WO ES STINKT UND KRACHT - Perspektive 21
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Heft 56 | April 2013 | www.perspektive<strong>21</strong>.de<br />
Brandenburgische Hefte<br />
für Wissenschaft und Politik<br />
MAGAZIN<br />
150 Jahre SPD<br />
Eine kleine Chronik<br />
Heinrich August Winkler<br />
Die Ehre der deutschen Republik<br />
Norbert Frei<br />
Die „Volksgemein schaft“<br />
als Terror und Traum<br />
SCHWERPUNKT<br />
<strong>WO</strong> <strong>ES</strong><br />
DAS STRASSENSCHILD<br />
Christian Neusser<br />
über Otto Wels<br />
Ehre, wem Ehre gebührt<br />
<strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong><br />
<strong>KRACHT</strong><br />
Wo unser Wohlstand herkommt<br />
Ralf Holzschuher<br />
Zukunft gibt’s nicht von allein<br />
Ulrich Freese<br />
Zwei Seiten einer Medaille<br />
Ulrich Berger<br />
Die industrielle Produktion<br />
von morgen<br />
Philipp Fink<br />
Ungeliebt, begehrt<br />
und doch nicht verstanden<br />
Andrea Wicklein<br />
Wohlstand muss<br />
erwirtschaftet werden!
Eine persönliche Bestandsaufnahme<br />
20 Jahre nach<br />
der friedlichen<br />
Revolution von<br />
1989:<br />
Wie viel Einheit<br />
haben wir erreicht?<br />
Welchen Aufbruch<br />
braucht Deutschland<br />
jetzt?<br />
224 Seiten,<br />
gebunden<br />
| Hoffmann und Campe | Das will ich lesen
VOR<strong>WO</strong>RT<br />
Industriepolitik? Ist das nicht ein Thema aus dem 19. und 20. Jahrhundert?<br />
Wenn viele Menschen diesen Begriff hören, denken sie an rauchende Schlote<br />
und erbarmungswürdige Arbeitsbedingungen, vielleicht noch an Umwelt zer -<br />
stö rung und CO2-Austoß. Jedenfalls löst der Begriff Industriepolitik häufig – zu<br />
häufig! – Assoziationen aus, die eher mit Vergangenheit denn mit Gegenwart und<br />
Zukunft unseres Landes verbunden werden. Das ist ein großer, ja fast tragischer<br />
Irrtum: Die industrielle Produktion ist in Deutschland nach wie vor das Rückgrat<br />
unseres materiellen Wohlstandes. Der Gewerkschafter Ulrich Freese weist in diesem<br />
Heft zu Recht darauf hin, dass sich 60 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutsch -<br />
land direkt oder indirekt dem produzierenden Gewerbe und industrienahen Dienst -<br />
leistern zuordnen. Welche Bedeutung Industriepolitik in Brandenburg hat, will ich<br />
an zwei Beispielen illustrieren: Die Städte Schwedt und Eisenhüttenstadt sind zu<br />
DDR-Zeiten als Industriestädte entstanden. Nur mit großen finanziellen Anstren -<br />
gungen ist es der Landesregierung gelungen, nach 1989 die industriellen Kerne<br />
Petrolchemie (Schwedt) und Stahlindustrie (Eisenhüttenstadt) zu erhalten. Wäre<br />
dies nicht gelungen, gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass beide<br />
Städte einen dramatischen Verelendungsprozess durchlaufen hätten. Uns allen<br />
muss bewusst sein, dass wir in Brandenburg, ja in ganz Deutschland auch in Zu -<br />
kunft industrielle Produktion brauchen, wenn wir unser jetziges Wohlstands niveau<br />
halten wollen. Das hat Voraussetzungen: eine ausreichende Anzahl gut qualifizierter<br />
Beschäftigter, eine sichere und bezahlbare Energieversorgung und eine gute For -<br />
schungslandschaft gehören dazu. In unserem Schwerpunkt diskutieren wir, wie<br />
Politik diese Voraussetzungen sichern helfen kann.<br />
Dieses Heft hat im Magazinteil noch einen zweiten Schwerpunkt. In diesem Jahr<br />
feiert die SPD am 23. Mai ihren 150.Geburtstag und es jährt sich zum 80. Mal der<br />
Beginn der Terrorherrschaft der Nazis. Beide Jahrestage sind uns Anlass genug, mit<br />
einigen Beiträgen daran zu erinnern.<br />
Wie die SPD, so gehen auch wir mit der Zeit. Zwar ist die <strong>Perspektive</strong> <strong>21</strong> sicher lich<br />
nicht 150 Jahre alt. Aber nach neun Jahren fanden wir, dass es an der Zeit war, unser<br />
Layout ein wenig zu modernisieren. Funktional, konzentriert und frisch – so wollen<br />
wir unsere Zeitschrift sehen. Und wir hoffen, dass Sie das als Leserinnen und Leser<br />
genauso empfinden.<br />
Ich wünsche eine erhellende Lektüre!<br />
Ihr Klaus Ness<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
3
IMPR<strong>ES</strong>SUM<br />
Herausgeber<br />
– SPD-Landesverband Brandenburg<br />
– Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie<br />
in Berlin, Brandenburg und<br />
Mecklenburg-Vorpommern e.V.<br />
Die perspektive <strong>21</strong> steht für die<br />
Gleichberechtigung von Frauen und<br />
Männern. Der besseren Lesbarkeit<br />
halber wurden an manchen Stellen<br />
im Text ausschließlich männliche<br />
oder weibliche Bezeichnungen<br />
verwendet. Diese Bezeichnungen<br />
stehen dann jeweils stellvertretend<br />
für beide Geschlechter.<br />
Redaktion<br />
Klaus Ness (V.i.S.d.P.),<br />
Thomas Kralinski (Chefredakteur),<br />
Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr,<br />
Klaus Faber,Tina Fischer,<br />
Klara Gey witz, Lars Krumrey,<br />
Christian Maaß, Till Meyer,<br />
Dr. Manja Orlowski, John Siegel<br />
Anschrift<br />
Alleestraße 9<br />
14469 Potsdam<br />
Telefon +49 (0) 331 730 980 00<br />
Telefax +49 (0) 331 730 980 60<br />
E-Mail<br />
perspektive-<strong>21</strong>@spd.de<br />
Internet<br />
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Herstellung<br />
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Druck: LEWERENZ Medien+Druck GmbH,<br />
Coswig (Anhalt)<br />
Bezug<br />
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4 April 2013 | Heft 56
INHALT<br />
MAGAZIN<br />
7 150 Jahre SPD<br />
Eine kleine Chronik, zusammengestellt<br />
von Thomas Kralinski<br />
19 Die Ehre der deutschen Republik<br />
Vor achtzig Jahren hielten allein<br />
die Sozial demokraten gegen Hitlers<br />
Ermächtigungsgesetz stand<br />
von Heinrich August Winkler<br />
29 Die „Volksgemein schaft“<br />
als Terror und Traum<br />
Woher die durchaus vorhandene<br />
Zustimmung zum Nazi-Regime kam<br />
von Norbert Frei<br />
DAS STRASSENSCHILD<br />
37 Ehre, wem Ehre gebührt<br />
Christian Neusser über Otto Wels<br />
SCHWERPUNKT<br />
<strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong> | <strong>WO</strong> UNSER <strong>WO</strong>HLSTAND HERKOMMT<br />
41 Zukunft gibt’s nicht von allein<br />
Wie die vierte industrielle Revolution<br />
in Brandenburg gelingen kann<br />
von Ralf Holzschuher<br />
49 Zwei Seiten einer Medaille<br />
Eckpunkte einer nachhaltigen<br />
Energie- und Rohstoff politik für den<br />
Industriestandort Deutschland<br />
von Ulrich Freese<br />
55 Die industrielle<br />
Produktion von morgen<br />
Wie eine Vision für die Haupt -<br />
stadtregion aussehen kann<br />
von Ulrich Berger<br />
65 Ungeliebt, begehrt und<br />
doch nicht verstanden<br />
Die deutsche Industrie ist<br />
entscheidend für Wachstum<br />
und Beschäftigung<br />
von Philipp Fink<br />
75 Wohlstand muss<br />
erwirtschaftet werden!<br />
Wie die kleinen und mittleren<br />
Unternehmen weiter für<br />
wirt schaftlichen Aufschwung<br />
sorgen können<br />
von Andrea Wicklein<br />
perspektive<strong>21</strong> 5
MAGAZIN<br />
6 April 2013 | Heft 56
MAGAZIN<br />
150 Jahre SPD<br />
Eine kleine Chronik, zusammengestellt<br />
von Thomas Kralinski<br />
19. Jahrhundert +++ Die rasante Industriealisierung Deutschlands führt zu<br />
Woh nungsnot, Hunger, Krankheiten, Kinderarmut und Bildungsarmut und somit<br />
zum Aufkommen der „sozialen Frage“ – die sich zunehmend politisch artikuliert.<br />
1863 +++ Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV)<br />
durch Ferdinand Lassalle in Leipzig ist die Geburtsstunde der Sozialdemokratie.<br />
Ein wichtiges Ziel waren freie und geheime Wahlen sowie Bildung für alle. Ein<br />
Jahr später hat der Verein bereits fast 5.000 Mitglieder.<br />
1864 +++ Lassalle gründet mit Unterstützung u. a. von Friedrich Engels und Karl<br />
Marx die Zeitschrift „Der Sozial-Demokrat“, die zum offiziellen Organ des ADAV wird.<br />
1866 +++ „Der Sozial-Demokrat“ veröffentlicht ein „Programm der sozialdemo -<br />
kratischen Partei Deutschlands“. Zentrale Ziele: ein geeintes Deutschland, freie<br />
Wahlen und die Lösung der sozialen Frage.<br />
1869 +++ August Bebel und Wilhelm Liebknecht gründen in Eisenach die Sozial -<br />
demo kratische Arbeiterpartei Deutschlands (SDAP).<br />
1875 +++ Der ADAV mit seinen 15.000 Mitgliedern und die SDAP (9.000 Mitglieder)<br />
vereinigen sich in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP). Die<br />
zentralen Ziele des „Gothaer Programms“ sind Bildung, gleiches Wahlrecht für alle,<br />
Presse- und Versammlungsfreiheit sowie Schutz der Arbeiter.<br />
1876 +++ Die Sozialdemokraten gründen in Leipzig eine Parteizeitung: Der Vorwärts.<br />
1877 +++ Erstmals hält August Bebel eine Rede über die „Stellung der Frau im heutigen<br />
Staat und im Sozialismus“. Er fordert die Frauen auf, sich an den nächsten<br />
Reichs tagswahlen zu beteiligen.<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
7
MAGAZIN<br />
1878 +++ Mit den Sozialistengesetzen wird die SAP verboten. Gleichzeitig ent -<br />
wickeln sich die Parteistrukturen in der Verbotszeit besonders intensiv, so in Bil -<br />
dungs-, Sport- und Naturvereinen. Auch die Zahl der Wähler steigt trotz Verbot.<br />
1883 +++ Reichskanzler Bismarck versucht mit seiner Sozialgesetzgebung die sozi -<br />
ale Frage zu entschärfen. Er schafft die Krankenversicherung, später die Unfall- und<br />
Rentenversicherung. Die Arbeiterbewegung wird dadurch jedoch nicht gebremst.<br />
1890 +++ Die Sozialistengesetze werden aufgehoben, das Verbot der SAP beendet.<br />
Die Partei gibt sich auf einem Parteitag in Halle einen neuen Namen: SPD. +++<br />
Mit 19,8 Prozent wird die SPD bei den Reichstagswahlen die wählerstärkste Par tei.<br />
Paul Singer bildet mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht in den Folge jahren das<br />
„Dreigestirn“ der SPD.<br />
1891 +++ Die SPD verabschiedet in Erfurt ihr neues Grundsatzprogramm. Darin<br />
wird erstmals das Wahlrecht für Frauen und die Gleichstellung von Männern und<br />
Frauen gefordert.<br />
1899 +++ Eduard Bernstein und Karl Kautsky beginnen einen Programmstreit<br />
über die Frage, ob die SPD ihre Ziele durch „Revolution“ oder „Reformen“ anstrebt.<br />
Dieser Theorie streit wird die SPD viele Jahre beschäftigen.<br />
1900 +++ Unter Clara Zetkin und Ottilie Baader findet die erste Konferenz der<br />
sozialdemokratischen Frauen in Mainz statt.<br />
1906 +++ Erstmals gibt es eine genaue Mitgliedszahl der SPD: 384.327. Der Partei -<br />
vor stand hat 16 Parteisekretäre angestellt. Der „Vorwärts“ hat 112.000 Abonnenten.<br />
+++ Im „Mannheimer Abkommen“ mit den Gewerkschaften entscheidet sich die<br />
SPD gegen politische Massenstreiks, allein die Gewerkschaften sollen über Streiks<br />
entscheiden. +++ Die Parteischule der SPD wird gegründet. In ihr werden Sozial -<br />
demokraten ein halbes Jahr auf Kosten der Partei geschult und auf das Regieren<br />
vorbereitet.<br />
1908 +++ In Preußen, Sachsen und anderen Teilen Deutschlands kommt es – wie<br />
auch in den Folgejahren – immer wieder zu von der SPD veranstalteten Massen de -<br />
mon s tra tionen gegen das geltende Wahlrecht.<br />
8 April 2013 | Heft 56
<strong>21</strong>,6 20,4<br />
18,3<br />
150 JAHRE SPD<br />
Wahlergebnisse der SPD in der<br />
Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland<br />
in Prozent<br />
37,9<br />
45,8<br />
42,7 42,6 42,9<br />
39,3<br />
38,2<br />
36,2<br />
37,0<br />
40,9<br />
38,5<br />
36,4<br />
34,2<br />
33,5<br />
<strong>21</strong>,7 20,5<br />
26,0<br />
29,8<br />
24,5<br />
29,2 31,8<br />
28,8<br />
<strong>21</strong>,9<br />
23,0<br />
1919 1920 1924<br />
I<br />
1924<br />
II<br />
1928 1930 1932<br />
I<br />
1932 1933<br />
II<br />
1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990<br />
(VK)<br />
1990 1994 1998 2002 2005 2009<br />
(BT)<br />
1911 +++ Zum ersten Mal wird der sozialdemokratische „Frauentag“ – damals noch<br />
am 19. März – durchgeführt. Sein Motto: Volles Bürgerrecht für die Frau. +++ Zum<br />
ersten Mal gibt es eine sozialdemokratische Mehrheit in einem deutschen Landtag,<br />
dem von Schwarzburg-Rudolstadt. Die SPD bekommt neun von 17 Sitzen.<br />
1912 +++ Bei den Wahlen wird die SPD erstmals stärkste Fraktion im Reichstag.<br />
Die SPD hat erstmals über eine Million Mitglieder.<br />
1913 +++ Nach dem Tode August Bebels werden Friedrich Ebert und Hugo Haase<br />
Parteivorsitzende. +++ Die SPD hat 983.000 Mitglieder, darunter 141.000 Frauen.<br />
Es erscheinen 90 Partei zeitungen täglich, deren Gesamtauflage 1,5 Millionen<br />
beträgt. Der „Vorwärts“ hat 157.000 Abonennten, „Der Wahre Jacob“ 371.000.<br />
1914 +++ Die SPD-Reichstagsfraktion stimmt für die Kriegskredite für den ersten<br />
Weltkrieg und begründet dies mit der „Verteidigung des Landes“. Die innerpartei -<br />
liche Auseinandersetzung darüber führt letztlich zur Gründung der USPD 1917.<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
9
MAGAZIN<br />
1918 +++ Der erste Weltkrieg ist zu Ende, der Kaiser wird gestürzt. Der Sozialde mo -<br />
krat Philip Scheidemann ruft am 9. November die Republik aus. +++ Die (Mehr heits-)<br />
SPD bildet mit der USPD einen „Rat der Volksbeauftragten“ als Übergangsregierung.<br />
1919 +++ Die SPD führt das Frauenwahlrecht und den 8-Stunden-Tag ein. +++<br />
Die SPD gewinnt die ersten Reichstagswahlen der Weimarer Republik. Mit Friedrich<br />
Ebert wird ein Sozialdemokrat erster Präsident. Er stirbt 1925 im Amt. +++ In einer<br />
Koa lition aus SPD, Zentrum und Liberalen wird die neue Weimarer Reichs verfas -<br />
sung verabschiedet. +++ Otto Wels wird Vorsitzender der SPD und bleibt bis zum<br />
Verbot der SPD 1933 im Amt. +++ Mit Marie Juchacz redet zum ersten Mal eine<br />
Frau in einem deutschen Parlament. Im gleichen Jahr gründet sie die Arbeiter wohl -<br />
fahrt, der sie bis 1933 vorsitzt.<br />
1920 +++ Die SPD stellt bis 1932 mit Otto Braun den Ministerpräsidenten in Preu -<br />
ßen, dem größten deutschen Teilstaat. Er entwickelt sich zum „Bollwerk der Demo -<br />
kra tie“ in der Weimarer Republik. +++ Der Kapp-Putsch gegen die Republik wird<br />
von SPD, USPD und Gewerkschaften niedergeschlagen. +++ Die SPD hat 1,2 Mil lio -<br />
nen Mit glie der, davon über 200.000 Frauen. Sie unterhält 91 Parteizeitungen mit<br />
zusammen über 1,2 Millionen Abonnenten.<br />
19<strong>21</strong> +++ Die SPD verabschiedet ihr viertes Grundsatzprogramm in Görlitz. Darin<br />
bekennt sie sich zur Republik und spricht erstmals auch gesellschaftliche Gruppen<br />
jenseits der Arbeiter an. Der 1. Mai und 9. November sollen Feiertage werden.<br />
1922 +++ Die Jugendverbände von SPD und USPD vereinigen sich zur „Sozialis -<br />
tischen Arbeiterjugend – Die Falken“. +++ Der größte Teil der USPD kehrt zur<br />
SPD zurück.<br />
1925 +++ Nach dem Tod Friedrich Eberts wird die Friedrich-Ebert-Stiftung gegründet.<br />
+++ Die SPD beschließt ihr neues Grundsatzprogramm in Heidelberg. Darin<br />
bekennt sie sich zu den „Vereinigten Staaten von Europa“.<br />
1927 +++ Das erste Agrarprogramm der SPD wird veröffentlicht. Es beinhaltet u. a.<br />
eine Bodenreform, ein Kleingartengesetz, den Ausbau des ländlichen Volkschul we -<br />
sens und Bildung für Agrararbeiter sowie Unterstützung bei der Verbreitung von<br />
moderner Technik.<br />
10 April 2013 | Heft 56
150 JAHRE SPD<br />
Die Vorsitzenden der Deutschen Sozialdemokratie<br />
SPD<br />
1890-1911 Paul Singer<br />
1890-1892 Alwin Gerisch<br />
1892-1913 August Bebel<br />
1911-1916 Hugo Haase<br />
1913-1919 Friedrich Ebert<br />
1917-1919 Philipp Scheidemann<br />
1919-1939 Otto Wels<br />
1919-1928 Hermann Müller<br />
1922-1933 Arthur Crispien<br />
1931-1945 Hans Vogel<br />
1945-1952 Kurt Schumacher<br />
1952-1963 Erich Ollenhauer<br />
1964-1987 Willy Brandt<br />
1987-1991 Hans-Jochen Vogel<br />
1991-1993 Björn Engholm<br />
1993-1995 Rudolf Scharping<br />
1995-1999 Oskar Lafontaine<br />
1999-2004 Gerhard Schröder<br />
2004-2005 Franz Müntefering<br />
2005-2006 Matthias Platzeck<br />
2006-2008 Kurt Beck<br />
2008-2009 Franz Müntefering<br />
seit 2009 Sigmar Gabriel<br />
SPD in der sowjetischen<br />
Besatzungszone<br />
1945-1946 Otto Grotewohl<br />
SDP/SPD in der DDR<br />
1989-90 Stephan Hilsberg<br />
1990 Ibrahim Böhme<br />
1990 Markus Meckel<br />
1990 Wolfgang Thierse<br />
Ehrenvorsitzender<br />
1987-1992 Willy Brandt<br />
1928 +++ Die SPD gewinnt die Reichstagswahlen und bildet eine breite Koalitions -<br />
re gie rung unter Reichskanzler Hermann Müller. Die Regierung scheitert 1930 an der<br />
Bewältigung der Weltwirtschaftskrise.<br />
1931 +++ Die „Eiserne Front“ aus SPD, Gewerkschaften, Reichsbanner Schwarz-<br />
Rot-Gold und Arbeitersportverbänden wird gegründet – ihr Ziel ist die Abwehr<br />
der Fa schisten. Die SPD hat 1,0 Millionen Mitglieder. Die Gewerkschaften haben<br />
4,1 Mil lio nen, davon sind 43 Prozent arbeitslos, 22 Prozent arbeiten kurz.<br />
1932 +++ Um Hitler zu schlagen unterstützt die SPD Paul von Hindenburg bei<br />
seiner Wiederwahl zum Reichspräsidenten. +++ In Ländern, in denen die NSDAP<br />
die Mehrheit hat, werden sozialdemokratische Zei tungen, wie der Vorwärts<br />
ver boten. +++ Die preußische Regierung unter Otto Braun wird per Notverordnung<br />
abgesetzt („Preußenschlag“). Braun versucht dies – erfolglos – auf gerichtlichem<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
11
MAGAZIN<br />
Weg zu verhindern. Aus Furcht vor einem Bürgerkrieg verzichtet die SPD auf den<br />
Auf ruf zu einem Generalstreik.<br />
1933 +++ Im Januar wird Hitler mit Unterstützung bürgerlicher Parteien Reichs -<br />
kanzler. +++ In der letzten freien Rede im Reichstag begründet SPD-Chef Otto Wels<br />
am 23. März die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes durch die SPD. Das Gesetz<br />
wird nur von den 94 SPD-Abgeordneten abgelehnt. 26 SPD-Abgeordnete sind zu diesem<br />
Zeitpunkt bereits verhaftet oder auf der Flucht. +++ Im Juni wird die SPD<br />
durch die Nazis verboten, worauf es zur Auflösung der Partei kommt. Im Juli werden<br />
sämtliche Parlamentsmandate im Reichstag, in den Ländern und Kommunen<br />
aufgehoben. Viele Sozialdemokraten werden in „Schutzhaft“ ge nom men oder in<br />
Konzen trationslager verschleppt. +++ Die Exilorganisation der SPD, die SOPADE,<br />
wird in Prag gegründet. Später verlagert sie ihren Sitz nach Paris und London.<br />
1934 +++ Die Exil-SPD (SOPADE) ruft im „Prager Manifest“ zum Sturz Hitlers auf.<br />
1944 +++ Einige Sozialdemokraten, wie Wilhelm Leuschner und Julius Leber,<br />
sind an den Vorbereitungen zum Putsch gegen Hitler am 20. Juli beteiligt und<br />
gehören dem Kreisauer Kreis an.<br />
1945 +++ In Hannover erfolgt unter Kurt Schumacher die Wiedergründung der SPD<br />
für die Westzonen. +++ In der Ostzone beginnt der Wiederaufbau der SPD mit dem<br />
„Zentralausschuss“ unter Otto Grotewohl.<br />
1946 +++ In der amerikanischen Besatzungszone wird die Verschmelzung von SPD<br />
und KPD abgelehnt. +++ In der Sowjetischen Besatzungszone hat die SPD 600.000<br />
Mitglieder und wird zur Zwangs vereinigung mit der KPD zur SED gedrängt. In Ost-<br />
Berlin existiert die SPD noch bis 1961. +++ Nach den ersten Landtagswahlen beteiligt<br />
sich die SPD an allen neuen Landes re gie rungen. Ihre Regierungschefs werden zu<br />
prägenden Figuren des Wiederaufbaus: so zum Beispiel Ernst Reuter (Berlin), Georg<br />
August Zinn (Hessen), Max Brauer (Hamburg), Wilhelm Kaisen (Bremen), Wilhelm<br />
Hoegner (Bayern). +++ Die SPD hat 630.000 Mitglieder in 7.500 Orts ver einen.<br />
1949 +++ Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland entsteht unter<br />
großem Einfluss der SPD. +++ Bei den ersten Bundestagswahlen unterliegt die SPD<br />
der CDU nur knapp und geht daraufhin in die Opposition. +++ Der Parteivorstand<br />
12 April 2013 | Heft 56
150 JAHRE SPD<br />
erlässt neue Richtlinien für die Arbeit der Jungsozialisten – ihre Altersgrenze wird<br />
bei 30 Jahren festgelegt. +++ Die SPD lehnt die von Bundeskanzler Adenauer vorgeschlagene<br />
Wiederbewaffnung Deutschlands kategorisch ab.<br />
1951 +++ Der SPD-Parteivorstand verlegt seinen Sitz von Hannover nach Bonn.<br />
1952 +++ Nach dem Tod von Kurt Schumacher wird Erich Ollenhauer Vorsitzender<br />
der SPD.<br />
1953 +++ Nach der Niederlage bei der 2. Bundestagswahl beginnt mit Carlo<br />
Schmids „Erklärung zur Lage der Sozialdemokratie“ eine Debatte um die Zukunft<br />
der SPD als Volkspartei, die über die Arbeiterschaft hinaus attraktiv werden und<br />
sich von einer Weltanschauungspartei wegbewegen will.<br />
1956 +++ Die SPD widersetzt sich der Einführung der Wehrpflicht, da diese die<br />
deutsche Spaltung vertiefe.<br />
1957 +++ Die SPD unterstützt die Römischen Verträge zur Schaffung einer Euro -<br />
päischen Wirtschaftsgemeinschaft.<br />
1959 +++ Die SPD verabschiedet das „Godesberger Programm“ und entwickelt sich<br />
damit zur Volkspartei. Sie akzeptiert die Westbindung und die soziale Markt wirt -<br />
schaft und wird so für breitere Wählerschichten wählbar.<br />
1961 +++ „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden“ – mit diesem<br />
visionären Satz führt der SPD-Kanzlerkandidat Willy Brandt ein neues Thema<br />
in die Bundespolitik ein: den Umweltschutz. +++ Nach dem Mauerbau schließt in<br />
Ost-Berlin das letzte verbliebene Büro der SPD. +++ Die CDU verliert bei der<br />
Bundes tagswahl zwar ihre absolute Mehrheit, der SPD gelingt jedoch trotz großer<br />
Stim men gewinne auch beim vierten Anlauf der Machtwechsel nicht.<br />
1962 +++ In Folge der Spiegel-Affäre kommt es erstmals zwischen CDU und SPD zu<br />
Gesprächen über die Bildung einer Großen Koalition, die aber nicht zum Erfolg führen.<br />
1963 +++ Egon Bahr hält seine „Tutzinger Rede“, in der er erstmals die Konturen<br />
einer neuen Ostpolitik nach dem Prinzip „Wandel durch Annäherung“ umreißt.<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
13
MAGAZIN<br />
Staatsoberhäupter und Regierungschefs der SPD in Deutschland<br />
1919-1925 Reichspräsident Friedrich Ebert<br />
1969-1974 Bundespräsident Gustav Heinemann<br />
1999-2004 Bundespräsident Johannes Rau<br />
1918-1919 Reichskanzler Friedrich Ebert<br />
1919 Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann<br />
1919-1929 Reichskanzler Gustav Bauer<br />
1920 und<br />
1928-1930 Reichskanzler Hermann Müller<br />
1969-1974 Bundeskanzler Willy Brandt<br />
1974-1982 Bundeskanzler Helmut Schmidt<br />
1998-2005 Bundeskanzler Gerhard Schröder<br />
Dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, gelingt der Abschluss<br />
eines ersten Passierscheinabkommens mit der DDR-Regierung. Damit sind erstmals<br />
seit dem Mauerbau für West-Berliner Familienbesuche in Ost-Berlin möglich.<br />
1964 +++ Nach dem Tod von Erich Ollenhauer wird Willy Brandt Partei vorsit zen -<br />
der, er trat bereits 1961 für die SPD als Kanzlerkandidat an.<br />
1966 +++ Die SPD bildet mit der CDU eine Große Koalition unter Bundeskanzler<br />
Kurt-Georg Kiesinger. Sie ist damit erstmals nach dem Krieg an einer Bundes re gie -<br />
rung beteiligt. Willy Brandt wird Außenminister und Vizekanzler. Der Gro ßen Koa -<br />
lition gelingt es, die erste Wirtschaftskrise der Bundesrepublik schnell zu lösen.<br />
1969 +++ Mit Gustav Heinemann wird erstmals ein Sozialdemokrat Bundesprä -<br />
sident. Er bleibt bis 1974 im Amt. +++ Erstmals seit 1928 ist ein Sozialdemokrat<br />
wieder deutscher Regierungschef: Willy Brandt wird Bundeskanzler einer sozialliberalen<br />
Koalition, deren Motto „Mehr Demokratie wagen“ ist.<br />
1970 +++ Der Bundestag beschließt, das Wahlalter von <strong>21</strong> auf 18 Jahre zu senken.<br />
+++ Der „Warschauer Vertrag“ wird unterzeichnet, er sieht die Oder-Neiße-Linie als<br />
Westgrenze Polens vor. Vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos kniet Bundes -<br />
kanzler Willy Brandt für eine Gedenkminute nieder.<br />
14 April 2013 | Heft 56
150 JAHRE SPD<br />
1971 +++ Willy Brandt wird mit dem Friedensnobelpreis für seine Ostpolitik ausgezeichnet.<br />
Sie trägt maßgeblich zum Ende des Kalten Krieges bei.<br />
1972 +++ Nach der Neuwahl des Bundestages ist die SPD erstmals stärkste Kraft<br />
und fährt mit knapp 46 Prozent den größten Wahlsieg ihrer Geschichte ein. Die neu<br />
gebildete Koalition mit der FDP setzt ihr Reformprogramm im Bereich der Familien-,<br />
Bildungs- und Rechtspolitik fort. +++ Die Sozialdemokratin Annemarie Renger ist<br />
die erste Frau weltweit, die Präsidentin eines Parlaments wird.<br />
1974 +++ Nach dem Rücktritt Willy Brandts wird Helmut Schmidt Bundeskanzler.<br />
Er setzt die gesellschaftliche Liberalisierung fort.<br />
1976 +++ Die SPD hat erstmals nach dem Krieg über eine Million Mitglieder. Allein<br />
1976 wurden 68.000 neue Mitglieder aufgenommen, zwei Drittel von ihnen sind unter<br />
35 Jahre alt.<br />
1977 +++ In Deutschland finden erste Großkundgebungen gegen Kernkraftwerke,<br />
u. a. in Brokdorf und Grohnde, statt. +++ Die Attentate der RAF finden im „deutschen<br />
Herbst“ ihren Höhepunkt. Bundes kanzler Helmut Schmidt legt Wert auf eine<br />
rechtsstaatliche Bekämpfung der RAF.<br />
1980 +++ Die SPD gewinnt zum vierten Mal in Folge die Bundestagswahl, Helmut<br />
Schmidt bleibt Bundeskanzler.<br />
1982 +++ Helmut Schmidt wird nach dem Koalitionswechsel der FDP durch ein<br />
Miss trauensvotum als Bundeskanzler gestürzt. Damit endet die 16-jährige Regie -<br />
rungs zeit der SPD.<br />
1986 +++ Nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl beschließt die SPD den Aus -<br />
stieg aus der Atomkraft.<br />
1987 +++ Nach über 23 Jahren legt Willy Brandt den Parteivorsitz nieder. Er wird<br />
Ehrenvorsitzender der SPD. Hans-Jochen Vogel wird SPD-Vorsitzender.<br />
1989 +++ 30 mutige Frauen und Männer gründen am 7. Oktober die Sozialdemo -<br />
kratische Partei in der DDR (SDP) in Schwante bei Berlin. Damit wird der Macht an -<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
15
MAGAZIN<br />
spruch der SED offen in Frage gestellt. +++ Am 9. November fällt die Mauer. Einen<br />
Tag später sagt Willy Brandt den berühmten Satz: „Jetzt wächst zusammen, was<br />
zusammengehört.“ +++ In Berlin beschließt die (West-)SPD ihr neues Grundsatz -<br />
pro gramm. Mit ihm will sie ökologische Modernisierung mit wirtschaftlichem<br />
Wachstum verbinden.<br />
1990 +++ Auf einem Parteitag in Leipzig benennt sich die SDP in SPD um. +++<br />
Nach den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR tritt die SPD in die Regie -<br />
rung de Maiziere ein. +++ Am 27. September findet der Vereinigungsparteitag von<br />
(Ost-) und (West-)SPD statt. Die ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen verliert<br />
die SPD deutlich. +++ Bei den ersten Landtagswahlen in Ostdeutschland gewinnt<br />
die SPD nur in Brandenburg. Manfred Stolpe wird dort Ministerpräsident.<br />
1991 +++ Nach dem Rücktritt von Hans-Jochen Vogel wird Björn Engholm neuer<br />
Parteivorsitzender.<br />
1993 +++ Zum ersten Mal findet ein Mitgliederentscheid über den neuen SPD-<br />
Vor sitzenden statt, den Rudolf Scharping gewinnt. +++ Mit der Sozialdemokratin<br />
Heide Simonis wird in Schleswig-Holstein erstmals eine Frau Ministerpräsidentin<br />
eines Bundeslandes.<br />
1995 +++ Auf dem Mannheimer Parteitag wird Oskar Lafontaine in einer Kampf -<br />
abstimmung zum neuen SPD-Vorsitzenden gewählt.<br />
1998 +++ Die SPD gewinnt die Bundestagswahl und stellt nach 16 Jahren mit Gerhard<br />
Schröder wieder den Bundeskanzler in einer rot-grünen Koalition. Sie verfolgt eine Po -<br />
li tik der gesellschaftlichen Modernisierung und setzt den Atomausstieg durch.<br />
1999 +++ Nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine wird Gerhard Schröder Partei -<br />
vor sitzender. +++ Die rot-grüne Bundesregierung entscheidet, dass erstmals nach<br />
dem Krieg die Bundeswehr an Kampfeinsätzen im Ausland – im Kosovo – beteiligt<br />
wird. +++ Mit Johannes Rau wird der zweite Sozialdemokrat Bundespräsident. Er<br />
ist bis 2004 im Amt.<br />
2003 +++ Nach seiner Wiederwahl stellt Gerhard Schröder die „Agenda 2010“ vor.<br />
Mit dem wirtschafts- und sozialpolitischen Reformprogramm wird die Basis für die<br />
16 April 2013 | Heft 56
150 JAHRE SPD<br />
Halbierung der Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Erfolg in Deutschland gelegt.<br />
Im Streit um die „Agenda 2010“ verliert die SPD viele Mitglieder.<br />
2004 +++ Gerhard Schröder gibt den Parteivorsitz an Franz Müntefering ab.<br />
Münte fering wird das Amt 2008 ein zweites Mal übernehmen.<br />
2005 +++ Nach der Bundestagswahl tritt die SPD in eine Große Koalition unter<br />
Angela Merkel ein. Franz Müntefering wird Vizekanzler, Matthias Platzeck SPD-<br />
Vor sitzender. Die Große Koalition führt das Elterngeld ein, beschließt den Ausbau<br />
der Kleinkinderbetreuung und die Rente mit 67.<br />
2006 +++ Nachdem Matthias Platzeck aus gesundheitlichen Gründen zurückge -<br />
treten ist, wird Kurt Beck neuer SPD-Vorsitzender.<br />
2007 +++ In Hamburg beschließt die SPD ihr achtes Grundsatzprogramm, in<br />
dessen Kern das Prinzip des „vorsorgenden Sozialstaates“ steht.<br />
2009 +++ Die SPD verliert die Bundestagswahl und geht nach elf Jahren wieder<br />
in die Opposition. Sigmar Gabriel wird neuer Parteivorsitzender.<br />
2011 +++ Mit einer umfassenden Parteireform werden die Strukturen der SPD<br />
gestrafft und Beteiligungsrechte ausgebaut.<br />
2013 +++ Mit der gewonnenen Niedersachsen-Wahl erobert die SPD erstmals seit<br />
1999 wieder die Mehrheit im Bundesrat. Sie stellt neun Ministerpräsidentinnen<br />
und -präsidenten.|<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
17
MAGAZIN<br />
18 April 2013 | Heft 56
HEINRICH AUGUST WINKLER | DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK<br />
Die Ehre der<br />
deutschen Republik<br />
Vor achtzig Jahren hielten allein die<br />
Sozial demokraten gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz<br />
stand — Von Heinrich August Winkler<br />
Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“: Kein Satz aus der<br />
Rede, mit der Otto Wels am 23. März 1933 das Nein der Sozial demo kraten zu<br />
dem sogenannten Ermächtigungsgesetz begründete, hat sich der Nachwelt<br />
so eingeprägt wie dieser. Was Wels der deutschen Sozialdemo kratie zur Ehre anrechnete,<br />
waren vor allem die Leistungen, die die SPD in der Weimarer Republik<br />
erbracht hatte. Der Parteivorsitzende nannte „unsere Leistungen für den Wieder -<br />
auf bau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der besetzten Gebiete“; er verwies<br />
darauf, dass die Sozialdemokraten an einem Deutschland mitgewirkt hätten,<br />
„in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiter -<br />
klasse der Weg zur Führung des Staates offensteht“. Die Weimarer Verfassung<br />
sei keine sozialistische Verfassung, wohl aber eine Verfassung, die auf den Grund -<br />
sätzen des Rechtsstaates, der Gleichbe rech tigung und des sozialen Rechts beruhe –<br />
Grund sätzen, die einen unabdingbaren Teil des politischen Glaubensbekenntnisses<br />
der Sozialdemokraten ausmachten.<br />
Demokratie braucht Arbeiterschaft und Bürgertum<br />
Wels’ Rückblick auf die erste deutsche Republik war eine Antwort auf das Zerr bild,<br />
das Hitler von Weimar zeichnete. „Vierzehn Jahre Marxismus haben Deutsch land<br />
ruiniert“ – so lautete die plakative Formel im Aufruf der Regierung Hitler an das<br />
deutsche Volk vom 1. Februar 1933. Natürlich war die Weimarer Republik nie eine<br />
marxistische gewesen, nicht einmal eine sozialdemokratische Republik. Aber ohne<br />
die Sozialdemo kraten um Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann hätte es die<br />
erste deutsche Demokratie nicht gegeben.<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
19
MAGAZIN<br />
An ihrem Anfang stand der Entschluss der SPD, die Zusammenarbeit mit den<br />
Parteien der bürgerlichen Mitte fortzusetzen, zu der sich die Mehrheits sozial de -<br />
mokraten während des Ersten Weltkriegs durchgerungen hatten. Es bedurfte<br />
dazu der Abkehr von jenem entschiedenen Nein zu Koalitionen mit bürgerlichen<br />
Par teien, auf das sich die SPD und unter ihrer Führung die Parteien der Zweiten<br />
Internationale im Jahr 1900 festgelegt hatten. Die Unabhängigen Sozialdemo -<br />
kraten, die sich 1916/17 auf Grund ihrer Gegnerschaft zur Bewilligung von Kriegs -<br />
krediten von der Mutterpartei abgespalten hatten, beharrten hingegen auf der<br />
Vorkriegsposition. Auf paradoxe Weise war die Spaltung der Sozialdemokraten<br />
also beides: eine Vorbelastung und eine Vorbedingung der ersten deutschen Demo -<br />
kratie. Eine Vorbelastung, weil Gegensätze innerhalb der Arbeiterbewegung ihren<br />
Gegnern höchst gelegen kamen, eine Vorbedingung, weil eine parlamentarische<br />
Demokratie ohne die Zusammenarbeit der gemäßigten Kräfte in Arbeiterschaft<br />
und Bürgertum nicht möglich war.<br />
Selbstmord aus Furcht vor dem Tod?<br />
Nach dem Untergang Weimars hielten sich viele führende Sozialdemokraten wirk -<br />
liche oder vermeintliche Versäumnisse und Fehlentscheidungen der ersten Stunde<br />
vor. Die SPD hätte in der revolutionären Übergangszeit zwischen der Ausrufung<br />
der Republik am 9. November 1918 und der Wahl der verfassunggebenden National -<br />
versammlung am 19. Januar 1919 weniger bewahren müssen und mehr verändern<br />
können, und das vor allem im Hinblick auf die Unterordnung des Militärs unter die<br />
zivile Staatsgewalt und die Ablösung antirepublikanischer Beamter namentlich in<br />
Ostelbien. An der Richtigkeit der Grundsatzentscheidung für die rasche Wahl einer<br />
Konstituante und für die Zusammenarbeit mit den Parteien der bürgerlichen Mitte<br />
aber gab es auch im Rückblick nichts zu deuteln. Ohne diese Selbstfestlegungen<br />
wäre nichts von dem zustande gekommen, was Otto Wels am 23. März 1933 zu den<br />
historischen Leistungen der Weimarer Republik rechnete.<br />
Von den 14 Jahren der ersten deutschen Republik entfielen elf auf die Zeit der<br />
parlamentarischen Demokratie. Sie endete am 27. März 1930 mit der Auflösung der<br />
letzten parlamentarischen Mehrheitsregierung unter dem sozialdemokratischen<br />
Reichskanzler Hermann Müller, eines Kabinetts der Großen Koalition, die von der<br />
SPD bis hin zur unternehmernahen Deutschen Volkspartei, der Partei des 1929<br />
verstorbenen Gustav Stresemann, reichte. Die SPD hätte durch mehr Kompro miss -<br />
bereitschaft bei der Sanierung der Arbeitslosenversicherung das Scheitern der<br />
20 April 2013 | Heft 56
HEINRICH AUGUST WINKLER | DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK<br />
Regierung Müller verhindern können. Dass die Mehrheit der Reichstagsfraktion<br />
sich anders entschied, trug ihr heftigen Widerspruch seitens der unterlegenen<br />
Min derheit ein. Rudolf Hilferding, der zweimalige Reichsfinanzminister und theoretische<br />
Kopf der Partei, kam damals schon zu dem Schluss, die Sozialdemokraten<br />
hätten gut daran getan, sich nochmals mit den bürgerlichen Parteien zu verstän -<br />
digen, statt „aus Furcht vor dem Tode Selbstmord zu verüben“.<br />
Auf die parlamentarische Demokratie folgte die Zeit der Präsidialkabinette, des<br />
Regierens mit Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Artikel 48 Absatz 2<br />
der Weimarer Verfassung. Nach dem Aufstieg der Nationalsozialisten zur zweitstärksten<br />
Partei in der Reichstagswahl vom 14. September 1930 beschlossen die<br />
Sozial demokraten, das Minderheitskabinett des Reichskanzlers Heinrich Brüning<br />
aus der katholischen Zentrumspartei zu tolerieren. Dass sie diesen Kurs bis zur<br />
Entlassung Brünings Ende Mai 1932 durchhielten, gehört zu den damals und später<br />
leidenschaftlich umstrittenen Entscheidungen der Weimarer SPD.<br />
Für die unpopuläre Tolerierungspolitik gab es zunächst zwei Gründe: Die Sozial -<br />
demokraten wollten erstens eine weiter rechts stehende, von den Nationalso zia listen<br />
abhängige Reichsregierung verhindern. Zweitens ging es ihnen darum, in Preußen,<br />
dem größten deutschen Staat, an der Regierung zu bleiben. An der Spitze eines Kabi -<br />
netts der „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrum und Deutscher Demo kra tischer<br />
Partei, die sich seit 1930 Deutsche Staatspartei nannte, stand dort der Sozialdemokrat<br />
Otto Braun. Hätte die SPD Brüning gestürzt, wäre Braun vom Zen trum zu Fall gebracht<br />
worden. Mit der Regierungsmacht in Preußen hätten die Sozialdemokraten die Kon -<br />
trolle über die preußische Polizei verloren, das wichtigste staatliche Machtinstrument<br />
im Kampf gegen Umsturzbestrebungen von rechts und links außen.<br />
Mit dem Zentrum sollte Hitler verhindert werden<br />
Zu diesen beiden Gründen der Tolerierungspolitik trat im Lauf der Zeit noch ein<br />
dritter hinzu: Im Frühjahr 1932 sollte die Volkswahl des Reichspräsidenten stattfinden.<br />
Je stärker die Nationalsozialisten wurden, desto mehr wuchs die Gefahr, dass<br />
sie den Mann an der Spitze des Reiches stellen, also ins Machtzentrum vorstoßen<br />
könnten. Nur zusammen mit dem Zentrum und der übrigen bürgerlichen Mitte ließ<br />
sich verhindern, dass Weimar auf diese Weise zugrunde ging.<br />
Die Kommunisten bekannten sich zum revolutionären Bürgerkrieg und zur<br />
Errich tung von „Sowjetdeutschland“. Hätte die SPD auf eine linke Einheitsfront<br />
gesetzt, wäre dies das Ende jedweder Art von Machtbeteiligung gewesen. Die SPD<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
<strong>21</strong>
MAGAZIN<br />
hätte einen erheblichen Teil ihrer Wähler und Mitglieder verloren und noch mehr<br />
verschreckte bürgerliche Wähler in die Arme der Nationalsozialisten getrieben. Die<br />
Vorstellung, man könne auf diese Weise die Demokratie retten, war angesichts des<br />
unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen SPD und KPD reines Wunschdenken, ja<br />
nach Einschätzung der sozialdemokratischen Parteiführung um Otto Wels ein Aus -<br />
druck von politischem Abenteurertum.<br />
Die „tragische Situation“ der SPD<br />
Die Tolerierung der Regierung Brüning war eine Politik ohne verantwortbare Alter -<br />
native, aber auch nicht mehr als eine Politik des kleineren Übels. Ihre Kehrseite<br />
war die Radikalisierung der Massen, die entweder den Kommunisten oder, in sehr<br />
viel größerer Zahl, den Nationalsozialisten zuströmten. Hitler zog einen zusätzlichen<br />
Vorteil daraus, dass er seine Partei als Alternative sowohl zu der bolschewis -<br />
tischen als auch zu der reformistischen Spielart des „Marxismus“ und als einzige<br />
systemverändernde Massenpartei rechts von den Kommunisten präsentieren<br />
konnte. Er sprach einerseits das verbreitete Ressentiment gegenüber der Demo -<br />
kratie an, die aus der Sicht der Rechten mit dem Makel der Niederlage von 1918<br />
behaftet war und als Staatsform der Sieger des Westens, mithin als „undeutsch“,<br />
galt. Auf der anderen Seite appellierte er pseudodemokratisch an den seit Bis -<br />
marcks Zeiten verbrieften Teilhabeanspruch des Volkes in Gestalt des allgemeinen<br />
gleichen Wahlrechts, das seit dem Übergang zum Präsidialsystem viel von seiner<br />
Wirkung verloren hatte. Hitler wurde also nach 1930 zum Hauptnutznießer der<br />
ungleichzeitigen Demokra tisierung Deutschlands: der frühen Einführung eines<br />
demokratischen Reichstags-Wahlrechts und der späten Parlamentarisierung des<br />
Regierungssystems im Zeichen der Niederlage von 1918.<br />
Das Dilemma der Sozialdemokratie hat Rudolf Hilferding im Juli-Heft 1931<br />
der von ihm herausgegebenen theoretischen Zeitschrift Die Gesellschaft in einem<br />
denkwürdigen Verdikt zusammengefasst. Er sprach von einer „tragischen Situa -<br />
tion“ seiner Partei. Begründet sei diese Tragik in dem Zusammentreffen der schweren<br />
Wirtschaftskrise mit dem politischen Ausnahmezustand, den die Wahlen vom<br />
14. September 1930 geschaffen hätten. „Der Reichstag ist ein Parlament gegen den<br />
Parlamentarismus, seine Existenz eine Gefahr für die Demokratie, für die Arbei -<br />
terschaft, für die Außenpolitik . . . Die Demokratie zu behaupten gegen eine Mehr -<br />
heit, die die Demokratie verwirft, und das mit den politischen Mitteln einer demokratischen<br />
Verfassung, die das Funktionieren des Parlamentarismus voraussetzt,<br />
22 April 2013 | Heft 56
HEINRICH AUGUST WINKLER | DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK<br />
das ist fast die Quadratur des Kreises, die da der Sozialdemokratie als Aufgabe<br />
gestellt wird – eine wirklich noch nicht dagewesene Situation.“<br />
Noch nicht dagewesen war auch die Zumutung, mit der die SPD im Frühjahr 1932<br />
ihre Anhänger konfrontierte: die Parole „Schlagt Hitler! Darum wählt Hindenburg!“<br />
So weit war es inzwischen mit Weimar gekommen. Der einzige Kandidat, der einen<br />
Reichs präsidenten Hitler verhindern konnte, war der monarchistische Amts in ha -<br />
ber, der einstige kaiserliche Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Hätte<br />
dieser nicht, gestützt auf die Sozialdemokraten, das katholische Zentrum und die<br />
bürger lichen Wähler von der Mitte bis zur gemäßigten Rechten, im zweiten Wahl -<br />
gang am 10. April 1932 über Hitler obsiegt, wäre das „Dritte Reich“ noch am gleichen<br />
Abend angebrochen.<br />
Zum Wendepunkt der deutschen Staatskrise wurde der 30. Mai 1932: der Tag,<br />
an dem Hindenburg den wichtigsten Betreiber seiner Wiederwahl, Reichskanzler<br />
Heinrich Brüning, entließ, um zwei Tage später das „Kabinett der Barone“ unter<br />
dem ehemaligen rechten Flügelmann der preußischen Zentrumspartei Franz von<br />
Papen zu berufen. Mit dem vom Reichspräsidenten, von der Reichswehrführung<br />
und dem ostelbischen Rittergutsbesitz betriebenen Rechtsruck endete die sozial -<br />
demokratische Tolerierungspolitik und mit ihr die erste, die gemäßigte Phase des<br />
Präsi dialregimes. Die Kennzeichen der nun beginnenden zweiten Phase waren<br />
der offen zur Schau getragene autoritäre Antiparlamentarismus und das Bemühen<br />
um ein Arrangement mit den Nationalsozialisten.<br />
In Preußen wurde Otto Braun entmachtet<br />
Zu den Forderungen Hitlers, die die neue Regierung sogleich erfüllte, gehörten<br />
die Aufhebung des im April verhängten Verbots von SA und SS und die Auflösung<br />
des im September 1930 gewählten Reichstages. Der Neuwahltermin wurde auf<br />
den 31. Juli 1932 festgelegt. Elf Tage vor der Wahl, am 20. Juli 1932, ließ der<br />
Reichspräsident auf dem Weg einer Reichsexekution nach Artikel 48 Absatz 1 der<br />
Reichsverfassung die Weimarer Koalition in Preußen, das Kabinett Otto Braun,<br />
absetzen, das seit der Landtagswahl vom 24. April über keine parlamentarische<br />
Mehrheit mehr verfügte und nur noch geschäftsführend im Amt war. Nur das<br />
Reich sei noch in der Lage, die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Preußen<br />
wiederherzustellen: So lautete die offizielle Begründung des „Preußenschlags“.<br />
Der Aufruf der Sozialdemokraten, den Gewaltakt des 20. Juli 1932 am 31. Juli<br />
mit einer Stimme für die SPD zu beantworten, fand nicht das erhoffte Echo. Bei der<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
23
MAGAZIN<br />
Reichstagswahl stiegen die Nationalsozialisten mit einem Stimmenanteil von<br />
37,4 Pro zent zur stärksten Partei auf; die SPD kam auf <strong>21</strong>,6, die KPD auf 14,3 Pro -<br />
zent. Das Ergebnis bedeutete eine Mehrheit gegen die Demokratie – eine negative<br />
Mehrheit aus Nationalsozialisten und Kommunisten, der man rechts auch noch<br />
die Stimmen der monarchistischen Deutschnationalen hinzurechnen musste. Von<br />
einer Mehr heit im Reichstag aber waren die Rechtsparteien weit entfernt.<br />
Die Wahlniederlage der NSDAP<br />
Eine parlamentarische Krisenlösung wäre eine „braun-schwarze Koalition“ ge -<br />
wesen: ein auf die Einhaltung der Weimarer Verfassung festgelegtes Bündnis<br />
aus NSDAP, Zentrum und Bayerischer Volkspartei, wie die beiden katholischen<br />
Parteien es anstrebten. Es scheiterte daran, dass Hitler auf der Bildung eines<br />
Präsidial ka binetts mit den Vollmachten des Artikels 48 bestand. Einen mit diesen<br />
Befugnissen ausgestatteten Reichskanzler Hitler aber lehnte Hindenburg zu<br />
diesem Zeitpunkt noch kategorisch ab. Hingegen war er bereit, den Reichstag<br />
unter Berufung auf einen Verfassungs- oder Staatsnotstand abermals aufzulö sen,<br />
ohne gleichzeitig Neuwahlen innerhalb der verfassungsmäßigen Frist anzuordnen.<br />
Da die Regierung von Papen vor diesem Schritt aus Furcht vor einem Bür -<br />
gerkrieg zurückschreckte, kam es am 6. November zur zweiten Reichs tags wahl<br />
des Jahres 1932.<br />
Das Ergebnis dieser Wahl wirkte sensationell: Erstmals seit 1930 verloren die<br />
Nationalsozialisten an Stimmen. Gegenüber der Juli-Wahl büßte die NSDAP mehr<br />
als zwei Millionen Stimmen ein, während die Kommunisten fast 700.000 Stimmen<br />
hinzugewannen, was ihnen zur magischen Zahl von 100 Sitzen verhalf. Die SPD,<br />
so stellte Otto Wels vier Tage später im Parteiausschuss fest, habe im Verlauf des<br />
Jahres 1932 fünf Schlachten mit dem Ruf „Schlagt Hitler!“ geschlagen, „und nach<br />
der fünften war er geschlagen“. Die andere Seite des Wahlergebnisses kommentierte<br />
der Chemnitzer Bezirksvorsitzende Karl Böckel, ein Vertreter des linken Partei -<br />
flügels, in der gleichen Sitzung mit den Worten: „Wir sind im Endspurt mit den<br />
Kommunisten. Wir brauchen nur noch ein Dutzend Mandate zu verlieren, dann sind<br />
die Kommunisten stärker als wir.“ Die kommunistische Sicht brachte am 10. No vem -<br />
ber die Prawda zum Ausdruck. Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei der<br />
Sowjetunion sah Deutschland unterwegs „zum politischen Massenstreik und zum<br />
Generalstreik unter der Führung der Kommunistischen Partei, zum Kampf um die<br />
proletarische Diktatur“.<br />
24 April 2013 | Heft 56
HEINRICH AUGUST WINKLER | DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK<br />
Mit ihrer Revolutionspropaganda schürten die Kommunisten die Angst vor dem<br />
Bürgerkrieg, und diese Angst wurde zu einer wichtigen Verbündeten Hitlers. Sie<br />
trug entscheidend dazu bei, dass die Niederlage der NSDAP vom 6. November 1932<br />
um ihren politischen Sinn gebracht wurde und Hitler die Chance erhielt, sich als<br />
Retter vor der roten Revolution zu präsentieren. Im Januar 1933 gelang es Papen,<br />
der das Amt des Reichskanzlers inzwischen an den eher vorsichtig agierenden<br />
Reichswehrminister General Kurt von Schleicher hatte abgeben müssen, den Reichs -<br />
präsidenten von seinem bisherigen klaren Nein zu einer Kanzlerschaft Hitlers abzubringen.<br />
Papen sprach nicht nur für sich, sondern auch für den rechten Flügel der<br />
rheinisch-westfälischen Schwerindustrie. Im gleichen Sinn versuchten Vertreter<br />
des hochverschuldeten ostelbischen Rittergutbesitzes und der Reichslandbund auf<br />
das Staatsoberhaupt einzuwirken. Ein von einer konservativen Kabinettsmehrheit<br />
„eingerahmter“ Reichskanzler Hitler erschien dem Kreis um Hindenburg, der viel -<br />
zitierten „Kamarilla“, und schließlich dem Reichspräsidenten selbst als ungefährlichste,<br />
vielleicht sogar ideale Krisenlösung: Sie sollte den alten Eliten die Herr -<br />
schaft und zugleich, in Gestalt der Nationalsozialisten als Juniorpartner, die lange<br />
ersehnte Massenbasis verschaffen.<br />
Die Grundrechte wurden außer Kraft gesetzt<br />
Einen Zwang, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, gab es für Hindenburg nicht.<br />
Hindenburg hätte Reichskanzler von Schleicher auch nach dem zu erwartenden<br />
Misstrauensvotum einer negativen Reichstagsmehrheit geschäftsführend im Amt<br />
belassen oder einen möglichst wenig polarisierenden, „unpolitischen“ Nachfolger<br />
berufen können. Der mehrfach erwogene verfassungswidrige Aufschub einer Neu -<br />
wahl war keineswegs die einzige Alternative zur Ernennung Hitlers. Dieser war<br />
zwar immer noch der Führer der größten Partei, von einer parlamentarischen<br />
Mehr heit nach den Wahlen vom 6. November aber weiter entfernt als nach der<br />
Wahl vom 31. Juli 1932. Dass er trotzdem am 30. Januar 1933 von Hindenburg zum<br />
Reichskanzler ernannt wurde, verdankte er jenem Teil der Machtelite, der seit langem<br />
darauf aus war, mit der verhassten Republik von Weimar radikal zu brechen.<br />
Als am 5. März 1933 ein neuer Reichstag gewählt wurde, war Deutschland schon<br />
kein Rechtsstaat mehr. Die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat, am<br />
28. Februar, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, erlassen, hatte die wichtigsten<br />
Grundrechte „bis auf weiteres“ außer Kraft gesetzt. Die Wahlen erbrachten eine<br />
klare Mehrheit, nämlich 51,9 Prozent, für die Regierung Hitler: 43,9 Prozent für die<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
25
MAGAZIN<br />
NSDAP, acht Prozent für ihren Koalitionspartner, die „Kampffront Schwarz-Weiß-<br />
Rot“. Eine Zweidrittelmehrheit für das von Hitler erstrebte Ermächtigungsgesetz<br />
aber war damit noch längst nicht erreicht. Um diese sicherzustellen, brach die<br />
sogenannte „Nationale Regierung“ die Verfassung: Sie behandelte die Mandate<br />
der Kommunisten als nicht existent, wodurch sich die „gesetzliche Mitgliederzahl“<br />
des Reichstags von 566 um 81 Mandate verminderte. Sodann änderte der Reichstag<br />
am 23. März seine Geschäftsordnung: Abgeordnete, die der Reichstagspräsident,<br />
der Nationalsozialist Hermann Göring, wegen unentschuldigten Fehlens von den<br />
Sitzungen ausschließen konnte, galten dennoch als „anwesend“. Selbst wenn die<br />
Abgeordneten der SPD geschlossen der Sitzung ferngeblieben wären, hätten sie<br />
nach dieser verfassungswidrigen Manipulation die Verfassungsänderungen nicht<br />
verhindern können.<br />
Das Nein erforderte großen Mut<br />
Das Ermächtigungsgesetz gab der Reichsregierung pauschal das Recht, für die<br />
Dauer von vier Jahren Gesetze zu beschließen, die von der Reichsverfassung ab -<br />
wichen. Die einzigen „Schranken“ bestanden darin, dass die Gesetze die „Ein -<br />
richtung des Reichstags und des Reichsrats nicht als solche zum Gegenstand<br />
haben“ und nicht die Rechte des Reichspräsidenten berühren durften. Reichstag<br />
und Reichsrat waren von der Gesetzgebung fortan ausgeschlossen. Das galt ausdrücklich<br />
auch für Verträge mit fremden Staaten.<br />
Die Gründe, die das Zentrum veranlassten, dem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen,<br />
sind ein Thema für sich: Die Abgeordneten der zweitgrößten demokratischen<br />
Partei setzten auf die kirchenpolitischen Zusicherungen, die Hitler dem Partei vor -<br />
sitzenden, dem Prälaten Kaas, mündlich gemacht hatte, auf deren schriftliche Be -<br />
stätigung das Zentrum aber am 23. März, dem Tag der Abstimmung, vergeblich<br />
wartete. Die zu Splittergruppen gewordenen liberalen Parteien gingen ebenso wie<br />
die beiden katholischen Parteien, das Zentrum und die Bayerische Volkspartei, von<br />
der Annahme aus, dass eine „legale“ Diktatur ein kleineres Übel sei als die illegale<br />
Diktatur, die bei Ablehnung des Gesetzes drohte. Das Ja der bürgerlichen Parteien<br />
war das Ergebnis von Täuschung, Selbsttäuschung und Erpressung.<br />
Das Nein der SPD war von der Regierung einkalkuliert, erforderte aber ein hohes<br />
Maß an Mut. Vor der Kroll-Oper, dem provisorischen Tagungsort des Reichstags,<br />
mussten sich die Abgeordneten, die nicht zum Regierungslager gehörten, ihren<br />
Weg durch grölende Massen von Parteigängern der Nationalsozialisten bahnen,<br />
26 April 2013 | Heft 56
HEINRICH AUGUST WINKLER | DIE EHRE DER DEUTSCHEN REPUBLIK<br />
aus deren Reihen Rufe wie „Zentrumsschwein“ und „Marxistensau“ ertönten. Im<br />
Innern des Gebäudes wimmelte es von Angehörigen der SA und SS, die besonders<br />
dort an den Saalausgängen postiert waren, wo die Sozialdemokraten saßen. An der<br />
Sitzung nahmen 93 von insgesamt 120 Abgeordneten der SPD teil. Als vierundneunzigster<br />
kam vor der Abstimmung noch der kurz zuvor verhaftete, inzwischen aber<br />
wieder freigekommene Carl Severing, der langjährige preußische Innenminister,<br />
hinzu. Von den Abwesenden waren einige bereits inhaftiert, darunter der Lübecker<br />
Abgeordnete Julius Leber, der auf dem Weg in den Reichstag festgenommen worden<br />
war. Von den Politikern jüdischer Abstammung hatten sich einige, wie zum<br />
Beispiel Hilferding, im Einvernehmen mit der Fraktionsführung wegen Krankheit<br />
entschuldigt; andere waren bereits emigriert. Ein Abgeordneter, der ehemalige<br />
Reichsinnenminister Wilhelm Sollmann, war zwei Wochen zuvor von SA- und SS-<br />
Männern in seiner Kölner Wohnung überfallen und zusammengeschlagen worden<br />
und lag seitdem im Krankenhaus. Otto Wels, der an Bluthochdruck litt, hatte sieben<br />
Wochen zuvor gegen den Rat seiner Ärzte das Sanatorium verlassen.<br />
Die Nationalsozialisten hätten die verfassungsändernde Mehrheit für das Er -<br />
mächtigungsgesetz auch ohne ihre verfassungswidrigen Maßnahmen vor der Ab -<br />
stimmung erreicht. Mit 444 Ja-Stimmen gegenüber 94 Nein-Stimmen nahm das<br />
Gesetz die entsprechende Hürde bequem. Die Macht hätte die NSDAP freilich auch<br />
dann nicht wieder aus der Hand gegeben, wenn das Ermächtigungsgesetz an der<br />
Barriere der verfassungsändernden Mehrheit gescheitert wäre. Die Verabschie dung<br />
des Gesetzes erleichterte die Errichtung der Diktatur aber außerordentlich. Der<br />
Schein der Legalität förderte den Schein der Legitimität und sicherte dem Regime<br />
die Loyalität der Mehrheit, darunter, was besonders wichtig war, der Beamten.<br />
Weimar scheiterte an den bürgerlichen Parteien<br />
Hitlers Legalitätstaktik – sein Versprechen vom September 1930, die Macht nur<br />
auf legalem Weg zu übernehmen – war eine wesentliche Vorbedingung der Macht -<br />
über tragung vom 30. Januar 1933, hatte an diesem Tag ihren Zweck jedoch noch<br />
nicht zur Gänze erfüllt. Sie bewährte sich ein weiteres Mal am 23. März 1933, als sie<br />
zur faktischen Abschaffung der Weimarer Reichsverfassung herangezogen wurde.<br />
Hitler konnte fortan die Ausschaltung des Reichstags als Erfüllung eines Auftrags<br />
erscheinen lassen, der ihm vom Reichstag selbst erteilt worden war.<br />
Dem massiven Druck der Nationalsozialisten hielten allein die Sozialdemo kra -<br />
ten stand. Dass nicht ein einziger Abgeordneter aus den Reihen der katholischen<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
27
MAGAZIN<br />
und der liberalen Parteien mit ihnen gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte,<br />
machte nochmals deutlich, woran Weimar letztlich gescheitert war: Der Staats -<br />
gründungs partei von 1918 waren die bürgerlichen Partner abhanden gekommen.<br />
Was die Sozialdemokraten, auf sich allein gestellt, noch zu tun vermochten, taten<br />
sie. Durch ihr Nein zum Ermächtigungsgesetz retteten sie nicht nur ihre eigene<br />
Ehre, sondern auch die Ehre der ersten deutschen Republik. |<br />
PROF. DR. HEINRICH AUGUST WINKLER<br />
ist emeritierter Professor für Neueste Geschichte an der<br />
Humboldt-Universität Berlin.<br />
Dem Text liegt ein Vortrag zugrunde, der am 20. März 2013 vor der<br />
SPD-Bundestags fraktion gehalten wurde und am 23. März in der<br />
Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist.<br />
28 April 2013 | Heft 56
NORBERT FREI | DIE „VOLKSGEMEIN SCHAFT“ ALS TERROR <strong>UND</strong> TRAUM<br />
Die „Volksgemein schaft“<br />
als Terror und Traum<br />
Woher die durchaus vorhandene Zustimmung zum<br />
Nazi-Regime kam — Von Norbert Frei<br />
An das Faktum, dass die Nationalsozialisten nicht aus eigener Kraft an die<br />
Macht gelangten, wird in diesen Tagen vielfach erinnert. Und es ist ja rich tig:<br />
Es hätte vor 80 Jahren auch anders ausgehen können. Deshalb kann es auch<br />
heute nicht verkehrt sein, sich vor Augen zu führen, wie viel damals von der Entschei -<br />
dung eines Einzelnen abhing – nämlich vom Reichspräsidenten und vielleicht noch<br />
von einigen Wenigen, die auf ihn Einfluss hatten. Die Ernennung Hitlers war kein<br />
„Betriebs un fall“, wie nach 1945 oft entschuldigend gesagt worden ist, und dennoch<br />
war einiges an Zufall im Spiel. Das anzuerkennen scheint uns seit 1989/90 wieder<br />
leichter geworden zu sein: Seit wir in anderer Weise als zuvor offen sind für den Ge -<br />
dan ken, dass Menschen Geschichte machen, und dass diese nicht nur aus Strukturen<br />
erwächst. Hindenburgs Entscheidung vom 30. Januar 1933 war weder Zufall noch<br />
Zwangs läufigkeit. Sie war bedacht und sie war gewollt, und sie hatte eine benennbare<br />
Lo gik auf ihrer Seite. In ihr kam eine Koalition von Kräften und Inte ressen<br />
zum Tra gen, die trotz mancher Unterschiede ein gemeinsames Ziel verband: die<br />
Über win dung der parlamentarischen Demokratie.<br />
Hindenburgs Schwäche<br />
Aber Hindenburgs Entschluss war auch ein Zeichen der Schwäche. Er offenbarte<br />
den dramatischen Verlust an politischer Integrationsfähigkeit – vor allem an par -<br />
tei poli ti scher Bindekraft –, der auf Seiten der Alten Rechten in den letzten Jahren<br />
der Weimarer Republik eingetreten war. Und zugleich bestätigte er die im Zeichen<br />
der ökonomischen Krise so rasant gewachsene soziale Attraktivität der nationalso -<br />
zia lis tischen Bewegung. Dass Hitler in dem Moment Kanzler wurde, da es mit der<br />
NSDAP eigentlich abwärts und mit der Wirtschaft endlich wieder ein wenig aufwärts<br />
ging, bleibt bittere Ironie.<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
29
MAGAZIN<br />
Doch wir wissen ja auch, wie rasch es dem neuen Regime gelang, die gegnerischen<br />
politischen Strukturen zu zerschlagen oder „gleichzuschalten“, und wie letztlich<br />
gering der Widerstand war, auf den es dabei traf. Und wir wissen, wie schnell die<br />
Zu stimmung wuchs, die es nach der Phase des unverhüllten Terrors schon seit dem<br />
Sommer 1933 fand. Diese Zustimmung war ein Gemisch aus persönlichen Er war -<br />
tungen und allgemeinen Hoffnungen, aus Opportunismus und Angst, aus der Bereit -<br />
schaft, sich überzeugen zu lassen und zu glauben: nicht zuletzt an den Traum von<br />
der „Volks gemeinschaft“.<br />
Die Wahlergebnisse entsprachen der Stimmung<br />
Als Hitler die Deutschen im November 1933 zum zweiten Mal binnen acht Mo na ten<br />
an die Wahlurnen rief, entfielen auf die Einheitsliste der NSDAP 92,2 Prozent der<br />
Stim men. Noch höher, nämlich bei 95,1 Prozent, lag die gleichzeitig abgefragte Zu -<br />
stim mung zum Austritt aus dem Völkerbund. Solche Zahlen machten misstrauisch.<br />
Sie hätten, so konstatierte die linkssozialistische Widerstandsgruppe Neu Beginnen<br />
in einer internen Analyse, „auch kritische Beobachter des Auslandes dazu verleitet,<br />
dieses Ergebnis als gefälschtes oder auf unmittelbaren Zwang und Terror zurück -<br />
zuführendes anzusehen“.<br />
„Dem liegt aber“, so heißt es weiter, „eine irrtümliche Auffassung über den<br />
wirklichen Einbruch faschistischer Ideologien in alle Klassen der deutschen Gesell -<br />
schaft zugrunde. (...) Genaue Beobachtungen (...) zeigen, dass die Wahlergebnisse<br />
im großen und ganzen der wirklichen Stimmung entsprechen. Mögen auch in der<br />
Haupt sache in Landbezirken und kleineren Orten zahlreiche ,Korrekturen‘ vorgekommen<br />
sein. Das Gesamtergebnis zeigt einen ungemein raschen und starken<br />
Faschi sie rungs prozess der Gesellschaft an.“<br />
Aus der Rückschau wissen wir, dass die Stimmung der Deutschen vorderhand<br />
gleichwohl labil blieb: Trotz eben demonstrierter Einigkeit, trotz der Geschwin dig -<br />
keit, mit der sich das Gesicht des Landes verändert hatte, trotz der Radika li tät, mit<br />
der eine politisch freie, in Maßen pluralistische Gesellschaft in eine konsequent als<br />
solche adressierte Gemeinschaft von „Volksgenossinnen und Volks genossen“ um -<br />
codiert worden war. Kurz: trotz einer unbestreitbar effektiven Politik der Macht -<br />
mono po li sie rung und Machtsicherung.<br />
Im Spätwinter und Frühjahr 1934 zeigte sich allenthalben Unzufriedenheit – in der<br />
Wirtschaft, bei den Bauern, im Beamtenapparat und nicht zuletzt bei der Reichs wehr,<br />
wo man die Machtansprüche der SA-Führung unter Ernst Röhm mit höchstem Miss -<br />
30 April 2013 | Heft 56
NORBERT FREI | DIE „VOLKSGEMEIN SCHAFT“ ALS TERROR <strong>UND</strong> TRAUM<br />
trauen beäugte. Diese veritable Krise beendete erst Hitlers doppelter Coup vom<br />
30. Juni 1934: ein Blutbad gegen die konservativen Kritiker von rechts genauso wie<br />
gegen die Unzufriedenen in den eigenen Reihen, den Deut schen damals aber verkauft<br />
als die Vereitelung eines angeblichen Putschversuchs seines Duz-Freundes Röhm.<br />
Das erneute Plebiszit ein paar Wochen später, nach Hindenburgs Tod, bestätigte<br />
Hitler nicht nur in seiner nunmehr erreichten Omnipotenzstellung als Staats ober -<br />
haupt, Regierungschef, Oberster Parteiführer und Oberbefehlshaber. Es bekräftigte<br />
darüber hinaus ein Funktionsprinzip des „Führerstaats“: Parti zi pation per Akkla ma -<br />
tion – mit einer Zustimmungsrate von 89,9 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von<br />
95,7 Prozent. Die „Volksgemeinschaft“ als soziale Praxis, von der in der For schung<br />
neuerdings so gerne gesprochen wird – sie fand nicht zuletzt im Stimm lokal statt.<br />
Denn wie sagte doch der „Führer“ über den „Füh rer staat“: „Das ist die schönste Art<br />
der Demokratie, die es gibt.“<br />
Der Satz entstammt einer Rede vom April 1937, und man darf ihn als die frappierend<br />
ehrliche Auskunft eines Mörders lesen, der mit sich und seinen „Volks ge nos -<br />
sen“ im Reinen war; der wusste, dass die Hitler-Begeisterung der Deut schen seit<br />
dem Sommer 1934 in phantastische Höhen gewachsen war. „Das Volk ist heute in<br />
Deutschland glücklicher als irgendwo in der Welt“, erklärte Hitler vor 800 Kreis -<br />
leitern, die sich auf der „Ordensburg“ Vogelsang in der Eifel versammelt hatten.<br />
Ein Reich der Chancengleichheit?<br />
Ein Jahr zuvor, nur wenige Wochen nach der vertragswidrigen Besetzung des ent -<br />
militarisierten Rheinlands durch die Wehrmacht, hatte Hitler noch einmal eine<br />
„Reichs tagswahl“ veranstalten lassen – diesmal mit einer Zustimmungs quote von<br />
99 Prozent. Das Kalkül dahinter legte er nun offen: „Ich habe aber erst gehandelt.<br />
Erst gehandelt, und dann allerdings habe ich der anderen Welt nur zeigen wollen,<br />
dass das deutsche Volk hinter mir steht (...). Wäre ich der Überzeugung gewesen,<br />
dass das deutsche Volk vielleicht hier nicht ganz mitgehen könnte, hätte ich trotzdem<br />
gehandelt, aber ich hätte dann keine Abstimmung gemacht.“<br />
Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle lebhaften Beifall, und diesen als Höf -<br />
lichkeitsapplaus zu deuten, wäre ein Fehler. Denn was Hitler seinen Unter führern<br />
zwei Stunden lang auseinandersetzte, das leuchtete damals den meisten Deut -<br />
schen ein: „Man kann nur, glauben Sie, diese Krise der heutigen Zeit beheben<br />
durch einen wirklichen Führungs- und damit Führerstaat. Dabei ist es ganz klar,<br />
dass der Sinn einer solchen Führung darin liegt zu versuchen, auf allen Gebieten<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
31
MAGAZIN<br />
des Lebens durch eine natürliche Auslese, immer aus dem Volk heraus, die Men -<br />
schen zu gewinnen, die für so eine Führung geeignet sind. Und das ist auch die<br />
schönste und in meinen Augen germanischste Demokratie. Denn was kann es<br />
Schö neres für ein Volk geben als das Bewusstsein: Aus unseren Rei hen kann der<br />
Fä higste ohne Rücksicht auf Herkunft und Geburt oder irgendetwas anderes bis<br />
zur höchsten Stelle kommen. Er muss nur die Fähigkeit dazu haben. Wir bemühen<br />
uns, die fähigen Menschen zu suchen. Was sie gewesen sind, was ihre Eltern wa -<br />
ren, was ihre Mütterchen gewesen sind, das ist gänzlich gleichgültig. Wenn sie<br />
fähig sind, steht ihnen jeder Weg offen.“<br />
Kein Wort zwar über die Volkgemeinschaft – aber jede Menge Gründe dafür,<br />
in ihr ein Reich der Chancengleichheit zu erblicken! Die Sympathie, die Hitler und<br />
sein Re gime in diesen mittleren Jahren erfuhren, beruhte nicht zuletzt auf solchen<br />
Parolen. Belege für diese affektive Bindekraft sind naturgemäß nicht ganz leicht<br />
zu erschließen. Was dazu in den Lage- und Monatsberichten der Behörden zu finden<br />
ist – von den Gendarmerieposten über die Landratsämter bis in die Innen -<br />
ministerien – unterliegt noch stets dem Verdacht der Schönfärberei. Breit ange -<br />
legte Oral-History-Pro jekte, wie sie vor allem in den frühen achtziger Jahren von<br />
der Gruppe um Lutz Niethammer geführt worden sind, kamen dem Gefühls haus -<br />
halt der Zeitgenossen schon näher – ohne freilich das Problem lösen zu können,<br />
dass es erinnerte Emotio nen waren, die in den lebensgeschichtlichen Inter views<br />
an die Oberfläche kamen.<br />
Ein neues soziales Bewusstsein wird konstruiert<br />
Ich habe solche großen Befragungen nie gemacht, aber ich werde das Ge spräch<br />
nicht vergessen, das ich als Doktorand mit einem eher wehmütigen als auf Selbst -<br />
recht fer tigung erpichten Gau-Funktionär in Bayreuth führte. Plötzlich entfuhr<br />
es der Ehe frau, die dem Gespräch bis dahin still zugehört hatte: „Aber eines<br />
muss man sagen, beim Hitler wurden wir Bauersleut’ überhaupt zum ersten Mal<br />
estimiert.“<br />
Dass der Traum von der „Volksgemeinschaft“ von seiner ständigen gezielten<br />
Aktualisierung lebte, lag in der Natur des Mobilisierungsregimes. Unentwegt wurden<br />
symbolische Loyalitätsbekundungen eingefordert. Darin hatte das of fizielle<br />
„Heil Hitler“ seine Funktion, aber auch die Häufung öffentlicher Ver an staltungen,<br />
auf denen die Partei den „Volksgenossen“ Anerkennung zollte, sie aber auch stets<br />
aufs Neue zum Bekenntnis ihrer Zugehörigkeit zwang.<br />
32 April 2013 | Heft 56
NORBERT FREI | DIE „VOLKSGEMEIN SCHAFT“ ALS TERROR <strong>UND</strong> TRAUM<br />
Auf diese Weise wurde in den sogenannten Friedensjahren massenhaft soziales<br />
Bewusstsein verändert, wurden Klassen- und Standesdünkel vielleicht nicht beseitigt,<br />
aber delegitimiert und mentale Sperren aus dem Weg geräumt. Die so produzierte<br />
Regimeloyalität erzeugte ihrerseits eine Dynamik psychosozialer Kraftent -<br />
faltung, die sich als äußerst funktional im Sinne der NS-Ideologie erwies. Dass<br />
Leistung zählen sollte statt Herkommen und Rang, das machte die sozialen Inte -<br />
gra tionsangebote des Regimes für viele attraktiv und führte auch tatsächlich zu<br />
einer gewissen Egali sierung wenigstens von Aufstiegschancen. Ge ra de junge<br />
Arbeiter, die während der langen Wirtschaftskrise die Erfahrung bröckelnder<br />
Solidarität gemacht und darauf mit einer Abkehr von den gewerkschaftlichen<br />
Strukturen reagiert hatten, fühlten sich von den nationalsozialistischen Parolen<br />
angesprochen. Das umso mehr, als die schönen Worte nach Ein setzen der Hoch -<br />
konjunktur – dem offiziellen Lohnstopp zum Trotz – durch eine deutliche<br />
Leistungslohn-Politik untermauert wurden.<br />
„Wenn das der Führer wüsste“<br />
Auch und gerade die NSDAP, so ist neuerdings argumentiert worden, habe als<br />
„Inte grationsmaschine“ im Sinne der „Volksgemeinschaft“ funktioniert. Nun<br />
kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Hunderttausende, für die es Auf ga ben<br />
und Pöst chen gab in dem aufgeblähten Parteiapparat, ihre Pflichten nicht als<br />
Ausgren zung verstanden, sondern im Gegenteil als sinnhaftes Wirken im Dienste<br />
einer großen Sache. Doch aus den geheimen Stimmungsberichten wissen wir, dass<br />
dies unter den sogenannten einfachen Volksgenossen häufig anders gesehen<br />
wurde: Zumal während des Krieges begegnete man den Reprä sen tanten der Partei<br />
vielfach mit Dis tanz, ja mit Geringschätzung angesichts ihrer Privilegien und ihrer<br />
Neigung, sich als Verkörperung des „Füh rer willens“ aufzuspielen, und hinter vorgehaltener<br />
Hand gab es nicht selten harsche Kritik. In diesem Sinne war das durch<br />
Ian Kershaws Hitler-Biographie bekannt gewordene Tugendgebot eines zweitrangigen<br />
NS-Funk tionärs durchaus populär. Aller dings genau andersherum, als es<br />
Werner Willikens seinerzeit meinte: Viele Volksgenossen hielten es für ausgemacht,<br />
dass die Partei nicht dem Führer entgegen-, sondern gegen den Willen des<br />
„Führers“ arbeitete.<br />
Der Satz: „Wenn das der Führer wüsste“ war der gängige Ausdruck der Un zu -<br />
frie denheit und der Klage über Missstände, für die man die Schuld bei den Par tei -<br />
bon zen suchte. Vor diesem Hintergrund scheint mir die Funktion der Partei orga -<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
33
MAGAZIN<br />
nisa tion – wohlgemerkt nicht die Hitler-Jugend, deren sozialintegrative und mentalitätsprägende<br />
Bedeutung weitaus höher anzusetzen ist – doch zutreffender im<br />
Bild eines Puffers beschrieben als in dem einer „Integra tions maschine“.<br />
Überhaupt meine ich, wir sollten die Funktionalität der „Volksgemeinschaft“<br />
nicht überzeichnen. Denn eines ihrer Merkmale – und letztlich ihre Schwäche –<br />
war eine labile Grundstimmung, die zur fortwährenden Erzeugung sozialer Hoch -<br />
gefühle und zu deren ständiger Reaktualisierung zwang. Erinnert sei nur an<br />
die gekonnt inszenierten Olympischen Spiele von 1936, an das sozialpolitische<br />
Remmidemmi der soge nannten „guten Jahre“ vor dem Krieg – und nicht zuletzt<br />
an die Wohl stands verheißungen für die Zeit danach, wie sie die Deut sche Ar -<br />
beitsfront (DAF) seit 1940/41 ventilierte, etwa mit dem „Sozialwerk des Deut -<br />
schen Volkes“.<br />
Das alles waren Bemühungen um positive Integration – Götz Aly würde von<br />
„Be stechung“ sprechen –, und das alles war nicht ohne Effekt. Aber es war nicht<br />
alles. Wenn die „Volksgemeinschaft“ über weite Strecken klag- und fraglos funk -<br />
tionierte, dann auch wegen des verbreiteten Wissens über die repressiven Mög -<br />
lichkeiten des Regimes – und wegen deren zu Teilen hoher Akzeptanz, ja Po pu -<br />
larität.<br />
Woher kamen Gewalt und Aggressionen?<br />
Dass, wer nichts leistet, auch nichts essen, und im Zweifelsfall im Lager zur Ar beit<br />
erzogen werden soll: Darauf konnte sich die „Volksgemeinschaft“ schnell verstän -<br />
digen, und wie wir wissen, auf noch vieles mehr. Ins Bild der „Volks ge mein schaft“<br />
eingeschrieben war bekanntlich immer auch das Gegenbild der vielen, die nicht<br />
dazu gehören durften oder wollten: die weltanschaulichen Feinde, die „Volks schäd -<br />
linge“, die „rassisch“, so zial oder sexuell „Anders ar tigen“, die „erblich“ Be lasteten<br />
und die psychisch Kranken. In diesem Sinne bedeutete „Volksgemein schaft“ zu -<br />
gleich und per Definitionem auch Ausgren zungs gemeinschaft. Die Frage aber bleibt,<br />
inwieweit es erst der Gewaltakt der Ausgrenzung war, durch den sich „Volksge mein -<br />
schaft“ herstellte.<br />
Um es konkreter zu machen und auf das Kernverbrechen zu kommen: War die<br />
Gewalt gegen die Juden, an deren Bedeutung für die NS-Bewegung in der Weimarer<br />
Republik uns Michael Wildt so nachdrücklich erinnert hat, konstitutiv auch für die<br />
Herausbildung der „Volksgemeinschaft“ im Dritten Reich? Oder war, was sich an<br />
Aggressionen, an Hass und Gemeinheit gegen die Juden vom Mo ment der Macht -<br />
34 April 2013 | Heft 56
NORBERT FREI | DIE „VOLKSGEMEIN SCHAFT“ ALS TERROR <strong>UND</strong> TRAUM<br />
über nahme an Bahn brach und in der sogenannten „Boykott aktion“ vom 1. April 1933<br />
erstmals quasi-staatlichen Ausdruck fand, eher ein Störfaktor für die von Hitler propagierte<br />
„nationale Erhebung“?<br />
Wildt hat überdies das Moment der „Selbstermächtigung“ betont, das in der<br />
ge mein schaftlichen Ausübung antisemitischer Gewalt zum Ausdruck komme. Das<br />
ist, bezogen auf die Gewalttäter selbst, nicht von der Hand zu weisen. Aber als<br />
Erfah rung wichtiger und häufiger war doch wohl das Moment der Fremd er höhung:<br />
die den „Volksgenossen“ von ihrem „Führer“ immer wieder zuteil gewordenen<br />
Gesten der Wertschätzung, verbunden mit einer geradezu religiösen Rhetorik des<br />
Auser wähltseins.<br />
Der Weg in den Krieg<br />
Man wird die Frage nach dem „volksgemeinschaftlichen“ Stellenwert der Ge walt<br />
gegen die Juden am Ende nicht pauschal beantworten können, und für eine raumgreifende<br />
Erörterung der – übrigens lange vernachlässigten – Geschichte des Anti -<br />
se mi tismus im Dritten Reich ist hier nicht der Raum. Deshalb nur ein paar skizzenhafte<br />
Bemerkungen, wobei es mir am wichtigsten ist, dass wir das Thema nicht als<br />
ein sta tisches missverstehen, sondern prozesshaft und in seinem erfahrungsgeschichtlichen<br />
Kontext behandeln. An Quellen dafür ist weniger Mangel, als man<br />
mitunter meint.<br />
Dass der „Judenboykott“ vom April 1933, gemessen an der Empörung in den<br />
westlichen Demokratien, ein Fehlschlag war, steht außer Frage. Einigermaßen<br />
deutlich ist auch, dass die Aktion der antisemitischen Parteibasis fürs erste eine<br />
gewisse Genug tuung verschaffte; umgekehrt ebenso, dass sie in den noch halbwegs<br />
intakten sozial-moralischen Milieus der Arbeiterbewegung und des Katho lizismus<br />
auf Ab lehnung stieß. Am wenigsten klar ist der Befund für das Bürger tum. Hier<br />
reichten die Reaktio nen von echter Scham und leise bekundetem Mitgefühl für die<br />
Betrof fenen über ein empathie leeres „So etwas ziemt sich nicht“ bis hin zur Scha -<br />
den freude oder gar zum Applaus.<br />
Das Spektrum von Reaktionen und Verhaltensweisen ist damit natürlich nur<br />
grob umrissen, und wichtiger noch: Es ist damit noch nichts über die weitere Ent -<br />
wicklung gesagt. Doch in der Rückschau ist völlig klar, dass der staatlich zunächst<br />
sanktionierte, dann forcierte Antisemitismus, der seit Frühjahr 1933 vor aller<br />
Augen und mit Billigung vieler in Gang gesetzt wurde, eine moralische Erosions -<br />
dynamik auslöste, in der am Ende auch eine „Endlösung“ darstellbar wurde. Dieser<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
35
MAGAZIN<br />
Weg in eine umgedrehte Wertewelt war von den Weltanschau ungs kriegern gewiss<br />
nicht strategisch geplant, wohl aber gewollt und von ihren Unterstützern immer<br />
weniger einzuhegen. Hier wäre dann auch der Punkt, nach dem Entstehen einer<br />
spezifischen NS-Moral zu fragen, über die in letzter Zeit, angestoßen vor allem<br />
durch Raphael Gross, wieder intensiver nachgedacht wird, als dies jahrzehntelang<br />
der Fall war. |<br />
PROF. DR. NORBERT FREI<br />
lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der<br />
Friedrich-Schiller-Universität Jena.<br />
Der Text ist ein Auszug aus seinem Eröffnungsvortrag bei der<br />
„IV. Internationalen Konferenz zur Holocaustforschung“ der<br />
Bundeszentrale für Politische Bildung am 27. Januar 2013 in Berlin.<br />
Mehr zum Thema in seinem Buch:<br />
„Der Führerstaat. National sozialistische Herrschaft 1933-1945“.<br />
36 April 2013 | Heft 56
DAS STRASSENSCHILD Otto Wels 1873-1939<br />
Ehre, wem Ehre gebührt<br />
Von Christian Neusser<br />
Die letzten Worte, die in der Weimarer Republik in Freiheit gesprochen wurden,<br />
haben Spuren hinterlassen. „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die<br />
Ehre nicht.“ Diese Worte stammen von Otto Wels, dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen<br />
Partei und Reichstagsfraktion. Er stellte sich damit am 23. März 1933 im<br />
Namen seiner sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gegen das von den National -<br />
sozialisten eingebrachte Ermächtigungsgesetz. Mit einem flammenden Plä doyer bot<br />
Wels der nationalsozialistischen Willkürherrschaft die Stirn – und trotzte der Bedro -<br />
hung durch die Nationalsozialisten: „Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht,<br />
Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.“ Gemeint waren Frei heit, De -<br />
mo kratie und Gerechtigkeit sowie der Glaube an die Men schen rechte.<br />
Der Ausgang ist bekannt: Die 94 anwesenden Sozialdemokraten lehnten das Gesetz<br />
als einzige Fraktion im Reichstag ab. Bei Abwesenheit der verfolgten Kommunisten<br />
und Zustimmung auch durch die bürgerlichen Parteien wurde das Ende des Parla men -<br />
ta rismus und der freiheitlichen Demokratie besiegelt. Mit dem Ermächtigungs gesetz<br />
wurde die Demokratie in Deutschland buchstäblich zu Grabe getragen, der Weg war<br />
frei für die zwölf Jahre andauernde nationalsozialistische Diktatur.<br />
Der 23. März 1933 war ein schwarzer Tag für die Demokratie. Und dennoch bleibt<br />
uns mit diesem Tag Denkwürdiges in Erinnerung: der mutige Einsatz für Freiheit und<br />
Demokratie, den Otto Wels mit seiner Rede so eindrucksvoll verkörpert. Zum 80. Jah -<br />
restag dieses Ereignisses wurde jüngst der Person Otto Wels und dessen Rede gedacht.<br />
Ein Blick auf das Leben von Otto Wels macht deutlich, dass sein politisches Wirken für<br />
uns heute lehrreich sein kann. Lehrreich vor allem deshalb, weil wir in Wels’ Biographie<br />
sehr anschaulich erfahren, was es heißt, für die Demokratie einzutreten.<br />
Otto Wels ist ein Mann der Arbeiterbewegung. Geboren am 15. September 1873 in<br />
Berlin, wuchs er als Sohn einer Gastwirtfamilie auf. Die Familie seines Vaters, der<br />
sein Lokal im Norden Berlins betrieb, stammte aus Groß Briesen im Kreis Zauch-<br />
Belzig in der Provinz Brandenburg. Schon früh kam Wels in Kontakt mit den Idealen<br />
der Sozialdemokratie. Als Heranwachsender hörte er in der Gastwirtschaft seiner<br />
Eltern den Gesprächen von Sozialdemokraten zu, die während der Zeit des Sozialis -<br />
tengesetzes im Hinterzimmer des Lokals zu vertraulichen Runden zusammenkamen.<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
37
DAS STRASSENSCHILD Otto Wels 1873-1939<br />
Hierbei lernte Wels auch August Bebel und Wilhelm Liebknecht kennen. Seine<br />
Leidenschaft für die Sozialdemokratie war schon als Jugendlicher entfacht.<br />
Nach Volksschule und Lehre als Tapezierer war Otto Wels zunächst als hauptamtlicher<br />
Gewerkschaftsfunktionär im Verband der Tapezierer tätig und wurde<br />
1906 zum Vorsitzenden des Verbands gewählt. Zugleich engagierte er sich in der<br />
Berliner Kommunalpolitik. Er war Mitglied der Armen- und Schulkommission sowie<br />
Vorsitzender der Arbeitnehmer in der Handwerkskammer Berlin-Potsdam. Seine<br />
politische Karriere nahm 1907 Fahrt auf, als Wels zum Bezirkssekretär der SPD für<br />
die Provinz Brandenburg gewählt wurde. Schon bald galt er in Berlin und der Pro -<br />
vinz Brandenburg als einer der profiliertesten Arbeiterführer. Innerparteilich schuf<br />
er maßgeblich den Grundstein für eine einheitliche und straffe Parteiorganisation<br />
in Brandenburg. Wels war ein leidenschaftlicher Wahlkämpfer. Zugute kam ihm dabei<br />
seine Eigenschaft als eindringlicher Redner, der seine kräftige, zuweilen derbe<br />
Sprache einzusetzen wusste. 1912 gewann er den Wahlkreis Calau-Luckau und wurde<br />
Reichstagsabgeordneter.<br />
Die SPD rettete die Ehre der Weimarer Republik<br />
Otto Wels scheute sich als Politiker nicht davor, Verantwortung zu übernehmen und<br />
lernte auch die Schattenseiten politischer Verantwortung kennen. Nach dem Sturz der<br />
Monarchie übernahm Wels im November 1918 das Amt des Berliner Stadt kom man dan -<br />
ten. In den Wirren der Revolutionszeit kam es im Dezember 1918 zum Zu sam menstoß<br />
von Soldaten und Revolutionären, bei Schießereien gab es 16 Tote und einige Schwer -<br />
ver letzte. Obwohl eine konkrete Schuld Wels’ als Stadtkom man dant nicht vorlag,<br />
reichte er – auch aufgrund innerparteilicher Kritik – seinen Rück tritt als Stadtkom -<br />
man dant ein. Die Erfahrungen der Revolutionszeit bewogen ihn auch zu einer persönlichen<br />
Konsequenz: Wels fasste den Entschluss, sein politisches Wir k en auf die Partei -<br />
arbeit in der SPD zu konzentrieren. Den Rückhalt hierfür hatte er. Im Juni 1919 wurde<br />
Wels auf dem Parteitag in Weimar zum Vorsitzenden der SPD gewählt.<br />
Bereits in den frühen Jahren der Weimarer Republik trat Otto Wels als entschiedener<br />
Kämpfer für die Demokratie auf. Beim Kapp-Putsch 1920, dem Ver such rechtsmi -<br />
litanter Kreise, die Regierungsgewalt an sich zu reißen, demonstrierte der SPD-Partei -<br />
vor stand unter Führung von Wels Entschlossenheit und rief zum Ge neral streik auf.<br />
Der Generalstreik von Gewerkschaften und der Arbeiterschaft im Land sorgte dafür,<br />
dass der Putsch rasch scheiterte. Wels hatte schon früh verinnerlicht, dass die Demo -<br />
kratie wehrhaft gegenüber seinen Feinden sein musste. Er war maßgeblich an der<br />
38 April 2013 | Heft 56
DAS STRASSENSCHILD Otto Wels 1873-1939<br />
Gründung des „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ zum Schutz der Weimarer Republik<br />
beteiligt. Ebenso zählte er zu den Orga nisatoren der „Eisernen Front“, einem Bündnis,<br />
das sich gegen den Vormarsch der Rechtsextremisten einsetzte. Dass sich die SPD-Füh -<br />
rung unter Wels sowie die Gewerkschaftsspitzen zum Ende der Weimarer Repu blik<br />
nicht zum aktiven Wider stand gegen die National so zialisten oder zum General streik<br />
durchringen konnten, war eine schwerwiegende und umstrittene Entschei dung. Wels’<br />
Sorge, ein möglicher Bürgerkrieg hätte viele Opfer unter den Arbeitern gekostet und<br />
keine Aussicht auf Erfolg gehabt, ist gewiss Ausdruck von Macht- und Ratlosigkeit,<br />
aber wohl auch Zeichen für Ver antwortungs bewusstsein. Letztlich blieb es ein fataler<br />
Irrtum der Weimarer Sozial demokratie, die Republik könnte mit den Mitteln des<br />
Rechtsstaats gesichert werden.<br />
Nach seiner Flucht aus Deutschland im Frühjahr 1933 baute Wels in Prag die Exil -<br />
organisation der SPD auf und setzte den Kampf gegen die Nationalsozialisten fort.<br />
Bis zu seinem Tod nach schwerer Krankheit am 16. September 1939 prangerte Wels<br />
immer wieder die Verbrechen Hitlers an. Kurz zuvor bei Kriegs ausbruch hatte sich<br />
Otto Wels im Namen der Sozial demokratie an das deutsche Volk gewandt und forderte<br />
alle demokratischen Kräfte in Europa auf, gemeinsam Hitler zu stürzen und<br />
den europäischen Völkern zu Recht und Freiheit zu verhelfen.<br />
Otto Wels’ politische Lebensleistung liegt in seinem entschiedenen und unbeugsamen<br />
Einsatz für die Demokratie. In das kollektive Gedächtnis der Deutschen hat<br />
Otto Wels gleichwohl nur bedingt Eingang gefunden. Dies ist ein Schicksal, das er<br />
mit manch anderer verdienter Persönlichkeit teilt. Es mag damit zusammenhängen,<br />
dass Wels nie ein herausragendes Staatsamt innehatte, sondern er seine Arbeit vorwiegend<br />
in sozialdemokratischen Parteifunktionen verrichtete. Sein mutiges Ein -<br />
treten gegen die Hitler-Diktatur, wie dies in der Rede vom März 1933 eindrucksvoll<br />
zum Ausdruck kommt, rechtfertigt gleichwohl, Wels einen würdigen Platz in der<br />
Geschichte der deutschen Demokratie zuzuweisen. Dem Urteil des Historikers Hein -<br />
rich August Winkler zufolge, hat die SPD die Ehre der Weimarer Republik gerettet.<br />
Otto Wels hat daran einen wichtigen Anteil.|<br />
CHRISTIAN NEUSSER<br />
ist Referent der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg.<br />
Mit dieser Rubrik stellen wir eine Person vor, deren Lebensleistung größere<br />
Beachtung verdient. Zum Beispiel in Gestalt von Straßen- oder Schulnamen.<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
39
DAS STRASSENSCHILD Otto Wels 1873-1939<br />
40 April 2013 | Heft 56
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
ZUKUNFT GIBT’S<br />
NICHT VON ALLEIN<br />
Wie die vierte industrielle Revolution<br />
in Brandenburg gelingen kann — Von Ralf Holzschuher<br />
Am Anfang war die Dampfmaschine.<br />
Mit ihr begann das, was wir heute<br />
die erste industrielle Revolution nennen.<br />
Die erste nutzbare Dampfmaschine<br />
wur de 1712 von Thomas Newcomen entwickelt<br />
und später von James Watt<br />
verfeinert. Alsbald verbreitete sich die<br />
Dampf ma schine im späten 18. und frühen<br />
19. Jahr hundert von England ausgehend<br />
rasch auf das kontinentale Europa<br />
und trug wesentlich zur Mechanisierung<br />
der Ar beit und zur Nutzung von Energie<br />
bei. Mit ihr kam im übrigen vor 150 Jah -<br />
ren die „soziale Frage“ auf und wurde<br />
zum Geburtshelfer der Sozialdemo kra -<br />
tie – die SPD ist mithin also die „Indus-<br />
trie-Partei“ der ersten Stunde.<br />
Die zweite industrielle Revolution<br />
begann im späten 19. und frühen 20. Jahr -<br />
hundert. Sie ist durch zwei Entwick lungs -<br />
stränge gekennzeichnet. Die Nut zung des<br />
elektrischen Stroms führte zu vollkommen<br />
neuen Industriezweigen wie der<br />
Elektrotechnik aber auch des Maschi nen -<br />
baus und der chemischen Industrie – vor<br />
allem Deutschland stand hier an der<br />
Spitze der technologischen Innovatio nen.<br />
Die zweite industrielle Revolution zeichnete<br />
sich aber auch durch die aufkommende<br />
Massen pro duktion aus. Die Ein -<br />
führung des Fließ bandes 1913 in den<br />
Ford-Werken ist dafür der bekannteste<br />
Ausdruck.<br />
Als die Computer und das<br />
Internet aufkamen<br />
In der zweiten Hälfte des 20. Jahr hun -<br />
derts spielt vor allem der Computer die<br />
Hauptrolle. Die Nutzung von Elek tro nik<br />
und Informationstechnik führen zur<br />
dritten – der digitalen – industriellen<br />
Revolution. Die Erfindung des Mikro -<br />
chips macht neue automatisierte Pro -<br />
duktionsverfahren und neue Kommuni -<br />
kationsnetze möglich. Die Raumfahrt<br />
wäre ohne Compu ter nicht denkbar;<br />
Roboter, Mobiltele fonie oder Internet<br />
prägten einen neuen Inno vationszyklus.<br />
Heute, am beginnenden <strong>21</strong>. Jahrhun -<br />
dert, stehen wir vor der nächsten – der<br />
vierten – industriellen Revolution. Sie<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
41
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
wird durch zwei Tendenzen gekennzeichnet<br />
sein. Auf der einen Seite steht<br />
die Notwendigkeit von höherer Energieund<br />
Ressourceneffizienz angesichts sinkender<br />
Rohstoffvorräte und zunehmenden<br />
Klimawandels. Auf der anderen<br />
Seite wird die Verknüpfung der Indus -<br />
trie produktion mit dem „Internet der<br />
Dinge“ dazu führen, dass maßgeschneiderte<br />
Produkte in hoher Effizienz hergestellt<br />
werden können und die dafür nö -<br />
tigen Informationen auch schnell und<br />
effizient von A nach B gelangen.<br />
Von Niedergang und<br />
Wiederaufstieg<br />
Am Beginn der Industrialisierung im -<br />
portierte Deutschland die dafür nötigen<br />
Dampfmaschinen noch aus England,<br />
mauserte sich aber schnell zu einer<br />
In novationskraft mit Weltruf („Made<br />
in Germany“). Bahnbrechende Erfin -<br />
dungen in der chemischen Industrie<br />
oder die Ent wicklung des Computers<br />
(Zuse) stehen dafür. Bis heute ist<br />
Deutschland eines der größten Indus -<br />
trieländer der Welt und die Industrie<br />
unser wichtigster Wohlstandsmotor.<br />
Wenn wir heute an Brandenburg<br />
denken, verbindet man das Land sicher<br />
nicht auf den ersten Blick mit Industrie.<br />
Doch beim genaueren Hinschauen, stellt<br />
man fest, dass Brandenburg eine lange<br />
industrielle Geschichte hat. Sie lässt sich<br />
im Wesentlichen in drei Phasen einteilen.<br />
Am Ende des 19. Jahrhunderts be -<br />
gann auch im heutigen Brandenburg die<br />
Industrialisierung. So wurde die bis dato<br />
eher agrarisch geprägte Lausitz eine<br />
Berg bauregion. Die älteste noch erhaltene<br />
Brikettfabrik Europas ist die Louise<br />
in Elbe-Elster, sie ging 1882 in Betrieb<br />
und wurde 1992 stillgelegt. Eben falls in<br />
der Lausitz entwickelte sich ab dem späten<br />
19. Jahrhundert eine umfangreiche<br />
Textilindustrie. Auch die Stadt Bran den -<br />
burg an der Havel ist eine der traditionellen<br />
Industriestandorte im Land – dort<br />
begann die Entwicklung mit Textilfa bri -<br />
ken und ab 1912 wurde dort Stahl her ge -<br />
stel lt. Wittenberge – logistisch gut gelegen<br />
am Kreuzungspunkt von Elbe und<br />
wichtiger Straßen zwischen Ham burg,<br />
Magdeburg und Berlin – wurde im frühen<br />
20. Jahrhundert ein Zentrum der<br />
Nähmaschinen- und Zell stoffpro duk tion.<br />
In der ersten Hälfte des 20. Jahr hun -<br />
derts entwickelten sich viele Stand orte<br />
der industriellen Pro duk tion – viele von<br />
ihnen wurden im Zweiten Weltkrieg in<br />
große Mitlei den schaft gezogen.<br />
Nach dem Krieg begann die DDR mit<br />
einer „planmäßigen Industrialisierung“.<br />
Dazu wurden historische industrielle<br />
Kerne massiv aus- und neue Zentren aufgebaut.<br />
Das Stahl- und Walzwerk in Bran -<br />
denburg an der Havel hatte zu DDR-Zei -<br />
ten über 10.000 Beschäftigte, in den<br />
Optischen Werken in Rathenow arbeiteten<br />
4.500 Menschen, das IFA-Werk in<br />
Ludwigsfelde stellte LKWs für den gan-<br />
42 April 2013 | Heft 56
RALF HOLZSCHUHER | ZUKUNFT GIBT’S NICHT VON ALLEIN<br />
zen Ostblock her, die Lausitzer Braun -<br />
kohleindustrie wurde zum zentralen<br />
Energieversorger der DDR. Voll kom men<br />
neue Industriestandorte entstanden<br />
unter anderem in Eisenhüttenstadt und<br />
Schwedt. 1958 gab Walter Ulbricht den<br />
Bau des „Petrolchemischen Kombi nats<br />
(PCK)“ bekannt, später arbeiteten dort<br />
über 8.000 Menschen. Bis zu 16.000 Be -<br />
schäftigte hatte das „Eisen hütten kom -<br />
binat Ost (EKO)“, dass 1950 von der SED<br />
beschlossen wurde – ebenso wie der Bau<br />
der dazugehörigen Retor tenstadt, die<br />
erst den Namen Stalins trug und später<br />
in Eisenhütten stadt umbenannt wurde.<br />
Die dritte Phase in Brandenburgs In -<br />
dus triegeschichte begann mit der Wie -<br />
der vereinigung. Sie ist sowohl eine<br />
Phase des Niedergangs und des Wieder -<br />
auf stiegs. Zahlreiche Industrieunter -<br />
nehmen mussten schließen, vielen<br />
Unternehmen gelang mit westlichen<br />
Partnern aber auch der Neuanfang. Die<br />
neunziger Jahre standen deshalb zu -<br />
nächst vor allem im Zeichen des mas -<br />
siven Arbeitsplatzab baus.<br />
Nach einer Phase der Konsolidierung<br />
im ersten Jahrzehnt des <strong>21</strong>. Jahrhundert<br />
sind die „Regionalen Wachstumskerne“<br />
heute Ausdruck einer neuen und zu -<br />
kunfts fähigen Industriestruktur. Sie<br />
basieren zum einen auf Unternehmen<br />
mit langer Tradition: So werden seit<br />
1913 in Hennigsdorf Lokomotiven und<br />
Züge gebaut, Vattenfall produziert<br />
heute in den modernsten Kraftwerken<br />
Europas Strom, BASF hält einen seiner<br />
profitabelsten Standorte in Schwarz -<br />
heide. Daneben überlebten einige DDR-<br />
Groß betriebe, die auch heute erfolgreich<br />
am Markt operieren. Dazu gehören das<br />
PCK in Schwedt genauso wie das aus<br />
dem IFA-Werk in Lud wigsfelde hervorgegangene<br />
Daimler-Werk oder Arcelor-<br />
Mittal in Eisenhütten stadt. Hinzu ka -<br />
men vollkommen neue Industrie zweige<br />
wie die Biotechnologie (zum Bei spiel in<br />
Hen nigs dorf und Luckenwalde) oder die<br />
erneuerbaren Energien mit dem Wind -<br />
turbinenher stel ler Vestas. Gleich zeitig<br />
zeigt dieser Indus triezweig aber auch,<br />
wie schnelllebig industrielle Erfolge sein<br />
können: 2010 gab es in unserem Land<br />
noch fünf große Solar fabriken, ein Teil<br />
von ihnen ist heute bereits wieder ge -<br />
schlos sen, ein anderer Teil hat große<br />
wirtschaftliche Schwie rigkeiten.<br />
Hat Brandenburgs Industrie also<br />
noch eine Zukunft?<br />
Nun lässt sich aus den Schwierigkeiten<br />
einer Branche sicherlich nicht das Ende<br />
der Industrie in Brandenburg ableiten.<br />
Gleichwohl steht die Industrie in unserem<br />
Land vor vier großen strategischen<br />
Herausforderungen, die gleichzeitig<br />
Chancen als auch Risiken bieten:<br />
> Die Zahl der Brandenburger Erwerbs -<br />
fähigen sinkt, gleichzeitig werden<br />
sie älter. Das kann zu zunehmendem<br />
Fachkräftemangel führen.<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
43
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
> Die Internationalisierung der deutschen<br />
Wirtschaft setzt sich fort,<br />
damit steigt auch der Wettbewerbs -<br />
druck. Das kann zu neuen Konkur -<br />
renzsituationen führen aber auch<br />
zu neuen Märkten mit zusätzlichen<br />
Absatzmöglichkeiten.<br />
> Rohstoffe werden überall auf der<br />
Welt knapper und führen langfristig<br />
zu höheren Rohstoffpreisen. Das<br />
kann die Wettbewerbsfähigkeit vieler<br />
Firmen bestimmen, steigert gleichzeitig<br />
aber die Nachfrage nach materialschonenderen<br />
und ressourcen -<br />
sparenden Technologien.<br />
> Die Energiewende in Deutschland<br />
ist eine „Operation am offenen<br />
Herzen“, denn mit ihr wird eine der<br />
wichtigsten materiellen Grundlagen<br />
der Industrie komplett umgestellt.<br />
Die Gestaltung der Energiewende<br />
übt großen Druck – unter anderem<br />
durch steigende Energiepreise –<br />
auf viele Unternehmen aus. Gleich -<br />
zeitig können durch den Zwang zu<br />
mehr Nachhaltigkeit Absatzchancen<br />
für neue Technologien entstehen.<br />
Neben diesen globalen Rahmen bedin -<br />
gun gen zeichnet sich Brandenburgs<br />
Industriestruktur durch drei Beson -<br />
derheiten aus:<br />
> Durch massive staatliche Inves ti -<br />
tionen seit der Wiedervereinigung<br />
verfügt Brandenburg über eine im<br />
europäischen Vergleich exzellente<br />
Infra struktur. Auch wenn es noch die<br />
eine oder andere Lücke gibt, ist dies<br />
eine wichtige Voraussetzung für eine<br />
erfolgreiche Industrie.<br />
> Unsere Unternehmenslandschaft ist<br />
im Bundesvergleich zu klein. Das ist<br />
auch eine Erklärung für die ver -<br />
gleichs weise niedrige Exportquote<br />
der Bran denburger Unternehmen.<br />
Das kann zwar in Zeiten externer<br />
wirtschaft licher Schocks – wie der<br />
Weltfinanz krise – auch positiv wirken,<br />
langfristig lässt sich neues<br />
Wachstum jedoch nur durch Erschlie -<br />
ßung neuer Märkte er zielen.<br />
> In Brandenburg fehlen – wie in ganz<br />
Ostdeutschland – Unternehmens -<br />
zentralen. Dadurch sind die Wert -<br />
schöpfungs- und Herstellungsketten<br />
im Land zu kurz, fehlen vor allem<br />
unternehmensnahe und unternehmenseigene<br />
Forschung und Ent wick -<br />
lung. Zwar wird dies durch hohe<br />
staatliche Forschungsausgaben ein<br />
Stück weit kompensiert, führt aber<br />
in der Summe trotzdem zu insgesamt<br />
niedrigeren Ausgaben für Forschung<br />
und Entwicklung und damit zu geringerer<br />
Innovationsfähigkeit in Ost -<br />
deutschland.<br />
Eine sozialdemokratische Industrie po -<br />
litik muss diese Rahmenbedingungen<br />
in den Blick nehmen, wenn sie Erfolg<br />
haben will. Ziel muss es sein, den industriellen<br />
Sektor zu stärken, denn er ist<br />
44 April 2013 | Heft 56
RALF HOLZSCHUHER | ZUKUNFT GIBT’S NICHT VON ALLEIN<br />
die Basis unseres Wohlstandes. Dabei<br />
gibt es fließende Übergänge zum<br />
Dienstleis tungsbereich – es geht deshalb<br />
auch nicht darum, das eine gegen<br />
das andere auszuspielen. Mit der vorhandenen<br />
Industriestruktur, den Erfah -<br />
rungen gut ausgebildeter Fachkräfte<br />
und einer auf Konsens ausgelegten Kul -<br />
tur industrieller Beziehungen kann es<br />
jedoch gelingen, den Anteil der Indus -<br />
trie und industrienahen Dienstleis tun -<br />
gen weiter aus zubauen. Dazu stehen auf<br />
der Lan des ebene sechs strategische in -<br />
dustriepolitische Handlungsfelder auf<br />
der Tagesordnung.<br />
Innovation braucht<br />
Investition in Köpfe<br />
Erstens: Fachkräftesicherung. Die<br />
Fachkräftesicherung wird nur in einer<br />
großen Kraftanstrengung zusammen<br />
mit den Unternehmen gelingen. Die<br />
demografische Entwicklung Branden -<br />
burgs prognostiziert bis 2030 einen<br />
Rückgang des Erwerbspersonen po -<br />
tentials um 28 Prozent, in einigen Re -<br />
gionen sogar von bis zu 50 Prozent.<br />
Umso mehr kommt es darauf an, jede<br />
und jeden so gut wie möglich zu qua -<br />
lifizieren und auszubilden.<br />
Deshalb muss es unser Ziel sein, die<br />
Zahl der Schüler, die die Schule ohne<br />
Schulabschluss verlassen, und die Zahl<br />
der jungen Menschen, die die Berufs -<br />
ausbildung abbrechen, bis 2020 mindestens<br />
zu halbieren. Das Bewusstsein für<br />
technische Berufe und für industrielle<br />
Entwicklung kann bereits bei Schüler in -<br />
nen und Schülern geweckt werden. Dazu<br />
soll das Unterrichtsfach „Wirt schaft-Ar -<br />
beit-Technik“ ausgebaut werden, ferner<br />
sollen weitere „Mit-Mach-Museen“ nach<br />
dem Vorbild des Pots damer Exta viums<br />
entstehen.<br />
Innovation braucht Investition in<br />
Köpfe. Deshalb müssen unsere Hoch -<br />
schulen noch stärker mit den Unter neh -<br />
men in ihrer Umgebung kooperieren. Ein<br />
Beispiel dafür sind duale Stu dien gängen,<br />
die Studium und Be rufsaus bil dung verknüpfen.<br />
Deren Zahl soll erhöht werden.<br />
Mit einem „Bran den burg-Sti pen dium“<br />
kann die Bindung von Studie renden an<br />
Brandenburger Unternehmen verstärkt<br />
werden. Unter nehmen sollen bei der<br />
Einstellung von jungen Hoch schul ab sol -<br />
venten („Inno vationsas sis ten ten“) unterstützt<br />
werden.<br />
Daneben brauchen wir eine neue<br />
Will kommenskultur in unserem Land.<br />
Damit wollen wir zum einen viele gut<br />
ausgebildete junge Menschen, die in<br />
den ver gan genen Jahren Brandenburg<br />
auf der Suche nach einem Job verlassen<br />
mussten, zurückholen. Gleichzeitig<br />
muss unser Land aber auch offen sein<br />
für ta lentierte Fachkräfte aus dem<br />
Aus land. Sie sollen mit Hilfe von Sti -<br />
pen dien pro grammen und Gutschei nen<br />
systematisch angeworben und integriert<br />
werden.<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
45
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
Zweitens: Gute Arbeit. Gute Arbeits be -<br />
dingungen sind heute die entscheidende<br />
Grundlage, um Fachkräfte zu gewinnen<br />
und zu halten. Der „Krieg um Ta lente“<br />
findet heute bereits in einem Maßstab<br />
statt, der weit über die Gren zen unseres<br />
Bundeslandes hinaus geht. Für eine zu -<br />
kunfts- und wettbewerbs fähige Indus trie<br />
sind gute Löhne (einschließlich Mindest -<br />
löhne) deshalb eine wich tige Grundbe -<br />
din gung. Dazu braucht es eine starke<br />
Sozialpartnerschaft. Nur mit Gewerk -<br />
schaften und Arbeitgeber ver bän den, die<br />
sich durch hohe Orga nisa tionsgrade auszeichnen,<br />
können eine hohe Tarifbin -<br />
dung und ordentliche Ar beitsbedin gun -<br />
gen erreicht werden. Das schließt auch<br />
ein familien- und altersgerechteres Pro -<br />
duktionsumfeld ein. Das Know-how der<br />
Arbeitnehmer für unternehmerische<br />
Entscheidungen zu nutzen, ist eines der<br />
Erfolgsge heim nisse der deutschen Wirt -<br />
schaft. Wenn wir in Zu kunft weiter er -<br />
folgreich sein wollen, werden wir dieses<br />
Rezept stärker anwenden müssen: Ar -<br />
beit nehmer vertre tungen sollten mehr<br />
als bisher in unternehmerische Prozesse<br />
einbezogen werden und Verantwortung<br />
übernehmen können.<br />
Drittens: Forschung und Entwick -<br />
lung. Brandenburg hat in den vergangenen<br />
zwei Jahrzehnten ein erfolgreiches<br />
Hochschulsystem aufgebaut, die mittlerweile<br />
über 50.000 Studierenden sind<br />
dafür ein gutes Zeichen. Wir brauchen<br />
die Hochschulen in Zukunft so deutlich<br />
wie nie zuvor als Anker für regionale<br />
Wachs tumsdynamiken und als Partner<br />
regionaler Unternehmen. Das Land<br />
muss anwendungsbezogene Forschung<br />
und Entwicklung stärker fördern. Der<br />
Anteil des Landeshaushaltes für Wis -<br />
senschaft und Forschung muss in den<br />
kommenden Jahren auf mindestens<br />
sechs Prozent steigen. Ein „Institut für<br />
industrielle Innovation“ soll die verschiedenen<br />
Akteure vernetzen und den<br />
Paradig men wechsel zu einer aktiven<br />
Industrie po litik unterstützen. Das Insti -<br />
tut soll die Zusammenarbeit mit Berlin,<br />
Sachsen und Sachsen-Anhalt sowie<br />
Image bil dung, Internationa li sierung<br />
und Inno vation befördern.1<br />
Ein Anziehungspunkt in der<br />
Mitte Brandenburgs<br />
Viertens: Sichere und bezahlbare<br />
Energieversorgung. Ohne sichere<br />
Energieversorgung und ohne vernünf -<br />
tige Energiepreise gibt es keine Indus -<br />
trie – so einfach ist das. Deshalb berührt<br />
die Energiewende auch das Herz der<br />
Bran denburger Industrie. So lange er -<br />
neuerbare Energien nicht kontinuierlich<br />
und in ausreichendem Umfang zur Ver -<br />
fügung stehen können, wird die Grund -<br />
last der Energieversorgung weiter aus<br />
konventionellen Kraftwerken kommen<br />
1 Siehe dazu auch den Beitrag von Ulrich Berger in diesem Heft.<br />
46 April 2013 | Heft 56
RALF HOLZSCHUHER | ZUKUNFT GIBT’S NICHT VON ALLEIN<br />
müssen. Dafür wird auch die heimische<br />
Braunkohle noch für längere Zeit ge -<br />
braucht. Als Spitzenreiter beim Aus bau<br />
der erneuerbaren Energien und Heimat<br />
großer Kohlekraftwerke trägt Branden -<br />
burg heute und in Zukunft eine hohe<br />
Verantwortung auf dem europä ischen<br />
Energiemarkt. Unser Land soll Ener gie -<br />
exporteur bleiben – das sichert viele gut<br />
bezahlte Arbeitskräfte im Land.<br />
Bergbau und Energieproduktion von<br />
Kohle über Wind, Sonne, Erdwärme bis<br />
Biogas sind wichtige Säulen der Bran -<br />
denburger Industrie. Mit dieser umfassenden<br />
Kompetenz – gepaart mit wich -<br />
tigen Forschungszentren im Land –<br />
kann Brandenburg ein Musterland für<br />
die Gestaltung der Energiewende sein.<br />
Das schließt die Entwicklung neuer Ver -<br />
fah ren bei der Energieeffizienz und beim<br />
Energiemanagement ein. Die entsprechenden<br />
Forschungskapazitäten müssen<br />
gebündelt und besser vernetzt werden.<br />
Fünftens: Intelligente Wirtschafts -<br />
förderung. Mit Unternehmens netz -<br />
werken und Clusterbildung kann es<br />
gelingen, Wertschöpfungsketten zu<br />
ver bessern und zu verlängern. Deshalb<br />
muss die Wirtschaftsförderung deren<br />
Bildung noch stärker unterstützen.<br />
Kleinere Partner können sich in In dus -<br />
triegenossenschaften besser vernetzen<br />
und so voneinander profitieren. Auf<br />
diese Weise können beispielsweise<br />
duale Studiengänge oder Nachfolge -<br />
regelungen bei der Unternehmens füh -<br />
rung besser organisiert werden. Die<br />
Bildung von Indus triegenossenschaften<br />
sollte deshalb in Zukunft unterstützt<br />
werden. Insgesamt muss die Branden -<br />
burger Wirtschafts förderung stärker<br />
an die Kriterien guter Arbeit und Ar -<br />
beits bedingungen geknüpft werden<br />
sowie Forschung und Entwicklung in<br />
den Fokus nehmen.<br />
Brandenburg profitiert in hohem<br />
Maß von der Bundeshauptstadt in seiner<br />
Mitte: Berlin ist Anziehungspunkt<br />
und Sehnsuchtsort für viele kreative<br />
Unter nehmen und innovative Talente.<br />
Indus triepolitisch ergänzen sich Berlin<br />
und Brandenburg in ihren Profilen. Ziel<br />
muss es sein win-win-Situationen herbeizuführen;<br />
dazu müssen gerade die<br />
Wirt schaftsförderungen der beiden<br />
Länder zum wechselseitigen Nutzen<br />
stärker zusammenarbeiten.<br />
Ohne Industrie kein Licht,<br />
keine Autos, keine Windräder<br />
Sechstens: Mehr Internationa li sie -<br />
rung. Die attraktive Lage Brandenburgs<br />
mit dem Magneten Berlin in seiner<br />
Mit te müssen wir stärker ausspielen,<br />
wenn es darum geht, internationale<br />
Fach kräf te und ausländische Investoren<br />
anzuziehen. Ganz grundsätzlich gibt es<br />
bei den Brandenburger Unternehmen<br />
noch großes Potential bei der Export -<br />
orien tierung – bisher sind sie häufig<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
47
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
schlicht zu klein, um auf internationalen<br />
Märkten aktiv sein zu können. Sie<br />
brauchen deshalb stärkere Unter stüt -<br />
zung durch Messe för derung, bei der<br />
Finanzierung und Zerti fizierung. Bei<br />
einem schrumpfenden Brandenburger<br />
Binnenmarkt ist es entscheidend, unsere<br />
Unternehmen stärker in internatio -<br />
nale Wertschöpfungsketten einzubauen.<br />
Dazu ist es auch erforderlich, dass der<br />
Bund die Infrastrukturlücken insbesondere<br />
nach Osteuropa schließt.<br />
Die Industrie ist in Deutschland und<br />
Brandenburg Grundlage für Wohlstand<br />
und Beschäftigung. Ohne Industrie<br />
gehen sprichwörtlich die Lichter aus,<br />
fahren keine Autos, werden keine Wind -<br />
räder aufgestellt. Und: mit mehr Arbeits -<br />
plätzen in der Industrie steigt auch die<br />
Nachfrage nach Dienst- und Service leis -<br />
tungen. Deutschland – und insbesondere<br />
Brandenburg – sind seit 2008 vergleichsweise<br />
gut durch die (andauernde) Wirt -<br />
schafts- und Finanz krise gekommen.<br />
Ein entscheidender Grund dafür war<br />
die wettbewerbsfähige und starke industrielle<br />
Basis unseres Landes.<br />
Doch die Zukunft kommt nicht von<br />
allein, auch ist Brandenburg nicht allein<br />
auf der Welt. Eine aktive industriepolitische<br />
Strategie kann man nicht im Allein -<br />
gang durchsetzen, es braucht das enge<br />
Zusammenspiel von Europa-, Bundes-,<br />
Landes- und Kommunalpolitik mit Unter -<br />
nehmern, Arbeitnehmer ver tre tungen<br />
ebenso wie mit Schulen und Hoch schu -<br />
len. Umgekehrt gilt aber auch: Ohne<br />
eine strategische Ausrichtung auch der<br />
Landespolitik wird es nicht gelingen,<br />
Brandenburg als Akteur in mitten der ge -<br />
rade stattfindenden vierten industriellen<br />
Revolution zu etablieren. Branden burg<br />
kann als besonders res sour cen- und energieeffizientes<br />
Indus trieland ein ei gen -<br />
stän diges Profil innerhalb Deutsch lands<br />
erlangen. Ents chei dend wird sein, dass<br />
Inno va tionen von einem Bereich zum<br />
anderen übertragen und die bisherigen<br />
Wertschöpfungsketten verlängert werden.<br />
Genauso kann Branden burg zu<br />
einem Industrieland der vierten Ge ne -<br />
ration werden – mit zukunftsfähigen und<br />
gut bezahlten Arbeitsplätzen, attraktiv<br />
für Fachkräfte und Unter neh men.|<br />
RALF HOLZSCHUHER<br />
ist Fraktionsvorsitzender der SPD im<br />
Brandenburger Landtag.<br />
48 April 2013 | Heft 56
ULRICH FRE<strong>ES</strong>E | ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE<br />
ZWEI SEITEN<br />
EINER MEDAILLE<br />
Eckpunkte einer nachhaltigen Energie- und<br />
Rohstoff politik für den Industriestandort<br />
Deutschland — Von Ulrich Freese<br />
Deutschland hat in den letzten zwei<br />
jahrzehnten weder die Industrie als<br />
Kern der volkswirtschaftlichen Wert -<br />
schöpfung noch die industriellen Wert -<br />
schöpfungsketten aus den Augen verloren.<br />
Das unterscheidet unser Land von<br />
vielen anderen Staaten. Die vergleichsweise<br />
gute volkswirtschaftliche Situa -<br />
tion wäre ohne diese Politik aber auch<br />
ohne die Leistungsfähigkeit der deutschen<br />
Industrie nicht zu erklären. Die<br />
Fakten: Rund 60 Prozent aller Arbeits -<br />
plätze in Deutschland lassen sich direkt<br />
oder indirekt dem produzierenden Ge -<br />
werbe und den industrienahen Dienst -<br />
leistungen zuordnen. Zwei Drittel der<br />
Exporte und 90 Pro zent der Aufwen dun -<br />
gen für Forschung und Entwicklung der<br />
deutschen Wirt schaft dokumentieren<br />
eindrucksvoll die Bedeutung.<br />
Die Weltfinanzkrise vor wenigen<br />
Jahren hat unmissverständlich deutlich<br />
gemacht, dass solche Staaten, die ein -<br />
seitig auf die Finanzindustrie oder überwiegend<br />
auf Dienstleistungen gesetzt<br />
haben, mit erheblichen Proble men nicht<br />
nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern<br />
auch bei der Haushaltskon so lidie rung,<br />
einem nachhaltigen Wachs tum und<br />
Handels bilanzrisiken zu kämpfen ha -<br />
ben. Nicht ohne Grund versucht der<br />
nordamerikanische Wirt schaftsraum –<br />
allen voran die USA – durch eine angebotsorientierte<br />
Ener giepolitik die Zu -<br />
kunftsperspekti ven des industriellen<br />
Sektors gezielt wieder zu beleben.<br />
Leitplanken für die nächsten<br />
Jahrzehnte<br />
Neben vielen anderen Facetten bilden<br />
eine nachhaltig sichere, wettbewerbs -<br />
fähige Energie- und Rohstoffversor gung<br />
zentrale Voraussetzungen für den Er -<br />
halt und den Ausbau des Indus trie -<br />
stand ortes Deutschland. Weder eine<br />
planwirt schaft liche Energie- und Roh -<br />
stoffpolitik, noch marktradikalen Träu -<br />
mereien, nach denen die Märkte schon<br />
alles von alleine regeln, werden den<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
49
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
Ansprüchen einer nachhaltigen Ener gieund<br />
Rohstoff po litik als Kern element<br />
einer zukunfts orientierten Indus trie po -<br />
litik gerecht.<br />
Anfang 2012 hat die SPD-Bundes tags -<br />
fraktion mit ihrem Beschluss „So zial de -<br />
mokratische Industriepolitik – Impul se<br />
für den Standort Deutsch land“ wich tige<br />
Leitplanken für die wirt schafts- und<br />
sozialpolitische Grund lage der Bundes -<br />
re publik Deut sch land für die nächsten<br />
Jahr zehnte gesetzt. Vergleich bare Kon -<br />
zepte sind bei anderen Parteien in dieser<br />
Form nicht einmal ansatzweise zu finden.<br />
In der Querschnitts auf gabe Indus -<br />
trie po litik werden in dieser Po sitions -<br />
beschrei bung folgende The men felder<br />
als entschei dungsrelevante Faktoren<br />
he raus gestellt:<br />
> Weiterentwicklungen der Infra -<br />
struktur aber auch ihrer ge -<br />
sellschaftlichen Akzeptanz als<br />
Stand ort voraussetzung für<br />
In no va tionen,<br />
> demografische Herausforderung<br />
und Fachkräftebedarf (Stichwort:<br />
Aus-, Fort- und Weiterbildung),<br />
> Gewerkschaften und Sozialpart -<br />
nerschaft,<br />
> Energie- und Rohstoffpolitik,<br />
> Technologie- und Innova tions politik<br />
mit einer im Kern mittel stän -<br />
dischen Industriepolitik sowie<br />
> Europäisierung und Interna tio -<br />
nalisierung.<br />
Die besondere Bedeutung einer sta -<br />
bilen, sicheren, wettbewerbsfähigen<br />
und sozial ausgewogenen Energieund<br />
Rohstoff politik für den Standort<br />
Deutsch land erklärt sich schon angesichts<br />
der Tat sache, dass rund 50 Pro -<br />
zent des Strom verbrauchs durch die<br />
Industrie erfolgt. Die Bundes repu blik<br />
ist mit einem Roh stoffbedarf von jährlich<br />
1,2 Milliar den Tonnen der EU-weit<br />
größte Nach frager.<br />
Großer Reformbedarf bei<br />
erneuerbaren Energien<br />
Zentrale Punkte der nach Fukushima<br />
im deutschen Bundestag einmütig be -<br />
schlossenen Energiewende bilden die<br />
Um stel lung der Stromerzeugung auf<br />
eine hundertprozentige Versorgung aus<br />
er neu erbaren Energiequellen bis zum<br />
Jahr 2050 sowie die Beendigung der<br />
fried lichen Nutzung der Kern ener gie bis<br />
2022. Ein vorrangiges Ziel bildet dabei<br />
die Rückführung der CO2-Emis sio nen<br />
um 80 Prozent gegenüber dem Jahr<br />
1990. Dieses ambitionierte Ziel bedingt –<br />
wenn es denn industriepo litisch verträglich<br />
für den Standort Deutschland<br />
sein soll – sowohl eine langfristig orientierte,<br />
wie auch eine auf den technischund<br />
wirtschaftlich darstellbaren Optio -<br />
nen basierende En er giepolitik.<br />
Dem steigenden Anteil der erneuer -<br />
baren Energien muss dabei notwen di -<br />
gerweise parallel ein entsprechender<br />
50 April 2013 | Heft 56
ULRICH FRE<strong>ES</strong>E | ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE<br />
Ausbau der Übertragungs- und Ver tei -<br />
lungsstromnetze sowie von Spei cher -<br />
potentialen für Strom begleiten. Er kenn -<br />
bar ist, dass entgegen dem rück läufigen<br />
Primärenergieverbrauch der Stromver -<br />
brauch insgesamt in der Bun desre pu blik<br />
Deutschland in den letzten 20 Jah ren in<br />
etwa gleich blieb beziehungs wei se leicht<br />
ansteigt.<br />
Dem heutigen Anteil von rund<br />
12 Pro zent erneuerbarer Energien am<br />
Pri mär energieverbrauch – das entspricht<br />
in etwa dem Anteil von Braun -<br />
kohle oder Steinkohle – steht auf<br />
Grundlage des Erneuerbare Energien-<br />
Gesetzes (EEG) ein Subventions volu -<br />
men von rund 20 Milliarden Euro ent -<br />
gegen. Unbestritten ist, dass es hier<br />
Reform- und Hand lungs bedarf gibt.<br />
Wenn erneuerbare Ener gien zukunfts -<br />
fähig bleiben sollen, muss ihre För de -<br />
rung nach der Bundes tags wahl sowohl<br />
kostengünstiger wie auch EU-Bin nen -<br />
markt konform erfolgen: Die jetzige<br />
Form der Umlage belastet in hohem<br />
Maße die privaten Verbrau cher, aber<br />
auch – trotz Sonderrege lungen – die<br />
stromintensive Industrie und kann so<br />
nicht weiter fortgesetzt werden.<br />
Hin zu kommt, dass die Endlichkeit<br />
von Öl und Gas durch neue Förder mög -<br />
lich keiten (beispielsweise Fra cking) für<br />
mehrere Jahrzehnte, wenn nicht Gene -<br />
rationen, in die Zukunft verschoben<br />
wird – mittlerweile ist das ein erheb -<br />
licher Wettbewerbsvorteil für die nordamerikanische<br />
Industrie. Fossile Brenn -<br />
stoffe werden aus heutiger Sicht deshalb<br />
nicht in dem bislang erwarteten<br />
Maß teurer werden, sondern sich<br />
voraussichtlich in etwa auf dem heu -<br />
tigen Ni veau stabilisieren, bei einer<br />
schwachen Weltkonjunktur unter<br />
Umstän den gar preissenkend entwickeln.<br />
Der heutige Strommarkt, in dem die<br />
vorgehaltene Leistung der Kraftwerke<br />
nicht ausdrücklich honoriert wird, ist<br />
auch auf Dauer so nicht mehr darstellbar.<br />
Den noch kann für dieses Jahr zehnt<br />
aus heutiger Sicht insgesamt von ausreichender,<br />
gesicherter Kraft werks leis tung<br />
ausgegangen werden. Diese Zeit muss<br />
man nutzen, um ein neues Markt modell<br />
zu entwickeln und umzusetzen.<br />
Strompreis ist für deutsche<br />
Industrie sehr wichtig<br />
Die Strompreise für die energie in ten -<br />
sive Industrie – so zum Beispiel in den<br />
Bereichen Chemie, Papier, Stahl und<br />
Aluminium – müssen, um wett be werbs -<br />
fähig bleiben zu können, sich auch in<br />
den nächsten Jahren an den internationalen<br />
Märkten orientieren. Das heißt, es<br />
ist für die deutsche In dustrie und damit<br />
für einen Großteil der Ar beits plätze in<br />
der Bundes re pu blik von existenzieller<br />
Bedeutung, dass die Preise nicht weiter<br />
ins Belie bige steigen. Die sem Trend<br />
kann mittlerweile nur sehr bedingt mit<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
51
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
Ener gieeffizienz maßnah men begegnet<br />
wer den. In vielen Fällen ist die Ener -<br />
gieproduktivität in den Be trie ben aus -<br />
gereizt, erhebliche Effi zienz zuge win ne<br />
lassen sich auf Basis der vor handenen<br />
Technologien und Wertschöpfungs -<br />
ketten nicht mehr heben.<br />
Eine vorausschauende<br />
Rohstoffpolitik ist nötig<br />
Bei vielen Rohstoffen, insbesondere<br />
Erzen, Öl, seltene Erden u. a. ist Deutsch -<br />
land auf Importe angewie sen. Damit ist<br />
die deutsche Industrie abhän gig von<br />
offenen, fairen und nicht diskriminierenden<br />
Märkten. Grundsätzlich sind<br />
hinreichende Vorräte technisch und<br />
auch wirtschaftlich verfügbar. Unge -<br />
achtet dessen existieren Risiken durch<br />
po litische Markteingriffe zum Beispiel<br />
durch Ausfuhrkartelle oder Export zölle<br />
und nicht zuletzt durch die chine sische<br />
Marktmacht.<br />
Solchen Ansätzen kann am ehesten<br />
durch eine koordinierte EU-Politik und<br />
die Schaffung zusätzlicher Optio nen –<br />
Se kun därrohstoffe, heimische Quellen<br />
als Versicherungsprämie, Substitutions -<br />
strategien – entgegengewirkt werden.<br />
Die im Rahmen der europäischen Roh -<br />
stoffinitiative in Deutschland entstandenen<br />
Rohstoff partnerschaften sollten<br />
daher weiterentwickelt und auf EU-Ebe -<br />
ne gebracht werden. Ergänzt werden<br />
müs sen sie durch die soziale Dimen sion.<br />
Dieser Ansatz hat bislang weitgehend<br />
gefehlt. Hier können Gewerk schaften<br />
eine wesentliche Rolle spielen.<br />
Bei vielen Rohstoffen verfügt Deutsch -<br />
land über wichtige heimische Quellen.<br />
Das ist kaum im öffentlichen Bewusst -<br />
sein. Insbesondere die Bedeu tung für die<br />
Wertschöpfungs ketten in der hei mischen<br />
Volkswirtschaft wird kaum beachtet.<br />
Daher ist ein Rohstoff siche rungs gesetz<br />
notwendig, um langfristige Planungs -<br />
sicherheit für den Abbau heimischer<br />
Res sourcen zu gewährleisten.<br />
Wie in der Vergangenheit wird sich<br />
auch in der Zukunft die Bergbau tech no -<br />
logie weiterentwickeln und damit neue<br />
und verbesserte Gewinnungs me thoden<br />
Stand der Technik werden. Im Bereich<br />
der Öl- und Gaswirtschaft ist dieses<br />
schon heute durch das sogenan nte<br />
Fracking der Fall. Diese Tech no lo gien<br />
sollten nicht nur als Risiko gesehen werden,<br />
sondern können auch eine Chance<br />
für eine langfristig nachhaltige Roh stoff -<br />
option sein. Mittler weile wird beispielsweise<br />
intensiv an der Entwick lung chemiefreier<br />
Fracking me thoden gearbeitet.<br />
Grundsätzlich wird einer intelligenten<br />
Sekundärrohstoffwirtschaft ein<br />
wesentlicher Anteil an einer langfris -<br />
tigen Ver sorgung der Volkswirtschaft<br />
zukommen. Die schon heute weltweit<br />
füh rende Posi tion der Bundesrepublik<br />
muss als integraler Bestandteil der<br />
Wertschöpfungs kette der heimischen<br />
Industrie weiterentwickelt werden.<br />
52 April 2013 | Heft 56
ULRICH FRE<strong>ES</strong>E | ZWEI SEITEN EINER MEDAILLE<br />
Dass eine Rohstoff- wie auch die<br />
Ener giepolitik für Brandenburg eine<br />
besondere Dimension besitzt, ergibt<br />
sich aus folgenden Fakten: Vergleicht<br />
man die Bevölkerungszahl Bran den -<br />
burgs mit dem Rohstoffverbrauch,<br />
er gibt sich eine Kennziffer von unge fähr<br />
32 Tonnen pro Kopf. Das ist in etwa doppelt<br />
so viel wie der Bundes durch schnitt<br />
und auch deutlich höher als in den anderen<br />
ostdeutschen Län dern, deren Ver -<br />
brauch zwischen 13 und 20 Ton nen liegt.<br />
Sinnhaft, machbar<br />
und gerecht<br />
Unter den Rohstoffen spielt die Braun -<br />
kohle für das Industrieland Bran den -<br />
burg eine herausgehobene Rolle. Sie ist<br />
derjenige Energieträger, der in Deutsch -<br />
land noch über Jahrzehnte sicher, wettbewerbsfähig<br />
und umweltschonend<br />
gewonnen werden kann. Er bildet somit<br />
einen unverzichtbaren Eckpfeiler einer<br />
langfristigen Energie- und Industrie -<br />
politik. Sowohl mittel fristig im energe -<br />
tischen Einsatz in Kraftwerken als auch<br />
langfristig in der Veredlung bietet die<br />
Braunkohle für Brandenburg wie auch<br />
für die produzierende Industrie her -<br />
vorragende Optio nen als eine perspek -<br />
tivisch sichere, bezahlbare Rohstoff -<br />
quel le. Dieses Potential gilt es in der<br />
Zukunft weiter zu nutzen.<br />
Die Nutzung erneuerbarer Energien<br />
ist das politische Ziel quer über die<br />
Par teigrenzen hinweg, bezahlbare Prei -<br />
se für Verbraucher und Wirtschaft aber<br />
zugleich Grundvoraussetzung für eine<br />
nachhaltige Entwicklung in unserem<br />
Land. Das geschieht nicht von alleine.<br />
Hier ist eine kluge, konsequente Ener -<br />
gie politik gefordert. Sonst ist der Drei -<br />
klang aus ökologischer Sinn haf tig keit,<br />
wirtschaftlicher Machbarkeit und so -<br />
zialer Gerechtigkeit nicht zu erreichen.<br />
Es gibt noch viel zu tun.|<br />
ULRICH FRE<strong>ES</strong>E<br />
ist stellvertretender Vorsitzender der<br />
Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie,<br />
Energie (IG BCE).<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
53
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
54 April 2013 | Heft 56
ULRICH BERGER | DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN<br />
DIE INDUSTRIELLE<br />
PRODUKTION VON MORGEN<br />
Wie eine Vision für die Hauptstadtregion<br />
aussehen kann — Von Ulrich Berger<br />
Nach aktuellen Studien des For -<br />
I. schungsinstituts Prognos behauptet<br />
Deutschland in vielen Wirtschafts bran -<br />
chen seinen Anteil am Weltmarkt oder<br />
baut ihn sogar aus. Der Anteil Deutsch -<br />
lands an der weltweiten Indus triepro -<br />
duktion ist demnach in der vergangenen<br />
Dekade von 7,6 auf 8,1 Prozent gestiegen,<br />
an den weltweiten Exporten von<br />
12,1 auf 14,3 Prozent. Mehr als 40 Pro -<br />
zent der deutschen Exporte entfallen<br />
dabei auf die vier Top-Branchen Auto -<br />
mo bil, Luft- und Raumfahrt, Maschinen -<br />
bau und Metallerzeugnisse.<br />
Innovative Produkte und Verfahren<br />
„Made in Germany“ sind auch auf den<br />
neuen Wachstumsmärkten außerhalb<br />
Europas sehr gut vertreten und tragen<br />
so maßgeblich zum Wohlstand unseres<br />
Landes bei. Es ist aber auch eine Ver -<br />
lagerung wertschöpfender Anteile in<br />
Schwellenländer und Länder Ost euro -<br />
pas festzustellen. Nach einer in 2012<br />
vom Deutschen Institut für Wirtschafts -<br />
for schung (DIW) vorgelegten Studie:<br />
„FuE1-intensive Industrien und wissensintensive<br />
Dienstleistungen im internationalen<br />
Wettbewerb“ ist die starke<br />
Spezia lisierung auf forschungsintensive<br />
Industrien wie die der Elektrotechnik,<br />
dem Maschinenbau, der Chemie oder<br />
dem Fahrzeugbau ein wesentlicher<br />
Faktor der langfristigen strukturellen<br />
Wettbewerbsstärke der deutschen<br />
Industrie.<br />
Die Schuldenkrise holt eine<br />
Erinnerung zurück<br />
Zusätzlich fördern gezielte Inves ti tio -<br />
nen in zukunftsweisende Standorte,<br />
Herstellverfahren und Anlagen die langfristige<br />
Wettbewerbsfähigkeit und<br />
schaffen zusätzliche Arbeitsplätze wie<br />
zum Beispiel in der Warenlogistik.<br />
Somit hat sich neben der allgegenwär -<br />
tigen Diskussion um die Energiewende<br />
und Euro-Schuldenkrise die produzierende<br />
Industrie wieder als Fels in der<br />
Bran dung in Erinnerung gebracht. Nach<br />
1 FuE: Forschung und Entwicklung<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
55
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
einem Bericht des Statistischen Bundes -<br />
amts hat das verarbeitende Gewerbe im<br />
Jahr 2012 überproportional zur deutschen<br />
Wirtschaftsleistung (BIP) beigetragen.<br />
Getrieben von der Nachfrage aus<br />
dem Ausland, stieg der Anteil am BIP<br />
auf rund 26 Prozent an, dies entspricht<br />
im Vergleich zu 2009 einer Steigerung<br />
um fast 3 Prozentpunkte.<br />
Trotz des enormen Strukturwandels<br />
in der Europäischen Union und der Zu -<br />
nahme des Dienstleistungsanteils in<br />
allen Branchen weist Deutschland im<br />
internationalen Vergleich immer noch<br />
den höchsten Industrieanteil am BIP<br />
auf. Die industrielle Produktion stellt<br />
daher auf Grund ihrer vielfältigen<br />
Produkt-, Markt- und Absatzmöglich -<br />
keiten eine stabile und zuverlässige<br />
Größe für den Wohlstand unseres Lan -<br />
des dar. In jüngster Zeit findet daher<br />
eine flächendeckende gesellschaftliche<br />
Rückbesinnung auf die industrielle<br />
Produktion als elementare Basis des<br />
Wirtschaftswachstums eines Landes<br />
oder einer Region statt.<br />
Dies gilt auch für die Hauptstadt -<br />
region Berlin und Brandenburg. So verzeichnet<br />
das Amt für Statistik Berlin-<br />
Brandenburg für 2011 im verarbeitenden<br />
Gewerbe einen Zuwachs auf 332 (Berlin)<br />
und 436 Betriebe (Brandenburg) bei<br />
81.000 (Berlin) und 79.000 (Branden -<br />
burg) Beschäftigten und einem Umsatz<br />
von etwa 23,1 (Berlin) und 22,8 (Bran -<br />
den burg) Milliarden Euro. Dabei sind<br />
jedoch nur Betriebe mit mehr als 50<br />
Mitarbei tern berücksichtigt. Die vielen<br />
kleinen Betriebe in der Region tragen<br />
jedoch ebenfalls entscheidend zur Wert -<br />
schöp fung bei.<br />
Das Interesse wächst bei<br />
Besuchern und Investoren<br />
Die geschichtliche Entwicklung in<br />
Berlin und Brandenburg kann auf eine<br />
jahr hundertelange Industrietradition<br />
zu rück blicken. So liefern Elektro- und<br />
Schwermaschinenbau, Schienen- und<br />
Personenkraftfahrzeugproduktion,<br />
Metallverarbeitung und Tagebau überall<br />
in der Region viele historische Zeug -<br />
nisse, die für eine gewachsene Indus -<br />
triekultur stehen. Diese Indus trie kultur<br />
wird heute noch in der Bevölke rung<br />
sehr positiv wahrgenommen und er -<br />
weckt ein wachsendes Interesse bei<br />
Besuchern und Investoren.<br />
Die Hauptstadtregion Berlin-Bran -<br />
II. denburg ist mit Blick auf die<br />
indus triellen Voraussetzungen durch<br />
differen zierte Alleinstellungsmerkmale<br />
im Ver gleich zu anderen Bundesländern<br />
gekennzeichnet. Daher sind die im Bun -<br />
desgebiet erprobten und vorgeschlagenen<br />
Mittel zur Sicherung und Steige -<br />
rung der industriellen Produktion nicht<br />
oder nur in Teilen übertragbar. Eine<br />
hohe Wissenschaftsdichte und ein großes<br />
Angebot an gut ausgebildeten Fach -<br />
56 April 2013 | Heft 56
ULRICH BERGER | DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN<br />
kräften in der Kernregion schaffen wichtige<br />
Rahmenbedingungen für die not -<br />
wen digen industriellen For schungs -<br />
grundlagen. Einige große Betriebe mit<br />
über 1.000 Mitarbeitern sind stark<br />
export orientiert und verzeichnen über -<br />
proportionale Aufwen dungen in Forschung<br />
und Entwicklung.<br />
In Brandenburg haben sich viele<br />
kleine und mittlere Unternehmen zu<br />
regionalen, industriellen Wertschöp -<br />
fungs netzwerken und Zweckverbänden<br />
zu sammengeschlossen, um strukturelle<br />
Defizite im Technologietransfer, der<br />
Exportförderung und der Internationa -<br />
lisierung auszugleichen. Die so entstandenen<br />
Netzwerke übernehmen vielerorts<br />
durch ehrenamtliches Engagement<br />
von Betrieben und Mitarbeitern viele<br />
soziale und kulturelle Funktionen wie<br />
zum Beispiel die personelle und säch -<br />
liche Ausstattung von Ortsfeuerwehren<br />
oder den Erhalt kultureller Einrich tun -<br />
gen wie Theater und Museen. Dadurch<br />
wird ein wichtiger positiver Bezug zwischen<br />
industrieller Produk tion und ge -<br />
sellschaftlichem Engage ment abgeleitet.<br />
Die Zukunft in Berlin und Branden -<br />
burg wird, wie auch in ganz Deutsch land,<br />
mehr und mehr durch den gesell schaft -<br />
lichen Diskurs und das Enga ge ment<br />
jedes Einzelnen geprägt. Nutzen- und<br />
Risikoüberlegungen aber auch Chancen -<br />
abwägungen und Zukunftsperspektiven<br />
werden viel stärker als in der Vergan gen -<br />
heit gemeinsam diskutiert und kommu -<br />
niziert. Green oder Clean Techno logies<br />
haben stark an Bedeutung gewonnen.<br />
Dabei geht es um Innovationen in ressourcenschonende<br />
und nachhaltige<br />
Energieerzeugung und Mobilität sowie<br />
die energieeffiziente und emissionsarme<br />
Herstellung und Weiterverarbeitung von<br />
Produkten.<br />
Drei Säulen für die Industrie<br />
von morgen<br />
Die Innovationen in diesen Feldern benötigen<br />
jedoch auf Grund der interdisziplinären<br />
Anforderungen andere industrielle<br />
Umsetzungsmechanismen als die<br />
bisher bekannten. Vorrangiges Ziel<br />
muss daher die Verlängerung und Kom -<br />
plettierung von Wertschöpfungs ketten<br />
in diesen Zukunftstechnologien innerhalb<br />
des regionalen Wirtschafts raumes<br />
der Hauptstadtregion sein. Der in 2012<br />
durch die Regierungen beider Länder<br />
Berlin und Brandenburg initiierte<br />
Cluster prozess reagiert darauf mit der<br />
zunehmend übergreifenden Zusam -<br />
menarbeit in Branchen und Kompe -<br />
tenzfeldern in Kooperation mit externen<br />
Forschungs- und Entwick lungs einrich -<br />
tun gen. Ziel ist es, die bereits 2007 identifizierten<br />
gemeinsamen Zukunftsfelder<br />
zu länderübergreifenden Clustern zu<br />
entwickeln.<br />
Die im Juni 2012 beschlossene Ge -<br />
mein same Strategie (innoBB) führt die<br />
bisherige Kohärente Innova tions stra -<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
57
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
tegie des Landes Berlin und das Landes -<br />
innovationskonzept (LIK) Brandenburgs<br />
zusammen und ersetzt diese. Beide<br />
Landesregierungen haben dabei auch<br />
die Themen der industriellen Entwick -<br />
lung und der Nachhaltigkeit aufgegriffen<br />
und durch entsprechende Strategiepa -<br />
piere unterlegt (Masterplan Industrie -<br />
stadt Berlin 2020, Leitbild und Aktions -<br />
plan „ProIndustrie“ Brandenburg). Die<br />
politischen Rahmen bedingungen und<br />
Hand lungs felder für den Ausbau der industriellen<br />
Basis sind damit vorhanden.<br />
Wie kann aber die industrielle Zukunft<br />
der Hauptstadt region, die die vorhan -<br />
denen Potentiale aufnimmt, weiter<br />
entwickelt und in einem gemeinsamen<br />
Wirt schaftsraum abbildet, konkret<br />
ver wirk licht werden?<br />
Es wird eine Drei-Säulen -Stra-<br />
III. tegie vorgeschlagen, die in der<br />
ersten Säule die Exportfähigkeit der<br />
industriellen Produktion im weltweiten<br />
Wettbewerb steigert. Der technologische<br />
Vorsprung bei Produkt- und Pro -<br />
zessinnovationen in der Investitions -<br />
güterindustrie beträgt in der Regel drei<br />
Jahre. Nur durch kontinuierliche Neuund<br />
Weiterentwicklung können Kun -<br />
den kreis und Marktposition unter den<br />
sich ständig verschärfenden Wettbe -<br />
werbs bedingungen abgesichert werden.<br />
Die zunehmende Verkürzung der<br />
Produktlebenszyklen verlangt aber<br />
gerade kleinen und mittelständischen<br />
Betrieben (KMU) hohe Innovationskraft<br />
und einen ständigen Wandlungsprozess<br />
ab. Wesentlicher Aspekt der Zukunfts -<br />
sicherung bleibt gerade für diese Be trie -<br />
be die Erhöhung der FuE-Aufwen dungen<br />
auf den für eine nachhaltige Ent wick -<br />
lung notwendigen Wert von 3 Prozent<br />
vom Umsatz. Hier müssen, auch wegen<br />
des Fehlens großer, konzerngebundener<br />
Industriefor schungs zentren, wie sie im<br />
Süden Deutschlands existieren, neue<br />
Wege erschlossen und begangen werden.<br />
Technologietransfer braucht<br />
stärkeren Fokus<br />
Der FuE-Anteil, das heißt sowohl der<br />
Personalstand als auch die internen<br />
Aufwendungen im verarbeitenden<br />
Gewerbe, könnte durch zielgerichtete<br />
Maßnahmen, zum Beispiel fiskalische<br />
Anreize oder Schaffung von Innovati -<br />
ons verbünden deutlich gesteigert werden.<br />
Die Strukturen des Technologie -<br />
transfers zwischen Wissenschaft und<br />
Wirtschaft müssen stärker auf innova -<br />
tive, zukunftsweisende Produkte und<br />
Technologien aber auch auf deren Her -<br />
stellung in regionalen Wertschöp fungs -<br />
ketten ausgerichtet werden.<br />
Die Technologiezentren in der Re gion<br />
befassen sich mit spezialisierten The -<br />
men wie zum Beispiel der Grund lagen -<br />
forschung zu Polymeren, metallischem<br />
Leichtbau oder Beschich tungs techno -<br />
logien, sind aber mit Blick auf die indus-<br />
58 April 2013 | Heft 56
ULRICH BERGER | DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN<br />
triellen Anwendungen der Zukunft noch<br />
nicht genügend miteinander verknüpft<br />
und können daher vorhandene Poten -<br />
tiale nicht vollständig erschließen.<br />
Schließlich werden zukunftsweisende<br />
Informations- und Kommuni ka tions -<br />
technologien wie selbststeuernde Fabri -<br />
ken und Logistiksysteme, virtuelle<br />
Entwicklungstechnologien sowie neue<br />
Formen der Mensch-Maschine-Koope -<br />
ration die industrielle Produktion der<br />
Zukunft beherrschen. Diese Zusam -<br />
menhänge werden auch in der 2012<br />
herausgegebenen Studie des BDI/BDA<br />
unter dem Titel „Deutschland 2030:<br />
Zu kunft der Wertschöpfung“ besonders<br />
hervorgehoben.<br />
Die zweite Säule bildet eine mit allen<br />
Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft<br />
und Politik abgestimmte Internationa -<br />
lisierungsstrategie, die Innovationen<br />
„Made in Berlin“ oder „Made in Bran -<br />
denburg“ durch gezielte Neu gründung<br />
oder Beteiligung in Ländern außerhalb<br />
Europas, zur herstellungstechnischen<br />
Umsetzung bringt. In diesen Ländern<br />
stehen meist hohe Einfuhrzölle oder<br />
andere Handelshemmnisse wie zum<br />
Beispiel local content-Vorschriften<br />
einem direkten Export entgegen. Viele<br />
KMU aus der Region folgen hier schon<br />
seit einiger Zeit global agierenden Un -<br />
ternehmen und bilden oft das Rück grat<br />
ganzer Produktionsstandorte, wie es<br />
zum Beispiel in der Kraftfahrzeug in dus -<br />
trie bereits die Regel ist.<br />
Durch dabei erworbenes technisches,<br />
organisatorisches und interkulturelles<br />
Know-how können die Tochterge sell -<br />
schaften in aller Welt zur Standort si -<br />
cherung der Stammhäuser in der Haupt -<br />
stadtregion beitragen. Auch der rasche<br />
und direkte Informations austausch zu<br />
harten und weichen Standortfaktoren<br />
im jeweiligen Partnerland sowie die di -<br />
rekte Rück kopplung zu Verbund- oder<br />
System partnern im Inland spielt eine<br />
große Rolle. Schließlich kann in der<br />
Nähe zu den Absatzmärkten die produktnahe<br />
Dienstleistung abgesichert<br />
und ausgebaut werden. Wer das letzte<br />
Segment im Produktlebenszyklus be -<br />
herrscht, schafft nicht nur Mehrwerte<br />
über Ersatzteilhandel und Instand hal -<br />
tung, Wartung und Reparatur, sondern<br />
ist auch Kunden und Absatzmarkt stets<br />
so nahe, dass er Trends und Entwick -<br />
lungen viel schneller erfassen und aufgreifen<br />
kann.<br />
Ausländische Investoren<br />
suchen Talente<br />
Die dritte Säule bildet die gezielte Ein -<br />
werbung von Direktinvestitionen aus<br />
dem Ausland (das so genannte Foreign<br />
Direct Investment), die sich in zwei<br />
Bereiche aufteilt. Zunächst werden<br />
Investitionen in Produktionsstandorte<br />
mit hohem Technologie- und Qualitäts -<br />
anspruch betrachtet. Dabei wählen ausländische<br />
Investoren vorwiegend Re gio -<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
59
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
nen aus, an denen schon ähnliche An -<br />
sied lungen realisiert wurden und eine<br />
hohe Dichte an Forschungs- und Ent -<br />
wicklungseinrichtungen existiert.<br />
Erfolgreiche Entwicklungen sind in<br />
Brandenburg am Beispiel der Ent wick -<br />
lung und Produktion von Flug zeug tur -<br />
binen zu verzeichnen.<br />
Eine andere Investitionsstrategie<br />
verfolgen überwiegend talentgetriebene,<br />
nicht langfristig plan- und vorhersehbare<br />
Innovationen. Ein Beispiel hierfür<br />
ist die rasante Entwicklung bei Smart -<br />
phones, die über neue Entwicklungs me -<br />
thoden wie Design Thinking entwickelt<br />
und mit immer umfangreicheren Funk -<br />
tionalitäten angeboten werden. Dazu<br />
ist ein großes Reservoir an naturwissenschaftlichem<br />
und insbesondere inge -<br />
nieur wissenschaftlichem Humankapital<br />
erforderlich.<br />
Verzahnung von Herstellung<br />
und Innovation<br />
Gerade in der Hauptstadtregion mit<br />
ihrer international anerkannten hohen<br />
Wissenschaftsdichte bestehen hierzu<br />
große aber, gerade auf die industrielle<br />
Innovation bezogene, unerschlossene<br />
Potentiale. Vordringliches Ziel bleibt<br />
jedoch bei all diesen Strategien die enge,<br />
standortnahe Verzahnung zwischen<br />
Herstellung und Innovation. So kann die<br />
Produkt- und Prozessinno vation stets<br />
gekoppelt und der Regel kreis zwischen<br />
Innovator, Produzent, Zulieferer und<br />
Markt durchgehend geschlossen werden.<br />
Die positive Wir kung der ausländischen<br />
Direkt investi tio nen zur Standort siche -<br />
rung in Inland wird auch durch das im<br />
Frühjahr 2013 veröffentlichte Gutachten<br />
zur For schung, Innovation und techno -<br />
logischen Leis tungsfähigkeit Deutsch -<br />
lands durch die Expertenkommission<br />
For schung und Innovation (EFI) besonders<br />
gewürdigt.<br />
Die Umsetzung der Drei-Säu len-<br />
IV. Stra tegie verlangt ein sys te -<br />
matisches und koordiniertes Ar beits -<br />
programm, das kurz-, mittel- und<br />
lang fristige Zielstel lungen verfolgt.<br />
Dabei ist es sinnvoll, säulenübergreifende<br />
Arbeitsstrukturen zu entwickeln,<br />
die in allen Bereichen Wirkung entfal ten<br />
können. Die beispielhafte Umset zung<br />
kann am Vorbild eines neu zu schaffenden<br />
Brandenburger Instituts für Indus -<br />
trielle Innovation (B3I) näher erläutert<br />
werden. Das B3I gliedert sich in drei<br />
funktionale Hauptbestand teile, die dem<br />
Anspruch an Technologie, Infor mation,<br />
Kommu nikation sowie Qua li fi zierung<br />
gleichermaßen Rechnung tragen.<br />
Die Basis bildet das B3I-Lab, in dem<br />
industrielle Zukunftstechnolo gien<br />
lauf fähig abgebildet werden. Arbeits -<br />
schwer punkte im B3I-Lab beinhalten<br />
die Identifizierung und systematische<br />
Verknüpfung des vorhandenen industriellen<br />
Leistungsportfolios der Haupt -<br />
60 April 2013 | Heft 56
ULRICH BERGER | DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN<br />
stadtregion mit einer „zerstörerischen“<br />
Innovationskraft, die sich insbesondere<br />
durch neue Technologien in der Infor -<br />
ma tionsverarbeitung (IKT) herausbildet.<br />
Diese Entwicklung wird in Fach -<br />
kreisen auch als nächste industrielle<br />
Re volution oder Industrie 4.0 bezeichnet<br />
und ist derzeit durch erhebliches<br />
FuE-Engagement in Bund und Ländern<br />
gekennzeichnet. Voraussetzung ist<br />
die flächendeckende Etablierung des<br />
„Internet der Dinge“ und „Internet der<br />
Dienste“ im Rahmen bestehender und<br />
neuer Wertschöpfungsketten. Der Sys -<br />
temgedanke Industrie 4.0 ertüchtigt<br />
Cyber-Physical Systems zur Anwendung<br />
in der produzierenden Industrie. Da -<br />
durch wird die modelltechnisch, kommunikationstechnisch<br />
und interaktionsmäßig<br />
durchgängige Bearbeitung von<br />
Produkten, Produktionsmitteln und<br />
Produktionssystemen erreicht.<br />
Flankiert werden diese Entwicklun gen<br />
durch die Entwicklung und Ein füh rung<br />
neuer Organisations- und Gestal tungs -<br />
modelle sowie neuer Arbeits kulturen<br />
(offenes Informa tionsfundament).<br />
Dadurch können dynamische Verän -<br />
derungen in industriellen Wertschöp -<br />
fungs ketten, die durch Markt- und<br />
Absatzvolatilität, ad hoc-Liefer struk -<br />
turen und variable Produktions ka pa -<br />
zitäten entstehen, weitaus schneller<br />
erkannt und kompensiert werden. Un -<br />
terschiedliche Infrastruktur platt formen<br />
für Entwurf, Realisierung und Erpro -<br />
bung neuer industrieller Techno logien<br />
mit ausgewähltem Regionalbezug (zum<br />
Beispiel Leichtbau, energietech nische<br />
Anlagen, Metall-Wertschöp fungs netz -<br />
werke, ressourceneffiziente Pro duk -<br />
tions ver fahren) können interdiszi plinär<br />
integriert werden. Innovative Ansätze<br />
im B3I-Lab eröffnen neue Zusammen ar -<br />
beitsmöglichkeiten für die Beschäf tig -<br />
ten in der industriellen Produktion.<br />
Was ein Institut für<br />
Industriepolitik tun kann<br />
Der Mensch steht im Mittelpunkt beim<br />
Entwurf neuartiger Assistenz systeme<br />
für die wandelbare Fabrik der Zukunft.<br />
Die Verwirklichung dieser Ziele erfordert<br />
menschzentrierte und soziotechnisch<br />
ausgewogene Fabrik- und Arbeits -<br />
systeme in direkter An bin dung an<br />
FuE-Einrichtungen. Arbeiten in einem<br />
sich ständig verändernden Arbeits um -<br />
feld mit immer komplexeren Werkzeu -<br />
gen stellt extrem hohe Anfor de run gen<br />
an Fähigkeiten und Wis sen der betei lig -<br />
ten Mitarbeiter. Diesen Anfor de run gen<br />
wird durch ein auf ga ben spezi fi sches<br />
Training innerhalb der Tech nologie -<br />
platt formen im B3I-Lab Rechnung ge -<br />
tragen.<br />
Die Entwicklung und Bereitstellung<br />
angepasster IKT-Dienstleistungs mo -<br />
delle für die industrielle Produktion<br />
erfolgt in einem neu zu organisierenden<br />
Innovations- und Servicenetzwerk, dem<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
61
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
B3I-Net. Die Implementierung neuer,<br />
rechtlicher und organisatorischer<br />
Funktionalitäten für die Beförderung<br />
von unternehmensübergreifenden<br />
Innovationsprozessen, insbesondere<br />
in KMU-Verbünden, liefert wichtige<br />
Voraus setzungen bei der Standort si -<br />
cherung im Innovationsprozess.<br />
Aus- und Weiterbildung<br />
sind das A und O<br />
Die Weiterentwicklung des industriellen<br />
Innovationsraums in Berlin und Bran -<br />
denburg wird durch die Integration und<br />
Erweiterung der bestehenden Inno va -<br />
tions- und Technologienetzwerke in<br />
überregionaler Form und über bestehende<br />
Technologie- und Cluster struk turen<br />
hinweg erreicht. So können beispielsweise<br />
technisch spezialisierte Leis tungs -<br />
träger in der Fahrzeugtechnik mit denen<br />
der Luftfahrt unter der Überschrift<br />
Stoff- und Funktionsleichtbau oder die<br />
der Energietechnik mit denen der Ge -<br />
bäudetechnik unter dem Begriff Ther -<br />
mo energetische Effizienzstei ge rung<br />
verknüpft werden. Das B3I-Net orga -<br />
nisiert unter Einbindung von Experten<br />
aus dem In- und Ausland Veranstal -<br />
tungen wie Workshops oder Fachkon fe -<br />
ren zen zu ausgewählten industriel len<br />
The mengebieten.<br />
Eine weitere Aufgabe bildet die Ver -<br />
knüpfung des B3I-Net mit existierenden<br />
sozialen und staatlichen Netzwerken<br />
unter Berücksichtigung des industriellen<br />
Bezugs. So können Fachkräfte be -<br />
darfe, Zulieferangebote, Finanzie rungs -<br />
anfragen u. v. m. direkt und zeitnah<br />
kommuniziert werden.<br />
Das dritte Element beinhaltet ein<br />
regional abgestimmtes Aus-, Fort- und<br />
Weiterbildungsangebot, das in enger<br />
Verknüpfung mit den regionalen Unter -<br />
nehmen, tertiären Bildungsträgern und<br />
Forschungseinrichtungen im Rahmen der<br />
B3I-Academy umgesetzt wird. Dabei sind<br />
individuelle, bedarfsorientierte Lö sungen<br />
für die stark variierenden Be triebs größen<br />
zu entwickeln und neue Wege der Koope -<br />
ration zwischen Unter nehmen und For -<br />
schungsstellen (Perspektivwechsel) zu<br />
erschließen. Die kontinuierliche Aus- und<br />
Weiterbildung von industrierelevanten<br />
Fachkräften für die gesamte Hauptstadt -<br />
region bekommt eine hohe Priorität.<br />
Die im globalen Wettbewerb erforderlichen<br />
industriellen Schlüssel tech -<br />
nologien wie zum Beispiel im Stoff-,<br />
Form-, und Funktionsleichtbau müssen<br />
zeitnah erprobt, bedarfsgerecht adaptiert<br />
und über personellen Transfer in<br />
die Unternehmen der Region überführt<br />
werden. In der B3I-Academy wird ein<br />
„Bildungsatlas Technik Berlin-Bran -<br />
denburg“ erstellt werden können, der<br />
die vorhandenen Aus- und Weiterbil -<br />
dungsmöglichkeiten in der Hauptstadt -<br />
region beschreibt, aber auch Defizite<br />
aufzeigt und Handlungsempfehlungen<br />
für das lebenslange Lernen formuliert.<br />
62 April 2013 | Heft 56
ULRICH BERGER | DIE INDUSTRIELLE PRODUKTION VON MORGEN<br />
Die systematische Konzeption und<br />
V. Verwirklichung der Drei-Säulen-<br />
Stra tegie mit Hilfe ausgewählter Me -<br />
thoden und Verfahren wie dem B3I bildet<br />
perspektivisch einen „Industriellen<br />
Inno vationsraum Berlin-Brandenburg“,<br />
der sich auch bei kurzzyklischen Kon -<br />
junk turschwankungen anpassungsfähig<br />
und robust erweist und neue Markt -<br />
chancen zeitnah durch Produkte und<br />
Produk tionsverfahren mit hoher Qua -<br />
lität aufgreift und umsetzt. Dadurch<br />
wird er attraktiv für Investoren und<br />
Fachkräfte aus dem Ausland.<br />
Durch die vorhandenen und gut vernetzten<br />
Unternehmens- und Zuliefer -<br />
strukturen im regionalen Wirtschafts -<br />
verkehr entstehen in Verbindung mit<br />
FuE-Einrichtungen zukunftsweisende<br />
industrielle Innovationen, deren Orga -<br />
nisation und Finanzierung mit neuen<br />
Instrumenten erprobt und kommuniziert<br />
wird. Eng verzahnte Ent wurfs-,<br />
Entwicklungs- und Herstellungs pro -<br />
zesse (open innovation) führen Kunden<br />
und regionale Produzenten viel schneller<br />
und besser als bisher zusammen und<br />
schaffen die technologische Basis für<br />
die zunehmende Individua lisierung<br />
von Produkten bei Konsum- und Inves -<br />
titions gütern.<br />
Dieser Innovationsraum erzeugt<br />
auch soziale Innovationen, die sich in<br />
der Etablierung sozialer Netzwerke zu<br />
Be rufs- oder Bildungsthemen oder der<br />
Übernahme ehrenamtlicher Verpflich -<br />
tungen ausprägen. Die sekundären und<br />
tertiären Bildungsträger (zum Beispiel<br />
Berufsschulen, Hochschulen und Be -<br />
rufs akademien) haben ihr Bildungs an -<br />
gebot systematisch aufeinander ab ge -<br />
stimmt, erfüllen dadurch regionale<br />
Bil dungsaufträge und erzeugen andererseits<br />
internationale Forschungs exzel -<br />
lenz. Dadurch wird der wachsende Be -<br />
darf an industrienahen Fachkräften und<br />
Absolventen in naturwissen schaft lich/<br />
technischen Studiengängen abge sichert.<br />
Die vielfältigen beruflichen Erfah -<br />
rungen älterer Arbeitnehmer bei der<br />
Schaffung neuer Arbeitssysteme und<br />
-strukturen werden optimal genutzt<br />
und unternehmensübergreifende, altersund<br />
qualifikationsgerechte Beschäfti -<br />
gungsmodelle erzeugen Freiräume, die<br />
den demographischen Wandel in der<br />
Gesellschaft abfedern können. Der in -<br />
dustrielle Innovationsraum Berlin-Bran -<br />
denburg befördert die kulturelle Iden -<br />
tität der industriellen Produktion und<br />
verbindet diese mit dem Wohlstand in<br />
der Region. |<br />
PROF. DR. ULRICH BERGER<br />
ist Lehrstuhlinhaber Automatisierungs -<br />
technik der BTU Cottbus und Sprecher<br />
des Industrieclusters Metall des Landes<br />
Brandenburg.<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
63
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
64 April 2013 | Heft 56
PHILIPP FINK | UNGELIEBT, BEGEHRT <strong>UND</strong> DOCH NICHT VERSTANDEN<br />
UNGELIEBT, BEGEHRT<br />
<strong>UND</strong> DOCH<br />
NICHT VERSTANDEN<br />
Die deutsche Industrie ist entscheidend für Wachstum<br />
und Beschäftigung — Von Philipp Fink<br />
An der Bedeutung der Industrie als<br />
wichtige Quelle für Wachstum und<br />
Wohlstand scheiden sich die Geister.<br />
Das eine Lager verweist auf die stabilisierende<br />
Wirkung der Industrie während<br />
der Finanz- und Wirtschaftskrise.<br />
Der im Vergleich zu anderen Staaten<br />
hohe Industrieanteil an Beschäftigung<br />
und Produktion wird im Zusammenhang<br />
mit einer klugen Krisenpolitik und einer<br />
gut funktionierenden Sozialpart ner -<br />
schaft als Grund für die schnelle Erho -<br />
lung der deutschen Wirtschaft von der<br />
Krise angeführt. Nach Jahren der offiziell<br />
sanktionierten Deindustriali sie -<br />
rung wird nun die Reindustrialisierung<br />
Europas gefordert. Einst als Standort -<br />
nach teil und als rückschrittlich kritisiert,<br />
wird eine starke Industrie nun als<br />
Wettbewerbsvorteil und Zeichen der<br />
Moderne gesehen.<br />
Das andere Lager moniert die umwelt-<br />
und klimaschädlichen Auswirkun -<br />
gen der ressourcen- und energieintensiven<br />
Produktionsweise. Diese Kritik gipfelt<br />
in einem post-wachstumskritischen<br />
Diskurs, der sich in Teilen durch vermehrte<br />
Bürgerproteste gegen Industrie -<br />
projekte ausdrückt und in seinen Extre -<br />
men eine De-Growth-Strategie fordert –<br />
also weniger Wachstum und damit weniger<br />
industrielle Produktion. Ein zweiter<br />
kritischer Strang verweist auf den langanhaltenden<br />
Struktur wan del von der<br />
Industrie- zur Dienstleis tungsgesell -<br />
schaft. Saturierte Märkte, kostengünstigere<br />
Produktionsstandorte im Ausland<br />
und neue Konsummuster durch veränderte<br />
gesellschaftliche Be darfe (Stich -<br />
wort: demografische Ent wicklung) sowie<br />
neue Technologien würden, langfristig<br />
gesehen, die De in dus tria lisierung beschleunigen<br />
und neue Dienstleis tungs -<br />
branchen entstehen lassen.<br />
So weit die Bandbreite der Diskus -<br />
sion: Zwar sind die Positionen in Teilen<br />
berechtigt und nachvollziehbar, doch<br />
sind die Argumente in ihrer Absolutheit<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
65
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
zu hinterfragen. Das tatsächliche Bild<br />
der Industrie ist jenseits der dargestellten<br />
Maximalpositionen diffuser und die<br />
Schlussfolgerungen daraus sind differenzierter.<br />
Industrie hat wieder Boden<br />
gut gemacht<br />
Allen Unkenrufen zum Trotz hat sich<br />
die deutsche Industrie vom Krisenjahr<br />
2008/2009 einigermaßen erholt. Doch<br />
von einem Boom kann keine Rede sein.<br />
Denn nach Berechnung von Destatis<br />
war 2012 der Anteil des produzierenden<br />
Gewerbes1 an der Gesamtwirt schafts -<br />
leistung mit 26,2 Prozent nur marginal<br />
höher als ihr Anteil von 25,9 Prozent im<br />
Jahre 2008. Damit hat die Industrie teilweise<br />
Boden wieder gut gemacht. Denn<br />
im Krisenjahr 2009 verringerte sich ihr<br />
Beitrag auf weniger als 25 Prozent. Den -<br />
noch ist ihr heutiger Anteil einer der<br />
höchsten Werte unter den Industrie -<br />
ländern. Zum Vergleich lag 2012 der<br />
Industrieanteil an der Brutto wert -<br />
schöpfung in Frankreich bei 12,6 Pro -<br />
zent, in Großbritannien bei 16,5 Prozent<br />
und in Schweden bei 20,5 Prozent. Das<br />
verarbeitende Gewerbe treibt nach wie<br />
vor den Export. So gingen 2011 knapp<br />
93 Prozent der Ausfuhren auf sein Kon -<br />
to. Darüber hinaus ist die Industrie ein<br />
wichtiger Nachfrager für Waren und<br />
Güter aus den anderen Sektoren der<br />
Wirtschaft. Schätzungen gehen davon<br />
aus, dass die Nachfrage aus der Indus -<br />
trie zu ca. einem Drittel der Bruttowert -<br />
schöpfung beiträgt.2<br />
In Puncto Beschäftigung ergibt sich<br />
ein anderes Bild. Zwar blieben die gefürchteten<br />
Massenentlassungen in der<br />
Industrie wegen der umsichtigen Kri -<br />
senpolitik (Regelung zur Kurzarbeit,<br />
Investitionsprogramm usw.) aus, doch<br />
nach Berechnungen des Sachverstän di -<br />
genrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen<br />
Entwicklung lag die<br />
industrielle Beschäftigung 2011 immer<br />
noch unter dem Niveau von 2008. Damit<br />
nahm der Anteil der Industrie an der<br />
Gesamtbeschäftigung von 19,6 Prozent<br />
auf 18,8 Prozent ab – die Erholung der<br />
deutschen Industrie nach der Krise fand<br />
also ohne Beschäftigungsausweitung<br />
statt. Stattdessen wurde die Arbeits pro -<br />
duktivität erhöht.<br />
Ein Grund für die unmittelbare Erho -<br />
lung war die Exportnachfrage, die durch<br />
diverse staatliche Konjunktur program -<br />
me der Haupthandelspartner angeheizt<br />
wurde. Die deutschen Unternehmen<br />
konnten wegen voller Lager, freier Pro -<br />
duktionskapazitäten und geringer Frei -<br />
setzung von Arbeitskräften die gestiege-<br />
1 Im Zusammenhang mit der Industrie wird zwischen produzierendem<br />
Gewerbe ohne Baugewerbe (inkl. Bergbau, Ener gie,<br />
Wasserversorgung und dem verarbeitenden Gewerbe) und<br />
verarbeitendem Gewerbe differenziert. Letzteres entspricht<br />
dem angelsächsischen Begriff des Manufacturing und kommt<br />
dem deutschen Verständnis von Industrie am Nächsten.<br />
2 Birgit Gehrke et al., Adäquate quantitative Erfassung wissens -<br />
intensiver Dienstleistungen. Schwerpunktstudie zum deutschen<br />
Innovationssystem 13/2009, Hannover 2009, S. <strong>21</strong>-22.<br />
66 April 2013 | Heft 56
PHILIPP FINK | UNGELIEBT, BEGEHRT <strong>UND</strong> DOCH NICHT VERSTANDEN<br />
ne Nachfrage schnell bedienen. Damit<br />
konnte der Exporteinbruch vom Kri -<br />
senjahr 2009 im folgenden Jahr ausgeglichen<br />
werden, und die Exporte des<br />
Jahres 2011 überstiegen die Vorkrisen -<br />
werte von 2007 deutlich. Des Weiteren<br />
hat die Zunahme des Exports von Waren<br />
außerhalb der krisengeplagten Euro -<br />
zone – vornehmlich nach China, den USA<br />
und Indien – geholfen, den Einbruch der<br />
Nachfrage aus dem Euroraum zu überwinden.<br />
Dies betrifft vor allem die wichtige<br />
Sparte der Investitionsgüter – also<br />
Maschinen- und Automobilbau. Ein<br />
Trend, der sich nach jüngsten Berech -<br />
nungen des DIW weiter verfestigt. Denn<br />
während 2012 Kunden aus dem Euro -<br />
raum fast 18 Prozent weniger Bestel lun -<br />
gen aufgaben als im Vorjahr, nahmen<br />
die Aufträge außerhalb des Euroraums<br />
um mehr als vier Prozent zu. Der Nicht-<br />
Euro raum war für fast 40 Prozent aller<br />
Ex portaufträge der Investitionsgüter -<br />
branche verantwortlich. So gingen beispielsweise<br />
nach Angaben der Auto mo -<br />
bilindustrie fast 75 Prozent der Pkw-<br />
Ex porte nicht in den Euroraum.3<br />
So verwundert es nicht, dass der Ma -<br />
schinenbau und die Automobilindustrie<br />
im letzten Jahr ihre Produktion weiter<br />
ausbauen konnten. Doch alle anderen<br />
Zweige des verarbeitenden Gewerbes –<br />
darunter die Schlüsselbranchen Chemie<br />
3 Dorothea Lucke, Deutsche Industrie stemmt sich<br />
gegen die Krise im Euroraum, in: DIW Wochenbericht,<br />
48/2012, S. 18.<br />
sowie die Elektro- und Metallindustrie –<br />
mussten 2012 mit leichten Rückgängen<br />
kämpfen. Grund für die unterschiedliche<br />
Entwicklung der einzelnen Branchen<br />
sind andere Produktmärkte und Nach -<br />
fragestrukturen. Diese Industriezweige<br />
stellen als nachgelagerte Branchen<br />
mehr heitlich keine Endprodukte her. Sie<br />
produzieren Waren, die bei der Produk -<br />
tion von Investitions- und Gebräuchs gü -<br />
tern verwendet werden – also beispielsweise<br />
chemische Grundstoffe, Stahl,<br />
Fahrzeugteile, Halbleiter usw. Deshalb<br />
orientieren sich die Unternehmen dieser<br />
Branchen überwiegend am Binnenmarkt<br />
und nur ein geringer Teil ihrer Produkte<br />
(2012: ca. 33 Prozent) wird exportiert.<br />
Abhängig von wenigen<br />
Märkten und Branchen<br />
Erfolg oder Misserfolg dieser Branchen<br />
ist damit im Großen abhängig von der allgemeinen<br />
konjunkturellen Entwick lung.<br />
Laufen, wie geschehen, die staatlichen<br />
Konjunkturpakte aus und bauen Kunden<br />
wegen schlechter Geschäfts aus sichten<br />
als Folge der Eurokrise eher ihre Lager -<br />
bestände ab als neue Waren zu bestellen,<br />
dann gehen die Bestellungen an Vorleis -<br />
tungen zurück und die Produk tion wird<br />
letztendlich gedrosselt. Doch damit zeigt<br />
sich eine Schieflage. Denn zum einen<br />
werden die Märkte der Schwel lenländer<br />
(vor allem China) und die USA als Absatz -<br />
märk te wegen der Eurokrise immer wich-<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
67
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
tiger. Die Export industrie wird damit zunehmend<br />
abhängig von wenigen Märk -<br />
ten. Zum anderen wird das Wachstum der<br />
Industrie derzeit von wenigen Branchen<br />
getragen. Zusam men mit der Elektro in -<br />
dustrie waren der Maschinen- und Fahr -<br />
zeugbau für fast 45 Prozent der Wirt -<br />
schafts leistung des produzierenden<br />
Gewerbes 2011 verantwortlich. Letztere<br />
dominierten 2012 wiederum den Export.<br />
Ist wirklich<br />
alles Hightech?<br />
Ein entscheidender Faktor für den Welt -<br />
markterfolg der deutschen Industrie ist<br />
ihre Fähigkeit innovative Produkte herzustellen.<br />
Diese technologische Leis -<br />
tungsfähigkeit erklärt die starke internationale<br />
Position des Maschinen- und<br />
Fahrzeugbaus. Denn sie zeichnen sich<br />
durch eine Spezialisierung auf mittelwertige<br />
Technologien aus. Im Gegensatz<br />
zur Spitzenforschung, die im Allge mei -<br />
nen als Hightech bezeichnet wird, ist der<br />
Anteil an Grundlagenforschung gering.<br />
Dagegen sind die Forschungs- und Ent -<br />
wicklungsausgaben auf Prozess- und<br />
Produktinnovationen ausgerichtet.<br />
Inno vationen sind eher inkrementell<br />
und bauen auf bestehende Technologien<br />
kontinuierlich auf. Zwar ist die Höhe<br />
der Forschungsausgaben im OECD-<br />
Vergleich eher durchschnittlich, doch<br />
ist im internationalen Vergleich die<br />
Zahl an Patent anmeldungen hoch und<br />
vor allem der Markterfolg der Innova tio -<br />
nen sehr bedeutend.4<br />
Das heißt nicht, dass Spitzenfor schung<br />
nicht stattfindet. Aber die Bedeu tung<br />
des Technologiebereichs für die Indus -<br />
trie ist im Vergleich zu mittelwertigen<br />
Technologien geringer. Die hohe Anzahl<br />
an Patentanmeldungen aus der Spitzen -<br />
forschung steht im Widerspruch zur<br />
wirt schaftlichen Bedeutung des Sektors.<br />
Diese Diskrepanz wird damit erklärt,<br />
dass deren Forschungserkenntnisse von<br />
Firmen in den niedrigeren Technologie -<br />
segmenten genutzt werden. Die geringe<br />
Präsenz deutscher Firmen im Bereich<br />
der Spitzentechnologien wird mit dem<br />
schwierigen Marktumfeld begründet. So<br />
sind bestimmte Geschäftsfelder wegen<br />
ihrer strategischen Bedeutung oftmals<br />
staatlich geschützt. Der Kostenaufwand<br />
des Markteintritts ist wegen der nötigen<br />
Ausgaben für Forschungsleistungen sehr<br />
hoch. Die Produktlebenszyklen bestimmter<br />
Technologien (z.B. Kommuni ka tions -<br />
technik, Halbleiter) werden immer kürzer,<br />
was zur Folge hat, dass die Produk tions -<br />
kosten als Wettbewerbs faktor wichtiger<br />
werden. Damit kommt es oftmals zur<br />
Verlagerung der Produk tion an kostengünstigere<br />
Standorte im Ausland.<br />
Die hohe Innovationsfähigkeit deutscher<br />
Firmen im Bereich mittelwertiger<br />
4 Christian Rammer, Innovationen: Zur technologischen<br />
Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie, in: Martin<br />
Allespach und Astrid Ziegler (Hg.), Zukunft des Indus trie -<br />
standortes Deutschland 2020, Marburg 2012, S. 68f.<br />
68 April 2013 | Heft 56
PHILIPP FINK | UNGELIEBT, BEGEHRT <strong>UND</strong> DOCH NICHT VERSTANDEN<br />
Technologien verschafft den Unter neh -<br />
men deutliche Wettbewerbsvorteile in<br />
Märkten, die durch eine große Konkur -<br />
renz und Kostendruck gekennzeichnet<br />
sind. Denn ihre technologische Leis -<br />
tungs fähigkeit erlaubt es ihnen, lukra -<br />
tive Produkt- und Technologienischen<br />
zu besetzen. Dieser Zusammenhang<br />
erklärt im Übrigen auch den Untergang<br />
der So larindustrie in Deutschland, die<br />
eine sehr geringe Innovationsleistung<br />
vorwies und von Wettbewerbern mit<br />
kostengünstigeren Produkten verdrängt<br />
wurde.<br />
Kein Gegensatz zwischen Industrie<br />
und Dienstleistungen<br />
Die Zahlen zum Zustand der Industrie<br />
und ihre öffentliche Wahrnehmung verdecken<br />
einen unterschwelligen Struk -<br />
turwandel. Denn die Bedeutung der<br />
Industrie für die Wirtschaftsleistung<br />
und Beschäftigung nimmt über die Zeit<br />
gesehen zu Gunsten des Dienstleis -<br />
tungs sektors ab. So stiegen zwischen<br />
1970 und 2010 seine Anteile an der Wirt -<br />
schaftsleistung von 48 Prozent auf über<br />
70 Prozent und an der Gesamtbeschäf -<br />
tigung von 45 Prozent auf fast 74 Pro -<br />
zent.5 Sicherlich ist diese Entwicklung<br />
eine Folge des Strukturumbruchs. Markt -<br />
verdrängung, neue Technologien und<br />
5 Siehe dazu: Alexander Eickelpasch: Industrienahe Dienst -<br />
leistungen: Bedeutung und Entwicklungspotenziale, WISO<br />
Diskurs, Bonn 2012.<br />
veränderter Konsum haben in einigen<br />
Industrieregionen zu einer schmerzhaften<br />
Deindustrialisierung geführt.<br />
Doch mehren sich die Anzeichen,<br />
dass dieser Deindustrialisie rungspro -<br />
zess in den letzten zehn Jahren auf -<br />
gehalten wurde. Weitere große Struk -<br />
turverschiebun gen sind ausgeblieben.<br />
Der Struktur wan del ist somit nicht<br />
einem saldenmecha nischen Nullsum -<br />
menspiel gleich zu setzen – nach dem<br />
Motto: Des einen Sektors Verlust ist des<br />
anderen Gewinn. Vielmehr verwischen<br />
die Gren zen zwischen den beiden Wirt -<br />
schafts sektoren. Sie sind zunehmend<br />
mitein ander verflochten und bedingen<br />
sich ge genseitig in ihrer jeweiligen Ent -<br />
wick lung.<br />
Es sind hochwertige unternehmensnahe<br />
Dienstleistungen als neue Ge -<br />
schäfts felder entstanden. Ein wesent -<br />
licher Faktor hierfür ist die zunehmende<br />
Digitalisierung, die alle Geschäfts- und<br />
Produktionsprozesse sowie Kunden be -<br />
ziehungen beeinflusst. Beispielsweise<br />
werden webgestützte Bestellsysteme<br />
eingesetzt oder Industriegüter mit Ser -<br />
vicepaketen verkauft. Die zunehmende<br />
internationale Verflechtung der Firmen<br />
und die Herausbildung internationaler<br />
Wertschöpfungsketten erfordern einen<br />
höheren Steuerungs- und Kontrollbedarf<br />
über Ländergrenzen hinaus. Forschung<br />
und Entwicklung sowie Werbung, Mar -<br />
keting und Design sind entscheidende<br />
Wettbewerbsfaktoren für international<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
69
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
tätige Unternehmen. Entsprechend werden<br />
diese Funktionen entweder von externen<br />
Dienstleistern übernommen oder<br />
sie gehören zu den Kernaufgaben in den<br />
deutschen Konzernzentralen.<br />
Industrie zugleich Teil des<br />
Problems und der Lösung<br />
Als Folge dieser Entwicklung sind die<br />
unternehmensnahen Dienstleistungs -<br />
felder deutlich gewachsen. Ihr Anteil an<br />
der gesamtwirtschaftlichen Produktion<br />
ist zwischen 1970 und 2010 von knapp<br />
14 Prozent auf 32 Prozent gestiegen.<br />
Waren sie 1970 für knapp sechs Prozent<br />
aller Dienstleistungsjobs verantwortlich,<br />
so war 2010 fast jeder Fünfte aus<br />
diesem Sektor dort beschäftigt. Somit<br />
arbeiteten im OECD-Vergleich nur in<br />
Großbritannien und in den USA mehr<br />
Menschen in unternehmensnahen<br />
Dienstleistungen als in Deutschland.<br />
Da die Tätigkeiten eng mit denen ihrer<br />
Auftraggeber in der Industrie verbunden<br />
sind, werden unternehmensnahe Dienst -<br />
leistungen auch exportiert, wenn ihre<br />
Geschäftspartner im Ausland tätig sind.<br />
Somit ist Deutschland hinter den USA<br />
und vor China der zweitgrößte Expor -<br />
teur von unternehmensnahen Dienst -<br />
leistungen.<br />
Ohne Zweifel hat die Industrie eine<br />
tragende Rolle beim hohen Ressourcenund<br />
Energieverbrauch, bei der Emission<br />
von CO2 und von weiteren Schadstoffen<br />
wie Stickoxiden. Gerade die deutschen<br />
Schüsselbranchen der Chemie und der<br />
Metallindustrie haben energieintensive<br />
Produktionsverfahren. Nach Schät zun -<br />
gen des Umweltbundesamtes für das<br />
Jahr 2010 war das verarbeitende Ge -<br />
werbe für 20 Prozent der CO2-Emmissio -<br />
nen verantwortlich. Dennoch ist viel<br />
passiert. Die Energieproduktivität<br />
(BIP/Primärenergieverbrauch) ist seit<br />
1990 um ca. 40 Prozent gestiegen. Es<br />
wird also weniger Energie verbraucht.<br />
Damit stößt das Wirtschaftswachstum<br />
weniger CO2 aus.<br />
Doch bei der reduzierten Energie- und<br />
Kohlenstoffintensität des Wachstums<br />
müssen diverse Sondereffekte berücksichtigt<br />
werden. Zum einen hat der Nie -<br />
dergang der DDR-Industrie als Folge der<br />
Wiedervereinigung einen wesentlichen<br />
und einmaligen Beitrag zur CO2-Emmis -<br />
sionsminderung und Erhöhung der Ener -<br />
gieeffizienz geleistet. Zum anderen ist<br />
die kohlenstoff- und ressourceninten -<br />
sive Produktion im Zuge der vergangenen<br />
Restrukturierungsphasen der deutschen<br />
Industrie ins Ausland (z. B. nach<br />
China) verlagert worden. Da mit wurde<br />
der CO2-Ausstoß exportiert. Zum Teil<br />
werden diese Produkte wieder nach<br />
Deutschland als Endprodukte oder als<br />
Vorleistungen importiert. Aufgrund des<br />
höheren CO2-Ausstoßes bei der Her stel -<br />
lung dieser Produkte importieren wir<br />
mehr CO2-Emissionen als wir exportieren.<br />
Schließlich, obwohl es durchaus<br />
70 April 2013 | Heft 56
PHILIPP FINK | UNGELIEBT, BEGEHRT <strong>UND</strong> DOCH NICHT VERSTANDEN<br />
Fortschritte bei der Ressourcen- und<br />
Energieeffizienz zu verzeichnen gibt, ist<br />
unser Wachstum immer noch im hohen<br />
Maß kohlenstoff- und energieintensiv.<br />
Mit der Erholung der Wirtschaft nach<br />
dem Krisenjahr 2009 stieg auch der<br />
Energie- und Ressourcenverbrauch und<br />
damit der CO2-Austoß erneut an. Von<br />
absoluter Entkopplung kann also keine<br />
Rede sein. Das absolute Niveau der deutschen<br />
CO2-Emissionen bleibt weiterhin<br />
um mehr als das Vierfache über der angestrebten<br />
Menge.<br />
Green Tech als Wachstumsmotor<br />
und Klimaretter<br />
Gleichwohl spielt die Industrie eine<br />
wichtige Rolle bei der Lösung der Um -<br />
welt- und Klimaprobleme. Denn sie kann<br />
die nötigen Technologien und Produkte<br />
liefern, die einen wichtigen Beitrag leisten,<br />
um die Energie-, Ressourcen- und<br />
Materialeffizienz zu erhöhen und den<br />
Ausstoß an Kohlendioxid zu minimieren.<br />
Die Entwicklung des „grünen“ Leit -<br />
markts, auch bekannt als GreenTech,<br />
verdeutlicht dies. Hierunter sind alle<br />
Branchen erfasst, die für den Bereich<br />
Um welttechnik und Ressourceneffizienz<br />
Produkte anbieten. Dies schließt sowohl<br />
Anbieter erneuerbarer Energien ein, als<br />
auch Spezialchemiehersteller, Spezia -<br />
listen für Entsorgungstechnik, Anla gen -<br />
bauer und Automobilzulieferer. Die ser<br />
Leitmarkt ist somit eine Quer schnitts -<br />
branche mit Überschneidungen zu den<br />
klassischen Industriezweigen und Wirt -<br />
schaftssektoren.<br />
Aufgrund der Universalität der Um -<br />
welt- und Klimaproblematik sind Pro -<br />
dukte aus Umwelttechnik und Ressour -<br />
ceneffizienz international nachgefragt.<br />
Angetrieben durch den hohen „grünen“<br />
Anteil an den Konjunkturpaketen, die<br />
als Folge der Finanz- und Wirtschafts -<br />
krise 2008/2009 von vielen Staaten ini -<br />
tiiert wurden, ist der GreenTech-Markt<br />
rasant gewachsen. Betrug der weltweite<br />
Markt 2007 noch 1.383 Milliarden Euro,<br />
wurde sein Umfang 2010 auf 1.930 Mil -<br />
liarden Euro geschätzt. Alleine der deutsche<br />
Markt ist von geschätzten 200 Mil -<br />
liar den Euro auf 282 Milliarden Euro im<br />
gleichen Zeitraum gewachsen.6<br />
Dieser Markt hat sich somit zu einem<br />
wichtigen Geschäftsfeld für deutsche<br />
Unternehmen entwickelt, die einen<br />
Welt marktanteil von 15 Prozent halten.<br />
Bei einer prognostizierten Wachstums -<br />
rate des globalen GreenTech-Markts von<br />
mehr als fünf Prozent pro Jahr wird seine<br />
Bedeutung als Zukunftsmarkt weiter<br />
zunehmen. Bereits 2011 besaß dieser<br />
Wirtschaftszweig in Deutschland einen<br />
Anteil von fast elf Prozent am Bruttoin -<br />
landsprodukt und beschäftigte 1,4 Mil -<br />
lionen Menschen in Dienstleistungen<br />
und Industrie. Sicherlich sind die Wachs -<br />
6 Siehe dazu: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz<br />
und Reaktorsicherheit: GreenTech made in Gemany 3.0<br />
Umwelttechnologie-Atlas für Deutschland, Berlin 2012.<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
71
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
tumsprognosen angesichts der künftigen<br />
konjunkturellen Unwägbarkeiten<br />
mit Vorsicht zu genießen. Sie machen<br />
aber deutlich, dass die Steigerung der<br />
Energie- und Ressourceneffizienz luk -<br />
rative Geschäftsfelder eröffnen sowie<br />
Be schäftigung sichern und ausbauen<br />
kann. Somit findet ein Strukturwandel<br />
statt, der zugleich der traditionellen<br />
Industrie und ihren Arbeitnehmern neue<br />
Möglich keiten beim ökologischen Um -<br />
bau schafft.<br />
Eine integrierte Industriepolitik<br />
wird gesucht<br />
Die kurze Zustandsbeschreibung der<br />
deutschen Industrie unterstreicht die<br />
zentrale Bedeutung für Wachstum und<br />
Beschäftigung. Allerdings sind Schief -<br />
lagen zu erkennen, die behoben werden<br />
müssen, um fehlerhafte Entwicklungen<br />
und spätere schmerzhafte Restruktu rie -<br />
rungen zu umgehen. In diesem Fall ist<br />
die Politik gefragt, entsprechende An -<br />
reize zu schaffen und Unterstützung zu<br />
leisten. Denn die geforderte Renaissance<br />
der Industrie setzt eine kluge Industrie -<br />
politik voraus. Zwar findet Industrie po -<br />
litik in verschiedenem Umfang und durch<br />
verschiedene Akteure auf verschiedenen<br />
Politikebenen statt, doch sind diese Maß -<br />
nahmen in seltenen Fäl len koordiniert<br />
und miteinander abgestimmt.7<br />
Das starke Wachstum des grünen<br />
Leitmarkts unterstreicht die wichtige<br />
Rolle des Staats bei der Schaffung von<br />
Märkten, der Gestaltung von Rahmen -<br />
bedingungen und dem Setzen von An -<br />
reizen, um Markteintrittsbarrieren abzuschaffen.<br />
Ohne die Konjunktur pakete<br />
der vergangenen Jahre wäre der Markt<br />
für Umwelttechnik und Ressourceneffi -<br />
zienz nicht in der Form gewachsen.<br />
Ebenso ist es undenkbar, dass der Sie -<br />
geszug der erneuerbaren Energien ohne<br />
das entsprechende Gesetz stattgefunden<br />
hätte. Der Erfolg von GreenTech zeigt<br />
auch, dass die Industriepolitik als Quer -<br />
schnittsaufgabe stärker in den Dienst<br />
gesellschaftlicher Bedürfnisse gestellt<br />
werden muss und sich nicht an einzelnen<br />
Politikfeldern orientiert oder ein -<br />
zelne Branchen und Technologien fördert.<br />
Die enger werdende Verzahnung<br />
zwischen Dienstleistungen und materieller<br />
Produktion erfordert eine integrierende<br />
Vorgehensweise, die einen<br />
branchen- und sektorübergreifenden<br />
Ansatz verfolgt. Damit muss Dienstleis -<br />
tungspo litik Teil einer integrierten<br />
Indus triepolitik sein.<br />
Ständige Innovationen sind ein we -<br />
sent licher Wettbewerbsfaktor für die<br />
deutsche Industrie. Entsprechend sollte<br />
die Forschungspolitik auf die Verzah nung<br />
von Unternehmen aus den verschie denen<br />
7 Jörg Meyer-Stamer, Moderne Industriepolitik oder post mo -<br />
derne Industriepolitiken?, Schriftenreihe Moderne Indus trie -<br />
politik 1/2009, Berlin.<br />
8 Hans G. Schreck und Uwe Thomas, Nachhaltige Wettbe werbs -<br />
fähigkeit durch junge Unternehmen, WISO direkt, Bonn.<br />
72 April 2013 | Heft 56
PHILIPP FINK | UNGELIEBT, BEGEHRT <strong>UND</strong> DOCH NICHT VERSTANDEN<br />
Technologiesparten achten und die Zu -<br />
sammenarbeit mit den Hochschulen unterstützen.<br />
Aufgrund des Kostendrucks<br />
im internationalen Wettbewerb und der<br />
hohen Eintritts barrieren sollte die For -<br />
schungspolitik am Einsatz des Personals<br />
ansetzen. Somit können beschäftigungspolitische<br />
Effekte erzielt werden und junge<br />
Unter nehmen unterstützt werden.8<br />
Schließlich muss die beginnende<br />
Ab hängigkeit des Exports von wenigen<br />
außereuropäischen Märkten abgewendet<br />
und die Dominanz der industriellen Wert -<br />
schöpfung durch wenige Branchen gemildert<br />
werden. Die Stärkung der Binnen -<br />
nachfrage in Deutschland kann hierbei<br />
eine wichtige Rolle spielen. Denn zum<br />
einen werden Konsum und Investi tio nen<br />
angeregt. Zum anderen könnte der gebeutelte<br />
Euroraum von einer verstärkten<br />
deutschen Importnachfrage profitieren.<br />
Doch diese Aufgabe ist nicht nur durch<br />
die Industriepolitik zu lösen, sondern<br />
durch eine europäische Krisen politik, die<br />
nicht allein auf Austerität setzt.|<br />
DR. PHILIPP FINK<br />
ist Referent für Nachhaltige Strukturpolitik<br />
in der Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
73
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
74 April 2013 | Heft 56
ANDREA WICKLEIN | <strong>WO</strong>HLSTAND MUSS ERWIRTSCHAFTET WERDEN!<br />
<strong>WO</strong>HLSTAND<br />
MUSS ERWIRTSCHAFTET<br />
WERDEN!<br />
Wie die kleinen und mittleren Unternehmen<br />
weiter für wirtschaftlichen Aufschwung sorgen<br />
können — Von Andrea Wicklein<br />
Wir sind ein reiches Land. Wir bau -<br />
en die besten Autos und Flug -<br />
zeuge. Wir haben die besten Ingenieure.<br />
Wir forschen, entwickeln und verkaufen<br />
unsere Ideen und Produkte weltweit.<br />
„Made in Germany“ ist ein Qualitäts merk -<br />
mal – weltweit anerkannt und geschätzt.<br />
Gleichzeitig spüren die Menschen in<br />
Deutschland, dass die Schere zwischen<br />
„arm“ und „reich“ immer weiter auseinandergeht.<br />
Dies wurde beispielsweise<br />
sehr deutlich in der Diskussion über den<br />
von der Bundesregierung zensierten Ar -<br />
muts- und Reichtumsbericht.<br />
Wir können unseren Wohlstand heu -<br />
te nur dann sichern, wenn wir unser<br />
Land zusammenhalten, wenn alle Men -<br />
schen gleiche Chancen haben und niemand<br />
zurückbleiben muss. Deshalb<br />
müssen wir soziale Gerechtigkeit und<br />
wirtschaftlichen Erfolg endlich wieder<br />
miteinander verbinden. Dafür brauchen<br />
wir den gesetzlichen Mindestlohn, eine<br />
solidarische Bürgerversicherung und<br />
Bildungs chancen für alle. Jedoch: Wohl -<br />
stand muss erwirtschaftet werden. So -<br />
ziale Gerechtigkeit und wirtschaft liches<br />
Wachstum sind zwei Seiten derselben<br />
Medaille. Einerseits ist der soziale Frie -<br />
den in Deutschland ein wesent licher<br />
Faktor des wirtschaftlichen Erfolgs.<br />
Andererseits wäre unser soziales Sys -<br />
tem ohne die Leistungskraft der Unter -<br />
nehmen und ihrer Mitarbeiterin nen und<br />
Mitarbeiter nicht zu halten.<br />
Der Mittelstand stellt 60 Prozent<br />
der Arbeitsplätze<br />
Deshalb brauchen wir eine aktive Indus -<br />
trie- und Mittelstandspolitik. Unterneh -<br />
mergeist ist Voraussetzung für den Fort -<br />
bestand der sozialen Markt wirt schaft<br />
und den gesellschaftlichen Zu sam men -<br />
halt in Deutschland: Mittel stän dische<br />
Unternehmen erbringen 40 Pro zent<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
75
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
unse rer Wirtschaftsleistung. Sie be -<br />
schäftigen 60 Prozent unserer Arbeit -<br />
nehmerinnen und Arbeitnehmer und<br />
biden 80 Prozent der Azubis aus. Der<br />
deutsche Mittelstand und das Hand -<br />
werk sind nicht nur das vielgepriesene<br />
Rückgrat der deutschen Wirtschaft:<br />
Sie sind vielmehr ihr Herz.<br />
Es fehlen große<br />
Unternehmeszentralen …<br />
Die vielen kleinen und mittleren Unter -<br />
nehmen stehen für Qualität, Erfinder -<br />
geist, Wettbewerbsfähigkeit, ebenso<br />
wie für soziale Verantwortung, gute<br />
Arbeit und Aufstiegschancen. Rund<br />
3,7 Millio nen kleine und mittlere Unter -<br />
nehmen sowie Selbständige in Hand -<br />
werk, Industrie, Handel, Touris mus,<br />
Dienst leistungen und Freien Berufen<br />
prägen die Vielfalt und den Erfolg des<br />
deutschen Mittelstandes. Gemeinsam<br />
mit ihren Arbeitnehmern sorgen sie mit<br />
Kreativität und Innovationen für die<br />
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen<br />
Wirtschaft. Und das tun sie nicht weit<br />
weg, sondern direkt vor Ort: in unserer<br />
Region, unserer Stadt, unserer direk -<br />
ten Nachbarschaft. In Brandenburg<br />
ist die Wirtschaft eindeutig kleinteilig<br />
orga nisiert. Im Durchschnitt hat ein<br />
mittel ständischer Betrieb bei uns<br />
14 Be schäf tigte. Zum Vergleich: Im<br />
Bundes durch schnitt sind es 18. Uns<br />
fehlen immer noch Unternehmens -<br />
zentra len, aber: diese Kleinteiligkeit ist<br />
nicht zwangsläufig ein Nachteil.<br />
Kleine und mittlere Unternehmen<br />
sind sehr flexibel, innovativ und zeichnen<br />
sich häufig durch eine starke regionale<br />
Verbundenheit aus. In der Finanzund<br />
Wirtschaftskrise war es zuallererst<br />
der Mittelstand, der unser Land gut<br />
durch diese Krise geführt hat – mit<br />
Vernunft und Verantwortung, langfris -<br />
tiger Orientierung und Verzicht auf<br />
kurzsichtige Zockerei. Auch deshalb<br />
war Bran denburg weniger von der Krise<br />
betroffen als andere Bundesländer. De -<br />
mo grafischer Wandel, Fachkräfte man -<br />
gel, Kreditfinanzierungen, Energie wen -<br />
de, Forschung und Entwicklung und<br />
Bürokratiebelastung – das sind die The -<br />
men, die landauf, landab mittelstän -<br />
dische Unternehmer beschäftigen. Im<br />
Vergleich zu großen Konzernen haben<br />
mittelständische Unternehmen und<br />
Handwerksbetriebe besondere Chancen,<br />
aber auch spezifische Herausforde run -<br />
gen in diesen Bereichen zu bewältigen.<br />
Sie stehen mit den Großunternehmen in<br />
einer harten Konkurrenz um Fachkräfte,<br />
haben einen eingeschränkteren finanziellen<br />
Spielraum und sind vom bürokratischen<br />
Aufwand vergleichsweise<br />
höher betroffen.<br />
Ein starker Mittelstand braucht also<br />
Rahmenbedingungen, die ihn stark<br />
machen. Die SPD setzt weiterhin auf<br />
den Erfolg der sozialen Marktwirtschaft<br />
in Deutschland. Ein starker und innova-<br />
76 April 2013 | Heft 56
ANDREA WICKLEIN | <strong>WO</strong>HLSTAND MUSS ERWIRTSCHAFTET WERDEN!<br />
tiver Mittelstand ist der Garant dafür.<br />
Denn Innovationen in Wirtschaft und<br />
Gesellschaft sind Schlüsselfaktoren für<br />
Wachstum und Beschäftigung. Und es<br />
ist die Innovationsfähigkeit unserer<br />
kleinen und mittleren Unternehmen,<br />
die unseren Wohlstand entscheidend<br />
mitbegründet. Es ist ihre Risiko- und<br />
Leis tungsbereitschaft, die Wachstum,<br />
Wohlstand und Innovation sichern.<br />
Wir wollen die Rahmenbedingungen<br />
zur Entfaltung von Mittelstand, Selb -<br />
stän digkeit und Existenzgründungen<br />
verbessern. Das Handwerk spielt da bei<br />
– auch als „Ausbilder der Nation“ – eine<br />
zentrale Rolle.<br />
… und es fehlen qualifizierte<br />
Fachkräfte<br />
„Innovation“ heißt wörtlich „Neue rung“<br />
oder auch „Erneuerung“. Inno va tionen<br />
sind der Schlüsselfaktor, um den tiefgreifenden<br />
Veränderungen in der Gesell -<br />
schaft und den globalen ökonomischen<br />
und ökologischen Herausfor de rungen<br />
erfolgreich zu begegnen. Es sind die<br />
Ideen der kleinen und mittleren Unter -<br />
nehmen für neuartige Produkte und ihre<br />
Bereitschaft, die Unsicher heiten der<br />
Entwicklung in Kauf zu nehmen, die<br />
ein Schlüssel zur globalen Wettbewerbs -<br />
fä higkeit Deutschlands sind. Mit über<br />
30.000 forschenden und 110.000 hoch<br />
innovativen Unternehmen gibt der<br />
deut sche Mittelstand das Entwick lungs -<br />
tempo vor. Dabei hat die Zahl der forschenden<br />
kleinen und mittleren Unter -<br />
nehmen in den vergangenen Jahren<br />
deutlich zugenommen.<br />
Allerdings stellt sich die Situation in<br />
Brandenburg ein wenig anders dar: Auf -<br />
grund der fehlenden Unterneh mens -<br />
zentralen fehlt es letztendlich auch an<br />
unternehmensnaher und unternehmenseigener<br />
Forschung und Entwick -<br />
lung. Zwar konzentriert sich in der<br />
Region Berlin-Brandenburg 25 Prozent<br />
der deutschen Grundlagenforschung,<br />
aber die anwendungsbezogene Indus -<br />
triefor schung ist in Brandenburg unterentwickelt.<br />
Die Ausgaben für Forschung<br />
und Entwicklung von Staat und Hoch -<br />
schulen liegen in Ostdeutschland bei<br />
300 Euro pro Einwohner und damit<br />
60 Euro höher als die durchschnittliche<br />
Investitions höhe in den alten Ländern.<br />
Aber: Die Ausgaben der Wirtschaft in<br />
diesem Bereich belaufen sich in Ost -<br />
deutschland auf 220 Euro pro Ein woh -<br />
ner – in den alten Ländern sind es im<br />
Vergleich 640 Euro. Hier besteht für<br />
Brandenburg noch Handlungsbedarf.<br />
Wie Studien belegen, schaffen Mit -<br />
telständler in innovationsgetriebenen<br />
Wirtschaftszweigen deutlich mehr<br />
Arbeitsplätze als Unternehmen in an -<br />
deren Branchen. Davon profitieren<br />
natürlich auch die Kommunen und<br />
Länder. Gleichwohl haben kleine und<br />
mittlere Unternehmen vielfach mit<br />
Innova tions hemmnissen zu kämpfen:<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
77
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
Mangel an Fachkräften, schwierige Fi -<br />
nanzie rungs bedingungen und Be las tun -<br />
gen durch Bürokratie.<br />
Stichwort „Fachkräftemangel“: Als<br />
Haupthemmnis wird seitens der Unter -<br />
nehmen der zunehmende Fachkräfte -<br />
mangel, insbesondere in den sogenannten<br />
MINT (Mathematik, Ingenieurs-,<br />
Naturwissenschaften und Technologie)-<br />
Berufen genannt. Ohne Arbeitnehmer<br />
mit dem erforderlichen Fachwissen,<br />
sind Unternehmen schlichtweg nicht in<br />
der Lage zu Innovation, Wachstum und<br />
Wohl stand beizutragen. Mittelstand<br />
und Handwerk brauchen bei der Siche -<br />
rung ihrer Fachkräftebasis besondere<br />
Unter stützung. Häufig können kleinere<br />
und mittlere Unternehmen nicht mit<br />
den Angeboten von großen Unter neh -<br />
men an Hochschulabsolventen und<br />
Facharbei tern konkurrieren. Es gehört<br />
inzwischen zu ihrer Alltagserfahrung,<br />
dass die großen Unternehmen die<br />
Fachkräfte direkt von der Universität<br />
oder Fachhoch schu le anwerben. Die<br />
Fachkräftesicherung ist eine der zen -<br />
tralen wirtschaftlichen und sozialen<br />
Fragen in den kommenden Jahren. Das<br />
bestehende Fachkräfte po tenzial in<br />
Deutschland wird bislang nicht an -<br />
nähernd ausgeschöpft. Nach Berech -<br />
nungen der Bundesagentur für Arbeit<br />
könnten bis 2025 zusätzlich bis zu<br />
5,2 Mil lio nen Fachkräfte gewonnen<br />
werden – insbesondere unter Jugend -<br />
lichen, Frauen, Älteren, Migrantinnen<br />
und Mi granten. Gleiches gilt für die Ge -<br />
ringqua li fizierten.<br />
Klar ist: die Fachkräftebasis muss<br />
sich verbreitern. Dazu muss die Verein -<br />
barkeit von Beruf und Familie verbessert<br />
und ausgebaut werden. Statt eines<br />
unsinnigen Betreuungsgeldes bedarf es<br />
mehr Investitionen in Kita-Plätze. Das<br />
Ziel muss es sein, mehr Frauen und<br />
Männer in Arbeit zu bringen und nicht,<br />
sie mit falschen Anreizen zum Zuhausebleiben<br />
aufzufordern. Um einem Fach -<br />
kräftemangel effektiv entgegenwirken<br />
zu können, bedarf es auch mehr Durch -<br />
lässigkeit im Bildungssystem. Deshalb<br />
ist es unerlässlich, das Kooperations -<br />
ver bot zwischen Bund und Ländern<br />
aufzuheben.<br />
Ohne Zuwanderung wird<br />
unsere Wirtschaft ärmer<br />
Ein zentraler Baustein zur Fachkräf te -<br />
sicherung ist die Beschäftigung Älterer.<br />
Viele Unternehmen haben die Po ten zi -<br />
ale älterer Beschäftigter längst erkannt<br />
und eigene Initiativen gestartet, um<br />
diese noch stärker zu erschließen. Wei -<br />
terbildung und Qualifizierung bleiben<br />
daher Voraussetzung für die Berufs tä -<br />
tig keit älterer Arbeitnehmerinnen und<br />
Arbeitnehmer.<br />
Zu einer effektiven breiten Fachkräf -<br />
te basis gehören auch ausländische<br />
Fachkräfte. Ihnen muss der Anfang in<br />
78 April 2013 | Heft 56
ANDREA WICKLEIN | <strong>WO</strong>HLSTAND MUSS ERWIRTSCHAFTET WERDEN!<br />
Deutschland erleichtert werden. Dazu<br />
gehört eine wirkliche Willkommens -<br />
kultur. Ein erster Anfang wäre beispielsweise<br />
schon gemacht, wenn eine Art<br />
„Lotsendienst“ eingerichtet werden<br />
würde: In einem ersten Schritt könnten<br />
die wichtigsten Formulare in englischer<br />
Sprache zur Verfügung gestellt werden.<br />
Darüber hinaus sollte die Betreuung aus<br />
einer Hand bei Anmeldung, Suche von<br />
Wohnung oder eines Schul- oder Kinder -<br />
gartenplatzes erfolgen. Denn: Ohne Zu -<br />
wan derung wird unsere Wirtschaft är -<br />
mer, ausländische Fachkräfte werden in<br />
Deutschland gebraucht.<br />
Stichwort „Schwierige Finanzie -<br />
rungs bedingungen“: Während die großen<br />
Unternehmen eigene Forschungsund<br />
Entwicklungsabteilungen in ihr<br />
Unter nehmen integriert haben, muss<br />
dieser Bereich bei kleinen und mittleren<br />
Unter nehmen eher neben dem normalen<br />
Tagesgeschäft mitlaufen. Und in der<br />
Regel können sie „Forschung und Ent -<br />
wicklung“ nicht allein aus Eigenmitteln<br />
finanzieren. Zum einen haben viele mittelständische<br />
Unternehmen immer noch<br />
zu wenig Eigenkapital und zum anderen<br />
treten häufig Schwierigkeiten bei der<br />
Beschaffung externen Kapitals auf.<br />
Be gründet liegt dies einerseits in den<br />
un sicheren Verwertungsmöglichkeiten:<br />
Nicht jede Innovation taugt für eine<br />
wirt schaftliche Umsetzung. Sie mag<br />
einen hohen wissenschaftlichen Er -<br />
kennt nisgewinn haben, aber ein ökonomischer<br />
Gewinn ist deshalb nicht zwin -<br />
gend. Andererseits bieten Innovationen<br />
an sich keine Sicherheiten, die beispielsweise<br />
für eine Kreditfinanzierung he ran -<br />
gezogen werden könnten.<br />
Klassische Förderungen<br />
greifen nicht<br />
Aufgrund dieser großen Unsicherheit<br />
greifen klassische Förderinstrumente in<br />
diesen Fällen meist nicht. Somit entstehen<br />
große Förderlücken und in der<br />
Folge gehen Chancen verloren. Diesen<br />
Luxus kann sich Deutschland schlichtweg<br />
nicht leisten. Wie kann man also<br />
die Innovationsfähigkeit von kleinen<br />
und mittleren Unternehmen stärken?<br />
Ein Vorschlag der SPD-Bundestags -<br />
fraktion ist die Einrichtung eines Inno -<br />
vationsfonds. Dieser hätte die Aufgabe<br />
die Lücken zu schließen, die derzeit<br />
durch klassische Förderinstrumente<br />
oder am Kapitalmarkt nicht geschlossen<br />
werden können. Bei der organisatorischen,<br />
inhaltlichen und finanziellen<br />
Unterstützung innovativer Projekte,<br />
von der Validierungsforschung über die<br />
Gründung bis zur Wachstumsfi nan zie -<br />
rung könnte der Innovationsfonds eine<br />
große Hilfe sein.<br />
Neben der bewährten Projektförde -<br />
rung durch den Bund, wie beispielsweise<br />
im „Zentralen Innovationsprogramm<br />
für den Mittelstand (ZIM)“, muss eine<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
79
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
Form der steuerlichen Forschungs för -<br />
derung etabliert werden. Dabei sind<br />
Mit nahme effekte zu vermeiden und<br />
auch jene Unternehmen zu unterstützen,<br />
die mangels Gewinnen keine Steu -<br />
er gut schrif ten erhalten können. Die<br />
SPD-Bundestags fraktion schlägt dazu<br />
die Einführung einer steuerlichen For -<br />
schungs förderung in Form der wachstumsorientierten<br />
Personalkostenzulage<br />
vor, das sogenannte „Forschergeld“.1<br />
Innovationen haben ihren Ursprung<br />
oftmals in jungen Unternehmen, denen<br />
aber zu wenig privates Beteiligungs ka -<br />
pital zur Verfügung steht. Alternative<br />
Finanzierungsinstrumente wie private<br />
Wagniskapitalfonds oder auch Investi -<br />
tio nen durch sogenannte „Business<br />
Angels“ werden zu selten in Betracht<br />
gezogen. Hier gibt es noch viel zu tun.<br />
Die deutsche Wirtschaft braucht einen<br />
gesicherten Zugang zu Kapital. Gleich -<br />
zeitig muss sie ihren Beitrag zur fiskalischen<br />
Stabilität unseres Landes leisten.<br />
Dazu gehört eine angemessene Besteu -<br />
erung, die die Unternehmen nicht über<br />
Gebühr belastet und den verschiedenen<br />
Bedürf nissen des Mittelstands und des<br />
Hand werks gerecht wird. Denn auch das<br />
muss klar sein: Um wirtschaftsfördernde<br />
Maßnahmen, wie Investitionen in<br />
Bil dung und Infrastruktur finanzieren<br />
zu können, braucht es einen handlungsfähigen<br />
Staat.<br />
1 erstmals von Peer Steinbrück in seinen „Siegener Thesen“<br />
Grundlagen für wirtschaftlichen Er -<br />
folg und individuellen Wohlstand sind<br />
zwar die persönlichen Leistungen von<br />
Unternehmerinnen und Unternehmern<br />
und gleichermaßen der Arbeitnehmerin -<br />
nen und Arbeitnehmer. Dennoch ist die<br />
Wirtschaftskraft eines Landes immer<br />
auch abhängig vom Grad des sozialen<br />
Frie dens, der Bildungschancen, der Infra -<br />
struktur und vielem mehr. Die Verbin -<br />
dung von wirtschaftlicher Leis tung und<br />
gesichertem sozialen Fort schritt ist das<br />
Prinzip der sozialen Markt wirtschaft.<br />
Dies gilt auch im Hin blick auf die Ausge -<br />
staltung des Steuer systems.<br />
Wie kann man Innovationen<br />
verwerten?<br />
Zu einer Innovationsstrategie für den<br />
Mittelstand gehört auch die Stärkung<br />
des Wissens- und Forschungstransfers –<br />
von der Idee bis hin zur wirtschaftlichen<br />
Verwertung. Es gibt in Brandenburg<br />
gute Beispiele von gemeinnützigen<br />
externen Industrieforschungseinheiten,<br />
sogenannten „Forschungs-GmbH’en“.<br />
Wie beispielsweise das Institut für<br />
Getrei deverarbeitung in Nuthetal, die<br />
Schiffs bau-Versuchsanstalt in Potsdam<br />
oder auch Biopos in Teltow. Durch sie<br />
werden Forschungs- und Entwicklungs -<br />
ergeb nisse für die Allgemeinheit diskriminierungsfrei<br />
zur Verfügung gestellt.<br />
Warum also nicht von diesen guten<br />
Beispielen lernen und nach dem „best<br />
80 April 2013 | Heft 56
ANDREA WICKLEIN | <strong>WO</strong>HLSTAND MUSS ERWIRTSCHAFTET WERDEN!<br />
practice“-Grundsatz eine Förderung für<br />
solche Forschungs-GmbH’en bundesweit<br />
einrichten?<br />
Das Motto „Gemeinsam sind wir stark“<br />
gilt: Innovationen entstehen vor allem<br />
dort, wo sich Partner aus Wirt schaft, Wis -<br />
senschaft und Bildung in Inno vations -<br />
bündnissen zusammenschließen, um die<br />
Wertschöpfung und Wettbewerbsfähig -<br />
keit ihrer Regionen zu erhöhen. Frei nach<br />
dem Satz „Tue Gutes und rede darüber“<br />
sollten solche Technologie transfer an ge -<br />
bote der Hoch schu len bundesweit, mittelstandsfreund<br />
li cher und sichtbarer kommuniziert<br />
wer den. Eine Möglichkeit<br />
be stünde zum Beispiel darin, Informatio -<br />
nen über Ko ope rationsangebote von<br />
Hoch schulen und deren fachliche An -<br />
sprech partner in Form einer öffentlichen<br />
Datenbank im Internet gebündelt zur<br />
Ver fügung zu stellen.<br />
Bürokratieabbau bleibt<br />
auf der Tagesordnung<br />
So gibt es in Brandenburg viele gute<br />
Beispiele, wo die kleinen und mittleren<br />
Unternehmen eng und erfolgreich mit<br />
Universitäten und Forschungs ein rich -<br />
tungen in Clustern, Netzwerken und<br />
Verbünden zusammenarbeiten. Insge -<br />
samt in neun Clustern, beispielsweise<br />
für den Bereich Energie, Gesundheits -<br />
wirtschaft oder auch Verkehr, Mobilität<br />
und Logistik funktioniert diese Zu sam -<br />
menarbeit bereits vorbildlich.<br />
Stichwort „Bürokratiebe lastun -<br />
gen“: Unternehmergeist braucht Frei -<br />
raum. Der wird insbesondere für Grün -<br />
derinnen und Gründer und für kleine<br />
Unter neh men durch zu viel Bürokratie<br />
bedroht. Unnö tige, für den Mittelstand<br />
kostenträchtige Regelungen müssen<br />
abgeschafft werden, dazu gehört zum<br />
Bei spiel die Verkürzung der Aufbewah -<br />
rungs pflich ten für Rech nungen und Bele -<br />
ge. Sie wäre einfach umzusetzen und<br />
hätte eine effektive Ent lastung zur Folge.<br />
Die Bewältigung bürokratischer<br />
Pflichten gehört für kleine und mittlere<br />
Unternehmen nach wie vor zu den größten<br />
Herausforderungen. Wenngleich<br />
kleine und mittelständische Unter neh -<br />
men im Rahmen ihrer Informa tions -<br />
pflichten in den letzten Jahren entlastet<br />
wurden, so sind sie durch den Erfül -<br />
lungs aufwand gesetzlicher Vorgaben im<br />
Vergleich zu Großunternehmen überproportional<br />
belastet. Viele mittelständische<br />
Unternehmen holen sich für Auf -<br />
gaben dieser Art externe Unterstützung,<br />
was aber wiederum Kosten verursacht,<br />
die für Investitionen nicht mehr zur Ver -<br />
fügung stehen. Schätzungen zufolge<br />
müssen im EU-Raum größere Unterneh -<br />
men für eine Regulierungsmaßnahme<br />
durchschnittlich ein Euro pro Mitar bei -<br />
ter ausgeben, kleine und mittlere Unter -<br />
nehmen dagegen bis zu zehn Euro pro<br />
Mitarbeiter. Deshalb wäre es sinnvoll,<br />
wenn die nationale und die europä ische<br />
Rechtsetzung von Vornherein auf den<br />
perspektive<strong>21</strong><br />
81
SCHWERPUNKT | <strong>WO</strong> <strong>ES</strong> <strong>STINKT</strong> <strong>UND</strong> <strong>KRACHT</strong><br />
Mittelstand ausgerichtet werden würde.<br />
Die von der EU angekündigten Maß nah -<br />
men zur Verringerung der Ver waltungs -<br />
lasten für kleine und mittlere Unter neh -<br />
men sind in diesem Zusam men hang zu<br />
begrüßen. Nach wie vor wäre deshalb<br />
ein Normenkontrollrat auf europä ischer<br />
Ebene ein wichtiges Instrument um<br />
über flüssige Bürokratie zu verhindern.<br />
Verlässlichkeit schafft<br />
Sicherheit<br />
„Wohlstand muss erwirtschaftet werden“<br />
– dazu bedarf es in erster Linie<br />
eines starken Mittelstandes. Um diese<br />
Stärke behaupten zu können, brauchen –<br />
und erwarten – mittelständische Unter -<br />
nehmer von der Politik vor allem eines:<br />
Verlässlichkeit. Das Gegenteil wird<br />
deut lich, wenn man die Energiepolitik<br />
der schwarz-gelben Bundesregierung<br />
betrachtet. In Brandenburg wurden<br />
tausende Arbeitsplätze vernichtet,<br />
weil die Förderung von Solarstrom<br />
von heute auf morgen reduziert wurde.<br />
Verlässlichkeit sieht anders aus.<br />
Wir brauchen eine Energiepolitik,<br />
die Umwelt- und Klimazielen ebenso<br />
ge recht wird wie den Ansprüchen an<br />
wirtschaftliches Wachstum und inter -<br />
nationale Wettbewerbsfähigkeit der<br />
Wirt schaft. Die Energiewende bietet<br />
dabei vielfältige Chancen für den deutschen<br />
Mittelstand und das Handwerk.<br />
Bran denburg ist hier im wahrsten Sinne<br />
des Wortes „Spitze“ – bereits zum dritten<br />
Mal in Folge bekam das Land den<br />
„Leit stern“, den Bundesländerpreis für<br />
Er neuerbare Energien, in der Kategorie<br />
„Gesamtsieger“ verliehen. Brandenburg<br />
beweist eindrucksvoll, wie die Energie -<br />
wende funktionieren kann: Die rege ne -<br />
rativen Energien erweisen sich in unserem<br />
Land als Motor für wirtschaftli ches<br />
Wachstum. Dadurch sind in Industrie,<br />
Handwerk und begleitenden Dienst leis -<br />
tungen inzwischen nahezu <strong>21</strong>.000 Ar -<br />
beits plätze entstanden. Ver lässlich,<br />
bezahlbar, nachhaltig: Diese Attribute<br />
muss die Versorgung mit Energie und<br />
Rohstoffen erfüllen – für die Bürger in -<br />
nen und Bürger ebenso wie für die<br />
kleinen und mittelständischen Unter -<br />
neh men.<br />
Verlässlichkeit schafft Sicherheit,<br />
Sicherheit schafft die Grundlagen, um<br />
wieder zu investieren, zu wachsen und<br />
gute Arbeit und Aufstiegschancen zu<br />
schaffen. Und diese Grundlagen sind<br />
die Basis für unseren Wohlstand. |<br />
ANDREA WICKLEIN<br />
ist Bundestagsabgeordnete<br />
und Mittelstandsbeauftragte der<br />
SPD-Bundestagsfraktion.<br />
82 April 2013 | Heft 56
DAS DEBATTENMAGAZIN<br />
Wie werden wir im <strong>21</strong>. Jahrhundert leben? Die alten Lösungen taugen nicht mehr, die neuen<br />
kommen nicht von selbst. Die Berliner Republik ist der Ort für die wichtigen Debatten unserer<br />
Zeit: progressiv, neugierig, undogmatisch. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.<br />
Die Berliner Republik erscheint 5 mal jährlich. Das Einzelheft kostet 8,00 € zuzüglich 1,53 € Versandkosten.<br />
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Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich.<br />
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Seit 1997 erscheint<br />
„perspektive <strong>21</strong> – Brandenburgische Hefte<br />
für Wissenschaft & Politik“.<br />
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perspektive<strong>21</strong><br />
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Heft 23 Kinder? Kinder!<br />
Heft 25 Erneuerung aus eigner Kraft<br />
Heft 26 Ohne Moos nix los?<br />
Heft 27 Was nun Deutschland?<br />
Heft 28 Die neue SPD<br />
Heft 30 Chancen für Regionen<br />
Heft 31 Investitionen in Köpfe<br />
Heft 32 Auf dem Weg ins <strong>21</strong>.Jahrhundert<br />
Heft 34 Brandenburg in Bewegung<br />
Heft 35 10 Jahre <strong>Perspektive</strong> <strong>21</strong><br />
Heft 36 Den Rechten keine Chance<br />
Heft 37 Energie und Klima<br />
Heft 38 Das rote Preußen<br />
Heft 39 Osteuropa und wir<br />
Heft 40 Bildung für alle<br />
Heft 41 Eine neue Wirtschaftsordnung?<br />
Heft 42 1989 - 2009<br />
Heft 43 20 Jahre SDP<br />
Heft 44 Gemeinsinn und Erneuerung<br />
Heft 45 Neue Chancen<br />
Heft 46 Zwanzig Jahre Brandenburg<br />
Heft 47 It’s the economy, stupid?<br />
Heft 48 Wie wollen wir leben?<br />
Heft 49 Geschichte, die nicht vergeht<br />
Heft 50 Engagement wagen<br />
Heft 51 Die Zukunft der Kommunen<br />
Heft 52 Die Zukunft der Medien<br />
Heft 53 Welche Hochschulen braucht das Land?<br />
Heft 54 Quo vadis Brandenburg?<br />
Heft 55 Sport frei!