenntnis ihrer Zugehörigkeit zwang.<br />

32 April 2013 | Heft 56


NORBERT FREI | DIE „VOLKSGEMEIN SCHAFT“ ALS TERROR <strong>UND</strong> TRAUM<br />

Auf diese Weise wurde in den sogenannten Friedensjahren massenhaft soziales<br />

Bewusstsein verändert, wurden Klassen- und Standesdünkel vielleicht nicht beseitigt,<br />

aber delegitimiert und mentale Sperren aus dem Weg geräumt. Die so produzierte<br />

Regimeloyalität erzeugte ihrerseits eine Dynamik psychosozialer Kraftent -<br />

faltung, die sich als äußerst funktional im Sinne der NS-Ideologie erwies. Dass<br />

Leistung zählen sollte statt Herkommen und Rang, das machte die sozialen Inte -<br />

gra tionsangebote des Regimes für viele attraktiv und führte auch tatsächlich zu<br />

einer gewissen Egali sierung wenigstens von Aufstiegschancen. Ge ra de junge<br />

Arbeiter, die während der langen Wirtschaftskrise die Erfahrung bröckelnder<br />

Solidarität gemacht und darauf mit einer Abkehr von den gewerkschaftlichen<br />

Strukturen reagiert hatten, fühlten sich von den nationalsozialistischen Parolen<br />

angesprochen. Das umso mehr, als die schönen Worte nach Ein setzen der Hoch -<br />

konjunktur – dem offiziellen Lohnstopp zum Trotz – durch eine deutliche<br />

Leistungslohn-Politik untermauert wurden.<br />

„Wenn das der Führer wüsste“<br />

Auch und gerade die NSDAP, so ist neuerdings argumentiert worden, habe als<br />

„Inte grationsmaschine“ im Sinne der „Volksgemeinschaft“ funktioniert. Nun<br />

kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Hunderttausende, für die es Auf ga ben<br />

und Pöst chen gab in dem aufgeblähten Parteiapparat, ihre Pflichten nicht als<br />

Ausgren zung verstanden, sondern im Gegenteil als sinnhaftes Wirken im Dienste<br />

einer großen Sache. Doch aus den geheimen Stimmungsberichten wissen wir, dass<br />

dies unter den sogenannten einfachen Volksgenossen häufig anders gesehen<br />

wurde: Zumal während des Krieges begegnete man den Reprä sen tanten der Partei<br />

vielfach mit Dis tanz, ja mit Geringschätzung angesichts ihrer Privilegien und ihrer<br />

Neigung, sich als Verkörperung des „Füh rer willens“ aufzuspielen, und hinter vorgehaltener<br />

Hand gab es nicht selten harsche Kritik. In diesem Sinne war das durch<br />

Ian Kershaws Hitler-Biographie bekannt gewordene Tugendgebot eines zweitrangigen<br />

NS-Funk tionärs durchaus populär. Aller dings genau andersherum, als es<br />

Werner Willikens seinerzeit meinte: Viele Volksgenossen hielten es für ausgemacht,<br />

dass die Partei nicht dem Führer entgegen-, sondern gegen den Willen des<br />

„Führers“ arbeitete.<br />

Der Satz: „Wenn das der Führer wüsste“ war der gängige Ausdruck der Un zu -<br />

frie denheit und der Klage über Missstände, für die man die Schuld bei den Par tei -<br />

bon zen suchte. Vor diesem Hintergrund scheint mir die Funktion der Partei orga -<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

33


MAGAZIN<br />

nisa tion – wohlgemerkt nicht die Hitler-Jugend, deren sozialintegrative und mentalitätsprägende<br />

Bedeutung weitaus höher anzusetzen ist – doch zutreffender im<br />

Bild eines Puffers beschrieben als in dem einer „Integra tions maschine“.<br />

Überhaupt meine ich, wir sollten die Funktionalität der „Volksgemeinschaft“<br />

nicht überzeichnen. Denn eines ihrer Merkmale – und letztlich ihre Schwäche –<br />

war eine labile Grundstimmung, die zur fortwährenden Erzeugung sozialer Hoch -<br />

gefühle und zu deren ständiger Reaktualisierung zwang. Erinnert sei nur an<br />

die gekonnt inszenierten Olympischen Spiele von 1936, an das sozialpolitische<br />

Remmidemmi der soge nannten „guten Jahre“ vor dem Krieg – und nicht zuletzt<br />

an die Wohl stands verheißungen für die Zeit danach, wie sie die Deut sche Ar -<br />

beitsfront (DAF) seit 1940/41 ventilierte, etwa mit dem „Sozialwerk des Deut -<br />

schen Volkes“.<br />

Das alles waren Bemühungen um positive Integration – Götz Aly würde von<br />

„Be stechung“ sprechen –, und das alles war nicht ohne Effekt. Aber es war nicht<br />

alles. Wenn die „Volksgemeinschaft“ über weite Strecken klag- und fraglos funk -<br />

tionierte, dann auch wegen des verbreiteten Wissens über die repressiven Mög -<br />

lichkeiten des Regimes – und wegen deren zu Teilen hoher Akzeptanz, ja Po pu -<br />

larität.<br />

Woher kamen Gewalt und Aggressionen?<br />

Dass, wer nichts leistet, auch nichts essen, und im Zweifelsfall im Lager zur Ar beit<br />

erzogen werden soll: Darauf konnte sich die „Volksgemeinschaft“ schnell verstän -<br />

digen, und wie wir wissen, auf noch vieles mehr. Ins Bild der „Volks ge mein schaft“<br />

eingeschrieben war bekanntlich immer auch das Gegenbild der vielen, die nicht<br />

dazu gehören durften oder wollten: die weltanschaulichen Feinde, die „Volks schäd -<br />

linge“, die „rassisch“, so zial oder sexuell „Anders ar tigen“, die „erblich“ Be lasteten<br />

und die psychisch Kranken. In diesem Sinne bedeutete „Volksgemein schaft“ zu -<br />

gleich und per Definitionem auch Ausgren zungs gemeinschaft. Die Frage aber bleibt,<br />

inwieweit es erst der Gewaltakt der Ausgrenzung war, durch den sich „Volksge mein -<br />

schaft“ herstellte.<br />

Um es konkreter zu machen und auf das Kernverbrechen zu kommen: War die<br />

Gewalt gegen die Juden, an deren Bedeutung für die NS-Bewegung in der Weimarer<br />

Republik uns Michael Wildt so nachdrücklich erinnert hat, konstitutiv auch für die<br />

Herausbildung der „Volksgemeinschaft“ im Dritten Reich? Oder war, was sich an<br />

Aggressionen, an Hass und Gemeinheit gegen die Juden vom Mo ment der Macht -<br />

34 April 2013 | Heft 56


NORBERT FREI | DIE „VOLKSGEMEIN SCHAFT“ ALS TERROR <strong>UND</strong> TRAUM<br />

über nahme an Bahn brach und in der sogenannten „Boykott aktion“ vom 1. April 1933<br />

erstmals quasi-staatlichen Ausdruck fand, eher ein Störfaktor für die von Hitler propagierte<br />

„nationale Erhebung“?<br />

Wildt hat überdies das Moment der „Selbstermächtigung“ betont, das in der<br />

ge mein schaftlichen Ausübung antisemitischer Gewalt zum Ausdruck komme. Das<br />

ist, bezogen auf die Gewalttäter selbst, nicht von der Hand zu weisen. Aber als<br />

Erfah rung wichtiger und häufiger war doch wohl das Moment der Fremd er höhung:<br />

die den „Volksgenossen“ von ihrem „Führer“ immer wieder zuteil gewordenen<br />

Gesten der Wertschätzung, verbunden mit einer geradezu religiösen Rhetorik des<br />

Auser wähltseins.<br />

Der Weg in den Krieg<br />

Man wird die Frage nach dem „volksgemeinschaftlichen“ Stellenwert der Ge walt<br />

gegen die Juden am Ende nicht pauschal beantworten können, und für eine raumgreifende<br />

Erörterung der – übrigens lange vernachlässigten – Geschichte des Anti -<br />

se mi tismus im Dritten Reich ist hier nicht der Raum. Deshalb nur ein paar skizzenhafte<br />

Bemerkungen, wobei es mir am wichtigsten ist, dass wir das Thema nicht als<br />

ein sta tisches missverstehen, sondern prozesshaft und in seinem erfahrungsgeschichtlichen<br />

Kontext behandeln. An Quellen dafür ist weniger Mangel, als man<br />

mitunter meint.<br />

Dass der „Judenboykott“ vom April 1933, gemessen an der Empörung in den<br />

westlichen Demokratien, ein Fehlschlag war, steht außer Frage. Einigermaßen<br />

deutlich ist auch, dass die Aktion der antisemitischen Parteibasis fürs erste eine<br />

gewisse Genug tuung verschaffte; umgekehrt ebenso, dass sie in den noch halbwegs<br />

intakten sozial-moralischen Milieus der Arbeiterbewegung und des Katho lizismus<br />

auf Ab lehnung stieß. Am wenigsten klar ist der Befund für das Bürger tum. Hier<br />

reichten die Reaktio nen von echter Scham und leise bekundetem Mitgefühl für die<br />

Betrof fenen über ein empathie leeres „So etwas ziemt sich nicht“ bis hin zur Scha -<br />

den freude oder gar zum Applaus.<br />

Das Spektrum von Reaktionen und Verhaltensweisen ist damit natürlich nur<br />

grob umrissen, und wichtiger noch: Es ist damit noch nichts über die weitere Ent -<br />

wicklung gesagt. Doch in der Rückschau ist völlig klar, dass der staatlich zunächst<br />

sanktionierte, dann forcierte Antisemitismus, der seit Frühjahr 1933 vor aller<br />

Augen und mit Billigung vieler in Gang gesetzt wurde, eine moralische Erosions -<br />

dynamik auslöste, in der am Ende auch eine „Endlösung“ darstellbar wurde. Dieser<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

35


MAGAZIN<br />

Weg in eine umgedrehte Wertewelt war von den Weltanschau ungs kriegern gewiss<br />

nicht strategisch geplant, wohl aber gewollt und von ihren Unterstützern immer<br />

weniger einzuhegen. Hier wäre dann auch der Punkt, nach dem Entstehen einer<br />

spezifischen NS-Moral zu fragen, über die in letzter Zeit, angestoßen vor allem<br />

durch Raphael Gross, wieder intensiver nachgedacht wird, als dies jahrzehntelang<br />

der Fall war. |<br />

PROF. DR. NORBERT FREI<br />

lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der<br />

Friedrich-Schiller-Universität Jena.<br />

Der Text ist ein Auszug aus seinem Eröffnungsvortrag bei der<br />

„IV. Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung“ der<br />

Bundeszentrale für Politische Bildung am 27. Januar 2013 in Berlin.<br />

Mehr zum Thema in seinem Buch:<br />

„Der Führerstaat. National sozialistische Herrschaft 1933-1945“.<br />

36 April 2013 | Heft 56


DAS STRASSENSCHILD Otto Wels 1873-1939<br />

Ehre, wem Ehre gebührt<br />

Von Christian Neusser<br />

Die letzten Worte, die in der Weimarer Republik in Freiheit gesprochen wurden,<br />

haben Spuren hinterlassen. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die<br />

Ehre nicht.“ Diese Worte stammen von Otto Wels, dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen<br />

Partei und Reichstagsfraktion. Er stellte sich damit am 23. März 1933 im<br />

Namen seiner sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gegen das von den National -<br />

sozialisten eingebrachte Ermächtigungsgesetz. Mit einem flammenden Plä doyer bot<br />

Wels der nationalsozialistischen Willkürherrschaft die Stirn – und trotzte der Bedro -<br />

hung durch die Nationalsozialisten: „Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht,<br />

Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.“ Gemeint waren Frei heit, De -<br />

mo kratie und Gerechtigkeit sowie der Glaube an die Men schen rechte.<br />

Der Ausgang ist bekannt: Die 94 anwesenden Sozialdemokraten lehnten das Gesetz<br />

als einzige Fraktion im Reichstag ab. Bei Abwesenheit der verfolgten Kommunisten<br />

und Zustimmung auch durch die bürgerlichen Parteien wurde das Ende des Parla men -<br />

ta rismus und der freiheitlichen Demokratie besiegelt. Mit dem Ermächtigungs gesetz<br />

wurde die Demokratie in Deutschland buchstäblich zu Grabe getragen, der Weg war<br />

frei für die zwölf Jahre andauernde nationalsozialistische Diktatur.<br />

Der 23. März 1933 war ein schwarzer Tag für die Demokratie. Und dennoch bleibt<br />

uns mit diesem Tag Denkwürdiges in Erinnerung: der mutige Einsatz für Freiheit und<br />

Demokratie, den Otto Wels mit seiner Rede so eindrucksvoll verkörpert. Zum 80. Jah -<br />

restag dieses Ereignisses wurde jüngst der Person Otto Wels und dessen Rede gedacht.<br />

Ein Blick auf das Leben von Otto Wels macht deutlich, dass sein politisches Wirken für<br />

uns heute lehrreich sein kann. Lehrreich vor allem deshalb, weil wir in Wels’ Biographie<br />

sehr anschaulich erfahren, was es heißt, für die Demokratie einzutreten.<br />

Otto Wels ist ein Mann der Arbeiterbewegung. Geboren am 15. September 1873 in<br />

Berlin, wuchs er als Sohn einer Gastwirtfamilie auf. Die Familie seines Vaters, der<br />

sein Lokal im Norden Berlins betrieb, stammte aus Groß Briesen im Kreis Zauch-<br />

Belzig in der Provinz Brandenburg. Schon früh kam Wels in Kontakt mit den Idealen<br />

der Sozialdemokratie. Als Heranwachsender hörte er in der Gastwirtschaft seiner<br />

Eltern den Gesprächen von Sozialdemokraten zu, die während der Zeit des Sozialis -<br />

tengesetzes im Hinterzimmer des Lokals zu vertraulichen Runden zusammenkamen.<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

37


DAS STRASSENSCHILD Otto Wels 1873-1939<br />

Hierbei lernte Wels auch August Bebel und Wilhelm Liebknecht kennen. Seine<br />

Leidenschaft für die Sozialdemokratie war schon als Jugendlicher entfacht.<br />

Nach Volksschule und Lehre als Tapezierer war Otto Wels zunächst als hauptamtlicher<br />

Gewerkschaftsfunktionär im Verband der Tapezierer tätig und wurde<br />

1906 zum Vorsitzenden des Verbands gewählt. Zugleich engagierte er sich in der<br />

Berliner Kommunalpolitik. Er war Mitglied der Armen- und Schulkommission sowie<br />

Vorsitzender der Arbeitnehmer in der Handwerkskammer Berlin-Potsdam. Seine<br />

politische Karriere nahm 1907 Fahrt auf, als Wels zum Bezirkssekretär der SPD für<br />

die Provinz Brandenburg gewählt wurde. Schon bald galt er in Berlin und der Pro -<br />

vinz Brandenburg als einer der profiliertesten Arbeiterführer. Innerparteilich schuf<br />

er maßgeblich den Grundstein für eine einheitliche und straffe Parteiorganisation<br />

in Brandenburg. Wels war ein leidenschaftlicher Wahlkämpfer. Zugute kam ihm dabei<br />

seine Eigenschaft als eindringlicher Redner, der seine kräftige, zuweilen derbe<br />

Sprache einzusetzen wusste. 1912 gewann er den Wahlkreis Calau-Luckau und wurde<br />

Reichstagsabgeordneter.<br />

Die SPD rettete die Ehre der Weimarer Republik<br />

Otto Wels scheute sich als Politiker nicht davor, Verantwortung zu übernehmen und<br />

lernte auch die Schattenseiten politischer Verantwortung kennen. Nach dem Sturz der<br />

Monarchie übernahm Wels im November 1918 das Amt des Berliner Stadt kom man dan -<br />

ten. In den Wirren der Revolutionszeit kam es im Dezember 1918 zum Zu sam menstoß<br />

von Soldaten und Revolutionären, bei Schießereien gab es 16 Tote und einige Schwer -<br />

ver letzte. Obwohl eine konkrete Schuld Wels’ als Stadtkom man dant nicht vorlag,<br />

reichte er – auch aufgrund innerparteilicher Kritik – seinen Rück tritt als Stadtkom -<br />

man dant ein. Die Erfahrungen der Revolutionszeit bewogen ihn auch zu einer persönlichen<br />

Konsequenz: Wels fasste den Entschluss, sein politisches Wir k en auf die Partei -<br />

arbeit in der SPD zu konzentrieren. Den Rückhalt hierfür hatte er. Im Juni 1919 wurde<br />

Wels auf dem Parteitag in Weimar zum Vorsitzenden der SPD gewählt.<br />

Bereits in den frühen Jahren der Weimarer Republik trat Otto Wels als entschiedener<br />

Kämpfer für die Demokratie auf. Beim Kapp-Putsch 1920, dem Ver such rechtsmi -<br />

litanter Kreise, die Regierungsgewalt an sich zu reißen, demonstrierte der SPD-Partei -<br />

vor stand unter Führung von Wels Entschlossenheit und rief zum Ge neral streik auf.<br />

Der Generalstreik von Gewerkschaften und der Arbeiterschaft im Land sorgte dafür,<br />

dass der Putsch rasch scheiterte. Wels hatte schon früh verinnerlicht, dass die Demo -<br />

kratie wehrhaft gegenüber seinen Feinden sein musste. Er war maßgeblich an der<br />

38 April 2013 | Heft 56


DAS STRASSENSCHILD Otto Wels 1873-1939<br />

Gründung des „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ zum Schutz der Weimarer Republik<br />

beteiligt. Ebenso zählte er zu den Orga nisatoren der „Eisernen Front“, einem Bündnis,<br />

das sich gegen den Vormarsch der Rechtsextremisten einsetzte. Dass sich die SPD-Füh -<br />

rung unter Wels sowie die Gewerkschaftsspitzen zum Ende der Weimarer Repu blik<br />

nicht zum aktiven Wider stand gegen die National so zialisten oder zum General streik<br />

durchringen konnten, war eine schwerwiegende und umstrittene Entschei dung. Wels’<br />

Sorge, ein möglicher Bürgerkrieg hätte viele Opfer unter den Arbeitern gekostet und<br />

keine Aussicht auf Erfolg gehabt, ist gewiss Ausdruck von Macht- und Ratlosigkeit,<br />

aber wohl auch Zeichen für Ver antwortungs bewusstsein. Letztlich blieb es ein fataler<br />

Irrtum der Weimarer Sozial demokratie, die Republik könnte mit den Mitteln des<br />

Rechtsstaats gesichert werden.<br />

Nach seiner Flucht aus Deutschland im Frühjahr 1933 baute Wels in Prag die Exil -<br />

organisation der SPD auf und setzte den Kampf gegen die Nationalsozialisten fort.<br />

Bis zu seinem Tod nach schwerer Krankheit am 16. September 1939 prangerte Wels<br />

immer wieder die Verbrechen Hitlers an. Kurz zuvor bei Kriegs ausbruch hatte sich<br />

Otto Wels im Namen der Sozial demokratie an das deutsche Volk gewandt und forderte<br />

alle demokratischen Kräfte in Europa auf, gemeinsam Hitler zu stürzen und<br />

den europäischen Völkern zu Recht und Freiheit zu verhelfen.<br />

Otto Wels’ politische Lebensleistung liegt in seinem entschiedenen und unbeugsamen<br />

Einsatz für die Demokratie. In das kollektive Gedächtnis der Deutschen hat<br />

Otto Wels gleichwohl nur bedingt Eingang gefunden. Dies ist ein Schicksal, das er<br />

mit manch anderer verdienter Persönlichkeit teilt. Es mag damit zusammenhängen,<br />

dass Wels nie ein herausragendes Staatsamt innehatte, sondern er seine Arbeit vorwiegend<br />

in sozialdemokratischen Parteifunktionen verrichtete. Sein mutiges Ein -<br />

treten gegen die Hitler-Diktatur, wie dies in der Rede vom März 1933 eindrucksvoll<br />

zum Ausdruck kommt, rechtfertigt gleichwohl, Wels einen würdigen Platz in der<br />

Geschichte der deutschen Demokratie zuzuweisen. Dem Urteil des Historikers Hein -<br />

rich August Winkler zufolge, hat die SPD die Ehre der Weimarer Republik gerettet.<br />

Otto Wels hat daran einen wichtigen Anteil.|<br />

CHRISTIAN NEUSSER<br />

ist Referent der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg.<br />

Mit dieser Rubrik stellen wir eine Person vor, deren Lebensleistung größere<br />

Beachtung verdient. Zum Beispiel in Gestalt von Straßen- oder Schulnamen.<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

39


DAS STRASSENSCHILD Otto Wels 1873-1939<br />

40 April 2013 | Heft 56


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

ZUKUNFT GIBT’S<br />

NICHT VON ALLEIN<br />

Wie die vierte industrielle Revolution<br />

in Brandenburg gelingen kann — Von Ralf Holzschuher<br />

Am Anfang war die Dampfmaschine.<br />

Mit ihr begann das, was wir heute<br />

die erste industrielle Revolution nennen.<br />

Die erste nutzbare Dampfmaschine<br />

wur de 1712 von Thomas Newcomen entwickelt<br />

und später von James Watt<br />

verfeinert. Alsbald verbreitete sich die<br />

Dampf ma schine im späten 18. und frühen<br />

19. Jahr hundert von England ausgehend<br />

rasch auf das kontinentale Europa<br />

und trug wesentlich zur Mechanisierung<br />

der Ar beit und zur Nutzung von Energie<br />

bei. Mit ihr kam im übrigen vor 150 Jah -<br />

ren die „soziale Frage“ auf und wurde<br />

zum Geburtshelfer der Sozialdemo kra -<br />

tie – die SPD ist mithin also die „Indus-<br />

trie-Partei“ der ersten Stunde.<br />

Die zweite industrielle Revolution<br />

begann im späten 19. und frühen 20. Jahr -<br />

hundert. Sie ist durch zwei Entwick lungs -<br />

stränge gekennzeichnet. Die Nut zung des<br />

elektrischen Stroms führte zu vollkommen<br />

neuen Industriezweigen wie der<br />

Elektrotechnik aber auch des Maschi nen -<br />

baus und der chemischen Industrie – vor<br />

allem Deutschland stand hier an der<br />

Spitze der technologischen Innovatio nen.<br />

Die zweite industrielle Revolution zeichnete<br />

sich aber auch durch die aufkommende<br />

Massen pro duktion aus. Die Ein -<br />

führung des Fließ bandes 1913 in den<br />

Ford-Werken ist dafür der bekannteste<br />

Ausdruck.<br />

Als die Computer und das<br />

Internet aufkamen<br />

In der zweiten Hälfte des 20. Jahr hun -<br />

derts spielt vor allem der Computer die<br />

Hauptrolle. Die Nutzung von Elek tro nik<br />

und Informationstechnik führen zur<br />

dritten – der digitalen – industriellen<br />

Revolution. Die Erfindung des Mikro -<br />

chips macht neue automatisierte Pro -<br />

duktionsverfahren und neue Kommuni -<br />

kationsnetze möglich. Die Raumfahrt<br />

wäre ohne Compu ter nicht denkbar;<br />

Roboter, Mobiltele fonie oder Internet<br />

prägten einen neuen Inno vationszyklus.<br />

Heute, am beginnenden <strong>21</strong>. Jahrhun -<br />

dert, stehen wir vor der nächsten – der<br />

vierten – industriellen Revolution. Sie<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

41


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

wird durch zwei Tendenzen gekennzeichnet<br />

sein. Auf der einen Seite steht<br />

die Notwendigkeit von höherer Energieund<br />

Ressourceneffizienz angesichts sinkender<br />

Rohstoffvorräte und zunehmenden<br />

Klimawandels. Auf der anderen<br />

Seite wird die Verknüpfung der Indus -<br />

trie produktion mit dem „Internet der<br />

Dinge“ dazu führen, dass maßgeschneiderte<br />

Produkte in hoher Effizienz hergestellt<br />

werden können und die dafür nö -<br />

tigen Informationen auch schnell und<br />

effizient von A nach B gelangen.<br />

Von Niedergang und<br />

Wiederaufstieg<br />

Am Beginn der Industrialisierung im -<br />

portierte Deutschland die dafür nötigen<br />

Dampfmaschinen noch aus England,<br />

mauserte sich aber schnell zu einer<br />

In novationskraft mit Weltruf („Made<br />

in Germany“). Bahnbrechende Erfin -<br />

dungen in der chemischen Industrie<br />

oder die Ent wicklung des Computers<br />

(Zuse) stehen dafür. Bis heute ist<br />

Deutschland eines der größten Indus -<br />

trieländer der Welt und die Industrie<br />

unser wichtigster Wohlstandsmotor.<br />

Wenn wir heute an Brandenburg<br />

denken, verbindet man das Land sicher<br />

nicht auf den ersten Blick mit Industrie.<br />

Doch beim genaueren Hinschauen, stellt<br />

man fest, dass Brandenburg eine lange<br />

industrielle Geschichte hat. Sie lässt sich<br />

im Wesentlichen in drei Phasen einteilen.<br />

Am Ende des 19. Jahrhunderts be -<br />

gann auch im heutigen Brandenburg die<br />

Industrialisierung. So wurde die bis dato<br />

eher agrarisch geprägte Lausitz eine<br />

Berg bauregion. Die älteste noch erhaltene<br />

Brikettfabrik Europas ist die Louise<br />

in Elbe-Elster, sie ging 1882 in Betrieb<br />

und wurde 1992 stillgelegt. Eben falls in<br />

der Lausitz entwickelte sich ab dem späten<br />

19. Jahrhundert eine umfangreiche<br />

Textilindustrie. Auch die Stadt Bran den -<br />

burg an der Havel ist eine der traditionellen<br />

Industriestandorte im Land – dort<br />

begann die Entwicklung mit Textilfa bri -<br />

ken und ab 1912 wurde dort Stahl her ge -<br />

stel lt. Wittenberge – logistisch gut gelegen<br />

am Kreuzungspunkt von Elbe und<br />

wichtiger Straßen zwischen Ham burg,<br />

Magdeburg und Berlin – wurde im frühen<br />

20. Jahrhundert ein Zentrum der<br />

Nähmaschinen- und Zell stoffpro duk tion.<br />

In der ersten Hälfte des 20. Jahr hun -<br />

derts entwickelten sich viele Stand orte<br />

der industriellen Pro duk tion – viele von<br />

ihnen wurden im Zweiten Weltkrieg in<br />

große Mitlei den schaft gezogen.<br />

Nach dem Krieg begann die DDR mit<br />

einer „planmäßigen Industrialisierung“.<br />

Dazu wurden historische industrielle<br />

Kerne massiv aus- und neue Zentren aufgebaut.<br />

Das Stahl- und Walzwerk in Bran -<br />

denburg an der Havel hatte zu DDR-Zei -<br />

ten über 10.000 Beschäftigte, in den<br />

Optischen Werken in Rathenow arbeiteten<br />

4.500 Menschen, das IFA-Werk in<br />

Ludwigsfelde stellte LKWs für den gan-<br />

42 April 2013 | Heft 56


RALF HOLZSCHUHER | ZUKUNFT GIBT’S NICHT VON ALLEIN<br />

zen Ostblock her, die Lausitzer Braun -<br />

kohleindustrie wurde zum zentralen<br />

Energieversorger der DDR. Voll kom men<br />

neue Industriestandorte entstanden<br />

unter anderem in Eisenhüttenstadt und<br />

Schwedt. 1958 gab Walter Ulbricht den<br />

Bau des „Petrolchemischen Kombi nats<br />

(PCK)“ bekannt, später arbeiteten dort<br />

über 8.000 Menschen. Bis zu 16.000 Be -<br />

schäftigte hatte das „Eisen hütten kom -<br />

binat Ost (EKO)“, dass 1950 von der SED<br />

beschlossen wurde – ebenso wie der Bau<br />

der dazugehörigen Retor tenstadt, die<br />

erst den Namen Stalins trug und später<br />

in Eisenhütten stadt umbenannt wurde.<br />

Die dritte Phase in Brandenburgs In -<br />

dus triegeschichte begann mit der Wie -<br />

der vereinigung. Sie ist sowohl eine<br />

Phase des Niedergangs und des Wieder -<br />

auf stiegs. Zahlreiche Industrieunter -<br />

nehmen mussten schließen, vielen<br />

Unternehmen gelang mit westlichen<br />

Partnern aber auch der Neuanfang. Die<br />

neunziger Jahre standen deshalb zu -<br />

nächst vor allem im Zeichen des mas -<br />

siven Arbeitsplatzab baus.<br />

Nach einer Phase der Konsolidierung<br />

im ersten Jahrzehnt des <strong>21</strong>. Jahrhundert<br />

sind die „Regionalen Wachstumskerne“<br />

heute Ausdruck einer neuen und zu -<br />

kunfts fähigen Industriestruktur. Sie<br />

basieren zum einen auf Unternehmen<br />

mit langer Tradition: So werden seit<br />

1913 in Hennigsdorf Lokomotiven und<br />

Züge gebaut, Vattenfall produziert<br />

heute in den modernsten Kraftwerken<br />

Europas Strom, BASF hält einen seiner<br />

profitabelsten Standorte in Schwarz -<br />

heide. Daneben überlebten einige DDR-<br />

Groß betriebe, die auch heute erfolgreich<br />

am Markt operieren. Dazu gehören das<br />

PCK in Schwedt genauso wie das aus<br />

dem IFA-Werk in Lud wigsfelde hervorgegangene<br />

Daimler-Werk oder Arcelor-<br />

Mittal in Eisenhütten stadt. Hinzu ka -<br />

men vollkommen neue Industrie zweige<br />

wie die Biotechnologie (zum Bei spiel in<br />

Hen nigs dorf und Luckenwalde) oder die<br />

erneuerbaren Energien mit dem Wind -<br />

turbinenher stel ler Vestas. Gleich zeitig<br />

zeigt dieser Indus triezweig aber auch,<br />

wie schnelllebig industrielle Erfolge sein<br />

können: 2010 gab es in unserem Land<br />

noch fünf große Solar fabriken, ein Teil<br />

von ihnen ist heute bereits wieder ge -<br />

schlos sen, ein anderer Teil hat große<br />

wirtschaftliche Schwie rigkeiten.<br />

Hat Brandenburgs Industrie also<br />

noch eine Zukunft?<br />

Nun lässt sich aus den Schwierigkeiten<br />

einer Branche sicherlich nicht das Ende<br />

der Industrie in Brandenburg ableiten.<br />

Gleichwohl steht die Industrie in unserem<br />

Land vor vier großen strategischen<br />

Herausforderungen, die gleichzeitig<br />

Chancen als auch Risiken bieten:<br />

> Die Zahl der Brandenburger Erwerbs -<br />

fähigen sinkt, gleichzeitig werden<br />

sie älter. Das kann zu zunehmendem<br />

Fachkräftemangel führen.<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

43


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

> Die Internationalisierung der deutschen<br />

Wirtschaft setzt sich fort,<br />

damit steigt auch der Wettbewerbs -<br />

druck. Das kann zu neuen Konkur -<br />

renzsituationen führen aber auch<br />

zu neuen Märkten mit zusätzlichen<br />

Absatzmöglichkeiten.<br />

> Rohstoffe werden überall auf der<br />

Welt knapper und führen langfristig<br />

zu höheren Rohstoffpreisen. Das<br />

kann die Wettbewerbsfähigkeit vieler<br />

Firmen bestimmen, steigert gleichzeitig<br />

aber die Nachfrage nach materialschonenderen<br />

und ressourcen -<br />

sparenden Technologien.<br />

> Die Energiewende in Deutschland<br />

ist eine „Operation am offenen<br />

Herzen“, denn mit ihr wird eine der<br />

wichtigsten materiellen Grundlagen<br />

der Industrie komplett umgestellt.<br />

Die Gestaltung der Energiewende<br />

übt großen Druck – unter anderem<br />

durch steigende Energiepreise –<br />

auf viele Unternehmen aus. Gleich -<br />

zeitig können durch den Zwang zu<br />

mehr Nachhaltigkeit Absatzchancen<br />

für neue Technologien entstehen.<br />

Neben diesen globalen Rahmen bedin -<br />

gun gen zeichnet sich Brandenburgs<br />

Industriestruktur durch drei Beson -<br />

derheiten aus:<br />

> Durch massive staatliche Inves ti -<br />

tionen seit der Wiedervereinigung<br />

verfügt Brandenburg über eine im<br />

europäischen Vergleich exzellente<br />

Infra struktur. Auch wenn es noch die<br />

eine oder andere Lücke gibt, ist dies<br />

eine wichtige Voraussetzung für eine<br />

erfolgreiche Industrie.<br />

> Unsere Unternehmenslandschaft ist<br />

im Bundesvergleich zu klein. Das ist<br />

auch eine Erklärung für die ver -<br />

gleichs weise niedrige Exportquote<br />

der Bran denburger Unternehmen.<br />

Das kann zwar in Zeiten externer<br />

wirtschaft licher Schocks – wie der<br />

Weltfinanz krise – auch positiv wirken,<br />

langfristig lässt sich neues<br />

Wachstum jedoch nur durch Erschlie -<br />

ßung neuer Märkte er zielen.<br />

> In Brandenburg fehlen – wie in ganz<br />

Ostdeutschland – Unternehmens -<br />

zentralen. Dadurch sind die Wert -<br />

schöpfungs- und Herstellungsketten<br />

im Land zu kurz, fehlen vor allem<br />

unternehmensnahe und unternehmenseigene<br />

Forschung und Ent wick -<br />

lung. Zwar wird dies durch hohe<br />

staatliche Forschungsausgaben ein<br />

Stück weit kompensiert, führt aber<br />

in der Summe trotzdem zu insgesamt<br />

niedrigeren Ausgaben für Forschung<br />

und Entwicklung und damit zu geringerer<br />

Innovationsfähigkeit in Ost -<br />

deutschland.<br />

Eine sozialdemokratische Industrie po -<br />

litik muss diese Rahmenbedingungen<br />

in den Blick nehmen, wenn sie Erfolg<br />

haben will. Ziel muss es sein, den industriellen<br />

Sektor zu stärken, denn er ist<br />

44 April 2013 | Heft 56


RALF HOLZSCHUHER | ZUKUNFT GIBT’S NICHT VON ALLEIN<br />

die Basis unseres Wohlstandes. Dabei<br />

gibt es fließende Übergänge zum<br />

Dienstleis tungsbereich – es geht deshalb<br />

auch nicht darum, das eine gegen<br />

das andere auszuspielen. Mit der vorhandenen<br />

Industriestruktur, den Erfah -<br />

rungen gut ausgebildeter Fachkräfte<br />

und einer auf Konsens ausgelegten Kul -<br />

tur industrieller Beziehungen kann es<br />

jedoch gelingen, den Anteil der Indus -<br />

trie und industrienahen Dienstleis tun -<br />

gen weiter aus zubauen. Dazu stehen auf<br />

der Lan des ebene sechs strategische in -<br />

dustriepolitische Handlungsfelder auf<br />

der Tagesordnung.<br />

Innovation braucht<br />

Investition in Köpfe<br />

Erstens: Fachkräftesicherung. Die<br />

Fachkräftesicherung wird nur in einer<br />

großen Kraftanstrengung zusammen<br />

mit den Unternehmen gelingen. Die<br />

demografische Entwicklung Branden -<br />

burgs prognostiziert bis 2030 einen<br />

Rückgang des Erwerbspersonen po -<br />

tentials um 28 Prozent, in einigen Re -<br />

gionen sogar von bis zu 50 Prozent.<br />

Umso mehr kommt es darauf an, jede<br />

und jeden so gut wie möglich zu qua -<br />

lifizieren und auszubilden.<br />

Deshalb muss es unser Ziel sein, die<br />

Zahl der Schüler, die die Schule ohne<br />

Schulabschluss verlassen, und die Zahl<br />

der jungen Menschen, die die Berufs -<br />

ausbildung abbrechen, bis 2020 mindestens<br />

zu halbieren. Das Bewusstsein für<br />

technische Berufe und für industrielle<br />

Entwicklung kann bereits bei Schüler in -<br />

nen und Schülern geweckt werden. Dazu<br />

soll das Unterrichtsfach „Wirt schaft-Ar -<br />

beit-Technik“ ausgebaut werden, ferner<br />

sollen weitere „Mit-Mach-Museen“ nach<br />

dem Vorbild des Pots damer Exta viums<br />

entstehen.<br />

Innovation braucht Investition in<br />

Köpfe. Deshalb müssen unsere Hoch -<br />

schulen noch stärker mit den Unter neh -<br />

men in ihrer Umgebung kooperieren. Ein<br />

Beispiel dafür sind duale Stu dien gängen,<br />

die Studium und Be rufsaus bil dung verknüpfen.<br />

Deren Zahl soll erhöht werden.<br />

Mit einem „Bran den burg-Sti pen dium“<br />

kann die Bindung von Studie renden an<br />

Brandenburger Unternehmen verstärkt<br />

werden. Unter nehmen sollen bei der<br />

Einstellung von jungen Hoch schul ab sol -<br />

venten („Inno vationsas sis ten ten“) unterstützt<br />

werden.<br />

Daneben brauchen wir eine neue<br />

Will kommenskultur in unserem Land.<br />

Damit wollen wir zum einen viele gut<br />

ausgebildete junge Menschen, die in<br />

den ver gan genen Jahren Brandenburg<br />

auf der Suche nach einem Job verlassen<br />

mussten, zurückholen. Gleichzeitig<br />

muss unser Land aber auch offen sein<br />

für ta lentierte Fachkräfte aus dem<br />

Aus land. Sie sollen mit Hilfe von Sti -<br />

pen dien pro grammen und Gutschei nen<br />

systematisch angeworben und integriert<br />

werden.<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

45


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

Zweitens: Gute Arbeit. Gute Arbeits be -<br />

dingungen sind heute die entscheidende<br />

Grundlage, um Fachkräfte zu gewinnen<br />

und zu halten. Der „Krieg um Ta lente“<br />

findet heute bereits in einem Maßstab<br />

statt, der weit über die Gren zen unseres<br />

Bundeslandes hinaus geht. Für eine zu -<br />

kunfts- und wettbewerbs fähige Indus trie<br />

sind gute Löhne (einschließlich Mindest -<br />

löhne) deshalb eine wich tige Grundbe -<br />

din gung. Dazu braucht es eine starke<br />

Sozialpartnerschaft. Nur mit Gewerk -<br />

schaften und Arbeitgeber ver bän den, die<br />

sich durch hohe Orga nisa tionsgrade auszeichnen,<br />

können eine hohe Tarifbin -<br />

dung und ordentliche Ar beitsbedin gun -<br />

gen erreicht werden. Das schließt auch<br />

ein familien- und altersgerechteres Pro -<br />

duktionsumfeld ein. Das Know-how der<br />

Arbeitnehmer für unternehmerische<br />

Entscheidungen zu nutzen, ist eines der<br />

Erfolgsge heim nisse der deutschen Wirt -<br />

schaft. Wenn wir in Zu kunft weiter er -<br />

folgreich sein wollen, werden wir dieses<br />

Rezept stärker anwenden müssen: Ar -<br />

beit nehmer vertre tungen sollten mehr<br />

als bisher in unternehmerische Prozesse<br />

einbezogen werden und Verantwortung<br />

übernehmen können.<br />

Drittens: Forschung und Entwick -<br />

lung. Brandenburg hat in den vergangenen<br />

zwei Jahrzehnten ein erfolgreiches<br />

Hochschulsystem aufgebaut, die mittlerweile<br />

über 50.000 Studierenden sind<br />

dafür ein gutes Zeichen. Wir brauchen<br />

die Hochschulen in Zukunft so deutlich<br />

wie nie zuvor als Anker für regionale<br />

Wachs tumsdynamiken und als Partner<br />

regionaler Unternehmen. Das Land<br />

muss anwendungsbezogene Forschung<br />

und Entwicklung stärker fördern. Der<br />

Anteil des Landeshaushaltes für Wis -<br />

senschaft und Forschung muss in den<br />

kommenden Jahren auf mindestens<br />

sechs Prozent steigen. Ein „Institut für<br />

industrielle Innovation“ soll die verschiedenen<br />

Akteure vernetzen und den<br />

Paradig men wechsel zu einer aktiven<br />

Industrie po litik unterstützen. Das Insti -<br />

tut soll die Zusammenarbeit mit Berlin,<br />

Sachsen und Sachsen-Anhalt sowie<br />

Image bil dung, Internationa li sierung<br />

und Inno vation befördern.1<br />

Ein Anziehungspunkt in der<br />

Mitte Brandenburgs<br />

Viertens: Sichere und bezahlbare<br />

Energieversorgung. Ohne sichere<br />

Energieversorgung und ohne vernünf -<br />

tige Energiepreise gibt es keine Indus -<br />

trie – so einfach ist das. Deshalb berührt<br />

die Energiewende auch das Herz der<br />

Bran denburger Industrie. So lange er -<br />

neuerbare Energien nicht kontinuierlich<br />

und in ausreichendem Umfang zur Ver -<br />

fügung stehen können, wird die Grund -<br />

last der Energieversorgung weiter aus<br />

konventionellen Kraftwerken kommen<br />

1 Siehe dazu auch den Beitrag von Ulrich Berger in diesem Heft.<br />

46 April 2013 | Heft 56


RALF HOLZSCHUHER | ZUKUNFT GIBT’S NICHT VON ALLEIN<br />

müssen. Dafür wird auch die heimische<br />

Braunkohle noch für längere Zeit ge -<br />

braucht. Als Spitzenreiter beim Aus bau<br />

der erneuerbaren Energien und Heimat<br />

großer Kohlekraftwerke trägt Branden -<br />

burg heute und in Zukunft eine hohe<br />

Verantwortung auf dem europä ischen<br />

Energiemarkt. Unser Land soll Ener gie -<br />

exporteur bleiben – das sichert viele gut<br />

bezahlte Arbeitskräfte im Land.<br />

Bergbau und Energieproduktion von<br />

Kohle über Wind, Sonne, Erdwärme bis<br />

Biogas sind wichtige Säulen der Bran -<br />

denburger Industrie. Mit dieser umfassenden<br />

Kompetenz – gepaart mit wich -<br />

tigen Forschungszentren im Land –<br />

kann Brandenburg ein Musterland für<br />

die Gestaltung der Energiewende sein.<br />

Das schließt die Entwicklung neuer Ver -<br />

fah ren bei der Energieeffizienz und beim<br />

Energiemanagement ein. Die entsprechenden<br />

Forschungskapazitäten müssen<br />

gebündelt und besser vernetzt werden.<br />

Fünftens: Intelligente Wirtschafts -<br />

förderung. Mit Unternehmens netz -<br />

werken und Clusterbildung kann es<br />

gelingen, Wertschöpfungsketten zu<br />

ver bessern und zu verlängern. Deshalb<br />

muss die Wirtschaftsförderung deren<br />

Bildung noch stärker unterstützen.<br />

Kleinere Partner können sich in In dus -<br />

triegenossenschaften besser vernetzen<br />

und so voneinander profitieren. Auf<br />

diese Weise können beispielsweise<br />

duale Studiengänge oder Nachfolge -<br />

regelungen bei der Unternehmens füh -<br />

rung besser organisiert werden. Die<br />

Bildung von Indus triegenossenschaften<br />

sollte deshalb in Zukunft unterstützt<br />

werden. Insgesamt muss die Branden -<br />

burger Wirtschafts förderung stärker<br />

an die Kriterien guter Arbeit und Ar -<br />

beits bedingungen geknüpft werden<br />

sowie Forschung und Entwicklung in<br />

den Fokus nehmen.<br />

Brandenburg profitiert in hohem<br />

Maß von der Bundeshauptstadt in seiner<br />

Mitte: Berlin ist Anziehungspunkt<br />

und Sehnsuchtsort für viele kreative<br />

Unter nehmen und innovative Talente.<br />

Indus triepolitisch ergänzen sich Berlin<br />

und Brandenburg in ihren Profilen. Ziel<br />

muss es sein win-win-Situationen herbeizuführen;<br />

dazu müssen gerade die<br />

Wirt schaftsförderungen der beiden<br />

Länder zum wechselseitigen Nutzen<br />

stärker zusammenarbeiten.<br />

Ohne Industrie kein Licht,<br />

keine Autos, keine Windräder<br />

Sechstens: Mehr Internationa li sie -<br />

rung. Die attraktive Lage Brandenburgs<br />

mit dem Magneten Berlin in seiner<br />

Mit te müssen wir stärker ausspielen,<br />

wenn es darum geht, internationale<br />

Fach kräf te und ausländische Investoren<br />

anzuziehen. Ganz grundsätzlich gibt es<br />

bei den Brandenburger Unternehmen<br />

noch großes Potential bei der Export -<br />

orien tierung – bisher sind sie häufig<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

47


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

schlicht zu klein, um auf internationalen<br />

Märkten aktiv sein zu können. Sie<br />

brauchen deshalb stärkere Unter stüt -<br />

zung durch Messe för derung, bei der<br />

Finanzierung und Zerti fizierung. Bei<br />

einem schrumpfenden Brandenburger<br />

Binnenmarkt ist es entscheidend, unsere<br />

Unternehmen stärker in internatio -<br />

nale Wertschöpfungsketten einzubauen.<br />

Dazu ist es auch erforderlich, dass der<br />

Bund die Infrastrukturlücken insbesondere<br />

nach Osteuropa schließt.<br />

Die Industrie ist in Deutschland und<br />

Brandenburg Grundlage für Wohlstand<br />

und Beschäftigung. Ohne Industrie<br />

gehen sprichwörtlich die Lichter aus,<br />

fahren keine Autos, werden keine Wind -<br />

räder aufgestellt. Und: mit mehr Arbeits -<br />

plätzen in der Industrie steigt auch die<br />

Nachfrage nach Dienst- und Service leis -<br />

tungen. Deutschland – und insbesondere<br />

Brandenburg – sind seit 2008 vergleichsweise<br />

gut durch die (andauernde) Wirt -<br />

schafts- und Finanz krise gekommen.<br />

Ein entscheidender Grund dafür war<br />

die wettbewerbsfähige und starke industrielle<br />

Basis unseres Landes.<br />

Doch die Zukunft kommt nicht von<br />

allein, auch ist Brandenburg nicht allein<br />

auf der Welt. Eine aktive industriepolitische<br />

Strategie kann man nicht im Allein -<br />

gang durchsetzen, es braucht das enge<br />

Zusammenspiel von Europa-, Bundes-,<br />

Landes- und Kommunalpolitik mit Unter -<br />

nehmern, Arbeitnehmer ver tre tungen<br />

ebenso wie mit Schulen und Hoch schu -<br />

len. Umgekehrt gilt aber auch: Ohne<br />

eine strategische Ausrichtung auch der<br />

Landespolitik wird es nicht gelingen,<br />

Brandenburg als Akteur in mitten der ge -<br />

rade stattfindenden vierten industriellen<br />

Revolution zu etablieren. Branden burg<br />

kann als besonders res sour cen- und energieeffizientes<br />

Indus trieland ein ei gen -<br />

stän diges Profil innerhalb Deutsch lands<br />

erlangen. Ents chei dend wird sein, dass<br />

Inno va tionen von einem Bereich zum<br />

anderen übertragen und die bisherigen<br />

Wertschöpfungsketten verlängert werden.<br />

Genauso kann Branden burg zu<br />

einem Industrieland der vierten Ge ne -<br />

ration werden – mit zukunftsfähigen und<br />

gut bezahlten Arbeitsplätzen, attraktiv<br />

für Fachkräfte und Unter neh men.|<br />

RALF HOLZSCHUHER<br />

ist Fraktionsvorsitzender der SPD im<br />

Brandenburger Landtag.<br />

48 April 2013 | Heft 56


ULRICH FRE<strong>ES</strong>E | ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE<br />

ZWEI SEITEN<br />

EINER MEDAILLE<br />

Eckpunkte einer nachhaltigen Energie- und<br />

Rohstoff politik für den Industriestandort<br />

Deutschland — Von Ulrich Freese<br />

Deutschland hat in den letzten zwei<br />

jahrzehnten weder die Industrie als<br />

Kern der volkswirtschaftlichen Wert -<br />

schöpfung noch die industriellen Wert -<br />

schöpfungsketten aus den Augen verloren.<br />

Das unterscheidet unser Land von<br />

vielen anderen Staaten. Die vergleichsweise<br />

gute volkswirtschaftliche Situa -<br />

tion wäre ohne diese Politik aber auch<br />

ohne die Leistungsfähigkeit der deutschen<br />

Industrie nicht zu erklären. Die<br />

Fakten: Rund 60 Prozent aller Arbeits -<br />

plätze in Deutschland lassen sich direkt<br />

oder indirekt dem produzierenden Ge -<br />

werbe und den industrienahen Dienst -<br />

leistungen zuordnen. Zwei Drittel der<br />

Exporte und 90 Pro zent der Aufwen dun -<br />

gen für Forschung und Entwicklung der<br />

deutschen Wirt schaft dokumentieren<br />

eindrucksvoll die Bedeutung.<br />

Die Weltfinanzkrise vor wenigen<br />

Jahren hat unmissverständlich deutlich<br />

gemacht, dass solche Staaten, die ein -<br />

seitig auf die Finanzindustrie oder überwiegend<br />

auf Dienstleistungen gesetzt<br />

haben, mit erheblichen Proble men nicht<br />

nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern<br />

auch bei der Haushaltskon so lidie rung,<br />

einem nachhaltigen Wachs tum und<br />

Handels bilanzrisiken zu kämpfen ha -<br />

ben. Nicht ohne Grund versucht der<br />

nordamerikanische Wirt schaftsraum –<br />

allen voran die USA – durch eine angebotsorientierte<br />

Ener giepolitik die Zu -<br />

kunftsperspekti ven des industriellen<br />

Sektors gezielt wieder zu beleben.<br />

Leitplanken für die nächsten<br />

Jahrzehnte<br />

Neben vielen anderen Facetten bilden<br />

eine nachhaltig sichere, wettbewerbs -<br />

fähige Energie- und Rohstoffversor gung<br />

zentrale Voraussetzungen für den Er -<br />

halt und den Ausbau des Indus trie -<br />

stand ortes Deutschland. Weder eine<br />

planwirt schaft liche Energie- und Roh -<br />

stoffpolitik, noch marktradikalen Träu -<br />

mereien, nach denen die Märkte schon<br />

alles von alleine regeln, werden den<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

49


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

Ansprüchen einer nachhaltigen Ener gieund<br />

Rohstoff po litik als Kern element<br />

einer zukunfts orientierten Indus trie po -<br />

litik gerecht.<br />

Anfang 2012 hat die SPD-Bundes tags -<br />

fraktion mit ihrem Beschluss „So zial de -<br />

mokratische Industriepolitik – Impul se<br />

für den Standort Deutsch land“ wich tige<br />

Leitplanken für die wirt schafts- und<br />

sozialpolitische Grund lage der Bundes -<br />

re publik Deut sch land für die nächsten<br />

Jahr zehnte gesetzt. Vergleich bare Kon -<br />

zepte sind bei anderen Parteien in dieser<br />

Form nicht einmal ansatzweise zu finden.<br />

In der Querschnitts auf gabe Indus -<br />

trie po litik werden in dieser Po sitions -<br />

beschrei bung folgende The men felder<br />

als entschei dungsrelevante Faktoren<br />

he raus gestellt:<br />

> Weiterentwicklungen der Infra -<br />

struktur aber auch ihrer ge -<br />

sellschaftlichen Akzeptanz als<br />

Stand ort voraussetzung für<br />

In no va tionen,<br />

> demografische Herausforderung<br />

und Fachkräftebedarf (Stichwort:<br />

Aus-, Fort- und Weiterbildung),<br />

> Gewerkschaften und Sozialpart -<br />

nerschaft,<br />

> Energie- und Rohstoffpolitik,<br />

> Technologie- und Innova tions politik<br />

mit einer im Kern mittel stän -<br />

dischen Industriepolitik sowie<br />

> Europäisierung und Interna tio -<br />

nalisierung.<br />

Die besondere Bedeutung einer sta -<br />

bilen, sicheren, wettbewerbsfähigen<br />

und sozial ausgewogenen Energieund<br />

Rohstoff politik für den Standort<br />

Deutsch land erklärt sich schon angesichts<br />

der Tat sache, dass rund 50 Pro -<br />

zent des Strom verbrauchs durch die<br />

Industrie erfolgt. Die Bundes repu blik<br />

ist mit einem Roh stoffbedarf von jährlich<br />

1,2 Milliar den Tonnen der EU-weit<br />

größte Nach frager.<br />

Großer Reformbedarf bei<br />

erneuerbaren Energien<br />

Zentrale Punkte der nach Fukushima<br />

im deutschen Bundestag einmütig be -<br />

schlossenen Energiewende bilden die<br />

Um stel lung der Stromerzeugung auf<br />

eine hundertprozentige Versorgung aus<br />

er neu erbaren Energiequellen bis zum<br />

Jahr 2050 sowie die Beendigung der<br />

fried lichen Nutzung der Kern ener gie bis<br />

2022. Ein vorrangiges Ziel bildet dabei<br />

die Rückführung der CO2-Emis sio nen<br />

um 80 Prozent gegenüber dem Jahr<br />

1990. Dieses ambitionierte Ziel bedingt –<br />

wenn es denn industriepo litisch verträglich<br />

für den Standort Deutschland<br />

sein soll – sowohl eine langfristig orientierte,<br />

wie auch eine auf den technischund<br />

wirtschaftlich darstellbaren Optio -<br />

nen basierende En er giepolitik.<br />

Dem steigenden Anteil der erneuer -<br />

baren Energien muss dabei notwen di -<br />

gerweise parallel ein entsprechender<br />

50 April 2013 | Heft 56


ULRICH FRE<strong>ES</strong>E | ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE<br />

Ausbau der Übertragungs- und Ver tei -<br />

lungsstromnetze sowie von Spei cher -<br />

potentialen für Strom begleiten. Er kenn -<br />

bar ist, dass entgegen dem rück läufigen<br />

Primärenergieverbrauch der Stromver -<br />

brauch insgesamt in der Bun desre pu blik<br />

Deutschland in den letzten 20 Jah ren in<br />

etwa gleich blieb beziehungs wei se leicht<br />

ansteigt.<br />

Dem heutigen Anteil von rund<br />

12 Pro zent erneuerbarer Energien am<br />

Pri mär energieverbrauch – das entspricht<br />

in etwa dem Anteil von Braun -<br />

kohle oder Steinkohle – steht auf<br />

Grundlage des Erneuerbare Energien-<br />

Gesetzes (EEG) ein Subventions volu -<br />

men von rund 20 Milliarden Euro ent -<br />

gegen. Unbestritten ist, dass es hier<br />

Reform- und Hand lungs bedarf gibt.<br />

Wenn erneuerbare Ener gien zukunfts -<br />

fähig bleiben sollen, muss ihre För de -<br />

rung nach der Bundes tags wahl sowohl<br />

kostengünstiger wie auch EU-Bin nen -<br />

markt konform erfolgen: Die jetzige<br />

Form der Umlage belastet in hohem<br />

Maße die privaten Verbrau cher, aber<br />

auch – trotz Sonderrege lungen – die<br />

stromintensive Industrie und kann so<br />

nicht weiter fortgesetzt werden.<br />

Hin zu kommt, dass die Endlichkeit<br />

von Öl und Gas durch neue Förder mög -<br />

lich keiten (beispielsweise Fra cking) für<br />

mehrere Jahrzehnte, wenn nicht Gene -<br />

rationen, in die Zukunft verschoben<br />

wird – mittlerweile ist das ein erheb -<br />

licher Wettbewerbsvorteil für die nordamerikanische<br />

Industrie. Fossile Brenn -<br />

stoffe werden aus heutiger Sicht deshalb<br />

nicht in dem bislang erwarteten<br />

Maß teurer werden, sondern sich<br />

voraussichtlich in etwa auf dem heu -<br />

tigen Ni veau stabilisieren, bei einer<br />

schwachen Weltkonjunktur unter<br />

Umstän den gar preissenkend entwickeln.<br />

Der heutige Strommarkt, in dem die<br />

vorgehaltene Leistung der Kraftwerke<br />

nicht ausdrücklich honoriert wird, ist<br />

auch auf Dauer so nicht mehr darstellbar.<br />

Den noch kann für dieses Jahr zehnt<br />

aus heutiger Sicht insgesamt von ausreichender,<br />

gesicherter Kraft werks leis tung<br />

ausgegangen werden. Diese Zeit muss<br />

man nutzen, um ein neues Markt modell<br />

zu entwickeln und umzusetzen.<br />

Strompreis ist für deutsche<br />

Industrie sehr wichtig<br />

Die Strompreise für die energie in ten -<br />

sive Industrie – so zum Beispiel in den<br />

Bereichen Chemie, Papier, Stahl und<br />

Aluminium – müssen, um wett be werbs -<br />

fähig bleiben zu können, sich auch in<br />

den nächsten Jahren an den internationalen<br />

Märkten orientieren. Das heißt, es<br />

ist für die deutsche In dustrie und damit<br />

für einen Großteil der Ar beits plätze in<br />

der Bundes re pu blik von existenzieller<br />

Bedeutung, dass die Preise nicht weiter<br />

ins Belie bige steigen. Die sem Trend<br />

kann mittlerweile nur sehr bedingt mit<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

51


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

Ener gieeffizienz maßnah men begegnet<br />

wer den. In vielen Fällen ist die Ener -<br />

gieproduktivität in den Be trie ben aus -<br />

gereizt, erhebliche Effi zienz zuge win ne<br />

lassen sich auf Basis der vor handenen<br />

Technologien und Wertschöpfungs -<br />

ketten nicht mehr heben.<br />

Eine vorausschauende<br />

Rohstoffpolitik ist nötig<br />

Bei vielen Rohstoffen, insbesondere<br />

Erzen, Öl, seltene Erden u. a. ist Deutsch -<br />

land auf Importe angewie sen. Damit ist<br />

die deutsche Industrie abhän gig von<br />

offenen, fairen und nicht diskriminierenden<br />

Märkten. Grundsätzlich sind<br />

hinreichende Vorräte technisch und<br />

auch wirtschaftlich verfügbar. Unge -<br />

achtet dessen existieren Risiken durch<br />

po litische Markteingriffe zum Beispiel<br />

durch Ausfuhrkartelle oder Export zölle<br />

und nicht zuletzt durch die chine sische<br />

Marktmacht.<br />

Solchen Ansätzen kann am ehesten<br />

durch eine koordinierte EU-Politik und<br />

die Schaffung zusätzlicher Optio nen –<br />

Se kun därrohstoffe, heimische Quellen<br />

als Versicherungsprämie, Substitutions -<br />

strategien – entgegengewirkt werden.<br />

Die im Rahmen der europäischen Roh -<br />

stoffinitiative in Deutschland entstandenen<br />

Rohstoff partnerschaften sollten<br />

daher weiterentwickelt und auf EU-Ebe -<br />

ne gebracht werden. Ergänzt werden<br />

müs sen sie durch die soziale Dimen sion.<br />

Dieser Ansatz hat bislang weitgehend<br />

gefehlt. Hier können Gewerk schaften<br />

eine wesentliche Rolle spielen.<br />

Bei vielen Rohstoffen verfügt Deutsch -<br />

land über wichtige heimische Quellen.<br />

Das ist kaum im öffentlichen Bewusst -<br />

sein. Insbesondere die Bedeu tung für die<br />

Wertschöpfungs ketten in der hei mischen<br />

Volkswirtschaft wird kaum beachtet.<br />

Daher ist ein Rohstoff siche rungs gesetz<br />

notwendig, um langfristige Planungs -<br />

sicherheit für den Abbau heimischer<br />

Res sourcen zu gewährleisten.<br />

Wie in der Vergangenheit wird sich<br />

auch in der Zukunft die Bergbau tech no -<br />

logie weiterentwickeln und damit neue<br />

und verbesserte Gewinnungs me thoden<br />

Stand der Technik werden. Im Bereich<br />

der Öl- und Gaswirtschaft ist dieses<br />

schon heute durch das sogenan nte<br />

Fracking der Fall. Diese Tech no lo gien<br />

sollten nicht nur als Risiko gesehen werden,<br />

sondern können auch eine Chance<br />

für eine langfristig nachhaltige Roh stoff -<br />

option sein. Mittler weile wird beispielsweise<br />

intensiv an der Entwick lung chemiefreier<br />

Fracking me thoden gearbeitet.<br />

Grundsätzlich wird einer intelligenten<br />

Sekundärrohstoffwirtschaft ein<br />

wesentlicher Anteil an einer langfris -<br />

tigen Ver sorgung der Volkswirtschaft<br />

zukommen. Die schon heute weltweit<br />

füh rende Posi tion der Bundesrepublik<br />

muss als integraler Bestandteil der<br />

Wertschöpfungs kette der heimischen<br />

Industrie weiterentwickelt werden.<br />

52 April 2013 | Heft 56


ULRICH FRE<strong>ES</strong>E | ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE<br />

Dass eine Rohstoff- wie auch die<br />

Ener giepolitik für Brandenburg eine<br />

besondere Dimension besitzt, ergibt<br />

sich aus folgenden Fakten: Vergleicht<br />

man die Bevölkerungszahl Bran den -<br />

burgs mit dem Rohstoffverbrauch,<br />

er gibt sich eine Kennziffer von unge fähr<br />

32 Tonnen pro Kopf. Das ist in etwa doppelt<br />

so viel wie der Bundes durch schnitt<br />

und auch deutlich höher als in den anderen<br />

ostdeutschen Län dern, deren Ver -<br />

brauch zwischen 13 und 20 Ton nen liegt.<br />

Sinnhaft, machbar<br />

und gerecht<br />

Unter den Rohstoffen spielt die Braun -<br />

kohle für das Industrieland Bran den -<br />

burg eine herausgehobene Rolle. Sie ist<br />

derjenige Energieträger, der in Deutsch -<br />

land noch über Jahrzehnte sicher, wettbewerbsfähig<br />

und umweltschonend<br />

gewonnen werden kann. Er bildet somit<br />

einen unverzichtbaren Eckpfeiler einer<br />

langfristigen Energie- und Industrie -<br />

politik. Sowohl mittel fristig im energe -<br />

tischen Einsatz in Kraftwerken als auch<br />

langfristig in der Veredlung bietet die<br />

Braunkohle für Brandenburg wie auch<br />

für die produzierende Industrie her -<br />

vorragende Optio nen als eine perspek -<br />

tivisch sichere, bezahlbare Rohstoff -<br />

quel le. Dieses Potential gilt es in der<br />

Zukunft weiter zu nutzen.<br />

Die Nutzung erneuerbarer Energien<br />

ist das politische Ziel quer über die<br />

Par teigrenzen hinweg, bezahlbare Prei -<br />

se für Verbraucher und Wirtschaft aber<br />

zugleich Grundvoraussetzung für eine<br />

nachhaltige Entwicklung in unserem<br />

Land. Das geschieht nicht von alleine.<br />

Hier ist eine kluge, konsequente Ener -<br />

gie politik gefordert. Sonst ist der Drei -<br />

klang aus ökologischer Sinn haf tig keit,<br />

wirtschaftlicher Machbarkeit und so -<br />

zialer Gerechtigkeit nicht zu erreichen.<br />

Es gibt noch viel zu tun.|<br />

ULRICH FRE<strong>ES</strong>E<br />

ist stellvertretender Vorsitzender der<br />

Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie,<br />

Energie (IG BCE).<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

53


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

54 April 2013 | Heft 56


ULRICH BERGER | DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN<br />

DIE INDUSTRIELLE<br />

PRODUKTION VON MORGEN<br />

Wie eine Vision für die Hauptstadtregion<br />

aussehen kann — Von Ulrich Berger<br />

Nach aktuellen Studien des For -<br />

I. schungsinstituts Prognos behauptet<br />

Deutschland in vielen Wirtschafts bran -<br />

chen seinen Anteil am Weltmarkt oder<br />

baut ihn sogar aus. Der Anteil Deutsch -<br />

lands an der weltweiten Indus triepro -<br />

duktion ist demnach in der vergangenen<br />

Dekade von 7,6 auf 8,1 Prozent gestiegen,<br />

an den weltweiten Exporten von<br />

12,1 auf 14,3 Prozent. Mehr als 40 Pro -<br />

zent der deutschen Exporte entfallen<br />

dabei auf die vier Top-Branchen Auto -<br />

mo bil, Luft- und Raumfahrt, Maschinen -<br />

bau und Metallerzeugnisse.<br />

Innovative Produkte und Verfahren<br />

„Made in Germany“ sind auch auf den<br />

neuen Wachstumsmärkten außerhalb<br />

Europas sehr gut vertreten und tragen<br />

so maßgeblich zum Wohlstand unseres<br />

Landes bei. Es ist aber auch eine Ver -<br />

lagerung wertschöpfender Anteile in<br />

Schwellenländer und Länder Ost euro -<br />

pas festzustellen. Nach einer in 2012<br />

vom Deutschen Institut für Wirtschafts -<br />

for schung (DIW) vorgelegten Studie:<br />

„FuE1-intensive Industrien und wissensintensive<br />

Dienstleistungen im internationalen<br />

Wettbewerb“ ist die starke<br />

Spezia lisierung auf forschungsintensive<br />

Industrien wie die der Elektrotechnik,<br />

dem Maschinenbau, der Chemie oder<br />

dem Fahrzeugbau ein wesentlicher<br />

Faktor der langfristigen strukturellen<br />

Wettbewerbsstärke der deutschen<br />

Industrie.<br />

Die Schuldenkrise holt eine<br />

Erinnerung zurück<br />

Zusätzlich fördern gezielte Inves ti tio -<br />

nen in zukunftsweisende Standorte,<br />

Herstellverfahren und Anlagen die langfristige<br />

Wettbewerbsfähigkeit und<br />

schaffen zusätzliche Arbeitsplätze wie<br />

zum Beispiel in der Warenlogistik.<br />

Somit hat sich neben der allgegenwär -<br />

tigen Diskussion um die Energiewende<br />

und Euro-Schuldenkrise die produzierende<br />

Industrie wieder als Fels in der<br />

Bran dung in Erinnerung gebracht. Nach<br />

1 FuE: Forschung und Entwicklung<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

55


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

einem Bericht des Statistischen Bundes -<br />

amts hat das verarbeitende Gewerbe im<br />

Jahr 2012 überproportional zur deutschen<br />

Wirtschaftsleistung (BIP) beigetragen.<br />

Getrieben von der Nachfrage aus<br />

dem Ausland, stieg der Anteil am BIP<br />

auf rund 26 Prozent an, dies entspricht<br />

im Vergleich zu 2009 einer Steigerung<br />

um fast 3 Prozentpunkte.<br />

Trotz des enormen Strukturwandels<br />

in der Europäischen Union und der Zu -<br />

nahme des Dienstleistungsanteils in<br />

allen Branchen weist Deutschland im<br />

internationalen Vergleich immer noch<br />

den höchsten Industrieanteil am BIP<br />

auf. Die industrielle Produktion stellt<br />

daher auf Grund ihrer vielfältigen<br />

Produkt-, Markt- und Absatzmöglich -<br />

keiten eine stabile und zuverlässige<br />

Größe für den Wohlstand unseres Lan -<br />

des dar. In jüngster Zeit findet daher<br />

eine flächendeckende gesellschaftliche<br />

Rückbesinnung auf die industrielle<br />

Produktion als elementare Basis des<br />

Wirtschaftswachstums eines Landes<br />

oder einer Region statt.<br />

Dies gilt auch für die Hauptstadt -<br />

region Berlin und Brandenburg. So verzeichnet<br />

das Amt für Statistik Berlin-<br />

Brandenburg für 2011 im verarbeitenden<br />

Gewerbe einen Zuwachs auf 332 (Berlin)<br />

und 436 Betriebe (Brandenburg) bei<br />

81.000 (Berlin) und 79.000 (Branden -<br />

burg) Beschäftigten und einem Umsatz<br />

von etwa 23,1 (Berlin) und 22,8 (Bran -<br />

den burg) Milliarden Euro. Dabei sind<br />

jedoch nur Betriebe mit mehr als 50<br />

Mitarbei tern berücksichtigt. Die vielen<br />

kleinen Betriebe in der Region tragen<br />

jedoch ebenfalls entscheidend zur Wert -<br />

schöp fung bei.<br />

Das Interesse wächst bei<br />

Besuchern und Investoren<br />

Die geschichtliche Entwicklung in<br />

Berlin und Brandenburg kann auf eine<br />

jahr hundertelange Industrietradition<br />

zu rück blicken. So liefern Elektro- und<br />

Schwermaschinenbau, Schienen- und<br />

Personenkraftfahrzeugproduktion,<br />

Metallverarbeitung und Tagebau überall<br />

in der Region viele historische Zeug -<br />

nisse, die für eine gewachsene Indus -<br />

triekultur stehen. Diese Indus trie kultur<br />

wird heute noch in der Bevölke rung<br />

sehr positiv wahrgenommen und er -<br />

weckt ein wachsendes Interesse bei<br />

Besuchern und Investoren.<br />

Die Hauptstadtregion Berlin-Bran -<br />

II. denburg ist mit Blick auf die<br />

indus triellen Voraussetzungen durch<br />

differen zierte Alleinstellungsmerkmale<br />

im Ver gleich zu anderen Bundesländern<br />

gekennzeichnet. Daher sind die im Bun -<br />

desgebiet erprobten und vorgeschlagenen<br />

Mittel zur Sicherung und Steige -<br />

rung der industriellen Produktion nicht<br />

oder nur in Teilen übertragbar. Eine<br />

hohe Wissenschaftsdichte und ein großes<br />

Angebot an gut ausgebildeten Fach -<br />

56 April 2013 | Heft 56


ULRICH BERGER | DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN<br />

kräften in der Kernregion schaffen wichtige<br />

Rahmenbedingungen für die not -<br />

wen digen industriellen For schungs -<br />

grundlagen. Einige große Betriebe mit<br />

über 1.000 Mitarbeitern sind stark<br />

export orientiert und verzeichnen über -<br />

proportionale Aufwen dungen in Forschung<br />

und Entwicklung.<br />

In Brandenburg haben sich viele<br />

kleine und mittlere Unternehmen zu<br />

regionalen, industriellen Wertschöp -<br />

fungs netzwerken und Zweckverbänden<br />

zu sammengeschlossen, um strukturelle<br />

Defizite im Technologietransfer, der<br />

Exportförderung und der Internationa -<br />

lisierung auszugleichen. Die so entstandenen<br />

Netzwerke übernehmen vielerorts<br />

durch ehrenamtliches Engagement<br />

von Betrieben und Mitarbeitern viele<br />

soziale und kulturelle Funktionen wie<br />

zum Beispiel die personelle und säch -<br />

liche Ausstattung von Ortsfeuerwehren<br />

oder den Erhalt kultureller Einrich tun -<br />

gen wie Theater und Museen. Dadurch<br />

wird ein wichtiger positiver Bezug zwischen<br />

industrieller Produk tion und ge -<br />

sellschaftlichem Engage ment abgeleitet.<br />

Die Zukunft in Berlin und Branden -<br />

burg wird, wie auch in ganz Deutsch land,<br />

mehr und mehr durch den gesell schaft -<br />

lichen Diskurs und das Enga ge ment<br />

jedes Einzelnen geprägt. Nutzen- und<br />

Risikoüberlegungen aber auch Chancen -<br />

abwägungen und Zukunftsperspektiven<br />

werden viel stärker als in der Vergan gen -<br />

heit gemeinsam diskutiert und kommu -<br />

niziert. Green oder Clean Techno logies<br />

haben stark an Bedeutung gewonnen.<br />

Dabei geht es um Innovationen in ressourcenschonende<br />

und nachhaltige<br />

Energieerzeugung und Mobilität sowie<br />

die energieeffiziente und emissionsarme<br />

Herstellung und Weiterverarbeitung von<br />

Produkten.<br />

Drei Säulen für die Industrie<br />

von morgen<br />

Die Innovationen in diesen Feldern benötigen<br />

jedoch auf Grund der interdisziplinären<br />

Anforderungen andere industrielle<br />

Umsetzungsmechanismen als die<br />

bisher bekannten. Vorrangiges Ziel<br />

muss daher die Verlängerung und Kom -<br />

plettierung von Wertschöpfungs ketten<br />

in diesen Zukunftstechnologien innerhalb<br />

des regionalen Wirtschafts raumes<br />

der Hauptstadtregion sein. Der in 2012<br />

durch die Regierungen beider Länder<br />

Berlin und Brandenburg initiierte<br />

Cluster prozess reagiert darauf mit der<br />

zunehmend übergreifenden Zusam -<br />

menarbeit in Branchen und Kompe -<br />

tenzfeldern in Kooperation mit externen<br />

Forschungs- und Entwick lungs einrich -<br />

tun gen. Ziel ist es, die bereits 2007 identifizierten<br />

gemeinsamen Zukunftsfelder<br />

zu länderübergreifenden Clustern zu<br />

entwickeln.<br />

Die im Juni 2012 beschlossene Ge -<br />

mein same Strategie (innoBB) führt die<br />

bisherige Kohärente Innova tions stra -<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

57


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

tegie des Landes Berlin und das Landes -<br />

innovationskonzept (LIK) Brandenburgs<br />

zusammen und ersetzt diese. Beide<br />

Landesregierungen haben dabei auch<br />

die Themen der industriellen Entwick -<br />

lung und der Nachhaltigkeit aufgegriffen<br />

und durch entsprechende Strategiepa -<br />

piere unterlegt (Masterplan Industrie -<br />

stadt Berlin 2020, Leitbild und Aktions -<br />

plan „ProIndustrie“ Brandenburg). Die<br />

politischen Rahmen bedingungen und<br />

Hand lungs felder für den Ausbau der industriellen<br />

Basis sind damit vorhanden.<br />

Wie kann aber die industrielle Zukunft<br />

der Hauptstadt region, die die vorhan -<br />

denen Potentiale aufnimmt, weiter<br />

entwickelt und in einem gemeinsamen<br />

Wirt schaftsraum abbildet, konkret<br />

ver wirk licht werden?<br />

Es wird eine Drei-Säulen -Stra-<br />

III. tegie vorgeschlagen, die in der<br />

ersten Säule die Exportfähigkeit der<br />

industriellen Produktion im weltweiten<br />

Wettbewerb steigert. Der technologische<br />

Vorsprung bei Produkt- und Pro -<br />

zessinnovationen in der Investitions -<br />

güterindustrie beträgt in der Regel drei<br />

Jahre. Nur durch kontinuierliche Neuund<br />

Weiterentwicklung können Kun -<br />

den kreis und Marktposition unter den<br />

sich ständig verschärfenden Wettbe -<br />

werbs bedingungen abgesichert werden.<br />

Die zunehmende Verkürzung der<br />

Produktlebenszyklen verlangt aber<br />

gerade kleinen und mittelständischen<br />

Betrieben (KMU) hohe Innovationskraft<br />

und einen ständigen Wandlungsprozess<br />

ab. Wesentlicher Aspekt der Zukunfts -<br />

sicherung bleibt gerade für diese Be trie -<br />

be die Erhöhung der FuE-Aufwen dungen<br />

auf den für eine nachhaltige Ent wick -<br />

lung notwendigen Wert von 3 Prozent<br />

vom Umsatz. Hier müssen, auch wegen<br />

des Fehlens großer, konzerngebundener<br />

Industriefor schungs zentren, wie sie im<br />

Süden Deutschlands existieren, neue<br />

Wege erschlossen und begangen werden.<br />

Technologietransfer braucht<br />

stärkeren Fokus<br />

Der FuE-Anteil, das heißt sowohl der<br />

Personalstand als auch die internen<br />

Aufwendungen im verarbeitenden<br />

Gewerbe, könnte durch zielgerichtete<br />

Maßnahmen, zum Beispiel fiskalische<br />

Anreize oder Schaffung von Innovati -<br />

ons verbünden deutlich gesteigert werden.<br />

Die Strukturen des Technologie -<br />

transfers zwischen Wissenschaft und<br />

Wirtschaft müssen stärker auf innova -<br />

tive, zukunftsweisende Produkte und<br />

Technologien aber auch auf deren Her -<br />

stellung in regionalen Wertschöp fungs -<br />

ketten ausgerichtet werden.<br />

Die Technologiezentren in der Re gion<br />

befassen sich mit spezialisierten The -<br />

men wie zum Beispiel der Grund lagen -<br />

forschung zu Polymeren, metallischem<br />

Leichtbau oder Beschich tungs techno -<br />

logien, sind aber mit Blick auf die indus-<br />

58 April 2013 | Heft 56


ULRICH BERGER | DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN<br />

triellen Anwendungen der Zukunft noch<br />

nicht genügend miteinander verknüpft<br />

und können daher vorhandene Poten -<br />

tiale nicht vollständig erschließen.<br />

Schließlich werden zukunftsweisende<br />

Informations- und Kommuni ka tions -<br />

technologien wie selbststeuernde Fabri -<br />

ken und Logistiksysteme, virtuelle<br />

Entwicklungstechnologien sowie neue<br />

Formen der Mensch-Maschine-Koope -<br />

ration die industrielle Produktion der<br />

Zukunft beherrschen. Diese Zusam -<br />

menhänge werden auch in der 2012<br />

herausgegebenen Studie des BDI/BDA<br />

unter dem Titel „Deutschland 2030:<br />

Zu kunft der Wertschöpfung“ besonders<br />

hervorgehoben.<br />

Die zweite Säule bildet eine mit allen<br />

Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft<br />

und Politik abgestimmte Internationa -<br />

lisierungsstrategie, die Innovationen<br />

„Made in Berlin“ oder „Made in Bran -<br />

denburg“ durch gezielte Neu gründung<br />

oder Beteiligung in Ländern außerhalb<br />

Europas, zur herstellungstechnischen<br />

Umsetzung bringt. In diesen Ländern<br />

stehen meist hohe Einfuhrzölle oder<br />

andere Handelshemmnisse wie zum<br />

Beispiel local content-Vorschriften<br />

einem direkten Export entgegen. Viele<br />

KMU aus der Region folgen hier schon<br />

seit einiger Zeit global agierenden Un -<br />

ternehmen und bilden oft das Rück grat<br />

ganzer Produktionsstandorte, wie es<br />

zum Beispiel in der Kraftfahrzeug in dus -<br />

trie bereits die Regel ist.<br />

Durch dabei erworbenes technisches,<br />

organisatorisches und interkulturelles<br />

Know-how können die Tochterge sell -<br />

schaften in aller Welt zur Standort si -<br />

cherung der Stammhäuser in der Haupt -<br />

stadtregion beitragen. Auch der rasche<br />

und direkte Informations austausch zu<br />

harten und weichen Standortfaktoren<br />

im jeweiligen Partnerland sowie die di -<br />

rekte Rück kopplung zu Verbund- oder<br />

System partnern im Inland spielt eine<br />

große Rolle. Schließlich kann in der<br />

Nähe zu den Absatzmärkten die produktnahe<br />

Dienstleistung abgesichert<br />

und ausgebaut werden. Wer das letzte<br />

Segment im Produktlebenszyklus be -<br />

herrscht, schafft nicht nur Mehrwerte<br />

über Ersatzteilhandel und Instand hal -<br />

tung, Wartung und Reparatur, sondern<br />

ist auch Kunden und Absatzmarkt stets<br />

so nahe, dass er Trends und Entwick -<br />

lungen viel schneller erfassen und aufgreifen<br />

kann.<br />

Ausländische Investoren<br />

suchen Talente<br />

Die dritte Säule bildet die gezielte Ein -<br />

werbung von Direktinvestitionen aus<br />

dem Ausland (das so genannte Foreign<br />

Direct Investment), die sich in zwei<br />

Bereiche aufteilt. Zunächst werden<br />

Investitionen in Produktionsstandorte<br />

mit hohem Technologie- und Qualitäts -<br />

anspruch betrachtet. Dabei wählen ausländische<br />

Investoren vorwiegend Re gio -<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

59


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

nen aus, an denen schon ähnliche An -<br />

sied lungen realisiert wurden und eine<br />

hohe Dichte an Forschungs- und Ent -<br />

wicklungseinrichtungen existiert.<br />

Erfolgreiche Entwicklungen sind in<br />

Brandenburg am Beispiel der Ent wick -<br />

lung und Produktion von Flug zeug tur -<br />

binen zu verzeichnen.<br />

Eine andere Investitionsstrategie<br />

verfolgen überwiegend talentgetriebene,<br />

nicht langfristig plan- und vorhersehbare<br />

Innovationen. Ein Beispiel hierfür<br />

ist die rasante Entwicklung bei Smart -<br />

phones, die über neue Entwicklungs me -<br />

thoden wie Design Thinking entwickelt<br />

und mit immer umfangreicheren Funk -<br />

tionalitäten angeboten werden. Dazu<br />

ist ein großes Reservoir an naturwissenschaftlichem<br />

und insbesondere inge -<br />

nieur wissenschaftlichem Humankapital<br />

erforderlich.<br />

Verzahnung von Herstellung<br />

und Innovation<br />

Gerade in der Hauptstadtregion mit<br />

ihrer international anerkannten hohen<br />

Wissenschaftsdichte bestehen hierzu<br />

große aber, gerade auf die industrielle<br />

Innovation bezogene, unerschlossene<br />

Potentiale. Vordringliches Ziel bleibt<br />

jedoch bei all diesen Strategien die enge,<br />

standortnahe Verzahnung zwischen<br />

Herstellung und Innovation. So kann die<br />

Produkt- und Prozessinno vation stets<br />

gekoppelt und der Regel kreis zwischen<br />

Innovator, Produzent, Zulieferer und<br />

Markt durchgehend geschlossen werden.<br />

Die positive Wir kung der ausländischen<br />

Direkt investi tio nen zur Standort siche -<br />

rung in Inland wird auch durch das im<br />

Frühjahr 2013 veröffentlichte Gutachten<br />

zur For schung, Innovation und techno -<br />

logischen Leis tungsfähigkeit Deutsch -<br />

lands durch die Expertenkommission<br />

For schung und Innovation (EFI) besonders<br />

gewürdigt.<br />

Die Umsetzung der Drei-Säu len-<br />

IV. Stra tegie verlangt ein sys te -<br />

matisches und koordiniertes Ar beits -<br />

programm, das kurz-, mittel- und<br />

lang fristige Zielstel lungen verfolgt.<br />

Dabei ist es sinnvoll, säulenübergreifende<br />

Arbeitsstrukturen zu entwickeln,<br />

die in allen Bereichen Wirkung entfal ten<br />

können. Die beispielhafte Umset zung<br />

kann am Vorbild eines neu zu schaffenden<br />

Brandenburger Instituts für Indus -<br />

trielle Innovation (B3I) näher erläutert<br />

werden. Das B3I gliedert sich in drei<br />

funktionale Hauptbestand teile, die dem<br />

Anspruch an Technologie, Infor mation,<br />

Kommu nikation sowie Qua li fi zierung<br />

gleichermaßen Rechnung tragen.<br />

Die Basis bildet das B3I-Lab, in dem<br />

industrielle Zukunftstechnolo gien<br />

lauf fähig abgebildet werden. Arbeits -<br />

schwer punkte im B3I-Lab beinhalten<br />

die Identifizierung und systematische<br />

Verknüpfung des vorhandenen industriellen<br />

Leistungsportfolios der Haupt -<br />

60 April 2013 | Heft 56


ULRICH BERGER | DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN<br />

stadtregion mit einer „zerstörerischen“<br />

Innovationskraft, die sich insbesondere<br />

durch neue Technologien in der Infor -<br />

ma tionsverarbeitung (IKT) herausbildet.<br />

Diese Entwicklung wird in Fach -<br />

kreisen auch als nächste industrielle<br />

Re volution oder Industrie 4.0 bezeichnet<br />

und ist derzeit durch erhebliches<br />

FuE-Engagement in Bund und Ländern<br />

gekennzeichnet. Voraussetzung ist<br />

die flächendeckende Etablierung des<br />

„Internet der Dinge“ und „Internet der<br />

Dienste“ im Rahmen bestehender und<br />

neuer Wertschöpfungsketten. Der Sys -<br />

temgedanke Industrie 4.0 ertüchtigt<br />

Cyber-Physical Systems zur Anwendung<br />

in der produzierenden Industrie. Da -<br />

durch wird die modelltechnisch, kommunikationstechnisch<br />

und interaktionsmäßig<br />

durchgängige Bearbeitung von<br />

Produkten, Produktionsmitteln und<br />

Produktionssystemen erreicht.<br />

Flankiert werden diese Entwicklun gen<br />

durch die Entwicklung und Ein füh rung<br />

neuer Organisations- und Gestal tungs -<br />

modelle sowie neuer Arbeits kulturen<br />

(offenes Informa tionsfundament).<br />

Dadurch können dynamische Verän -<br />

derungen in industriellen Wertschöp -<br />

fungs ketten, die durch Markt- und<br />

Absatzvolatilität, ad hoc-Liefer struk -<br />

turen und variable Produktions ka pa -<br />

zitäten entstehen, weitaus schneller<br />

erkannt und kompensiert werden. Un -<br />

terschiedliche Infrastruktur platt formen<br />

für Entwurf, Realisierung und Erpro -<br />

bung neuer industrieller Techno logien<br />

mit ausgewähltem Regionalbezug (zum<br />

Beispiel Leichtbau, energietech nische<br />

Anlagen, Metall-Wertschöp fungs netz -<br />

werke, ressourceneffiziente Pro duk -<br />

tions ver fahren) können interdiszi plinär<br />

integriert werden. Innovative Ansätze<br />

im B3I-Lab eröffnen neue Zusammen ar -<br />

beitsmöglichkeiten für die Beschäf tig -<br />

ten in der industriellen Produktion.<br />

Was ein Institut für<br />

Industriepolitik tun kann<br />

Der Mensch steht im Mittelpunkt beim<br />

Entwurf neuartiger Assistenz systeme<br />

für die wandelbare Fabrik der Zukunft.<br />

Die Verwirklichung dieser Ziele erfordert<br />

menschzentrierte und soziotechnisch<br />

ausgewogene Fabrik- und Arbeits -<br />

systeme in direkter An bin dung an<br />

FuE-Einrichtungen. Arbeiten in einem<br />

sich ständig verändernden Arbeits um -<br />

feld mit immer komplexeren Werkzeu -<br />

gen stellt extrem hohe Anfor de run gen<br />

an Fähigkeiten und Wis sen der betei lig -<br />

ten Mitarbeiter. Diesen Anfor de run gen<br />

wird durch ein auf ga ben spezi fi sches<br />

Training innerhalb der Tech nologie -<br />

platt formen im B3I-Lab Rechnung ge -<br />

tragen.<br />

Die Entwicklung und Bereitstellung<br />

angepasster IKT-Dienstleistungs mo -<br />

delle für die industrielle Produktion<br />

erfolgt in einem neu zu organisierenden<br />

Innovations- und Servicenetzwerk, dem<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

61


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

B3I-Net. Die Implementierung neuer,<br />

rechtlicher und organisatorischer<br />

Funktionalitäten für die Beförderung<br />

von unternehmensübergreifenden<br />

Innovationsprozessen, insbesondere<br />

in KMU-Verbünden, liefert wichtige<br />

Voraus setzungen bei der Standort si -<br />

cherung im Innovationsprozess.<br />

Aus- und Weiterbildung<br />

sind das A und O<br />

Die Weiterentwicklung des industriellen<br />

Innovationsraums in Berlin und Bran -<br />

denburg wird durch die Integration und<br />

Erweiterung der bestehenden Inno va -<br />

tions- und Technologienetzwerke in<br />

überregionaler Form und über bestehende<br />

Technologie- und Cluster struk turen<br />

hinweg erreicht. So können beispielsweise<br />

technisch spezialisierte Leis tungs -<br />

träger in der Fahrzeugtechnik mit denen<br />

der Luftfahrt unter der Überschrift<br />

Stoff- und Funktionsleichtbau oder die<br />

der Energietechnik mit denen der Ge -<br />

bäudetechnik unter dem Begriff Ther -<br />

mo energetische Effizienzstei ge rung<br />

verknüpft werden. Das B3I-Net orga -<br />

nisiert unter Einbindung von Experten<br />

aus dem In- und Ausland Veranstal -<br />

tungen wie Workshops oder Fachkon fe -<br />

ren zen zu ausgewählten industriel len<br />

The mengebieten.<br />

Eine weitere Aufgabe bildet die Ver -<br />

knüpfung des B3I-Net mit existierenden<br />

sozialen und staatlichen Netzwerken<br />

unter Berücksichtigung des industriellen<br />

Bezugs. So können Fachkräfte be -<br />

darfe, Zulieferangebote, Finanzie rungs -<br />

anfragen u. v. m. direkt und zeitnah<br />

kommuniziert werden.<br />

Das dritte Element beinhaltet ein<br />

regional abgestimmtes Aus-, Fort- und<br />

Weiterbildungsangebot, das in enger<br />

Verknüpfung mit den regionalen Unter -<br />

nehmen, tertiären Bildungsträgern und<br />

Forschungseinrichtungen im Rahmen der<br />

B3I-Academy umgesetzt wird. Dabei sind<br />

individuelle, bedarfsorientierte Lö sungen<br />

für die stark variierenden Be triebs größen<br />

zu entwickeln und neue Wege der Koope -<br />

ration zwischen Unter nehmen und For -<br />

schungsstellen (Perspektivwechsel) zu<br />

erschließen. Die kontinuierliche Aus- und<br />

Weiterbildung von industrierelevanten<br />

Fachkräften für die gesamte Hauptstadt -<br />

region bekommt eine hohe Priorität.<br />

Die im globalen Wettbewerb erforderlichen<br />

industriellen Schlüssel tech -<br />

nologien wie zum Beispiel im Stoff-,<br />

Form-, und Funktionsleichtbau müssen<br />

zeitnah erprobt, bedarfsgerecht adaptiert<br />

und über personellen Transfer in<br />

die Unternehmen der Region überführt<br />

werden. In der B3I-Academy wird ein<br />

„Bildungsatlas Technik Berlin-Bran -<br />

denburg“ erstellt werden können, der<br />

die vorhandenen Aus- und Weiterbil -<br />

dungsmöglichkeiten in der Hauptstadt -<br />

region beschreibt, aber auch Defizite<br />

aufzeigt und Handlungsempfehlungen<br />

für das lebenslange Lernen formuliert.<br />

62 April 2013 | Heft 56


ULRICH BERGER | DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN<br />

Die systematische Konzeption und<br />

V. Verwirklichung der Drei-Säulen-<br />

Stra tegie mit Hilfe ausgewählter Me -<br />

thoden und Verfahren wie dem B3I bildet<br />

perspektivisch einen „Industriellen<br />

Inno vationsraum Berlin-Brandenburg“,<br />

der sich auch bei kurzzyklischen Kon -<br />

junk turschwankungen anpassungsfähig<br />

und robust erweist und neue Markt -<br />

chancen zeitnah durch Produkte und<br />

Produk tionsverfahren mit hoher Qua -<br />

lität aufgreift und umsetzt. Dadurch<br />

wird er attraktiv für Investoren und<br />

Fachkräfte aus dem Ausland.<br />

Durch die vorhandenen und gut vernetzten<br />

Unternehmens- und Zuliefer -<br />

strukturen im regionalen Wirtschafts -<br />

verkehr entstehen in Verbindung mit<br />

FuE-Einrichtungen zukunftsweisende<br />

industrielle Innovationen, deren Orga -<br />

nisation und Finanzierung mit neuen<br />

Instrumenten erprobt und kommuniziert<br />

wird. Eng verzahnte Ent wurfs-,<br />

Entwicklungs- und Herstellungs pro -<br />

zesse (open innovation) führen Kunden<br />

und regionale Produzenten viel schneller<br />

und besser als bisher zusammen und<br />

schaffen die technologische Basis für<br />

die zunehmende Individua lisierung<br />

von Produkten bei Konsum- und Inves -<br />

titions gütern.<br />

Dieser Innovationsraum erzeugt<br />

auch soziale Innovationen, die sich in<br />

der Etablierung sozialer Netzwerke zu<br />

Be rufs- oder Bildungsthemen oder der<br />

Übernahme ehrenamtlicher Verpflich -<br />

tungen ausprägen. Die sekundären und<br />

tertiären Bildungsträger (zum Beispiel<br />

Berufsschulen, Hochschulen und Be -<br />

rufs akademien) haben ihr Bildungs an -<br />

gebot systematisch aufeinander ab ge -<br />

stimmt, erfüllen dadurch regionale<br />

Bil dungsaufträge und erzeugen andererseits<br />

internationale Forschungs exzel -<br />

lenz. Dadurch wird der wachsende Be -<br />

darf an industrienahen Fachkräften und<br />

Absolventen in naturwissen schaft lich/<br />

technischen Studiengängen abge sichert.<br />

Die vielfältigen beruflichen Erfah -<br />

rungen älterer Arbeitnehmer bei der<br />

Schaffung neuer Arbeitssysteme und<br />

-strukturen werden optimal genutzt<br />

und unternehmensübergreifende, altersund<br />

qualifikationsgerechte Beschäfti -<br />

gungsmodelle erzeugen Freiräume, die<br />

den demographischen Wandel in der<br />

Gesellschaft abfedern können. Der in -<br />

dustrielle Innovationsraum Berlin-Bran -<br />

denburg befördert die kulturelle Iden -<br />

tität der industriellen Produktion und<br />

verbindet diese mit dem Wohlstand in<br />

der Region. |<br />

PROF. DR. ULRICH BERGER<br />

ist Lehrstuhlinhaber Automatisierungs -<br />

technik der BTU Cottbus und Sprecher<br />

des Industrieclusters Metall des Landes<br />

Brandenburg.<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

63


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

64 April 2013 | Heft 56


PHILIPP FINK | UNGELIEBT, BEGEHRT <strong>UND</strong> DOCH NICHT VERSTANDEN<br />

UNGELIEBT, BEGEHRT<br />

<strong>UND</strong> DOCH<br />

NICHT VERSTANDEN<br />

Die deutsche Industrie ist entscheidend für Wachstum<br />

und Beschäftigung — Von Philipp Fink<br />

An der Bedeutung der Industrie als<br />

wichtige Quelle für Wachstum und<br />

Wohlstand scheiden sich die Geister.<br />

Das eine Lager verweist auf die stabilisierende<br />

Wirkung der Industrie während<br />

der Finanz- und Wirtschaftskrise.<br />

Der im Vergleich zu anderen Staaten<br />

hohe Industrieanteil an Beschäftigung<br />

und Produktion wird im Zusammenhang<br />

mit einer klugen Krisenpolitik und einer<br />

gut funktionierenden Sozialpart ner -<br />

schaft als Grund für die schnelle Erho -<br />

lung der deutschen Wirtschaft von der<br />

Krise angeführt. Nach Jahren der offiziell<br />

sanktionierten Deindustriali sie -<br />

rung wird nun die Reindustrialisierung<br />

Europas gefordert. Einst als Standort -<br />

nach teil und als rückschrittlich kritisiert,<br />

wird eine starke Industrie nun als<br />

Wettbewerbsvorteil und Zeichen der<br />

Moderne gesehen.<br />

Das andere Lager moniert die umwelt-<br />

und klimaschädlichen Auswirkun -<br />

gen der ressourcen- und energieintensiven<br />

Produktionsweise. Diese Kritik gipfelt<br />

in einem post-wachstumskritischen<br />

Diskurs, der sich in Teilen durch vermehrte<br />

Bürgerproteste gegen Industrie -<br />

projekte ausdrückt und in seinen Extre -<br />

men eine De-Growth-Strategie fordert –<br />

also weniger Wachstum und damit weniger<br />

industrielle Produktion. Ein zweiter<br />

kritischer Strang verweist auf den langanhaltenden<br />

Struktur wan del von der<br />

Industrie- zur Dienstleis tungsgesell -<br />

schaft. Saturierte Märkte, kostengünstigere<br />

Produktionsstandorte im Ausland<br />

und neue Konsummuster durch veränderte<br />

gesellschaftliche Be darfe (Stich -<br />

wort: demografische Ent wicklung) sowie<br />

neue Technologien würden, langfristig<br />

gesehen, die De in dus tria lisierung beschleunigen<br />

und neue Dienstleis tungs -<br />

branchen entstehen lassen.<br />

So weit die Bandbreite der Diskus -<br />

sion: Zwar sind die Positionen in Teilen<br />

berechtigt und nachvollziehbar, doch<br />

sind die Argumente in ihrer Absolutheit<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

65


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

zu hinterfragen. Das tatsächliche Bild<br />

der Industrie ist jenseits der dargestellten<br />

Maximalpositionen diffuser und die<br />

Schlussfolgerungen daraus sind differenzierter.<br />

Industrie hat wieder Boden<br />

gut gemacht<br />

Allen Unkenrufen zum Trotz hat sich<br />

die deutsche Industrie vom Krisenjahr<br />

2008/2009 einigermaßen erholt. Doch<br />

von einem Boom kann keine Rede sein.<br />

Denn nach Berechnung von Destatis<br />

war 2012 der Anteil des produzierenden<br />

Gewerbes1 an der Gesamtwirt schafts -<br />

leistung mit 26,2 Prozent nur marginal<br />

höher als ihr Anteil von 25,9 Prozent im<br />

Jahre 2008. Damit hat die Industrie teilweise<br />

Boden wieder gut gemacht. Denn<br />

im Krisenjahr 2009 verringerte sich ihr<br />

Beitrag auf weniger als 25 Prozent. Den -<br />

noch ist ihr heutiger Anteil einer der<br />

höchsten Werte unter den Industrie -<br />

ländern. Zum Vergleich lag 2012 der<br />

Industrieanteil an der Brutto wert -<br />

schöpfung in Frankreich bei 12,6 Pro -<br />

zent, in Großbritannien bei 16,5 Prozent<br />

und in Schweden bei 20,5 Prozent. Das<br />

verarbeitende Gewerbe treibt nach wie<br />

vor den Export. So gingen 2011 knapp<br />

93 Prozent der Ausfuhren auf sein Kon -<br />

to. Darüber hinaus ist die Industrie ein<br />

wichtiger Nachfrager für Waren und<br />

Güter aus den anderen Sektoren der<br />

Wirtschaft. Schätzungen gehen davon<br />

aus, dass die Nachfrage aus der Indus -<br />

trie zu ca. einem Drittel der Bruttowert -<br />

schöpfung beiträgt.2<br />

In Puncto Beschäftigung ergibt sich<br />

ein anderes Bild. Zwar blieben die gefürchteten<br />

Massenentlassungen in der<br />

Industrie wegen der umsichtigen Kri -<br />

senpolitik (Regelung zur Kurzarbeit,<br />

Investitionsprogramm usw.) aus, doch<br />

nach Berechnungen des Sachverstän di -<br />

genrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen<br />

Entwicklung lag die<br />

industrielle Beschäftigung 2011 immer<br />

noch unter dem Niveau von 2008. Damit<br />

nahm der Anteil der Industrie an der<br />

Gesamtbeschäftigung von 19,6 Prozent<br />

auf 18,8 Prozent ab – die Erholung der<br />

deutschen Industrie nach der Krise fand<br />

also ohne Beschäftigungsausweitung<br />

statt. Stattdessen wurde die Arbeits pro -<br />

duktivität erhöht.<br />

Ein Grund für die unmittelbare Erho -<br />

lung war die Exportnachfrage, die durch<br />

diverse staatliche Konjunktur program -<br />

me der Haupthandelspartner angeheizt<br />

wurde. Die deutschen Unternehmen<br />

konnten wegen voller Lager, freier Pro -<br />

duktionskapazitäten und geringer Frei -<br />

setzung von Arbeitskräften die gestiege-<br />

1 Im Zusammenhang mit der Industrie wird zwischen produzierendem<br />

Gewerbe ohne Baugewerbe (inkl. Bergbau, Ener gie,<br />

Wasserversorgung und dem verarbeitenden Gewerbe) und<br />

verarbeitendem Gewerbe differenziert. Letzteres entspricht<br />

dem angelsächsischen Begriff des Manufacturing und kommt<br />

dem deutschen Verständnis von Industrie am Nächsten.<br />

2 Birgit Gehrke et al., Adäquate quantitative Erfassung wissens -<br />

intensiver Dienstleistungen. Schwerpunktstudie zum deutschen<br />

Innovationssystem 13/2009, Hannover 2009, S. <strong>21</strong>-22.<br />

66 April 2013 | Heft 56


PHILIPP FINK | UNGELIEBT, BEGEHRT <strong>UND</strong> DOCH NICHT VERSTANDEN<br />

ne Nachfrage schnell bedienen. Damit<br />

konnte der Exporteinbruch vom Kri -<br />

senjahr 2009 im folgenden Jahr ausgeglichen<br />

werden, und die Exporte des<br />

Jahres 2011 überstiegen die Vorkrisen -<br />

werte von 2007 deutlich. Des Weiteren<br />

hat die Zunahme des Exports von Waren<br />

außerhalb der krisengeplagten Euro -<br />

zone – vornehmlich nach China, den USA<br />

und Indien – geholfen, den Einbruch der<br />

Nachfrage aus dem Euroraum zu überwinden.<br />

Dies betrifft vor allem die wichtige<br />

Sparte der Investitionsgüter – also<br />

Maschinen- und Automobilbau. Ein<br />

Trend, der sich nach jüngsten Berech -<br />

nungen des DIW weiter verfestigt. Denn<br />

während 2012 Kunden aus dem Euro -<br />

raum fast 18 Prozent weniger Bestel lun -<br />

gen aufgaben als im Vorjahr, nahmen<br />

die Aufträge außerhalb des Euroraums<br />

um mehr als vier Prozent zu. Der Nicht-<br />

Euro raum war für fast 40 Prozent aller<br />

Ex portaufträge der Investitionsgüter -<br />

branche verantwortlich. So gingen beispielsweise<br />

nach Angaben der Auto mo -<br />

bilindustrie fast 75 Prozent der Pkw-<br />

Ex porte nicht in den Euroraum.3<br />

So verwundert es nicht, dass der Ma -<br />

schinenbau und die Automobilindustrie<br />

im letzten Jahr ihre Produktion weiter<br />

ausbauen konnten. Doch alle anderen<br />

Zweige des verarbeitenden Gewerbes –<br />

darunter die Schlüsselbranchen Chemie<br />

3 Dorothea Lucke, Deutsche Industrie stemmt sich<br />

gegen die Krise im Euroraum, in: DIW Wochenbericht,<br />

48/2012, S. 18.<br />

sowie die Elektro- und Metallindustrie –<br />

mussten 2012 mit leichten Rückgängen<br />

kämpfen. Grund für die unterschiedliche<br />

Entwicklung der einzelnen Branchen<br />

sind andere Produktmärkte und Nach -<br />

fragestrukturen. Diese Industriezweige<br />

stellen als nachgelagerte Branchen<br />

mehr heitlich keine Endprodukte her. Sie<br />

produzieren Waren, die bei der Produk -<br />

tion von Investitions- und Gebräuchs gü -<br />

tern verwendet werden – also beispielsweise<br />

chemische Grundstoffe, Stahl,<br />

Fahrzeugteile, Halbleiter usw. Deshalb<br />

orientieren sich die Unternehmen dieser<br />

Branchen überwiegend am Binnenmarkt<br />

und nur ein geringer Teil ihrer Produkte<br />

(2012: ca. 33 Prozent) wird exportiert.<br />

Abhängig von wenigen<br />

Märkten und Branchen<br />

Erfolg oder Misserfolg dieser Branchen<br />

ist damit im Großen abhängig von der allgemeinen<br />

konjunkturellen Entwick lung.<br />

Laufen, wie geschehen, die staatlichen<br />

Konjunkturpakte aus und bauen Kunden<br />

wegen schlechter Geschäfts aus sichten<br />

als Folge der Eurokrise eher ihre Lager -<br />

bestände ab als neue Waren zu bestellen,<br />

dann gehen die Bestellungen an Vorleis -<br />

tungen zurück und die Produk tion wird<br />

letztendlich gedrosselt. Doch damit zeigt<br />

sich eine Schieflage. Denn zum einen<br />

werden die Märkte der Schwel lenländer<br />

(vor allem China) und die USA als Absatz -<br />

märk te wegen der Eurokrise immer wich-<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

67


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

tiger. Die Export industrie wird damit zunehmend<br />

abhängig von wenigen Märk -<br />

ten. Zum anderen wird das Wachstum der<br />

Industrie derzeit von wenigen Branchen<br />

getragen. Zusam men mit der Elektro in -<br />

dustrie waren der Maschinen- und Fahr -<br />

zeugbau für fast 45 Prozent der Wirt -<br />

schafts leistung des produzierenden<br />

Gewerbes 2011 verantwortlich. Letztere<br />

dominierten 2012 wiederum den Export.<br />

Ist wirklich<br />

alles Hightech?<br />

Ein entscheidender Faktor für den Welt -<br />

markterfolg der deutschen Industrie ist<br />

ihre Fähigkeit innovative Produkte herzustellen.<br />

Diese technologische Leis -<br />

tungsfähigkeit erklärt die starke internationale<br />

Position des Maschinen- und<br />

Fahrzeugbaus. Denn sie zeichnen sich<br />

durch eine Spezialisierung auf mittelwertige<br />

Technologien aus. Im Gegensatz<br />

zur Spitzenforschung, die im Allge mei -<br />

nen als Hightech bezeichnet wird, ist der<br />

Anteil an Grundlagenforschung gering.<br />

Dagegen sind die Forschungs- und Ent -<br />

wicklungsausgaben auf Prozess- und<br />

Produktinnovationen ausgerichtet.<br />

Inno vationen sind eher inkrementell<br />

und bauen auf bestehende Technologien<br />

kontinuierlich auf. Zwar ist die Höhe<br />

der Forschungsausgaben im OECD-<br />

Vergleich eher durchschnittlich, doch<br />

ist im internationalen Vergleich die<br />

Zahl an Patent anmeldungen hoch und<br />

vor allem der Markterfolg der Innova tio -<br />

nen sehr bedeutend.4<br />

Das heißt nicht, dass Spitzenfor schung<br />

nicht stattfindet. Aber die Bedeu tung<br />

des Technologiebereichs für die Indus -<br />

trie ist im Vergleich zu mittelwertigen<br />

Technologien geringer. Die hohe Anzahl<br />

an Patentanmeldungen aus der Spitzen -<br />

forschung steht im Widerspruch zur<br />

wirt schaftlichen Bedeutung des Sektors.<br />

Diese Diskrepanz wird damit erklärt,<br />

dass deren Forschungserkenntnisse von<br />

Firmen in den niedrigeren Technologie -<br />

segmenten genutzt werden. Die geringe<br />

Präsenz deutscher Firmen im Bereich<br />

der Spitzentechnologien wird mit dem<br />

schwierigen Marktumfeld begründet. So<br />

sind bestimmte Geschäftsfelder wegen<br />

ihrer strategischen Bedeutung oftmals<br />

staatlich geschützt. Der Kostenaufwand<br />

des Markteintritts ist wegen der nötigen<br />

Ausgaben für Forschungsleistungen sehr<br />

hoch. Die Produktlebenszyklen bestimmter<br />

Technologien (z.B. Kommuni ka tions -<br />

technik, Halbleiter) werden immer kürzer,<br />

was zur Folge hat, dass die Produk tions -<br />

kosten als Wettbewerbs faktor wichtiger<br />

werden. Damit kommt es oftmals zur<br />

Verlagerung der Produk tion an kostengünstigere<br />

Standorte im Ausland.<br />

Die hohe Innovationsfähigkeit deutscher<br />

Firmen im Bereich mittelwertiger<br />

4 Christian Rammer, Innovationen: Zur technologischen<br />

Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie, in: Martin<br />

Allespach und Astrid Ziegler (Hg.), Zukunft des Indus trie -<br />

standortes Deutschland 2020, Marburg 2012, S. 68f.<br />

68 April 2013 | Heft 56


PHILIPP FINK | UNGELIEBT, BEGEHRT <strong>UND</strong> DOCH NICHT VERSTANDEN<br />

Technologien verschafft den Unter neh -<br />

men deutliche Wettbewerbsvorteile in<br />

Märkten, die durch eine große Konkur -<br />

renz und Kostendruck gekennzeichnet<br />

sind. Denn ihre technologische Leis -<br />

tungs fähigkeit erlaubt es ihnen, lukra -<br />

tive Produkt- und Technologienischen<br />

zu besetzen. Dieser Zusammenhang<br />

erklärt im Übrigen auch den Untergang<br />

der So larindustrie in Deutschland, die<br />

eine sehr geringe Innovationsleistung<br />

vorwies und von Wettbewerbern mit<br />

kostengünstigeren Produkten verdrängt<br />

wurde.<br />

Kein Gegensatz zwischen Industrie<br />

und Dienstleistungen<br />

Die Zahlen zum Zustand der Industrie<br />

und ihre öffentliche Wahrnehmung verdecken<br />

einen unterschwelligen Struk -<br />

turwandel. Denn die Bedeutung der<br />

Industrie für die Wirtschaftsleistung<br />

und Beschäftigung nimmt über die Zeit<br />

gesehen zu Gunsten des Dienstleis -<br />

tungs sektors ab. So stiegen zwischen<br />

1970 und 2010 seine Anteile an der Wirt -<br />

schaftsleistung von 48 Prozent auf über<br />

70 Prozent und an der Gesamtbeschäf -<br />

tigung von 45 Prozent auf fast 74 Pro -<br />

zent.5 Sicherlich ist diese Entwicklung<br />

eine Folge des Strukturumbruchs. Markt -<br />

verdrängung, neue Technologien und<br />

5 Siehe dazu: Alexander Eickelpasch: Industrienahe Dienst -<br />

leistungen: Bedeutung und Entwicklungspotenziale, WISO<br />

Diskurs, Bonn 2012.<br />

veränderter Konsum haben in einigen<br />

Industrieregionen zu einer schmerzhaften<br />

Deindustrialisierung geführt.<br />

Doch mehren sich die Anzeichen,<br />

dass dieser Deindustrialisie rungspro -<br />

zess in den letzten zehn Jahren auf -<br />

gehalten wurde. Weitere große Struk -<br />

turverschiebun gen sind ausgeblieben.<br />

Der Struktur wan del ist somit nicht<br />

einem saldenmecha nischen Nullsum -<br />

menspiel gleich zu setzen – nach dem<br />

Motto: Des einen Sektors Verlust ist des<br />

anderen Gewinn. Vielmehr verwischen<br />

die Gren zen zwischen den beiden Wirt -<br />

schafts sektoren. Sie sind zunehmend<br />

mitein ander verflochten und bedingen<br />

sich ge genseitig in ihrer jeweiligen Ent -<br />

wick lung.<br />

Es sind hochwertige unternehmensnahe<br />

Dienstleistungen als neue Ge -<br />

schäfts felder entstanden. Ein wesent -<br />

licher Faktor hierfür ist die zunehmende<br />

Digitalisierung, die alle Geschäfts- und<br />

Produktionsprozesse sowie Kunden be -<br />

ziehungen beeinflusst. Beispielsweise<br />

werden webgestützte Bestellsysteme<br />

eingesetzt oder Industriegüter mit Ser -<br />

vicepaketen verkauft. Die zunehmende<br />

internationale Verflechtung der Firmen<br />

und die Herausbildung internationaler<br />

Wertschöpfungsketten erfordern einen<br />

höheren Steuerungs- und Kontrollbedarf<br />

über Ländergrenzen hinaus. Forschung<br />

und Entwicklung sowie Werbung, Mar -<br />

keting und Design sind entscheidende<br />

Wettbewerbsfaktoren für international<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

69


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

tätige Unternehmen. Entsprechend werden<br />

diese Funktionen entweder von externen<br />

Dienstleistern übernommen oder<br />

sie gehören zu den Kernaufgaben in den<br />

deutschen Konzernzentralen.<br />

Industrie zugleich Teil des<br />

Problems und der Lösung<br />

Als Folge dieser Entwicklung sind die<br />

unternehmensnahen Dienstleistungs -<br />

felder deutlich gewachsen. Ihr Anteil an<br />

der gesamtwirtschaftlichen Produktion<br />

ist zwischen 1970 und 2010 von knapp<br />

14 Prozent auf 32 Prozent gestiegen.<br />

Waren sie 1970 für knapp sechs Prozent<br />

aller Dienstleistungsjobs verantwortlich,<br />

so war 2010 fast jeder Fünfte aus<br />

diesem Sektor dort beschäftigt. Somit<br />

arbeiteten im OECD-Vergleich nur in<br />

Großbritannien und in den USA mehr<br />

Menschen in unternehmensnahen<br />

Dienstleistungen als in Deutschland.<br />

Da die Tätigkeiten eng mit denen ihrer<br />

Auftraggeber in der Industrie verbunden<br />

sind, werden unternehmensnahe Dienst -<br />

leistungen auch exportiert, wenn ihre<br />

Geschäftspartner im Ausland tätig sind.<br />

Somit ist Deutschland hinter den USA<br />

und vor China der zweitgrößte Expor -<br />

teur von unternehmensnahen Dienst -<br />

leistungen.<br />

Ohne Zweifel hat die Industrie eine<br />

tragende Rolle beim hohen Ressourcenund<br />

Energieverbrauch, bei der Emission<br />

von CO2 und von weiteren Schadstoffen<br />

wie Stickoxiden. Gerade die deutschen<br />

Schüsselbranchen der Chemie und der<br />

Metallindustrie haben energieintensive<br />

Produktionsverfahren. Nach Schät zun -<br />

gen des Umweltbundesamtes für das<br />

Jahr 2010 war das verarbeitende Ge -<br />

werbe für 20 Prozent der CO2-Emmissio -<br />

nen verantwortlich. Dennoch ist viel<br />

passiert. Die Energieproduktivität<br />

(BIP/Primärenergieverbrauch) ist seit<br />

1990 um ca. 40 Prozent gestiegen. Es<br />

wird also weniger Energie verbraucht.<br />

Damit stößt das Wirtschaftswachstum<br />

weniger CO2 aus.<br />

Doch bei der reduzierten Energie- und<br />

Kohlenstoffintensität des Wachstums<br />

müssen diverse Sondereffekte berücksichtigt<br />

werden. Zum einen hat der Nie -<br />

dergang der DDR-Industrie als Folge der<br />

Wiedervereinigung einen wesentlichen<br />

und einmaligen Beitrag zur CO2-Emmis -<br />

sionsminderung und Erhöhung der Ener -<br />

gieeffizienz geleistet. Zum anderen ist<br />

die kohlenstoff- und ressourceninten -<br />

sive Produktion im Zuge der vergangenen<br />

Restrukturierungsphasen der deutschen<br />

Industrie ins Ausland (z. B. nach<br />

China) verlagert worden. Da mit wurde<br />

der CO2-Ausstoß exportiert. Zum Teil<br />

werden diese Produkte wieder nach<br />

Deutschland als Endprodukte oder als<br />

Vorleistungen importiert. Aufgrund des<br />

höheren CO2-Ausstoßes bei der Her stel -<br />

lung dieser Produkte importieren wir<br />

mehr CO2-Emissionen als wir exportieren.<br />

Schließlich, obwohl es durchaus<br />

70 April 2013 | Heft 56


PHILIPP FINK | UNGELIEBT, BEGEHRT <strong>UND</strong> DOCH NICHT VERSTANDEN<br />

Fortschritte bei der Ressourcen- und<br />

Energieeffizienz zu verzeichnen gibt, ist<br />

unser Wachstum immer noch im hohen<br />

Maß kohlenstoff- und energieintensiv.<br />

Mit der Erholung der Wirtschaft nach<br />

dem Krisenjahr 2009 stieg auch der<br />

Energie- und Ressourcenverbrauch und<br />

damit der CO2-Austoß erneut an. Von<br />

absoluter Entkopplung kann also keine<br />

Rede sein. Das absolute Niveau der deutschen<br />

CO2-Emissionen bleibt weiterhin<br />

um mehr als das Vierfache über der angestrebten<br />

Menge.<br />

Green Tech als Wachstumsmotor<br />

und Klimaretter<br />

Gleichwohl spielt die Industrie eine<br />

wichtige Rolle bei der Lösung der Um -<br />

welt- und Klimaprobleme. Denn sie kann<br />

die nötigen Technologien und Produkte<br />

liefern, die einen wichtigen Beitrag leisten,<br />

um die Energie-, Ressourcen- und<br />

Materialeffizienz zu erhöhen und den<br />

Ausstoß an Kohlendioxid zu minimieren.<br />

Die Entwicklung des „grünen“ Leit -<br />

markts, auch bekannt als GreenTech,<br />

verdeutlicht dies. Hierunter sind alle<br />

Branchen erfasst, die für den Bereich<br />

Um welttechnik und Ressourceneffizienz<br />

Produkte anbieten. Dies schließt sowohl<br />

Anbieter erneuerbarer Energien ein, als<br />

auch Spezialchemiehersteller, Spezia -<br />

listen für Entsorgungstechnik, Anla gen -<br />

bauer und Automobilzulieferer. Die ser<br />

Leitmarkt ist somit eine Quer schnitts -<br />

branche mit Überschneidungen zu den<br />

klassischen Industriezweigen und Wirt -<br />

schaftssektoren.<br />

Aufgrund der Universalität der Um -<br />

welt- und Klimaproblematik sind Pro -<br />

dukte aus Umwelttechnik und Ressour -<br />

ceneffizienz international nachgefragt.<br />

Angetrieben durch den hohen „grünen“<br />

Anteil an den Konjunkturpaketen, die<br />

als Folge der Finanz- und Wirtschafts -<br />

krise 2008/2009 von vielen Staaten ini -<br />

tiiert wurden, ist der GreenTech-Markt<br />

rasant gewachsen. Betrug der weltweite<br />

Markt 2007 noch 1.383 Milliarden Euro,<br />

wurde sein Umfang 2010 auf 1.930 Mil -<br />

liarden Euro geschätzt. Alleine der deutsche<br />

Markt ist von geschätzten 200 Mil -<br />

liar den Euro auf 282 Milliarden Euro im<br />

gleichen Zeitraum gewachsen.6<br />

Dieser Markt hat sich somit zu einem<br />

wichtigen Geschäftsfeld für deutsche<br />

Unternehmen entwickelt, die einen<br />

Welt marktanteil von 15 Prozent halten.<br />

Bei einer prognostizierten Wachstums -<br />

rate des globalen GreenTech-Markts von<br />

mehr als fünf Prozent pro Jahr wird seine<br />

Bedeutung als Zukunftsmarkt weiter<br />

zunehmen. Bereits 2011 besaß dieser<br />

Wirtschaftszweig in Deutschland einen<br />

Anteil von fast elf Prozent am Bruttoin -<br />

landsprodukt und beschäftigte 1,4 Mil -<br />

lionen Menschen in Dienstleistungen<br />

und Industrie. Sicherlich sind die Wachs -<br />

6 Siehe dazu: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz<br />

und Reaktorsicherheit: GreenTech made in Gemany 3.0<br />

Umwelttechnologie-Atlas für Deutschland, Berlin 2012.<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

71


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

tumsprognosen angesichts der künftigen<br />

konjunkturellen Unwägbarkeiten<br />

mit Vorsicht zu genießen. Sie machen<br />

aber deutlich, dass die Steigerung der<br />

Energie- und Ressourceneffizienz luk -<br />

rative Geschäftsfelder eröffnen sowie<br />

Be schäftigung sichern und ausbauen<br />

kann. Somit findet ein Strukturwandel<br />

statt, der zugleich der traditionellen<br />

Industrie und ihren Arbeitnehmern neue<br />

Möglich keiten beim ökologischen Um -<br />

bau schafft.<br />

Eine integrierte Industriepolitik<br />

wird gesucht<br />

Die kurze Zustandsbeschreibung der<br />

deutschen Industrie unterstreicht die<br />

zentrale Bedeutung für Wachstum und<br />

Beschäftigung. Allerdings sind Schief -<br />

lagen zu erkennen, die behoben werden<br />

müssen, um fehlerhafte Entwicklungen<br />

und spätere schmerzhafte Restruktu rie -<br />

rungen zu umgehen. In diesem Fall ist<br />

die Politik gefragt, entsprechende An -<br />

reize zu schaffen und Unterstützung zu<br />

leisten. Denn die geforderte Renaissance<br />

der Industrie setzt eine kluge Industrie -<br />

politik voraus. Zwar findet Industrie po -<br />

litik in verschiedenem Umfang und durch<br />

verschiedene Akteure auf verschiedenen<br />

Politikebenen statt, doch sind diese Maß -<br />

nahmen in seltenen Fäl len koordiniert<br />

und miteinander abgestimmt.7<br />

Das starke Wachstum des grünen<br />

Leitmarkts unterstreicht die wichtige<br />

Rolle des Staats bei der Schaffung von<br />

Märkten, der Gestaltung von Rahmen -<br />

bedingungen und dem Setzen von An -<br />

reizen, um Markteintrittsbarrieren abzuschaffen.<br />

Ohne die Konjunktur pakete<br />

der vergangenen Jahre wäre der Markt<br />

für Umwelttechnik und Ressourceneffi -<br />

zienz nicht in der Form gewachsen.<br />

Ebenso ist es undenkbar, dass der Sie -<br />

geszug der erneuerbaren Energien ohne<br />

das entsprechende Gesetz stattgefunden<br />

hätte. Der Erfolg von GreenTech zeigt<br />

auch, dass die Industriepolitik als Quer -<br />

schnittsaufgabe stärker in den Dienst<br />

gesellschaftlicher Bedürfnisse gestellt<br />

werden muss und sich nicht an einzelnen<br />

Politikfeldern orientiert oder ein -<br />

zelne Branchen und Technologien fördert.<br />

Die enger werdende Verzahnung<br />

zwischen Dienstleistungen und materieller<br />

Produktion erfordert eine integrierende<br />

Vorgehensweise, die einen<br />

branchen- und sektorübergreifenden<br />

Ansatz verfolgt. Damit muss Dienstleis -<br />

tungspo litik Teil einer integrierten<br />

Indus triepolitik sein.<br />

Ständige Innovationen sind ein we -<br />

sent licher Wettbewerbsfaktor für die<br />

deutsche Industrie. Entsprechend sollte<br />

die Forschungspolitik auf die Verzah nung<br />

von Unternehmen aus den verschie denen<br />

7 Jörg Meyer-Stamer, Moderne Industriepolitik oder post mo -<br />

derne Industriepolitiken?, Schriftenreihe Moderne Indus trie -<br />

politik 1/2009, Berlin.<br />

8 Hans G. Schreck und Uwe Thomas, Nachhaltige Wettbe werbs -<br />

fähigkeit durch junge Unternehmen, WISO direkt, Bonn.<br />

72 April 2013 | Heft 56


PHILIPP FINK | UNGELIEBT, BEGEHRT <strong>UND</strong> DOCH NICHT VERSTANDEN<br />

Technologiesparten achten und die Zu -<br />

sammenarbeit mit den Hochschulen unterstützen.<br />

Aufgrund des Kostendrucks<br />

im internationalen Wettbewerb und der<br />

hohen Eintritts barrieren sollte die For -<br />

schungspolitik am Einsatz des Personals<br />

ansetzen. Somit können beschäftigungspolitische<br />

Effekte erzielt werden und junge<br />

Unter nehmen unterstützt werden.8<br />

Schließlich muss die beginnende<br />

Ab hängigkeit des Exports von wenigen<br />

außereuropäischen Märkten abgewendet<br />

und die Dominanz der industriellen Wert -<br />

schöpfung durch wenige Branchen gemildert<br />

werden. Die Stärkung der Binnen -<br />

nachfrage in Deutschland kann hierbei<br />

eine wichtige Rolle spielen. Denn zum<br />

einen werden Konsum und Investi tio nen<br />

angeregt. Zum anderen könnte der gebeutelte<br />

Euroraum von einer verstärkten<br />

deutschen Importnachfrage profitieren.<br />

Doch diese Aufgabe ist nicht nur durch<br />

die Industriepolitik zu lösen, sondern<br />

durch eine europäische Krisen politik, die<br />

nicht allein auf Austerität setzt.|<br />

DR. PHILIPP FINK<br />

ist Referent für Nachhaltige Strukturpolitik<br />

in der Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

73


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

74 April 2013 | Heft 56


ANDREA WICKLEIN | <strong>WO</strong>HLSTAND MUSS ERWIRTSCHAFTET WERDEN!<br />

<strong>WO</strong>HLSTAND<br />

MUSS ERWIRTSCHAFTET<br />

WERDEN!<br />

Wie die kleinen und mittleren Unternehmen<br />

weiter für wirtschaftlichen Aufschwung sorgen<br />

können — Von Andrea Wicklein<br />

Wir sind ein reiches Land. Wir bau -<br />

en die besten Autos und Flug -<br />

zeuge. Wir haben die besten Ingenieure.<br />

Wir forschen, entwickeln und verkaufen<br />

unsere Ideen und Produkte weltweit.<br />

„Made in Germany“ ist ein Qualitäts merk -<br />

mal – weltweit anerkannt und geschätzt.<br />

Gleichzeitig spüren die Menschen in<br />

Deutschland, dass die Schere zwischen<br />

„arm“ und „reich“ immer weiter auseinandergeht.<br />

Dies wurde beispielsweise<br />

sehr deutlich in der Diskussion über den<br />

von der Bundesregierung zensierten Ar -<br />

muts- und Reichtumsbericht.<br />

Wir können unseren Wohlstand heu -<br />

te nur dann sichern, wenn wir unser<br />

Land zusammenhalten, wenn alle Men -<br />

schen gleiche Chancen haben und niemand<br />

zurückbleiben muss. Deshalb<br />

müssen wir soziale Gerechtigkeit und<br />

wirtschaftlichen Erfolg endlich wieder<br />

miteinander verbinden. Dafür brauchen<br />

wir den gesetzlichen Mindestlohn, eine<br />

solidarische Bürgerversicherung und<br />

Bildungs chancen für alle. Jedoch: Wohl -<br />

stand muss erwirtschaftet werden. So -<br />

ziale Gerechtigkeit und wirtschaft liches<br />

Wachstum sind zwei Seiten derselben<br />

Medaille. Einerseits ist der soziale Frie -<br />

den in Deutschland ein wesent licher<br />

Faktor des wirtschaftlichen Erfolgs.<br />

Andererseits wäre unser soziales Sys -<br />

tem ohne die Leistungskraft der Unter -<br />

nehmen und ihrer Mitarbeiterin nen und<br />

Mitarbeiter nicht zu halten.<br />

Der Mittelstand stellt 60 Prozent<br />

der Arbeitsplätze<br />

Deshalb brauchen wir eine aktive Indus -<br />

trie- und Mittelstandspolitik. Unterneh -<br />

mergeist ist Voraussetzung für den Fort -<br />

bestand der sozialen Markt wirt schaft<br />

und den gesellschaftlichen Zu sam men -<br />

halt in Deutschland: Mittel stän dische<br />

Unternehmen erbringen 40 Pro zent<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

75


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

unse rer Wirtschaftsleistung. Sie be -<br />

schäftigen 60 Prozent unserer Arbeit -<br />

nehmerinnen und Arbeitnehmer und<br />

biden 80 Prozent der Azubis aus. Der<br />

deutsche Mittelstand und das Hand -<br />

werk sind nicht nur das vielgepriesene<br />

Rückgrat der deutschen Wirtschaft:<br />

Sie sind vielmehr ihr Herz.<br />

Es fehlen große<br />

Unternehmeszentralen …<br />

Die vielen kleinen und mittleren Unter -<br />

nehmen stehen für Qualität, Erfinder -<br />

geist, Wettbewerbsfähigkeit, ebenso<br />

wie für soziale Verantwortung, gute<br />

Arbeit und Aufstiegschancen. Rund<br />

3,7 Millio nen kleine und mittlere Unter -<br />

nehmen sowie Selbständige in Hand -<br />

werk, Industrie, Handel, Touris mus,<br />

Dienst leistungen und Freien Berufen<br />

prägen die Vielfalt und den Erfolg des<br />

deutschen Mittelstandes. Gemeinsam<br />

mit ihren Arbeitnehmern sorgen sie mit<br />

Kreativität und Innovationen für die<br />

Wettbewerbsfähigkeit der deutschen<br />

Wirtschaft. Und das tun sie nicht weit<br />

weg, sondern direkt vor Ort: in unserer<br />

Region, unserer Stadt, unserer direk -<br />

ten Nachbarschaft. In Brandenburg<br />

ist die Wirtschaft eindeutig kleinteilig<br />

orga nisiert. Im Durchschnitt hat ein<br />

mittel ständischer Betrieb bei uns<br />

14 Be schäf tigte. Zum Vergleich: Im<br />

Bundes durch schnitt sind es 18. Uns<br />

fehlen immer noch Unternehmens -<br />

zentra len, aber: diese Kleinteiligkeit ist<br />

nicht zwangsläufig ein Nachteil.<br />

Kleine und mittlere Unternehmen<br />

sind sehr flexibel, innovativ und zeichnen<br />

sich häufig durch eine starke regionale<br />

Verbundenheit aus. In der Finanzund<br />

Wirtschaftskrise war es zuallererst<br />

der Mittelstand, der unser Land gut<br />

durch diese Krise geführt hat – mit<br />

Vernunft und Verantwortung, langfris -<br />

tiger Orientierung und Verzicht auf<br />

kurzsichtige Zockerei. Auch deshalb<br />

war Bran denburg weniger von der Krise<br />

betroffen als andere Bundesländer. De -<br />

mo grafischer Wandel, Fachkräfte man -<br />

gel, Kreditfinanzierungen, Energie wen -<br />

de, Forschung und Entwicklung und<br />

Bürokratiebelastung – das sind die The -<br />

men, die landauf, landab mittelstän -<br />

dische Unternehmer beschäftigen. Im<br />

Vergleich zu großen Konzernen haben<br />

mittelständische Unternehmen und<br />

Handwerksbetriebe besondere Chancen,<br />

aber auch spezifische Herausforde run -<br />

gen in diesen Bereichen zu bewältigen.<br />

Sie stehen mit den Großunternehmen in<br />

einer harten Konkurrenz um Fachkräfte,<br />

haben einen eingeschränkteren finanziellen<br />

Spielraum und sind vom bürokratischen<br />

Aufwand vergleichsweise<br />

höher betroffen.<br />

Ein starker Mittelstand braucht also<br />

Rahmenbedingungen, die ihn stark<br />

machen. Die SPD setzt weiterhin auf<br />

den Erfolg der sozialen Marktwirtschaft<br />

in Deutschland. Ein starker und innova-<br />

76 April 2013 | Heft 56


ANDREA WICKLEIN | <strong>WO</strong>HLSTAND MUSS ERWIRTSCHAFTET WERDEN!<br />

tiver Mittelstand ist der Garant dafür.<br />

Denn Innovationen in Wirtschaft und<br />

Gesellschaft sind Schlüsselfaktoren für<br />

Wachstum und Beschäftigung. Und es<br />

ist die Innovationsfähigkeit unserer<br />

kleinen und mittleren Unternehmen,<br />

die unseren Wohlstand entscheidend<br />

mitbegründet. Es ist ihre Risiko- und<br />

Leis tungsbereitschaft, die Wachstum,<br />

Wohlstand und Innovation sichern.<br />

Wir wollen die Rahmenbedingungen<br />

zur Entfaltung von Mittelstand, Selb -<br />

stän digkeit und Existenzgründungen<br />

verbessern. Das Handwerk spielt da bei<br />

– auch als „Ausbilder der Nation“ – eine<br />

zentrale Rolle.<br />

… und es fehlen qualifizierte<br />

Fachkräfte<br />

„Innovation“ heißt wörtlich „Neue rung“<br />

oder auch „Erneuerung“. Inno va tionen<br />

sind der Schlüsselfaktor, um den tiefgreifenden<br />

Veränderungen in der Gesell -<br />

schaft und den globalen ökonomischen<br />

und ökologischen Herausfor de rungen<br />

erfolgreich zu begegnen. Es sind die<br />

Ideen der kleinen und mittleren Unter -<br />

nehmen für neuartige Produkte und ihre<br />

Bereitschaft, die Unsicher heiten der<br />

Entwicklung in Kauf zu nehmen, die<br />

ein Schlüssel zur globalen Wettbewerbs -<br />

fä higkeit Deutschlands sind. Mit über<br />

30.000 forschenden und 110.000 hoch<br />

innovativen Unternehmen gibt der<br />

deut sche Mittelstand das Entwick lungs -<br />

tempo vor. Dabei hat die Zahl der forschenden<br />

kleinen und mittleren Unter -<br />

nehmen in den vergangenen Jahren<br />

deutlich zugenommen.<br />

Allerdings stellt sich die Situation in<br />

Brandenburg ein wenig anders dar: Auf -<br />

grund der fehlenden Unterneh mens -<br />

zentralen fehlt es letztendlich auch an<br />

unternehmensnaher und unternehmenseigener<br />

Forschung und Entwick -<br />

lung. Zwar konzentriert sich in der<br />

Region Berlin-Brandenburg 25 Prozent<br />

der deutschen Grundlagenforschung,<br />

aber die anwendungsbezogene Indus -<br />

triefor schung ist in Brandenburg unterentwickelt.<br />

Die Ausgaben für Forschung<br />

und Entwicklung von Staat und Hoch -<br />

schulen liegen in Ostdeutschland bei<br />

300 Euro pro Einwohner und damit<br />

60 Euro höher als die durchschnittliche<br />

Investitions höhe in den alten Ländern.<br />

Aber: Die Ausgaben der Wirtschaft in<br />

diesem Bereich belaufen sich in Ost -<br />

deutschland auf 220 Euro pro Ein woh -<br />

ner – in den alten Ländern sind es im<br />

Vergleich 640 Euro. Hier besteht für<br />

Brandenburg noch Handlungsbedarf.<br />

Wie Studien belegen, schaffen Mit -<br />

telständler in innovationsgetriebenen<br />

Wirtschaftszweigen deutlich mehr<br />

Arbeitsplätze als Unternehmen in an -<br />

deren Branchen. Davon profitieren<br />

natürlich auch die Kommunen und<br />

Länder. Gleichwohl haben kleine und<br />

mittlere Unternehmen vielfach mit<br />

Innova tions hemmnissen zu kämpfen:<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

77


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

Mangel an Fachkräften, schwierige Fi -<br />

nanzie rungs bedingungen und Be las tun -<br />

gen durch Bürokratie.<br />

Stichwort „Fachkräftemangel“: Als<br />

Haupthemmnis wird seitens der Unter -<br />

nehmen der zunehmende Fachkräfte -<br />

mangel, insbesondere in den sogenannten<br />

MINT (Mathematik, Ingenieurs-,<br />

Naturwissenschaften und Technologie)-<br />

Berufen genannt. Ohne Arbeitnehmer<br />

mit dem erforderlichen Fachwissen,<br />

sind Unternehmen schlichtweg nicht in<br />

der Lage zu Innovation, Wachstum und<br />

Wohl stand beizutragen. Mittelstand<br />

und Handwerk brauchen bei der Siche -<br />

rung ihrer Fachkräftebasis besondere<br />

Unter stützung. Häufig können kleinere<br />

und mittlere Unternehmen nicht mit<br />

den Angeboten von großen Unter neh -<br />

men an Hochschulabsolventen und<br />

Facharbei tern konkurrieren. Es gehört<br />

inzwischen zu ihrer Alltagserfahrung,<br />

dass die großen Unternehmen die<br />

Fachkräfte direkt von der Universität<br />

oder Fachhoch schu le anwerben. Die<br />

Fachkräftesicherung ist eine der zen -<br />

tralen wirtschaftlichen und sozialen<br />

Fragen in den kommenden Jahren. Das<br />

bestehende Fachkräfte po tenzial in<br />

Deutschland wird bislang nicht an -<br />

nähernd ausgeschöpft. Nach Berech -<br />

nungen der Bundesagentur für Arbeit<br />

könnten bis 2025 zusätzlich bis zu<br />

5,2 Mil lio nen Fachkräfte gewonnen<br />

werden – insbesondere unter Jugend -<br />

lichen, Frauen, Älteren, Migrantinnen<br />

und Mi granten. Gleiches gilt für die Ge -<br />

ringqua li fizierten.<br />

Klar ist: die Fachkräftebasis muss<br />

sich verbreitern. Dazu muss die Verein -<br />

barkeit von Beruf und Familie verbessert<br />

und ausgebaut werden. Statt eines<br />

unsinnigen Betreuungsgeldes bedarf es<br />

mehr Investitionen in Kita-Plätze. Das<br />

Ziel muss es sein, mehr Frauen und<br />

Männer in Arbeit zu bringen und nicht,<br />

sie mit falschen Anreizen zum Zuhausebleiben<br />

aufzufordern. Um einem Fach -<br />

kräftemangel effektiv entgegenwirken<br />

zu können, bedarf es auch mehr Durch -<br />

lässigkeit im Bildungssystem. Deshalb<br />

ist es unerlässlich, das Kooperations -<br />

ver bot zwischen Bund und Ländern<br />

aufzuheben.<br />

Ohne Zuwanderung wird<br />

unsere Wirtschaft ärmer<br />

Ein zentraler Baustein zur Fachkräf te -<br />

sicherung ist die Beschäftigung Älterer.<br />

Viele Unternehmen haben die Po ten zi -<br />

ale älterer Beschäftigter längst erkannt<br />

und eigene Initiativen gestartet, um<br />

diese noch stärker zu erschließen. Wei -<br />

terbildung und Qualifizierung bleiben<br />

daher Voraussetzung für die Berufs tä -<br />

tig keit älterer Arbeitnehmerinnen und<br />

Arbeitnehmer.<br />

Zu einer effektiven breiten Fachkräf -<br />

te basis gehören auch ausländische<br />

Fachkräfte. Ihnen muss der Anfang in<br />

78 April 2013 | Heft 56


ANDREA WICKLEIN | <strong>WO</strong>HLSTAND MUSS ERWIRTSCHAFTET WERDEN!<br />

Deutschland erleichtert werden. Dazu<br />

gehört eine wirkliche Willkommens -<br />

kultur. Ein erster Anfang wäre beispielsweise<br />

schon gemacht, wenn eine Art<br />

„Lotsendienst“ eingerichtet werden<br />

würde: In einem ersten Schritt könnten<br />

die wichtigsten Formulare in englischer<br />

Sprache zur Verfügung gestellt werden.<br />

Darüber hinaus sollte die Betreuung aus<br />

einer Hand bei Anmeldung, Suche von<br />

Wohnung oder eines Schul- oder Kinder -<br />

gartenplatzes erfolgen. Denn: Ohne Zu -<br />

wan derung wird unsere Wirtschaft är -<br />

mer, ausländische Fachkräfte werden in<br />

Deutschland gebraucht.<br />

Stichwort „Schwierige Finanzie -<br />

rungs bedingungen“: Während die großen<br />

Unternehmen eigene Forschungsund<br />

Entwicklungsabteilungen in ihr<br />

Unter nehmen integriert haben, muss<br />

dieser Bereich bei kleinen und mittleren<br />

Unter nehmen eher neben dem normalen<br />

Tagesgeschäft mitlaufen. Und in der<br />

Regel können sie „Forschung und Ent -<br />

wicklung“ nicht allein aus Eigenmitteln<br />

finanzieren. Zum einen haben viele mittelständische<br />

Unternehmen immer noch<br />

zu wenig Eigenkapital und zum anderen<br />

treten häufig Schwierigkeiten bei der<br />

Beschaffung externen Kapitals auf.<br />

Be gründet liegt dies einerseits in den<br />

un sicheren Verwertungsmöglichkeiten:<br />

Nicht jede Innovation taugt für eine<br />

wirt schaftliche Umsetzung. Sie mag<br />

einen hohen wissenschaftlichen Er -<br />

kennt nisgewinn haben, aber ein ökonomischer<br />

Gewinn ist deshalb nicht zwin -<br />

gend. Andererseits bieten Innovationen<br />

an sich keine Sicherheiten, die beispielsweise<br />

für eine Kreditfinanzierung he ran -<br />

gezogen werden könnten.<br />

Klassische Förderungen<br />

greifen nicht<br />

Aufgrund dieser großen Unsicherheit<br />

greifen klassische Förderinstrumente in<br />

diesen Fällen meist nicht. Somit entstehen<br />

große Förderlücken und in der<br />

Folge gehen Chancen verloren. Diesen<br />

Luxus kann sich Deutschland schlichtweg<br />

nicht leisten. Wie kann man also<br />

die Innovationsfähigkeit von kleinen<br />

und mittleren Unternehmen stärken?<br />

Ein Vorschlag der SPD-Bundestags -<br />

fraktion ist die Einrichtung eines Inno -<br />

vationsfonds. Dieser hätte die Aufgabe<br />

die Lücken zu schließen, die derzeit<br />

durch klassische Förderinstrumente<br />

oder am Kapitalmarkt nicht geschlossen<br />

werden können. Bei der organisatorischen,<br />

inhaltlichen und finanziellen<br />

Unterstützung innovativer Projekte,<br />

von der Validierungsforschung über die<br />

Gründung bis zur Wachstumsfi nan zie -<br />

rung könnte der Innovationsfonds eine<br />

große Hilfe sein.<br />

Neben der bewährten Projektförde -<br />

rung durch den Bund, wie beispielsweise<br />

im „Zentralen Innovationsprogramm<br />

für den Mittelstand (ZIM)“, muss eine<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

79


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

Form der steuerlichen Forschungs för -<br />

derung etabliert werden. Dabei sind<br />

Mit nahme effekte zu vermeiden und<br />

auch jene Unternehmen zu unterstützen,<br />

die mangels Gewinnen keine Steu -<br />

er gut schrif ten erhalten können. Die<br />

SPD-Bundestags fraktion schlägt dazu<br />

die Einführung einer steuerlichen For -<br />

schungs förderung in Form der wachstumsorientierten<br />

Personalkostenzulage<br />

vor, das sogenannte „Forschergeld“.1<br />

Innovationen haben ihren Ursprung<br />

oftmals in jungen Unternehmen, denen<br />

aber zu wenig privates Beteiligungs ka -<br />

pital zur Verfügung steht. Alternative<br />

Finanzierungsinstrumente wie private<br />

Wagniskapitalfonds oder auch Investi -<br />

tio nen durch sogenannte „Business<br />

Angels“ werden zu selten in Betracht<br />

gezogen. Hier gibt es noch viel zu tun.<br />

Die deutsche Wirtschaft braucht einen<br />

gesicherten Zugang zu Kapital. Gleich -<br />

zeitig muss sie ihren Beitrag zur fiskalischen<br />

Stabilität unseres Landes leisten.<br />

Dazu gehört eine angemessene Besteu -<br />

erung, die die Unternehmen nicht über<br />

Gebühr belastet und den verschiedenen<br />

Bedürf nissen des Mittelstands und des<br />

Hand werks gerecht wird. Denn auch das<br />

muss klar sein: Um wirtschaftsfördernde<br />

Maßnahmen, wie Investitionen in<br />

Bil dung und Infrastruktur finanzieren<br />

zu können, braucht es einen handlungsfähigen<br />

Staat.<br />

1 erstmals von Peer Steinbrück in seinen „Siegener Thesen“<br />

Grundlagen für wirtschaftlichen Er -<br />

folg und individuellen Wohlstand sind<br />

zwar die persönlichen Leistungen von<br />

Unternehmerinnen und Unternehmern<br />

und gleichermaßen der Arbeitnehmerin -<br />

nen und Arbeitnehmer. Dennoch ist die<br />

Wirtschaftskraft eines Landes immer<br />

auch abhängig vom Grad des sozialen<br />

Frie dens, der Bildungschancen, der Infra -<br />

struktur und vielem mehr. Die Verbin -<br />

dung von wirtschaftlicher Leis tung und<br />

gesichertem sozialen Fort schritt ist das<br />

Prinzip der sozialen Markt wirtschaft.<br />

Dies gilt auch im Hin blick auf die Ausge -<br />

staltung des Steuer systems.<br />

Wie kann man Innovationen<br />

verwerten?<br />

Zu einer Innovationsstrategie für den<br />

Mittelstand gehört auch die Stärkung<br />

des Wissens- und Forschungstransfers –<br />

von der Idee bis hin zur wirtschaftlichen<br />

Verwertung. Es gibt in Brandenburg<br />

gute Beispiele von gemeinnützigen<br />

externen Industrieforschungseinheiten,<br />

sogenannten „Forschungs-GmbH’en“.<br />

Wie beispielsweise das Institut für<br />

Getrei deverarbeitung in Nuthetal, die<br />

Schiffs bau-Versuchsanstalt in Potsdam<br />

oder auch Biopos in Teltow. Durch sie<br />

werden Forschungs- und Entwicklungs -<br />

ergeb nisse für die Allgemeinheit diskriminierungsfrei<br />

zur Verfügung gestellt.<br />

Warum also nicht von diesen guten<br />

Beispielen lernen und nach dem „best<br />

80 April 2013 | Heft 56


ANDREA WICKLEIN | <strong>WO</strong>HLSTAND MUSS ERWIRTSCHAFTET WERDEN!<br />

practice“-Grundsatz eine Förderung für<br />

solche Forschungs-GmbH’en bundesweit<br />

einrichten?<br />

Das Motto „Gemeinsam sind wir stark“<br />

gilt: Innovationen entstehen vor allem<br />

dort, wo sich Partner aus Wirt schaft, Wis -<br />

senschaft und Bildung in Inno vations -<br />

bündnissen zusammenschließen, um die<br />

Wertschöpfung und Wettbewerbsfähig -<br />

keit ihrer Regionen zu erhöhen. Frei nach<br />

dem Satz „Tue Gutes und rede darüber“<br />

sollten solche Technologie transfer an ge -<br />

bote der Hoch schu len bundesweit, mittelstandsfreund<br />

li cher und sichtbarer kommuniziert<br />

wer den. Eine Möglichkeit<br />

be stünde zum Beispiel darin, Informatio -<br />

nen über Ko ope rationsangebote von<br />

Hoch schulen und deren fachliche An -<br />

sprech partner in Form einer öffentlichen<br />

Datenbank im Internet gebündelt zur<br />

Ver fügung zu stellen.<br />

Bürokratieabbau bleibt<br />

auf der Tagesordnung<br />

So gibt es in Brandenburg viele gute<br />

Beispiele, wo die kleinen und mittleren<br />

Unternehmen eng und erfolgreich mit<br />

Universitäten und Forschungs ein rich -<br />

tungen in Clustern, Netzwerken und<br />

Verbünden zusammenarbeiten. Insge -<br />

samt in neun Clustern, beispielsweise<br />

für den Bereich Energie, Gesundheits -<br />

wirtschaft oder auch Verkehr, Mobilität<br />

und Logistik funktioniert diese Zu sam -<br />

menarbeit bereits vorbildlich.<br />

Stichwort „Bürokratiebe lastun -<br />

gen“: Unternehmergeist braucht Frei -<br />

raum. Der wird insbesondere für Grün -<br />

derinnen und Gründer und für kleine<br />

Unter neh men durch zu viel Bürokratie<br />

bedroht. Unnö tige, für den Mittelstand<br />

kostenträchtige Regelungen müssen<br />

abgeschafft werden, dazu gehört zum<br />

Bei spiel die Verkürzung der Aufbewah -<br />

rungs pflich ten für Rech nungen und Bele -<br />

ge. Sie wäre einfach umzusetzen und<br />

hätte eine effektive Ent lastung zur Folge.<br />

Die Bewältigung bürokratischer<br />

Pflichten gehört für kleine und mittlere<br />

Unternehmen nach wie vor zu den größten<br />

Herausforderungen. Wenngleich<br />

kleine und mittelständische Unter neh -<br />

men im Rahmen ihrer Informa tions -<br />

pflichten in den letzten Jahren entlastet<br />

wurden, so sind sie durch den Erfül -<br />

lungs aufwand gesetzlicher Vorgaben im<br />

Vergleich zu Großunternehmen überproportional<br />

belastet. Viele mittelständische<br />

Unternehmen holen sich für Auf -<br />

gaben dieser Art externe Unterstützung,<br />

was aber wiederum Kosten verursacht,<br />

die für Investitionen nicht mehr zur Ver -<br />

fügung stehen. Schätzungen zufolge<br />

müssen im EU-Raum größere Unterneh -<br />

men für eine Regulierungsmaßnahme<br />

durchschnittlich ein Euro pro Mitar bei -<br />

ter ausgeben, kleine und mittlere Unter -<br />

nehmen dagegen bis zu zehn Euro pro<br />

Mitarbeiter. Deshalb wäre es sinnvoll,<br />

wenn die nationale und die europä ische<br />

Rechtsetzung von Vornherein auf den<br />

perspektive<strong>21</strong><br />

81


SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />

Mittelstand ausgerichtet werden würde.<br />

Die von der EU angekündigten Maß nah -<br />

men zur Verringerung der Ver waltungs -<br />

lasten für kleine und mittlere Unter neh -<br />

men sind in diesem Zusam men hang zu<br />

begrüßen. Nach wie vor wäre deshalb<br />

ein Normenkontrollrat auf europä ischer<br />

Ebene ein wichtiges Instrument um<br />

über flüssige Bürokratie zu verhindern.<br />

Verlässlichkeit schafft<br />

Sicherheit<br />

„Wohlstand muss erwirtschaftet werden“<br />

– dazu bedarf es in erster Linie<br />

eines starken Mittelstandes. Um diese<br />

Stärke behaupten zu können, brauchen –<br />

und erwarten – mittelständische Unter -<br />

nehmer von der Politik vor allem eines:<br />

Verlässlichkeit. Das Gegenteil wird<br />

deut lich, wenn man die Energiepolitik<br />

der schwarz-gelben Bundesregierung<br />

betrachtet. In Brandenburg wurden<br />

tausende Arbeitsplätze vernichtet,<br />

weil die Förderung von Solarstrom<br />

von heute auf morgen reduziert wurde.<br />

Verlässlichkeit sieht anders aus.<br />

Wir brauchen eine Energiepolitik,<br />

die Umwelt- und Klimazielen ebenso<br />

ge recht wird wie den Ansprüchen an<br />

wirtschaftliches Wachstum und inter -<br />

nationale Wettbewerbsfähigkeit der<br />

Wirt schaft. Die Energiewende bietet<br />

dabei vielfältige Chancen für den deutschen<br />

Mittelstand und das Handwerk.<br />

Bran denburg ist hier im wahrsten Sinne<br />

des Wortes „Spitze“ – bereits zum dritten<br />

Mal in Folge bekam das Land den<br />

„Leit stern“, den Bundesländerpreis für<br />

Er neuerbare Energien, in der Kategorie<br />

„Gesamtsieger“ verliehen. Brandenburg<br />

beweist eindrucksvoll, wie die Energie -<br />

wende funktionieren kann: Die rege ne -<br />

rativen Energien erweisen sich in unserem<br />

Land als Motor für wirtschaftli ches<br />

Wachstum. Dadurch sind in Industrie,<br />

Handwerk und begleitenden Dienst leis -<br />

tungen inzwischen nahezu <strong>21</strong>.000 Ar -<br />

beits plätze entstanden. Ver lässlich,<br />

bezahlbar, nachhaltig: Diese Attribute<br />

muss die Versorgung mit Energie und<br />

Rohstoffen erfüllen – für die Bürger in -<br />

nen und Bürger ebenso wie für die<br />

kleinen und mittelständischen Unter -<br />

neh men.<br />

Verlässlichkeit schafft Sicherheit,<br />

Sicherheit schafft die Grundlagen, um<br />

wieder zu investieren, zu wachsen und<br />

gute Arbeit und Aufstiegschancen zu<br />

schaffen. Und diese Grundlagen sind<br />

die Basis für unseren Wohlstand. |<br />

ANDREA WICKLEIN<br />

ist Bundestagsabgeordnete<br />

und Mittelstandsbeauftragte der<br />

SPD-Bundestagsfraktion.<br />

82 April 2013 | Heft 56


DAS DEBATTENMAGAZIN<br />

Wie werden wir im <strong>21</strong>. Jahrhundert leben? Die alten Lösungen taugen nicht mehr, die neuen<br />

kommen nicht von selbst. Die Berliner Republik ist der Ort für die wichtigen Debatten unserer<br />

Zeit: progressiv, neugierig, undogmatisch. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.<br />

Die Berliner Republik erscheint 5 mal jährlich. Das Einzelheft kostet 8,00 € zuzüglich 1,53 € Versandkosten.<br />

Die Berliner Republik gibt es auch im Jahresabo für 40,00 € frei Haus. Studierende zahlen 25,00 € frei Haus.<br />

Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich.<br />

Jetzt Probeheft bestellen: Telefon (030) 255 94-130, Telefax (030) 255 94-199, E-Mail: vertrieb@b-republik.de<br />

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Seit 1997 erscheint<br />

„perspektive <strong>21</strong> – Brandenburgische Hefte<br />

für Wissenschaft & Politik“.<br />

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen<br />

Ausgaben haben, können Sie ältere<br />

Exemplare auf unserer Homepage<br />

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perspektive<strong>21</strong><br />

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen<br />

Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auch auf<br />

Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte<br />

eine E-Mail an perspektive-<strong>21</strong>@spd.de.<br />

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:<br />

Heft 23 Kinder? Kinder!<br />

Heft 25 Erneuerung aus eigner Kraft<br />

Heft 26 Ohne Moos nix los?<br />

Heft 27 Was nun Deutschland?<br />

Heft 28 Die neue SPD<br />

Heft 30 Chancen für Regionen<br />

Heft 31 Investitionen in Köpfe<br />

Heft 32 Auf dem Weg ins <strong>21</strong>.Jahrhundert<br />

Heft 34 Brandenburg in Bewegung<br />

Heft 35 10 Jahre <strong>Perspektive</strong> <strong>21</strong><br />

Heft 36 Den Rechten keine Chance<br />

Heft 37 Energie und Klima<br />

Heft 38 Das rote Preußen<br />

Heft 39 Osteuropa und wir<br />

Heft 40 Bildung für alle<br />

Heft 41 Eine neue Wirtschaftsordnung?<br />

Heft 42 1989 - 2009<br />

Heft 43 20 Jahre SDP<br />

Heft 44 Gemeinsinn und Erneuerung<br />

Heft 45 Neue Chancen<br />

Heft 46 Zwanzig Jahre Brandenburg<br />

Heft 47 It’s the economy, stupid?<br />

Heft 48 Wie wollen wir leben?<br />

Heft 49 Geschichte, die nicht vergeht<br />

Heft 50 Engagement wagen<br />

Heft 51 Die Zukunft der Kommunen<br />

Heft 52 Die Zukunft der Medien<br />

Heft 53 Welche Hochschulen braucht das Land?<br />

Heft 54 Quo vadis Brandenburg?<br />

Heft 55 Sport frei!

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