Dokumentation-Jahrestagung 2011 - Bundesministerium für Bildung ...
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<strong>Jahrestagung</strong> <strong>2011</strong><br />
Perspektive Berufsabschluss<br />
<strong>Dokumentation</strong> der <strong>Jahrestagung</strong> vom 6. bis 7. Oktober <strong>2011</strong><br />
in Frankfurt am Main
Impressum<br />
Herausgeber<br />
<strong>Bundesministerium</strong><br />
für <strong>Bildung</strong> und Forschung (BMBF)<br />
Referat Berufsorientierung,<br />
Chancengerechtigkeit für Jugendliche<br />
53170 Bonn<br />
Internet: http://www.bmbf.de<br />
Redaktion<br />
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR),<br />
Projektträger im DLR (PT-DLR), Bonn<br />
Gestaltung<br />
Multitask Agentur für Live-Markenführung GmbH<br />
Druck<br />
Europrint medien GmbH<br />
Bonn, Berlin 2012<br />
Bildnachweis<br />
Fotograf: Sven Hobbiesiefken
1<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Einführung 3<br />
Chancengerechtigkeit als bildungspolitisches Ziel der Bundesregierung<br />
Grußwort Kornelia Haugg, Leiterin der Abteilung „Berufliche <strong>Bildung</strong>; Lebenslanges Lernen“<br />
im <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung<br />
Chancengerechtigkeit und <strong>Bildung</strong>szugänge – Betrachtungen aus Landessicht<br />
Klaus Wilhelm Ring, Abteilung „Berufliche Schulen, Schulen für Erwachsene,<br />
Lebensbegleitendes Lernen“, Hessisches Kultusministerium<br />
Chancengerechtigkeit als bildungspolitische Forderung und ökonomische Notwendigkeit<br />
Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der<br />
Deutschen Arbeitgeberverbände<br />
Chancen verbessern – Strukturen optimieren – Fachkräfteentwicklung fördern<br />
Fachdiskussion<br />
4<br />
9<br />
17<br />
26<br />
Fachforen – Chancengerechtigkeit als bildungspolitisches Ziel 30<br />
Forum 1<br />
Herkunft, soziales Umfeld, geschlechtsspezifische Hürden und Berufswahlverhalten:<br />
Optimierung durch das Regionale Übergangsmanagement<br />
Forum 2<br />
Regionales Übergangsmanagement als bildungspolitische Koordinationsstrategie:<br />
Kooperationen von Programmen zur Verbesserung der Übergänge von der Schule<br />
in die Berufsausbildung<br />
Forum 3<br />
Beteiligung an beruflicher <strong>Bildung</strong> erhöhen: interkulturelle Netzwerke zur Erschließung<br />
der Potenziale von (jungen) Menschen mit Migrationsgeschichte<br />
Forum 4<br />
Fachkräftebedarf von Unternehmern sichern: mit Nachqualifizierung Personalentwicklung<br />
An- und Ungelernter betreiben<br />
Forum 5<br />
Erwachsene auf dem Weg zum Berufsabschluss: berufliche Kompetenzen feststellen,<br />
dokumentieren, anerkennen<br />
Das Programm „Perspektive Berufsabschluss“<br />
Gesprächsrunde: Rückblick und Ausblick, Ergebnisse und Handlungsempfehlungen<br />
30<br />
32<br />
35<br />
38<br />
41<br />
44<br />
Impressionen 48<br />
Moderation: Judith Schulte-Loh, WDR
3<br />
Einführung<br />
Mit dem Programm „Perspektive Berufsabschluss“ fördert das<br />
BMBF in 97 Regionen Strukturen im Übergang von der Schule<br />
in die Berufsausbildung und in der beruflichen Nachqualifizierung<br />
junger Erwachsener ohne Berufsabschluss. In der Förderinitiative<br />
„Regionales Übergangsmanagement“ werden<br />
in kommunaler Verantwortung 55 Projekte umgesetzt, die auf<br />
eine effektivere zielgruppenbezogene Förderung Jugendlicher<br />
durch den Aufbau und die Weiterentwicklung regionaler<br />
Kooperationsstrukturen zielen. Die 42 in der Förderinitiative<br />
„Abschlussorientierte modulare Nachqualifi zierung“ geförderten<br />
Projekte schaffen regionale beziehungsweise branchenbezogene<br />
Angebotsstrukturen zur Fachkräfte gewinnung. Ziel<br />
ist es, modulare Nachqualifizierung als flexiblen und bedarfsgerechten<br />
Weg zum Erreichen eines Berufsabschlusses<br />
bekannt zu machen und Strukturen so zu gestalten, dass die<br />
Möglichkeit der Externenprüfung signifikant stärker<br />
genutzt wird.<br />
Die <strong>Jahrestagung</strong> <strong>2011</strong> hatte das Thema „Chancengerechtigkeit<br />
als bildungspolitisches Ziel“. Chancengerechtigkeit be zog<br />
sich dabei nicht nur auf die beiden Querschnittsthemen „Gender<br />
Mainstreaming“ und „Cultural Mainstrea ming“, sondern wollte<br />
neben den Faktoren Geschlecht und Herkunft auch beleuchten,<br />
welchen Einfluss das soziale Umfeld auf <strong>Bildung</strong>szugänge,<br />
Berufswahlverhalten und <strong>Bildung</strong>swege hat. Engagierte<br />
Akteure aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft erörterten<br />
auf dem Podium, wie Chancengerechtigkeit in der bildungspolitischen<br />
Praxis umgesetzt werden kann. In Fachforen wurde<br />
der Schwerpunkt durch Impulsreferate und Erfahrungen aus<br />
der Projektarbeit vertieft. Wie können im Ausland erworbene<br />
berufliche Abschlüs se berücksichtigt werden? Welche Rolle<br />
spielt das Geschlecht beim Berufseinstieg? Welchen Beitrag<br />
zur Ausbildungsförderung kann Elternarbeit leisten? Zu diesen<br />
und weiteren Aspekten fand auf der <strong>Jahrestagung</strong> ein reger<br />
Meinungsaustausch statt. Eine begleitende Projektmesse stellte<br />
Ergebnisse der 97 Förderprojekte vor.
4 gruSSwort<br />
Chancengerechtigkeit als bildungspolitisches Ziel<br />
der Bundesregierung<br />
Grußwort Kornelia Haugg, Leiterin der Abteilung „Berufliche <strong>Bildung</strong>;<br />
Lebenslanges Lernen“ im <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Namen von<br />
Frau Bundesministerin Schavan und Herrn Parlamentarischen<br />
Staatssekretär Braun begrüße ich Sie ganz herzlich<br />
zu der <strong>Jahrestagung</strong> <strong>2011</strong> des Programms „Perspektive<br />
Berufsabschluss“.<br />
Das Programm „Perspektive Berufsabschluss“ trifft ein Kernanliegen<br />
der <strong>Bildung</strong>spolitik der Bundesregierung: Niemand<br />
darf verloren gehen! Jeder muss die Chance auf eine berufliche<br />
Qualifizierung bekommen, um ein selbstbestimmtes Leben<br />
führen zu können.<br />
Das Eröffnen von <strong>Bildung</strong>schancen ist eng verknüpft mit<br />
Investitionen in <strong>Bildung</strong>.<br />
Für die Bundesregierung haben Investitionen in <strong>Bildung</strong><br />
und Forschung hohe Priorität!<br />
Der Bundesfinanzminister hat in seiner diesjährigen Rede<br />
zur Einbringung des Bundeshaushalts noch einmal explizit<br />
betont, dass es auch sein Ziel sei, die Bundesrepublik Deutschland<br />
zu einer <strong>Bildung</strong>srepublik zu machen, und dass aus seiner<br />
Sicht Investitionen in die Köpfe nachhaltigere Wachstumsimpulse<br />
setzen als Investitionen im klassischen Sinne. Trotz der<br />
angespannten Haushaltssituation sieht der Entwurf des Bundeshaushalts<br />
vor, die Investitionen für <strong>Bildung</strong> und Forschung<br />
auch für 2012 deutlich an wachsen zu lassen: Es ist geplant,<br />
dass der Haushalt im <strong>Bildung</strong>s und Forschungsbereich um fast<br />
10 Prozent auf ein Rekordniveau von 12,8 Milliarden Euro ansteigt.<br />
Das ist in Zeiten der Haushaltskonsolidierung ein mehr<br />
als klares politisches Statement!<br />
Diese Investitionen in <strong>Bildung</strong> werden sich auszahlen: In<br />
Deutschland liegt die <strong>Bildung</strong>srendite fast doppelt so hoch wie<br />
im OECDDurchschnitt. Gerechte <strong>Bildung</strong>schancen und damit<br />
<strong>Bildung</strong> für alle lohnen sich – für das Individuum, für soziale<br />
Gemeinschaften und für unser Land insgesamt. <strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit<br />
führt zu sozialer Gerechtigkeit.<br />
Mit <strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit meine ich, wohlgemerkt, nicht<br />
gleiche <strong>Bildung</strong> für alle, sondern freien Zugang zu <strong>Bildung</strong> mit<br />
fairen <strong>Bildung</strong>schancen für alle.<br />
Die Fakten bestätigen, dass sich die <strong>Bildung</strong>schancen in<br />
Deutschland in den vergangenen Jahren verbessert haben: So<br />
viele Abiturientinnen und Abiturienten, so viele Hochschulanfängerinnen<br />
und anfänger und so viele junge Menschen, die<br />
einen Hochschulabschluss geschafft haben, hatten wir noch<br />
nie. Es gab noch nie so viele <strong>Bildung</strong>saufsteiger innen und aufsteiger.<br />
Deutlich mehr junge Leute, die nicht aus einem Akademikerhaushalt<br />
stammen, studieren, nämlich rund 20 Prozent.<br />
Zum Vergleich: Mitte der 90er Jahre waren es nur 15,5 Prozent.<br />
Wir sind bei den Angeboten im Bereich der frühkindlichen<br />
<strong>Bildung</strong> und beim Ausbau von Ganztagsschulen erheblich vorwärtsgekommen.<br />
Umgekehrt geht die Anzahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss,<br />
der Jugendlichen im Übergangssystem, der Jugendlichen<br />
ohne Ausbildungsplatz und der Jugendlichen ohne<br />
Ausbildungsabschluss beständig zurück.<br />
Durch das vom BMBF auf den Weg gebrachte Anerkennungsgesetz<br />
für im Ausland erworbene <strong>Bildung</strong>sabschlüsse<br />
werden bis zu 300.000 Menschen endlich die Möglichkeit<br />
erhalten, ihren im Ausland erworbenen Abschluss anerkannt<br />
zu bekommen.<br />
Das sind wichtige Schritte für mehr Chancengerechtigkeit.<br />
Und diese Fortschritte sind mehr als erfreulich! Dennoch ist<br />
uns völlig klar: Wir sind noch lange nicht am Ziel, sondern erst<br />
auf dem Weg zu einer gerechten <strong>Bildung</strong>srepublik.<br />
Die Bundesregierung ist sich darüber im Klaren, dass zum<br />
Erreichen von Chancengerechtigkeit noch an vielen Stellschrauben<br />
gedreht werden muss. Aber ich bin zuversichtlich,<br />
dass uns das gelingen wird, denn schon Goethe, in dessen<br />
Geburtsstadt wir heute tagen, hat gesagt: „Sobald der Geist auf<br />
ein Ziel gerichtet ist, kommt ihm vieles entgegen.“<br />
Dies muss aber mit einer anderen seiner Weisheiten gekoppelt<br />
werden: „Es ist nicht genug, zu wissen, man muss es auch<br />
anwenden, es ist nicht genug, zu wollen, man muss es auch tun.“<br />
Meine Damen und Herren, zu diesem „Tun“ bekennt sich<br />
die Bundesregierung. Es gibt Stimmen, die sagen, dass sich aufgrund<br />
des demografischen Wandels in Deutschland Themen<br />
wie Übergangssystem, Altbewerber oder Ausbildungsplatzmangel<br />
von selbst lösen werden. Unsere Analyse der Entwicklungen<br />
fällt anders aus: Wir halten es trotz der demografischen<br />
Entwicklung für notwendig zu handeln, und zwar gezielt im<br />
Hinblick auf gering qualifizierte Jugendliche.<br />
Deshalb hat das BMBF seine Kräfte und Instrumente in der<br />
Initiative „Abschluss und Anschluss – <strong>Bildung</strong>sketten bis zum
Kornelia haugg<br />
5<br />
Kornelia Haugg, Leiterin der Abteilung „Berufliche <strong>Bildung</strong>, Lebenslanges Lernen“ im <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung<br />
Berufsabschluss“ gebündelt, um Jugendliche frühzeitig auf<br />
dem Weg in eine Ausbildung zu begleiten. Die Initiative „<strong>Bildung</strong>sketten“<br />
beinhaltet im Wesentlichen die Instrumente:<br />
Potenzialanalyse, individuelle Begleitung und Berufsorientierung.<br />
Das „Berufsorientierungsprogramm in überbetrieblichen<br />
und vergleichbaren Berufsbildungsstätten“ (BOP), das seit 2008<br />
Jugendlichen sehr erfolgreich Einblicke in die praktischen Tätigkeiten<br />
dualer Berufe bietet, ist ein wichtiger Bestandteil dieser<br />
Initiative. Durch die frühe Begegnung mit dualen Berufen und<br />
das eigene Arbeiten an der Werkbank wird den Jugendlichen<br />
die Attraktivität von Ausbildung deutlich. Das BMBF hat seit<br />
April 2008 Maßnahmen der Berufsorientierung für mittlerweile<br />
über 240.000 Jugend liche mit einem Mitteleinsatz von mehr<br />
als 100 Millionen Euro bewilligt. Das Berufsorientierungsprogramm<br />
steht allen Schülerinnen und Schülern der Klassen 7<br />
bzw. 8 diskriminierungsfrei offen. Es ist eine individuelle Begleitung<br />
für diejenigen, die Förderung brauchen. Und es ist<br />
uns gelungen, diese Aktivitäten gut mit Länderaktivitäten zu<br />
vernetzen. Mit Hessen und mit anderen Ländern haben wir<br />
bilaterale Vereinbarungen abgeschlossen, weitere sind in Vorbereitung.<br />
Wir wollen zu einem vernetzten Miteinander kommen<br />
und durch unsere flankierenden Angebote die Wirkung<br />
und die Effektivität der Förderung optimieren.<br />
Meine Damen und Herren, ein weiterer Schwerpunkt unseres<br />
Tuns ist die Stärkung von Regionen und Kommunen. Dafür<br />
steht zum einen das Programm „Lernen vor Ort“, das Kommunen<br />
dabei unterstützt, ein kohärentes <strong>Bildung</strong>sma na gement<br />
aufzubauen.<br />
Einen besonderen Schwerpunkt in der Stärkung von Kommunen<br />
und Regionen haben wir aber auch mit dem Programm<br />
„Perspektive Berufsabschluss“ gesetzt. Dieses Programm hat<br />
zwei Schwerpunkte: „Regionales Übergangsmanagement“<br />
und „Modulare abschlussorientierte Nachqualifizierung“. Das<br />
„Regionale Übergangsmanagement“ fokussiert sich auf den<br />
Übergang von der Schule zur Ausbildung. Um erfolgreich zu<br />
sein, müssen Kräfte gebündelt und Maßnahmen aufeinander<br />
abgestimmt und verzahnt werden. Kompetenzen und Ressourcen<br />
einer Region, einer Kommune müssen für eine gemeinsame<br />
Zielsetzung gebündelt werden.<br />
Das Programm stärkt die Regionen. Wir gehen aber weit<br />
darüber hinaus: Denn das Programm „Perspektive Berufsabschluss“<br />
hat nicht nur in den Kommunen, sondern in einigen<br />
Bundesländern überregional strukturelle Veränderungen<br />
angeregt. Die von den Förderregionen ausgehenden Entwicklungen<br />
haben zum Teil einen landesweiten Diskurs entfacht.<br />
Die Grundgedanken des Programms, den Übergang zu syste
6 Kornelia haugg<br />
dann langfristig Akzeptanz, wenn alle entscheidenden Akteure<br />
und Anbieter einbezogen sind. Alle müssen an einem Strang<br />
ziehen.<br />
Dies gilt sowohl für das „Regionale Übergangsmanagement<br />
als auch für die „Abschlussorientierte modulare Nachquali fizierung“:<br />
Eine intensive Netzwerkarbeit ist die Basis für eine<br />
gelingende Koordinierung der Angebote und Maßnahmen.<br />
Gegenwärtig haben fast 44 Prozent aller Arbeitslosen keine<br />
Ausbildung. Dieser hohe Anteil unterstreicht, dass das Risiko,<br />
arbeitslos zu werden, besonders hoch ist, wenn man keine abgeschlossene<br />
Berufsausbildung hat. Umgekehrt zeigen diese<br />
Zahlen auch, welche Qualifizierungsreserve in den Menschen<br />
ohne Ausbildungsabschluss liegt.<br />
Sowohl bei Arbeitslosen, aber genauso auch bei Beschäftigten,<br />
die keinen Abschluss aufweisen, setzt die zweite Förderinitiative<br />
des Programms „Perspektive Berufsabschluss“ an.<br />
matisieren und Nachqualifizierung als Regelangebot vor Ort<br />
zu schaffen, werden mittlerweile vielerorts weit über die Grenzen<br />
der Projektregionen hinaus unterstützt.<br />
Dem Grundsatz „Prävention statt Reparatur“ hat sich die<br />
erste Förderinitiative der „Perspektive Berufsabschluss“ verschrieben.<br />
Das „Regionale Übergangsmanagement“ zielt<br />
darauf ab, dass durch frühzeitiges Eingreifen „Reparaturen“<br />
bei jugendlichen <strong>Bildung</strong>sverläufen so weit wie möglich reduziert<br />
werden. Denn wir brauchen klare und transparente Übergangswege,<br />
die die Stärken der Jugendlichen erkennen und<br />
fördern und die sie in Ausbildung einmünden lassen.<br />
Letztes Jahr hat das BMBF das „Regionale Übergangsmanage<br />
ment“ mit 28 neuen Projekten bundesweit um mehr als das<br />
Doppelte erweitert.<br />
Die Projekte haben intensiv dazu beigetragen, dass die Problematik<br />
des „Angebotsdschungels“ beim Übergang von der<br />
Schule in den Beruf bundesweit in das Bewusstsein der Öffentlichkeit<br />
kam. Unter anderem dank der Projekte im „Regionalen<br />
Übergangsmanagement“ ist die Zielrichtung, nämlich Transparenz<br />
und Koordinierung, allgemein anerkannt und unumstritten.<br />
Sie werden mir recht geben: Die Angebote im Übergangsbereich<br />
Schule/Beruf sind vielerorts selbst für Experten unübersicht<br />
lich. Deswegen prüfen die von „Perspektive Berufs abschluss“<br />
geförderten Projekte die bestehenden Förderinstrumente,<br />
stimmen sie besser aufeinander ab und bündeln sie sinnvoll.<br />
Das schafft Transparenz der Angebote und Maßnahmen. Und:<br />
Nicht alles, was angeboten wird, ist auch effektiv und zielführend.<br />
Das Herstellen der Transparenz findet allerdings nur<br />
Im Rahmen der Programmerweiterung haben wir in der<br />
Förderinitiative „Abschlussorientierte modulare Nachqualifizierung“<br />
neben dem branchenübergreifenden Ansatz gezielt<br />
branchen und zielgruppenbezogene Projekte in zukunftsträchtigen<br />
Sektoren ausgewählt. Denn in einigen Branchen ist<br />
der Fachkräftebedarf schon jetzt deutlich spürbar: im ITBereich,<br />
in der Logistik sowie in der Gesundheits und Pflegebranche.<br />
So hat sich das Projekt „Finish IT – modulare, abschlussorientierte<br />
Nachqualifizierung für junge Erwachsene mit aka demischem<br />
Vorwissen“ des CyberForums am Standort Karlsruhe auf<br />
ITBerufe fokussiert und wendet sich an Studienabbrecher sowie<br />
an Menschen mit im Ausland erworbenen und in Deutschland<br />
bisher nicht verwertbaren Abschlüssen. Hinter dem Cyber-<br />
Forum verbirgt sich eines der größten und aktivsten Hightech<br />
UnternehmerNetzwerke in Deutschland mit ca. 900 Vereinsmitgliedern,<br />
davon ca. 740 Unternehmen. Die mit dem Projekt<br />
kooperierenden ITBetriebe gewinnen auf diese Weise qualifiziertes<br />
ITPersonal.<br />
Drei neue Projekte widmen sich der Nachqualifizierung in<br />
Pflegeberufen. Insbesondere qualifiziertes Altenpflegepersonal<br />
ist aufgrund der demografischen Entwicklung mehr denn<br />
je gesucht. Dabei erleben die Projekte hautnah, wie unterschiedlich<br />
die Altenpflegeausbildung in den einzelnen Bundesländern<br />
ausgestaltet ist. Eines unserer Projekte ist in den beiden<br />
Bundesländern RheinlandPfalz und Niedersachsen tätig,<br />
hinzu kommen das Ausbildungs und Umschulungszentrum<br />
aus Schwaan in MecklenburgVorpommern und das Deutsche<br />
Rote Kreuz im westfälischen Borken.<br />
Die Herausforderungen der Nachqualifizierungsprojekte<br />
in der Altenpflege unterscheiden sich deutlich von denen der<br />
anderen Projekte. Nachqualifizierung in der Altenpflege<br />
basiert auf dem Altenpflegegesetz; dessen Umsetzung ist Ländersache;<br />
einen bundeseinheitlichen Ausbildungsrahmenplan
Kornelia haugg<br />
7<br />
gibt es nicht. Es gibt keine Regelung zur Nachqualifizierung<br />
und keine Externenprüfung. Deswegen kann ich mit Recht<br />
sagen: Diese Projekte leisten Pionierarbeit!<br />
Das zeigt auch ein Blick auf zwei andere Projekte im Bereich<br />
der Nachqualifizierung: Strafgefangenen wird ermöglicht,<br />
einen anerkannten Berufsabschluss nachzuholen, um so ihre<br />
sozialen Reintegrationsmöglichkeiten nach dem Vollzug zu<br />
verbessern. Die dauerhafte Eingliederung in den Ausbildungsund<br />
Arbeitsmarkt ist einer der entscheidenden Faktoren für<br />
die soziale Integration; wir reduzieren damit die Rückfallwahrscheinlichkeit.<br />
Die Projekte erfüllen damit nicht nur einen<br />
bildungspolitischen Auftrag, sondern leisten auch einen wichtigen<br />
volkswirtschaftlichen Beitrag, bei dem die Justizministerien<br />
in vier Bundesländern intensiv mit einbezogen werden.<br />
Die BMBFProjekte eröffnen Gefangenen noch während der<br />
Haftzeit eine echte Chance auf eine selbstständige Lebensführung<br />
und straffreie Rückkehr in die Gesellschaft.<br />
Es ist mir wichtig, auch die Projekte besonders zu würdigen,<br />
die das Programm begleiten: Ein Erfolg beispielsweise des Projekts<br />
„Unterstützung regionaler Projekte zur Nachqualifizie rung<br />
bei Fragen der Zulassung zur Externenprüfung“, das von der<br />
Zentralstelle für die Weiterbildung im Handwerk (ZWH) umgesetzt<br />
wird, zeigte sich darin, dass der DHKT im November 2010<br />
eine Empfehlung für die Zulassung zur Externenprüfung verabschiedete<br />
und bundesweit an alle Handwerkskammern<br />
übermittelte. Diese Empfehlung ist unmittelbar auf das Begleitprojekt<br />
zurückzuführen. Damit ist ein Meilenstein geschafft!<br />
Ich hoffe sehr, dass auch der Deutsche Industrie und Handelskammertag<br />
seinen Mitgliedskammern eine vergleichbare<br />
Empfehlung zukommen lässt. Wir werden diese Entwicklung<br />
mit großer Spannung verfolgen.<br />
Die beiden weiteren Begleitprojekte im Programm arbeiten<br />
förderinitiativenübergreifend und sorgen für mehr Chancengerechtigkeit<br />
bei Migrantinnen und Migranten.<br />
Während rund 40 Prozent der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund<br />
in Deutschland eine berufliche Ausbildung machen,<br />
entschließen sich von den jungen Menschen aus Migrantenfamilien<br />
lediglich 29 Prozent dazu. Vor diesem Hintergrund<br />
kommt dem Thema Cultural Mainstreaming im Programm<br />
„Perspektive Berufsabschluss“ eine besondere Bedeutung zu.<br />
Das Begleitprojekt „Mit MigrantInnen für MigrantInnen“<br />
stützt das Empowerment von Migrantinnen und Migranten<br />
durch Entwicklung und Förderung interkultureller Vertretungsstrukturen.<br />
Schwerpunkt des Begleitprojektes ist es, den<br />
Aufbau interkultureller Netzwerke voranzutreiben und<br />
Migrantenorganisationen zu befähigen, gleichberechtigt in<br />
den regionalen Netzwerken mitzuarbeiten. Über das Projekt<br />
setzen wir „<strong>Bildung</strong>sbeauftragte“ ein, die in ihren Migrantenorganisationen<br />
junge Menschen mit Migrationshintergrund<br />
und deren Familien bei Fragen der beruflichen Integration<br />
unterstützen.<br />
Ein weiteres Begleitprojekt führt das Zentrum für Türkeistudien<br />
und Integrationsforschung in Essen durch. Es trägt den<br />
Titel „<strong>Bildung</strong> ist Zukunft – biz“. Und damit kennen Sie spätestens<br />
jetzt ein türkisches Wort, „biz“ heißt nämlich übersetzt<br />
„wir“. Das drückt aus, dass das Projekt eine Art Verantwortungsgemeinschaft<br />
schaffen möchte: ein Mediennetzwerk.<br />
Die für die türkische Community in Deutschland wichtigen<br />
Medien informieren intensiv über <strong>Bildung</strong>s und Ausbildungswege,<br />
also über konkrete <strong>Bildung</strong>schancen in Deutschland.<br />
Sehr geehrte Damen und Herren, 49, also knapp die Hälfte<br />
der Projekte im Programm „Perspektive Berufsabschluss“ werden<br />
ihre Arbeit im März 2012 – nein, gerade hoffentlich nicht<br />
beenden. Ich wünsche mir sehr, dass die Projekte die Schubkraft<br />
der BMBFFörderung nutzen, um nun in die Verstetigung<br />
der Programminhalte zu gehen. Schaffen Sie es, auch nach<br />
Auslaufen des Programms „Perspektive Berufsabschluss“ die<br />
Ansätze der beiden Initiativen in bestehende Institutionen
8 Kornelia haugg<br />
regional zu verankern? Noch einmal bemühe ich Goethe, der<br />
diesem Veranstaltungsort so eng verbunden war: „Aller Anfang<br />
ist leicht, und die letzten Stufen werden am schwersten und<br />
seltensten erstiegen.“ Ich hoffe, dass wir Goethe bald insofern<br />
korrigieren können, als die Projekte hoffentlich gerade nicht<br />
selten die letzte Stufe, nämlich die nachhaltige und dauerhafte<br />
Umsetzung des „Regionalen Übergangsmanagements“ bzw.<br />
der „Abschluss orientierten modularen Nachqualifizierung“,<br />
ohne Förderung erklimmen, dass es uns gelingen wird, nachhaltige<br />
Strukturen in den Regionen zu implementieren.<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Tagung im<br />
Programm „Perspektive Berufsabschluss“ ist ein guter Anlass,<br />
mich bei den hier anwesenden kommunalen, regionalen und<br />
auch überregionalen Akteuren und bei den einzelnen <strong>Bildung</strong>strägern,<br />
die sich vor Ort unermüdlich engagieren, ganz herzlich<br />
zu bedanken. Mit Ihrem Einsatz tragen Sie dazu bei, dass<br />
Jugendliche und junge Erwachsene qualifizierte Ausbildung<br />
und Arbeit bekommen; Sie leisten einen wichtigen Beitrag für<br />
mehr Chancengerechtigkeit in unserem Land. Haben Sie dafür<br />
vielen Dank!<br />
Während der gesamten Tagung und Projektmesse wünsche<br />
ich Ihnen allen anregende Diskussionen und viele weiterführende<br />
Erkenntnisse.<br />
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!
KlauS-wilhelm ring<br />
9<br />
Chancengerechtigkeit und <strong>Bildung</strong>szugänge –<br />
Betrachtung aus Landessicht<br />
KlausWilhelm Ring, Abteilung „Berufliche Schulen, Schulen für Erwachsene, Lebensbegleitendes Lernen“, Hessisches Kultusministerium<br />
Klaus-Wilhelm Ring, Abteilung „Berufliche Schulen, Schulen für Erwachsene,<br />
Lebensbegleitendes Lernen“, Hessisches Kultusministerium<br />
Sehr verehrte Damen und Herren,<br />
im Namen der hessischen Kultusministerin Frau Dorothea<br />
Henzler richte ich Ihnen die herzlichsten Grüße<br />
aus und wünsche Ihrer Tagung zum Thema Chancengerechtigkeit<br />
als bildungspolitisches Ziel einen guten<br />
Verlauf und viel Erfolg. Ich bedanke mich auch im Namen<br />
der hessischen Landes regierung, dass die <strong>Jahrestagung</strong><br />
<strong>2011</strong> in Hessen durchgeführt wird, und hoffe, dass sie<br />
ebenso erfolgreich sein wird wie die <strong>Jahrestagung</strong> 2010<br />
in Leipzig. Weiterhin bedanke ich mich, dass Sie mir die<br />
Gelegenheit geben, über die bildungspoliti schen Aktivitäten<br />
zu berichten, die das Land Hessen unternommen<br />
hat, um der im Zentrum der Tagung stehenden Thematik<br />
der Chancengerechtigkeit und der <strong>Bildung</strong>szugänge<br />
Rechnung zu tragen.<br />
Die deutsche Gesellschaft belegt jährlich viele Tausende von<br />
Lernenden mit Enttäuschung, zeitlicher <strong>Bildung</strong>sverzögerung<br />
und dem Ausschluss von <strong>Bildung</strong>soptionen. In einem demokratischen<br />
System wie dem der Bundesrepublik Deutschland<br />
bedeutet dies in vielen Fällen den Ausschluss vom lebenslangen<br />
beziehungsweise lebensbegleitenden Lernen und damit eine<br />
starke Benachteiligung für die persönliche und berufliche Entwicklung<br />
der hiervon betroffenen Menschen. Teilhabe an <strong>Bildung</strong><br />
in einer Demokratie kann aber nicht verbunden sein mit<br />
dem Versagen von <strong>Bildung</strong> und der Verhinderung der Anerkenn<br />
ung von Teilkompetenzen, sondern sie muss jeder Bürgerin<br />
und jedem Bürger immer wieder die Option für einen neuen<br />
<strong>Bildung</strong>sbeginn und für den Anschluss an bisher erlangtes<br />
Wissen ermöglichen.
10 KlauS-wIlHelm RInG<br />
Benjamin Franklin hat einmal gesagt: „Eine Investition<br />
in Wissen bringt immer noch die besten Zinsen.“ Und zur Optimierung<br />
des Zinsertrages durch <strong>Bildung</strong> müssen alle <strong>Bildung</strong>soptionen<br />
genutzt und vernetzt werden.<br />
Die Eingliederung benachteiligter Menschen in die Berufsund<br />
Arbeitswelt ist eine zentrale Aufgabe der Gesellschaft. Ohne<br />
die Einbindung dieser Menschen werden Persönlichkeiten<br />
zerstört, Problemfälle für die Zukunft geschaffen und politische<br />
Systeme gefährdet. Trotz der vielen Stärken, die das deutsche<br />
Berufsbildungssystem aufweist, steht es weiterhin vor einer<br />
Reihe von Herausforderungen:<br />
• Die schwachen PISA-Ergebnisse mancher Hauptschülerinnen<br />
und Hauptschüler sind ein Indiz für<br />
einen der Gründe, warum viele junge Menschen<br />
beim Übergang von der Pflichtschulzeit in die<br />
Berufsausbildung scheitern.<br />
• Eine weitere Herausforderung ist die Weltwirtschaftskrise,<br />
hierdurch hat die Wirtschaft in den<br />
vergangenen Jahren weniger Ausbildungsstellen<br />
zur Verfügung gestellt. Durch die mittlerweile<br />
verbesserte Konjunktur ändert sich diese Situation.<br />
• Das Übergangssystem, an dem heute fast genauso<br />
viele junge Menschen teilnehmen wie am dualen<br />
System, leidet unter übermäßiger Fragmentierung<br />
und fehlender Transparenz.<br />
• Eine wichtige Herausforderung der Zukunft für<br />
Deutschland ist der demografische Wandel, der dazu<br />
führt, dass die Jahrgangskohorten kleiner werden.<br />
Deutschland verliert derzeit pro Generation ein Drittel<br />
der Bevölkerung.<br />
Mittlerweile haben sich die Trends der demografischen<br />
Entwicklung verfestigt, die sich bereits in der Vergangenheit<br />
dergestalt abzeichneten, dass einer sinkenden Zahl junger<br />
Menschen, die für eine Berufsausbildung zur Verfügung stehen,<br />
eine wachsende Zahl älterer Menschen, die aus dem Erwerbsleben<br />
ausscheiden, gegenübersteht.<br />
Als Folge mehren sich die Befürchtungen eines zukünftigen<br />
Fachkräftemangels und die Klagen von Betrieben – insbesondere<br />
im Handwerk –, dass für freie Ausbildungsplätze nicht<br />
mehr genügend geeignete Bewerberinnen und Bewerber zur<br />
Verfügung stehen. Der Blick auf die vergangenen Jahre zeigt,<br />
dass auf Bundesebene im Durchschnitt zwischen 14 und 16 Prozent<br />
der Jugendlichen nicht in eine Berufsausbildung einmündeten.<br />
Im Vergleich dazu lag die Zahl in Hessen im Jahre 2006<br />
noch bei 13,8 Prozent. Aber erfreulicherweise ist eine deutliche<br />
positive Tendenz erkennbar, denn im Jahr 2010 reduzierte sich<br />
die Zahl auf 10,6 Prozent und lag damit deutlich unter dem<br />
Bundesdurchschnitt. Diese Zahlen belegen den erkennbaren<br />
Erfolg der hessischen bildungspolitischen Anstrengungen. Sie<br />
zeigen aber auch, dass die Senkung der immer noch zu hohen<br />
Zahlen von an- und ungelernten Jugendlichen und jungen<br />
Erwachsenen weiterer Anstrengungen bedarf, um ihnen eine<br />
positive Berufs- und Lebensperspektive zu eröffnen.<br />
Bei der genannten Risikogruppe handelt es sich vornehmlich<br />
um junge Menschen, die unter ungünstigen Ausgangsvoraussetzungen<br />
ihren Lebens-, <strong>Bildung</strong>s- und Ausbildungsweg<br />
antreten müssen. Dazu zählen vor allem leistungsschwächere<br />
und sozial benachteiligte Jugendliche, junge Erwachsene ohne<br />
Schulabschluss, vor allem aber Jugendliche ausländischer<br />
Herkunft und junge Aussiedler.<br />
Das fortgeschriebene Ziel zukünftiger bildungspolitischer<br />
Bemühungen in Hessen ist es deshalb, diesen jungen Erwachsenen,<br />
aber auch den Menschen in niedrigerer beruflicher<br />
Position und/oder in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen,<br />
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern höheren Alters und<br />
Migrantinnen und Migranten durch ein Bündel von Unterstützungsmaßnahmen<br />
Chancengerechtigkeit angedeihen zu lassen,<br />
um so eine erfolgreiche Berufsaus-, Fort- und Weiterbildung zu<br />
ermöglichen. Die Maßnahmen müssen, sollen sie zum Erfolg<br />
führen, bereits im Kleinkindalter beginnen, die schulische und<br />
berufliche Ausbildung begleiten und bis ins Erwachsenenalter<br />
niederschwellig abrufbar sein.<br />
Sehr geehrte Damen und Herren, lassen sie mich nun auf<br />
die Maßnahmen und Unterstützungsangebote eingehen, die<br />
den Menschen im Lande Hessen mehr Chancengerechtigkeit<br />
eröffnen sollen.<br />
Der hessische <strong>Bildung</strong>s- und Erziehungsplan<br />
Novalis hat einmal gesagt: „Jede Stufe der <strong>Bildung</strong> fängt mit<br />
Kindheit an. Daher ist der am meisten gebildete, irdische<br />
Mensch dem Kinde so ähnlich.“<br />
Mit dem hessischen <strong>Bildung</strong>s- und Erziehungsplan für<br />
Kinder im Alter von null bis zehn Jahren hat sich die Landesregierung<br />
zum Ziel gesetzt, einen zentralen Beitrag zur Optimierung<br />
der <strong>Bildung</strong>schancen für die heranwachsende Generation<br />
zu leisten. Mit ihm wird eine Grundlage zur Verfügung gestellt,<br />
um jedes Kind in seinen individuellen Lernvoraussetzungen,<br />
seiner Persönlichkeit und seinem Entwicklungsstand anzunehmen,<br />
angemessen zu begleiten und zu unterstützen. Der<br />
<strong>Bildung</strong>s- und Erziehungsplan steht für eine Pädagogik der<br />
Ko-Konstruktion, die das Kind mit seinen individuellen Lernvoraussetzungen<br />
in den Mittelpunkt stellt. Dabei stellt die<br />
Sprachförderung ein zentrales Thema der <strong>Bildung</strong> von Anfang<br />
an dar. So werden bereits in den Kindertagesstätten Unterstützungsprogramme<br />
angeboten und mit Blick auf den Beginn<br />
der Schulzeit kontinuierlich weitergeführt, um allen Kindern<br />
vergleichbare Startchancen zu ermöglichen.
KlauS-wIlHelm RInG<br />
11<br />
Lernen und Arbeiten in Schule und Betrieb<br />
Die so genannten SchuB-Klassen (Lernen und Arbeiten in<br />
Schule und Betrieb) sind durch den Europäischen Sozialfonds<br />
geförderte Projekte für besondere Klassen mit erhöhtem Praxisanteil,<br />
die seit mehreren Jahren in Hessen angeboten werden.<br />
Auf diese Weise soll es gelingen, „schulmüde“ Schülerinnen<br />
und Schüler durch die Hinführung an die Arbeitswelt neu zu<br />
motivieren. Aufgenommen werden Schülerinnen und Schüler,<br />
deren Stärken, deren Kompetenzen und deren Arbeitshaltung<br />
besonders gefördert werden müssen, da sie wegen erheblicher<br />
Lern- und Leistungsrückstände voraussichtlich keine Chancen<br />
haben, in den Regelklassen den Hauptschulabschluss zu<br />
erreichen.<br />
Zielsetzung der Maßnahme ist es,<br />
• die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler<br />
zu stärken und zu stabilisieren,<br />
• Erfolgserlebnisse zu schaffen und die Lern- und<br />
Leistungsmotivation zu steigern,<br />
• die Beschäftigungs- und Ausbildungsfähigkeit<br />
zu erhöhen und<br />
• eine strukturierte Berufsorientierung sowie Praxiserfahrungen<br />
zu ermöglichen, um Schul- und Ausbildungsabbrüche<br />
und unnötige Warteschleifen zu<br />
reduzieren beziehungsweise zu vermeiden.<br />
Diese Maßnahme ist eine pädagogische Einheit und dauert<br />
zwei Jahre, wobei die Größe der Lerngruppe 12 bis 15 Schülerinnen<br />
und Schüler nicht überschreiten sollte. Die Ausbildung<br />
erfolgt in der Regel an zwei ganztägigen, aufeinander folgenden<br />
Praxistagen. Eine Kooperation mit beruflichen Schulen ist<br />
dabei möglich. Weiterhin soll sichergestellt werden, dass die<br />
Schülerinnen und Schüler im Verlauf der Maßnahme mindestens<br />
drei Berufsfelder kennen lernen. Aus den Erfahrungen mit<br />
SchuB-Klassen und den Entwicklungen auch in anderen Bundesländern<br />
wurde in Hessen mit dem neuen Schulgesetz, das vor<br />
wenigen Monaten verabschiedet wurde, die Mittelstufenschule<br />
beschlossen.<br />
Mit dieser neuen Schulform wird ein zukunftsfähiges<br />
An gebot für Schulen mit den <strong>Bildung</strong>sgängen Haupt- und Realschule<br />
geschaffen. Von besonderer Attraktivität ist dabei die<br />
enge Kooperation mit beruflichen Schulen und mit Betrieben,<br />
wodurch ein nahtloser Übergang in ein Ausbildungsverhältnis<br />
ermöglicht werden soll. Dadurch sollen Kinder und Jugendliche<br />
mit eher praktisch ausgerichteten Begabungen durch einen<br />
stark projektorientierten Unterricht und eine intensive Berufsorientierung<br />
in ihren Fähigkeiten bestärkt sowie motiviert und<br />
der direkte Übergang in eine Berufsausbildung des dualen<br />
Systems erleichtert werden.<br />
Schülerinnen und Schüler der Mittelstufenschule erfahren<br />
in beiden abschlussbezogenen <strong>Bildung</strong>sgängen eine systematische<br />
Berufsorientierung gemäß den Standards der landesweiten<br />
Strategie „OloV“ (landesweite Strategie zur Optimierung<br />
der lokalen Vermittlungsarbeit bei der Schaffung und<br />
Besetzung von Ausbildungsplätzen in Hessen).<br />
Die Förderung der Ausbildungsreife wird unterstützt durch<br />
fachtheoretischen und fachpraktischen Unterricht in den<br />
berufsbildenden Schulen. Alle Schülerinnen und Schüler werden<br />
dadurch frühzeitig auf die Anforderungen der beruflichen<br />
Ausbildung vorbereitet und erhalten umfassende Kenntnisse<br />
über die entsprechenden Berufsbilder. Durch die Zusammenarbeit<br />
mit Betrieben in der Region wird ihnen im Rahmen von<br />
Betriebspraktika die Möglichkeit eröffnet, Erfahrungen in der<br />
Berufs- und Arbeitswelt zu sammeln.
12 KlauS-wIlHelm RInG<br />
Konkret bedeutet dies, dass sich der Unterricht zwar weiterhin<br />
in Kernfächer und in Lernbereiche aufgliedert, dass aber<br />
durch eine Verstärkung des projektorientierten Unterrichts<br />
fächerübergreifendes Arbeiten ermöglicht wird. In Kooperation<br />
mit berufsbildenden Schulen findet der berufsfeldbezogene<br />
Unterricht statt, der in Abstimmung mit den Kammern und<br />
je nach Region in unterschiedlichen Berufsfeldern angeboten<br />
wird. Als mögliche Berufsfelder im praxisorientierten <strong>Bildung</strong>sgang<br />
kommen Bautechnik, Metalltechnik, Farbtechnik und<br />
Raumgestaltung, Ernährung und Hauswirtschaft, Körperpflege<br />
oder Agrarwirtschaft in Frage.<br />
Die berufsbildenden Schulen entwickeln gemeinsam mit<br />
der Mittelstufenschule berufsfeldbezogene und lernfeldorientierte<br />
Curricula für den fachpraktischen und fachtheoretischen<br />
Unterricht in den Jahrgangsstufen acht bis neun. Die vorgesehenen<br />
Betriebspraktika finden entweder in Blockform oder in<br />
Form von betrieblichen Lerntagen statt und ergänzen die<br />
Berufsorientierung. Durch eine flexible Stundentafel wird die<br />
Organisation des berufsfeldbezogenen Unterrichts und der<br />
betrieblichen Lerntage ermöglicht.<br />
In der Jahrgangsstufe neun nehmen alle Schülerinnen<br />
und Schüler am Abschlussverfahren der Hauptschule teil. Die<br />
vorgesehene Projektprüfung ist thematisch den Inhalten des<br />
berufsbildenden Unterrichts zuzuordnen. Der berufsfeldbezogene<br />
Unterricht wird in die Zeugnisse aufgenommen. Der<br />
Übergang in die Jahrgangsstufe zehn setzt den qualifizierenden<br />
Hauptschulabschluss voraus. Die Schülerinnen und<br />
Schüler, die die Jahrgangsstufe zehn besuchen, nehmen am<br />
Verfahren zum mittleren Abschluss (Realschulabschluss) teil.<br />
„OloV“ – Optimierung der lokalen<br />
Vermittlungsarbeit bei der Schaffung und<br />
Besetzung von Ausbildungsplätzen in Hessen<br />
Das <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung hat 193<br />
Einzelprogramme identifiziert, davon 21 auf Bundes- und die<br />
restlichen auf Landesebene, die junge Menschen beim Übergang<br />
von der Schule in die Berufs- und Arbeitswelt begleiten<br />
sollen. Ihre Dauer, Ihr Aufbau und ihre Zielgruppen sind unterschiedlich.<br />
Leider sind diese Einzelprogramme in der Regel<br />
nicht aufeinander abgestimmt. In Hessen versuchen wir seit<br />
einigen Jahren durch das Projekt „OloV“ regionale Netzwerke<br />
zu knüpfen, damit optimale Steuerung und Abstimmung<br />
ermöglicht werden. „OloV“ wird seit Juli 2005 aus Mitteln des<br />
Landes Hessen und des Europäischen Sozialfonds gefördert<br />
und war zunächst ein gemeinsames Projekt aller Partner des<br />
hessischen Paktes für Ausbildung. Seit Ende 2008 wurde daraus<br />
eine landesweite Strategie.<br />
„Ziel des gemeinsamen Vorhabens der Paktpartner und<br />
der Arbeitsverwaltung ist die Optimierung der lokalen Vermittlungstätigkeit<br />
bei der Schaffung und Besetzung von Ausbildungsplätzen<br />
in Hessen (OloV).“ Dazu waren die Erarbeitung<br />
und der Einsatz von hessenweiten Standards zur qualitativen<br />
Verbesserung der Berufsorientierung an den Schulen und zur<br />
qualitativen und quantitativen Verbesserung von Ausbildungsvermittlungsprozessen<br />
notwendig.<br />
Diese Standards haben die Aufgaben,<br />
• die Berufsorientierung der Jugendlichen und ihre<br />
Ausbildungsfähigkeit zu verbessern,<br />
• die Ausbildungs- und Praktikumsplätze ziel -<br />
gerichtet zu akquirieren und<br />
• die Kompetenzen der Jugendlichen im Vermittlungsprozess<br />
besser zu berücksichtigen.<br />
Um diese strategisch wichtigen Ziele an den Schulen um -<br />
zusetzen, werden berufsorientierende Angebote zielgruppengerecht<br />
adressiert, praxisbezogen gestaltet und auf die Bedarfe<br />
der Wirtschaft ausgerichtet. Deshalb ist die gemeinsame Anstrengung<br />
und Einbindung aller am Prozess beteiligten Akteure<br />
eine wichtige Voraussetzung, um Schülerinnen und Schüler<br />
rechtzeitig und differenziert über die in der Region gegebenen<br />
beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten zu informieren und<br />
entsprechende Einblicke und Kontakte herstellen zu können.<br />
Alle 28 hessischen Regionen arbeiten inzwischen an der<br />
Umsetzung der „OloV“-Qualitätsstandards. Alle hessischen<br />
Schulen mit den <strong>Bildung</strong>sgängen Haupt- und Realschule sind<br />
an „OloV“ beteiligt und seit dem Schuljahr 2010/<strong>2011</strong> wurden<br />
zusätzlich Schulen für Erziehungshilfe und Schulen für Lernhilfe<br />
in die „OloV“-Strategie aufgenommen.<br />
Das Bundesprogramm „Perspektive Berufsabschluss“ ist<br />
in vielen Grundsätzen mit der landesweiten Strategie „OloV“<br />
identisch.
KlauS-wIlHelm RInG<br />
13<br />
Beide Programme<br />
• dienen der Steigerung von Effektivität und Qualität<br />
der Förderinstrumente des Übergangsmanagements<br />
durch Verbesserung regionaler Kooperationen und<br />
Stärkung vorhandener Netzwerkstrukturen und<br />
• wollen den Aufbau eines regionalen Übergangsmanagements<br />
anstoßen, die Umsetzung wirksamer<br />
Verfahren des Übergangsmanagements unterstützen<br />
und die in der Entwicklung und Erprobung von<br />
Übergangsmanagement gewonnenen Erfahrungen,<br />
Einsichten, Standards und Instrumente für eine<br />
Nachnutzung für Politik, Verwaltungen und Praxis<br />
bundesweit bereitstellen.<br />
Aus diesen Gründen haben wir alle hessischen Projekte des<br />
Regionalen Übergangsmanagements mit „OloV“ verbunden.<br />
Im Rahmen regelmäßiger Koordinierungstreffen erfolgt ein<br />
Informationsaustausch über die verschiedenen Projekte in den<br />
Regionen, um neue Ideen und positive Ergebnisse zu kommunizieren<br />
und für Partnerprojekte nutzbar zu machen. Hierdurch<br />
werden Parallelentwicklungen vermieden und Synergien der<br />
unterschiedlichen Strukturen genutzt.<br />
<strong>Bildung</strong>sgänge zur Berufsvorbereitung<br />
Mit der Verordnung über die Ausbildung und Abschlussprüfun<br />
gen in den <strong>Bildung</strong>sgängen zur Berufsvorbereitung wurden<br />
neue Regelungen, wie nachfolgend aufgelistet, eingeführt, die<br />
benachteiligte Jugendliche noch besser fördern sollen:<br />
• Übergangskonferenzen mit Vertreterinnen und Vertretern<br />
der abgebenden Schulen und der beruflichen<br />
Schulen unter Federführung des zuständigen staatlichen<br />
Schulamts, auch in Zusammenarbeit mit der Jugendberufshilfe,<br />
der Agentur für Arbeit und den kommunalen<br />
SGB-II-Trägern.<br />
• Vernetzung mit Angeboten der Jugendberufshilfe<br />
und der Agentur für Arbeit.<br />
• Pädagogische Vereinbarungen beziehungsweise Lernverträge<br />
können Regelungen über Lernziele, schulisches<br />
und außerschulisches Verhalten, Fremd- und Selbst -<br />
kontrolle oder über Selbstverpflichtungen zu bestimmten<br />
Tätigkeiten sowie über mögliche Konsequenzen bei<br />
Fehlverhalten enthalten. Lernverträge sollen so zu einer<br />
stärkeren Verbindlichkeit beitragen.<br />
• Der berufsbezogene Lernbereich soll möglichst Qualifizierungsbausteine<br />
oder Teilqualifikationen vermitteln.<br />
Durch die Absolvierung verschiedener anerkannter<br />
Qualifizierungsbausteine sollen die Schülerinnen und<br />
Schüler Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben, die<br />
den Ausbildungsordnungen anerkannter Ausbildungsberufe<br />
entnommen sind, um die berufliche Handlungsfähigkeit<br />
für einen Beruf zu fördern, die Vergleichbarkeit<br />
der erworbenen Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt zu<br />
ermöglichen und die Schülerinnen und Schüler zur<br />
Aufnahme einer Tätigkeit oder einer Ausbildung in einem<br />
anerkannten Ausbildungsberuf zu befähigen.<br />
Die Zertifizierung der Qualifizierungsbausteine erfolgt<br />
durch die jeweils zuständige Stelle (zum Beispiel die<br />
Kammern). Die Qualifizierungszertifikate und Teilnahmebescheinigungen<br />
werden den Schülerinnen und Schülern<br />
mit dem jeweiligen Abschlusszeugnis beziehungsweise<br />
Abgangszeugnis ausgehändigt. Mit dem Einsatz von<br />
Qualifizierungsbausteinen werden die Chancen, die sich<br />
aus den Regelungen der BAVBVO (Verordnung über die<br />
Bescheinigung von Grundlagen beruflicher Handlungsfähigkeit<br />
im Rahmen der Berufsausbildungsvorbereitung)<br />
und des Berufsbildungsreformgesetzes ergeben haben,<br />
für eine bessere berufliche Eingliederung von benachteiligten<br />
Jugendlichen in Hessen genutzt.<br />
• In den Übergangskonferenzen werden individuelle<br />
Fördermaßnahmen und Schullaufbahnempfehlungen<br />
für jede einzelne Schülerin und jeden einzelnen Schüler<br />
abgestimmt.<br />
• Förderkonzepte und individuelle Förderpläne werden<br />
auf Grundlage von Ist-Analysen erstellt. Sie sollen<br />
zukunftsorientiert sein und den individuellen Förderbedarf<br />
berücksichtigen. Durch ein schulisches Gesamtkonzept<br />
werden Schwerpunkte der Beschulung gebildet,<br />
zum Beispiel Deutschförderung für Jugendliche<br />
mit Migrationshintergrund.
14 KlauS-wIlHelm RInG<br />
Das Programm zur Eingliederung in die Berufs- und<br />
Arbeitswelt (EIBE) richtet sich an benachteiligte Jugendliche<br />
und junge Erwachsene, die von Arbeitslosigkeit bedroht sind.<br />
Oberstes Ziel des Programms ist die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit<br />
der Zielgruppe durch das Erlangen von Ausbildungs-<br />
und Berufsreife. Der Übergang von der Schule in eine<br />
Berufsausbildung oder ein Arbeitsverhältnis beziehungsweise<br />
vollschulische <strong>Bildung</strong>sgänge soll erleichtert beziehungsweise<br />
ermöglicht werden. Die Maßnahme „EIBE“ findet an beruflichen<br />
Schulen in ganz Hessen statt und wird vom Europäischen Sozialfonds<br />
gefördert. Die Förderhöchstdauer beträgt maximal<br />
zwei Jahre, wobei die Vermittlung in eine Berufsausbildung<br />
oder einen vollschulischen <strong>Bildung</strong>sgang nach einem Jahr<br />
angestrebt wird.<br />
Wesentliche Förderinstrumente sind die Betreuung und<br />
Begleitung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch<br />
Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen in Form von Coachings,<br />
die durch freie Träger in Form von Gruppen- und Einzel<br />
betreuung angeboten werden. Sie ergänzen die pädagogische<br />
Arbeit der Schulen. Die sozialpädagogische Betreuung<br />
wird durch Laufbahnberatung ergänzt. Die Erstellung eines<br />
Qualifizierungsportfolios dient dazu, Kompetenzen und Stärken<br />
der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu dokumentieren.<br />
Zu Beginn der Maßnahme werden individuelle Förderpläne<br />
gemeinsam mit den Teilnehmern erstellt. Beide Seiten legen<br />
vertraglich die Erreichung bestimmter Lernziele und die notwendigen<br />
Hilfestellungen durch die Schule und den Coach fest.<br />
Die Jugendlichen haben die Möglichkeit, mindestens<br />
einen Qualifizierungsbaustein nach BAVBVO zu erwerben. Die<br />
betrieblichen Anteile der Qualifizierungsbausteine werden<br />
im Rahmen betrieblicher Praktika erarbeitet.<br />
Bereits etablierte Kooperationen zwischen Schulen und<br />
Betrieben sind um zusätzliche Akteure aus dem Bereich der<br />
abgebenden Schulen, Jobcenter, Einrichtungen der Jugendhilfe,<br />
der Vereine, Kirchen und gemeinnützigen Organisationen<br />
zu ergänzen. Solche regionalen Netzwerke verschiedenster<br />
Akteure sind zur optimalen Förderung und Begleitung der<br />
Jugendlichen zu knüpfen und zu pflegen. Die Entwicklung von<br />
Qualifizierungsbausteinen sollte von Anfang an durch Kammern<br />
und Innungen begleitet werden. Hierbei sind die Netzwerke<br />
von „OloV“ zu nutzen.<br />
Das Modellprojekt „QuABB“<br />
Qualifizierte berufspädagogische Ausbildungsbegleitung<br />
in Berufsschule und Betrieb<br />
„QuABB“ dient der frühzeitigen Erkennung von Problemen<br />
in der Ausbildung, der Stabilisierung von Jugendlichen, deren<br />
Ausbildungsabschluss gefährdet ist, und der Senkung der Zahl<br />
der Ausbildungsabbrüche in Hessen. Dazu unterstützen Ausbildungsbegleiterinnen<br />
und Ausbildungsbegleiter von Abbruch<br />
bedrohte Jugendliche und bei Bedarf auch deren Ausbilderinnen<br />
und Ausbilder. An erster Stelle werden die Jugendlichen intensiv<br />
begleitet, die ohne professionelle Hilfe keine Abschlussperspek<br />
tive entwickeln können und ihren Ausbildungsplatz<br />
aufgeben würden. Präventives Ziel ist zum einen, ein<br />
„Frühwarn system“ zu entwickeln, um Problemfelder beziehungsweise<br />
Krisen, die leicht zu Abbrüchen führen können,<br />
rechtzeitig zu erkennen und ihnen mit auf den individuellen<br />
Fall zugeschnittenen Beratungs- und Begleitungsmethoden<br />
begegnen zu können. Zum anderen soll geprüft werden, ob<br />
schwache Schulabgängerinnen und Schulabgänger systematisch<br />
unterstützt und durch eine Begleitperson längerfristig<br />
stabilisiert werden können.<br />
In enger Zusammenarbeit mit den Akteuren der Lernorte<br />
Schule und Betrieb werden Ausbildungsbegleiterinnen, Ausbildungsbegleiter<br />
und Beratungslehrerinnen und -lehrer frühzeitig<br />
präventiv tätig und entwickeln aufeinander abgestimmte<br />
Interventionsmöglichkeiten – insbesondere in Zielregionen und<br />
Branchen, in denen besonders hohe Auflösungsquoten auszumachen<br />
sind. Da oft mehrere sich gegenseitig bedingen de<br />
Problemlagen bei den gefährdeten Jugendlichen zu einem<br />
Ausbildungsabbruch führen, wird auf eine Verzahnung von<br />
schulischen, berufspädagogischen und sozialpädagogischen<br />
Lösungsansätzen und Förderangeboten gesetzt.<br />
HESSENCAMPUS<br />
HESSENCAMPUS ist ein freiwilliger Verbund öffentlicher<br />
Träger, der die Potenziale der beteiligten beruflichen Schulen,<br />
der Schulen für Erwachsene und der Volkshochschulen für<br />
das lebensbegleitende Lernen intensiver und systematischer<br />
zur Geltung bringen und die öffentlichen Ressourcen besser<br />
nutzen soll. Das Land sowie die beteiligten Kreise und Städte<br />
wollen durch HESSENCAMPUS eine höhere Beteiligung von<br />
Erwachsenen aller Altersstufen an <strong>Bildung</strong> erreichen, die<br />
Chancen der Menschen zur sozialen Teilhabe und zur persönlichen<br />
Entfaltung erhöhen sowie ihre Regionen und Hessen als<br />
dynamische und innovative Standorte der Wissensgesellschaft<br />
stärken.<br />
HESSENCAMPUS ist ein zentraler Ansatzpunkt der hessischen<br />
Landesregierung zur Umsetzung der bildungspolitischen<br />
Leitlinie, nach der die Teilhabe von Erwachsenen an <strong>Bildung</strong><br />
(sowohl in Fallzahlen als auch in Frequenz und Dauer) substantiell<br />
erhöht werden soll. Besonders bedeutsam ist in diesem<br />
Zusammenhang ein möglichst niedrigschwelliger Zugang für<br />
Bevölkerungsgruppen, die bisher der <strong>Bildung</strong> im Erwachsenenalter<br />
ferngeblieben sind, sowie die bessere Integration der<br />
Migrantinnen und Migranten. Dieser Frage kommt für die<br />
Zukunft des Landes hohe Aufmerksamkeit zu, weil es in gleichem<br />
Maße um die Umsetzung der individuellen Rechte auf<br />
<strong>Bildung</strong> wie um die Sicherung und den Ausbau des <strong>Bildung</strong>spotenzials<br />
des Landes, aber auch um die wirtschaftliche Entwicklung<br />
unseres Landes und seiner Regionen geht.
KlauS-wIlHelm RInG<br />
15<br />
Durch HESSENCAMPUS werden Strukturen und Angebote<br />
von <strong>Bildung</strong>sangeboten auf die Bedürfnisse, Lebenslagen,<br />
be ruflichen und sozialen Verhältnisse vor allem jener Gruppen<br />
der Bevölkerung abgestellt, die allgemein als „bildungsfern“<br />
bezeichnet werden. Hierfür werden im HESSENCAMPUS berufliche<br />
<strong>Bildung</strong>, allgemeine <strong>Bildung</strong> im Sinne von kultureller,<br />
sozialer und politischer Teilhabe und Lebensbewältigungsfähigkeit<br />
sowie <strong>Bildung</strong> als zweite Chance verknüpft.<br />
Die vier zentralen Leitgedanken des HESSENCAMPUS<br />
können wie folgt beschrieben werden:<br />
1. Im Zentrum steht die „erwachsene<br />
LernerInnen-Persönlichkeit“.<br />
2. Die individuellen Lernbiografien bilden den Bezug<br />
für das pädagogische Geschehen.<br />
3. Lebensweltnähe ist sowohl pädagogisches Leitprinzip<br />
als auch der Schlüssel für „Niedrigschwelligkeit“ und<br />
„Attraktivität“.<br />
4. Lebensbewältigungsfähigkeit soll auf die praktische,<br />
orientierende und das Selbstbewusstsein stärkende<br />
Aufgabe gelingender <strong>Bildung</strong> hinweisen.<br />
Die Anzahl der HESSENCAMPUS-Initiativen hat sich von<br />
neun Startinitiativen im Jahr 2007 so weit erhöht, dass damit<br />
eine weitgehend flächendeckende Präsenz in Hessen erreicht<br />
ist. Am HESSENCAMPUS sind mittlerweile über 200 <strong>Bildung</strong>seinrichtungen<br />
und andere Akteure beteiligt, sowohl in der<br />
Steuerung der Initiativen insgesamt als auch durch Mitarbeit<br />
an den Leitprojekten der Zentren. Dazu zählen 42 berufliche<br />
Schulen, 20 Volkshochschulen und acht Schulen für Erwachsene.<br />
Weiterhin vertreten sind allgemeinbildende Schulen, Hochschulen,<br />
Berufsbildungszentren, Beschäftigungsgesellschaften<br />
oder Einrichtungen der Jugendhilfe, Arbeitsagenturen und die<br />
regionale Wirtschaft.<br />
In kurzer Zeit sind beachtliche Entwicklungen angebahnt<br />
worden, beispielsweise in der <strong>Bildung</strong>sberatung in den Regionen,<br />
in neuen gemeinsamen <strong>Bildung</strong>sangeboten wie der<br />
Produktionsschule oder in der Lernkultur der beteiligten Einrichtungen.<br />
Es ist gelungen, die miteinander verknüpften<br />
Lehrkompetenzen, Erfahrungen, Kursprogramme und Curricula<br />
aus den Feldern berufliche <strong>Bildung</strong>, <strong>Bildung</strong> der zweiten<br />
Chance und allgemeine <strong>Bildung</strong> zu neuen Angeboten der<br />
<strong>Bildung</strong>, Beratung und Lebensgestaltungskompetenz zusammenzuführen<br />
und zu bündeln. Die gute Resonanz und die<br />
praktischen Erfahrungen bestätigen – trotz vieler noch zu<br />
über windender Schwierigkeiten – den eingeschlagenen Weg<br />
der Zusammenarbeit von unterschiedlichen <strong>Bildung</strong>seinrich -<br />
t un gen und ihren Trägern.
16 KlauS-wIlHelm RInG<br />
Die konsequente Verfolgung des Ziels der Schaffung von<br />
<strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit für die Bürgerinnen und Bürger und der<br />
Modernisierung der außerschulischen Weiterbildung und des<br />
lebensbegleitenden Lernens in Hessen mündet im Entwurf für<br />
ein neues hessisches Weiterbildungsgesetz. Die Novelle knüpft<br />
im Kern an das derzeit geltende und bewährte Weiterbildungsgesetz<br />
an, erweitert aber gleichzeitig den Handlungsspielraum<br />
für die an der Weiterbildung beteiligten öffentlichen und freien<br />
Träger zur Weiterentwicklung des Systems lebensbegleitenden<br />
Lernens in Hessen.<br />
Als wichtigste Neuerungen sind vorgesehen:<br />
• Das „strategische Bündnis“ HESSENCAMPUS, seit Jahren<br />
erfolgreich praktiziert, wird auf rechtlich sichere Füße<br />
gestellt.<br />
• Die Möglichkeit von Verbünden von beruflichen Schulen,<br />
Schulen für Erwachsene und Volkshochschulen ist<br />
ausdrücklich vorgesehen und hat zum Ziel, <strong>Bildung</strong><br />
für Erwachsene ganzheitlicher und attraktiver als<br />
bisher zu gestalten und damit immer mehr Menschen<br />
am lebensbegleitenden Lernen teilhaben zu lassen.<br />
• Das übergeordnete Ziel, die Weiterbildungsbeteiligung<br />
von Erwachsenen zu fördern, wird als programmatische<br />
Vorgabe in den Gesetzestext aufgenommen und als<br />
Aufgabe der Weiterbildungseinrichtungen definiert.<br />
• Ebenso wird die Möglichkeit der Einrichtung einer<br />
regionalen <strong>Bildung</strong>skoordination im Gesetz verankert,<br />
wobei Land und Kommunen den Auftrag haben,<br />
die notwendigen Rahmenbedingungen für ein für alle<br />
Bürgerinnen und Bürger erreichbares, am Bedarf<br />
orientiertes und abgestimmtes <strong>Bildung</strong>sangebot zu<br />
schaffen.<br />
• Um den Bedarf zu ermitteln und noch besser zu koordinieren,<br />
soll es eine regionale <strong>Bildung</strong>skoordination<br />
geben, damit Angebote breiter angelegt werden<br />
können, die <strong>Bildung</strong>sberatung verbessert wird und<br />
Ressourcen effektiver genutzt werden.<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
unterstützt und gestützt werden all unsere landesweiten<br />
Bemühungen durch elf Projekte, gefördert vom <strong>Bundesministerium</strong><br />
für <strong>Bildung</strong> und Forschung im Rahmen des Programms<br />
„Perspektive Berufsabschluss“. Hiervon sind fünf Projekte<br />
der Förderinitiative „Regionales Übergangsmanagement“ und<br />
sechs Projekte der Förderinitiative „Abschlussorientierte<br />
modulare Nachqualifizierung“ zuzuordnen. Alle hessischen<br />
Projekte arbeiten sehr eng mit Initiativen und Programmen<br />
des Landes Hessen zusammen und allen Beteiligten gelten<br />
großer Dank und Anerkennung für ihr Engagement und die<br />
erfolgreiche Arbeit.<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die hessische<br />
Schul- und <strong>Bildung</strong>spolitik bereits jetzt im Sinne der Tagung<br />
„Chancengerechtigkeit als bildungspolitisches Ziel“ sehr<br />
erfolgreich ist. So hat auch der in den vergangenen Wochen<br />
veröffentlichte <strong>Bildung</strong>smonitor bestätigt,<br />
• dass der Erfolg von Schülerinnen und Schülern in<br />
Hessen immer weniger von ihrer sozialen Herkunft<br />
abhängt und<br />
• dass bei der <strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit in Hessen in<br />
den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte<br />
zu verzeichnen sind.<br />
Demzufolge hat das Land einen Sprung von Platz zehn<br />
auf Platz sieben im jährlichen bundesweiten Leistungsvergleich<br />
gemacht.<br />
Ich sehe optimistisch in die Zukunft und erwarte eine weitere<br />
Optimierung des Übergangs von der allgemeinbildenden<br />
Schule in eine Berufsausbildung und eine breite Bereitschaft<br />
der Bevölkerung zum lebenslangen Lernen für eine positive<br />
wirtschaftliche und politische Entwicklung.<br />
Am Ende meiner Ausführungen möchte ich an das Zitat<br />
von John F. Kennedy erinnern: „Was ist teurer als <strong>Bildung</strong>?<br />
Keine <strong>Bildung</strong>!“<br />
Ich wünsche allen eine erfolgreiche Tagung, viele Anregungen<br />
und einen starken Optimismus zur Entwicklung optimaler<br />
Förderkonzepte für Jugendliche, die besonderer Hilfe<br />
beim Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt bedürfen, und<br />
bedanke mich bereits jetzt für Ihr zukünftiges Engagement.<br />
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
peter clever<br />
17<br />
Chancengerechtigkeit als bildungspolitische Forderung<br />
und ökonomische Notwendigkeit<br />
Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung BDA | Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände<br />
Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung<br />
BDA | Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände<br />
Vielen Dank, Frau Schulte-Loh, für die freundliche Begrüßung,<br />
Frau Haugg, Herr Ring. Als ich gefragt wurde, ob<br />
ich den Vortrag halten will, wollte ich nicht gleich den<br />
Titel kritisieren, sondern nahm es so, wie es steht: „Chancengerechtigkeit<br />
als bildungspolitische Forderung und<br />
ökonomische Notwendigkeit.“ Aber ich möchte dies auch<br />
als gesellschaftspolitische Forderung formuliert sehen.<br />
Denn was auch immer wir machen, sollten wir vor dem<br />
Hintergrund folgender Fragen tun: In was für einer<br />
Gesellschaft wollen wir leben? Wo wollen wir hin? Wie<br />
stellen wir uns das Zusammenleben in einer modernen,<br />
hochindustrialisierten Gesellschaft vor?<br />
Ich bin überzeugt: Wir wollen, dass alle Menschen glücklich in<br />
unserer Gesellschaft leben können, und dabei spielt <strong>Bildung</strong><br />
eine große Rolle. Wir sind alle vor etwa einem Jahrzehnt aufgeschreckt<br />
worden durch die PISAErgebnisse. Sie haben uns<br />
nüchtern in Zahlen vorgeführt, wo wir stehen. Was ich besonders<br />
wichtig finde, ist der Blick über die eigenen nationalen Grenzen<br />
hinaus. Da können wir feststellen, dass der soziale Status des<br />
Elternhauses in Deutschland mehr darüber entscheidet, welchen<br />
<strong>Bildung</strong>serfolg jemand hat, als seine Talente. Wir können aber<br />
auch sehen, dass es in anderen Ländern besser funktioniert als<br />
bei uns, <strong>Bildung</strong>serfolg vom sozialen Status der Eltern zu entkoppeln<br />
und mehr die individuellen Talente entscheiden zu<br />
lassen. Dies finde ich ausgesprochen wichtig. Ähnlich ist auch<br />
der Blick auf diejenigen, die wir Menschen mit Migrationsgeschichte<br />
nennen. Ich tue mich da mittlerweile schwer, weil die
18 peteR cleveR<br />
Bezeichnung „Migrationshintergrund“ fast schon zu einer<br />
Stigmatisierung wird, was sie gerade nicht sein soll. Denn Menschen<br />
mit Migrationsgeschichte sind überproportional am so<br />
genannten „High End“ vertreten, was man aber sehr schnell vergisst.<br />
Es gibt viele, bei denen die Integration sehr gut gelungen<br />
ist, die aus der interkulturellen Kompetenz und der Mehrsprachigkeit<br />
viel mehr Potenzial entwickelt haben, als es jemand tut,<br />
der nicht über Migrationsgeschichte verfügt. Auf der anderen<br />
Seite sind sie überproportional stark am „Low End“ vertreten,<br />
wo es erhebliche Nachteile gibt, die überwunden werden<br />
müssen. Wir müssen aber dafür sorgen, dass wir diesen Begriff<br />
„Menschen mit Migrationsgeschichte“ nicht immer nur mit<br />
dem „Low End“ verbinden. Wir müssen dafür sorgen, dass er<br />
nicht stigmatisiert, sondern nur den analytischen Blick schärft,<br />
der uns zeigt, wo wir besser werden können und müssen. Denn<br />
auch hier zeigt sich, dass in vergleichbaren Industrieländern<br />
die <strong>Bildung</strong>sergebnisse derer, die zugewandert sind, besser<br />
sind als in Deutschland. Politisch und auch gesellschaftspolitisch<br />
herausfordernd ist, dass bei uns die Herkunft mehr über<br />
den <strong>Bildung</strong>serfolg entscheidet als das Talent, denn dieser<br />
Zusammenhang sagt uns und unserem System: Es gelingt uns<br />
nicht, Chancengerechtigkeit herzustellen, jedenfalls nicht im<br />
möglichen und erst recht nicht im wünschbaren Ausmaß.<br />
Chancen unabhängig von der sozialen Herkunft zu eröffnen,<br />
ist deshalb zu Recht ein zentrales bildungspolitisches Thema,<br />
weil es große gesellschaftspolitische Konsequenzen hat. Und<br />
Chancengerechtigkeit ist übrigens überhaupt kein Gegensatz<br />
zum Leistungsprinzip, denn es geht ja darum, dass jeder Mensch<br />
sein Leistungspotenzial tatsächlich entdeckt und dann auch<br />
aus sich heraus mit eigenem Engagement und mit Hilfe des<br />
<strong>Bildung</strong>ssystems und seiner Einrichtungen entfalten kann. Wir<br />
brauchen dementsprechend bessere Startchancen für alle,<br />
verknüpft mit einer klaren Orientierung am Leistungsprinzip.<br />
Und deshalb müssen wir zweierlei versuchen zu erreichen:<br />
Chancen eröffnen und Anstrengungen fordern<br />
Erstens müssen wir durch die gezielte Förderung bei jedem<br />
Menschen alle Talente entfalten. Ich rede nachher häufiger<br />
von Kindern, aber ich sage Ihnen, es gilt eigentlich für Menschen<br />
jeder Altersstufe. Der Spruch „Was Hänschen nicht lernt, lernt<br />
Hans nimmermehr“ ist bei mir mit zehn Fragezeichen versehen.<br />
Selbst wenn man es intellektuell und auch empirisch untermauern<br />
könnte, wäre es zumindest keine Ermutigung für diejenigen,<br />
die Spätzünder sind oder die Brüche im Leben erfahren<br />
haben. Deshalb würde ich diese „Volksweisheit“ etwas relativieren.<br />
Ich glaube, es kommt bei jedem Menschen darauf an,<br />
gegebenenfalls auch später im Leben, Talente und Begabungen<br />
zu entdecken, zu entfalten und Fähigkeiten und Kompetenzen<br />
zu entwickeln. Jedem Menschen muss eine Chance dazu gege ben<br />
werden und nicht nur eine, sondern immer wieder neue<br />
Chancen.<br />
Auch hier spanne ich den Bogen zu der Frage: In welcher<br />
Gesellschaft will ich leben? Ich will in einer chancenvollen<br />
Gesellschaft leben. Nicht in einer, in der ich in eine Familie mit<br />
Migrationsgeschichte hineingeboren bin und ohnehin in<br />
meinem Leben keine Chance mehr haben werde, weil ich die<br />
Unterstützung von meinem Elternhaus nicht bekomme, die<br />
andere mit einer anderen Biografie und anderem Elternhaus<br />
bekommen können. Ich wünsche mir auch nicht, dass jemand,<br />
der einen Bruch in seinem Leben erfahren hat, weil er zum<br />
Beispiel krank geworden ist, für sein ganzes Leben in eine Sackgasse<br />
gerät. Ich wünsche mir, dass wir in einer chancenvollen<br />
Gesellschaft leben, und deshalb muss jedem auch in jedem Alter<br />
wieder eine neue Chance gegeben werden.<br />
Diese Art von Chancengerechtigkeit wird übrigens nicht<br />
zu gleichen Ergebnissen für alle führen. Es geht hier nicht um<br />
Gleichmacherei. Denn die Menschen haben ganz unterschiedliche<br />
Talente und Begabungen, und die Ergebnisse werden<br />
dementsprechend auch unterschiedlich sein. Was nichts über<br />
den Wert der Menschen sagt. „Die Würde des Menschen ist<br />
unantastbar“ – der erste Satz in unserem Grundgesetz ist zu<br />
Recht ein kluger Spruch, der eben nicht die Würde des Menschen<br />
von seinen Talenten und Fähigkeiten her definiert, sondern<br />
aus seinem Menschsein heraus. Jeder Mensch hat Talente und<br />
Begabungen. Diese müssen entdeckt werden, auch deshalb,<br />
weil man nur darüber Selbstbewusstsein entwickeln kann. Ein<br />
Mensch, der nicht das Gefühl hat, ich kann etwas, oder besser<br />
noch: ich kann etwas, und das wird gebraucht, entwickelt kein<br />
Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Das sage ich bewusst<br />
als Vertreter der Arbeitgeber, die oft in den Verdacht gestellt<br />
werden, in der <strong>Bildung</strong>spolitik immer nur eine utilitaristische<br />
Sichtweise zu vertreten, die nur die direkte Verwertbarkeit der<br />
<strong>Bildung</strong>sergebnisse sofort an der Maschine, im Betrieb als eigenes<br />
Interesse im Blick hat. Die Persönlichkeitsentwicklung sei<br />
eine Sache, die wir angeblich auf die Seite schieben. Ich will da<br />
einen klaren Kontrapunkt setzen. Die Gesellschaft, auch die<br />
moderne Wirtschaftsgesellschaft, ist eine, bei der nicht „Herr<br />
im Hause“ gilt, also Befehl und Gehorsam, sondern sie braucht<br />
den selbstbewussten, problemorientierten Menschen und Mitarbeiter,<br />
der eigenständig, kreativ, innovativ arbeitet. Das kann<br />
keine verkümmerte Persönlichkeit sein, sondern muss eine<br />
selbstbewusste Persönlichkeit sein. Und deshalb sind ökonomische<br />
Notwendigkeit und der gesellschaftspolitische Anspruch<br />
von Chancengerechtigkeit und Persönlichkeitsentwicklung kein<br />
Gegensatz, sondern sie laufen gleichgerichtet.<br />
Das eine zentrale Element von <strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit ist<br />
die gezielte Förderung, die Entdeckung und Förderung von<br />
Talenten. Das zweite ist der Anspruch, dass man mit seinen<br />
Begabungen, wenn sie entdeckt und gefördert werden, auch<br />
etwas anfangen muss. Kurz gesagt: dass man sich anstrengen<br />
muss. Dabei haben Eltern eine ganz zentrale Bedeutung. Das<br />
widerspricht nicht unserer Forderung für eine stärkere frühkindliche<br />
<strong>Bildung</strong>. Hier geht es überhaupt nicht darum, Eltern<br />
aus ihrer Verantwortung zu entlassen oder ihnen gar die<br />
Kinder zugunsten von Staatseinrichtungen wegzunehmen.
peteR cleveR<br />
19<br />
Genau das Gegenteil wollen wir. Eine nachhaltige frühkindliche<br />
Förderung kann nur gemeinsam mit den Eltern gelingen. Aber<br />
in einer Gesellschaft, in der die Familie üblicherweise ein Kind<br />
oder zwei Kinder hat, tut es Kindern auch im ganz frühen Alter<br />
gut, in Gruppen mit sieben, acht, neun Kindern zu sein. Die<br />
staatliche Einrichtung spielt dann eine große pädagogische<br />
Rolle und nicht in Konkurrenz, sondern als Ergänzung und als<br />
Unterstützung dessen, was in den Familien geschieht.<br />
Die Politik hat aus meiner Sicht bisweilen Hemmungen,<br />
Anstrengungen des Einzelnen auch zum Thema zu machen.<br />
Sie meint, dies werde nicht goutiert. Aber man sollte einmal<br />
ernsthaft über die Frage nachdenken: Was bringt eigentlich<br />
das höchste Glück? Ist das der Lottogewinn? Oder die ersten<br />
selbst verdienten 200 Euro? Wer ist glücklicher: der, der den<br />
Kilimandscharo nach langem Training selbst in zwei Tagen<br />
hochgekraxelt ist? Oder derjenige, der vom reichen Vater oder<br />
Onkel einen Hubschrauberflug geschenkt bekommt und zur<br />
selben Zeit auf dem Gipfel abgestellt wird wie der andere, der<br />
mühsam heraufgeklettert ist? Meine Antwort: Es gibt kein anstrengungsloses<br />
Glück. Ich glaube sogar, die Anstrengung ist<br />
Voraussetzung für die Maximierung von Glück. Und deshalb<br />
muss auch Politik keine Angst haben, den Menschen Anstrengungen<br />
abzuverlangen. Die Kunst besteht darin, die Anstrengung<br />
bis zum maximal Möglichen zu steigern, aber die Sensibilität<br />
dafür zu haben, wo die Überforderung beginnt. Denn wo<br />
ständige Überforderung zum permanenten Versagenserlebnis<br />
wird, dort wird auch kein selbstbewusster, selbstständig denkender<br />
Mensch herangebildet. Deshalb ist der entscheidende<br />
Punkt nicht die Frage nach der Anstrengung generell, sondern<br />
die nach der Nichtüberforderung.<br />
Mein Zwischenfazit lautet also: Wir müssen beide Pole<br />
verfolgen, Talente fördern und Anstrengungen fordern – und<br />
jedem immer wieder eine Chance geben.<br />
Chancengerechtigkeit als ökonomische<br />
Notwendigkeit<br />
Warum müssen wir diese beiden Ziele auch unter ökonomischen<br />
Gesichtspunkten verfolgen? Der Bundespräsident<br />
hat kürzlich gesagt: „<strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit ist ein Gebot der<br />
sozialen Verantwortung und ein Gebot der wirtschaftlichen<br />
Vernunft.“ Das ist auch meine Botschaft: Eine chancengerechte<br />
<strong>Bildung</strong> hat zum einen nachhaltige sozial- und gesellschaftspolitische<br />
Konsequenzen. Aber sie hat auch für jeden Einzelnen<br />
Konsequenzen im Hinblick auf die Entwicklung seiner Persönlichkeit,<br />
seiner Berufsfähigkeit und ist damit Grundlage für die<br />
Teilhabe der Menschen an unserem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen<br />
und kulturellen Leben. Das ist auch wieder die<br />
Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen: wo alle mitmachen<br />
können? Oder wo die einen Theater spielen und die<br />
anderen immer nur Zuschauer sind und vielleicht noch nicht<br />
einmal verstehen, was für ein Stück gespielt wird? Ich will<br />
eine Gesellschaft, in der Teilhabe unser gemeinsames Ziel ist,<br />
in der Arbeit wie außerhalb der Arbeit, zum Beispiel auch im<br />
Bereich der Kultur.<br />
Ich habe eben schon angedeutet, dass chancengerechte<br />
<strong>Bildung</strong> im Kern auch nachhaltige Standort- und Wirtschaftspolitik<br />
ist. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als die <strong>Bildung</strong>spolitik<br />
eigentlich eine Domäne von speziellen Fachleuten, zum<br />
Beispiel von Lehrern oder Professoren, war – ein Expertenthema.<br />
Ein früherer Bundeskanzler hätte sie wohl „Gedöns“<br />
genannt. Uns ist es aber gelungen, auch in der Wirtschaft die<br />
<strong>Bildung</strong>spolitik zur strategischen Größe zu erklären. Dass wir<br />
nicht über irgendeinen Randbereich reden, sondern in einem<br />
rohstoffarmen Land über den eigentlich wichtigsten Rohstoff –<br />
nämlich die Fähigkeiten des Menschen, sich kognitiv, emotional<br />
und praktisch zu entwickeln. Das ist es, was über unsere Zukunft<br />
entscheidet, und deshalb hat <strong>Bildung</strong>spolitik einen ganz zentralen<br />
politischen Stellenwert. Nur von gut qualifizierten,<br />
kreativen – im Kern übrigens auch sich fair behandelt fühlenden<br />
– Menschen können neue Ideen entwickelt und hochwertige<br />
Produkte und Dienstleistungen angeboten werden,<br />
die die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit des Standorts<br />
Deutschland und damit unseren Wohlstand und unser
20 peteR cleveR<br />
größtmögliches Maß an sozialer Sicherheit gewährleisten.<br />
Ich sage bewusst auch „sich fair behandelt fühlende Menschen“<br />
– nicht als Samariter, der versucht, ein schönes Arbeitgeberimage<br />
vorzugaukeln. Wettbewerb ist immer sehr stark<br />
von eigenen Zielen geprägt, hat ein Element des Egoismus.<br />
Aber es gibt einen dummen Egoismus, der quasi mit Scheuklappen<br />
wie ein Panzer durch die Gegend fährt. Und es gibt<br />
einen aufgeklärten Egoismus, der immer darauf achtet, dass<br />
die berechtigten Interessen der Mitspieler durch die eigene<br />
Interessenwahr nehmung nicht unter die Räder kommen.<br />
Die berechtigten Interessen des anderen sind zu respektieren.<br />
Auch wieder die Frage: In welcher Gesellschaft möchten wir<br />
leben? Wir Rheinländer haben immer gesagt: leben und leben<br />
lassen. Eine sehr kurze Formel, aber eine sehr praktische, auch<br />
im Hinblick auf unsere bildungspolitischen Ziele.<br />
<strong>Bildung</strong>spolitische Herausforderungen<br />
Wir haben in Deutschland viele gut qualifizierte Menschen,<br />
hochkompetent, sehr engagiert, aber es gibt noch zu viele<br />
Potenziale, die brachliegen. Sie kennen die Zahlen im Wesentlichen:<br />
6,5 Prozent der Schulabgänger haben keinen Abschluss,<br />
bei denen mit ausländischem Pass sind es mehr als doppelt so<br />
viele. Und 15 Prozent der jungen Menschen zwischen 20 und<br />
29 haben keinen Berufsabschluss und auch hier ist die Zahl<br />
derer mit ausländischem Pass doppelt so hoch. Dies wollen und<br />
können wir uns nicht länger leisten, denn Deutschland gehen<br />
die Menschen aus.<br />
Ich habe kürzlich in der SPD-Fraktion die Frage gestellt: Wie<br />
schätzen Sie eigentlich die Zeitspanne von der Wiedervereinigung<br />
bis heute ein? Übertragen könnte man sagen, das war<br />
vorgestern für mich, aber sie ist noch in lebhafter Erinnerung,<br />
diese Euphorie der Wendezeit. Und wenn man das in einer<br />
gefühlten Zahl ausdrücken sollte, dann hätte ich von neun,<br />
zehn oder elf Jahren gesprochen. Es sind schon 22 Jahre seit<br />
1989. Und deshalb, Frau Schulte-Loh, bin ich Ihnen sehr dankbar,<br />
dass Sie das Thema der Langfristigkeit eben auch für die<br />
Politik angesprochen haben. Politiker sollen nicht „abschalten“,<br />
wenn über das Jahr 2030 gesprochen wird. Denn für die großen<br />
Fragen der Entwicklung unseres Landes muss man diese vermeintlich<br />
langen Perspektiven im Blick haben und auch den<br />
Willen haben, in diesen Perspektiven politisch zu arbeiten und<br />
nicht nur auf die nächste Kommunal-, Landtags- oder Bundestagswahl<br />
zu schielen.<br />
In 20 Jahren wird das Erwerbspersonenpotenzial in<br />
Deutschland, also die Zahl der Menschen zwischen 15 und 65,<br />
von 50 auf 42 Millionen zurückgehen. Das sind keine Prognosen,<br />
sondern das sind Berechnungen, die wir machen können,<br />
weil wir wissen, dass diese Menschen schon geboren, respektive<br />
nicht geboren sind. An dieser Zahl kann man dann nur noch<br />
durch Zuwanderung etwas verändern. Bei der gerade genannten<br />
Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials ist unterstellt,<br />
dass es im Jahresdurchschnitt einen positiven jährlichen<br />
Wanderungssaldo von 100.000 Personen für Deutschland gibt.<br />
Im Moment haben wir aber sogar einen leicht negativen Saldo.<br />
Das heißt, dass diese Zahl das Problem eher unterzeichnet – im<br />
Moment jedenfalls – als dass sie es dramatisiert. Wenn wir die<br />
ganz nüchterne Analyse machen, dass die Menschen weniger<br />
werden, werden wir auch zu dem Ergebnis kommen, dass wir,<br />
weil die Menschen nicht da sind, auch Arbeitskräftemangel<br />
haben werden.<br />
Laut Prognosen wird die Fachkräftelücke ohne Gegensteuern<br />
der Politik im Jahre 2030 5,2 Millionen betragen. Ganz<br />
besonders stark ist der Fachkräftemangel schon heute in den so<br />
genannten MINT-Berufen: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft,<br />
Technik. Glücklicherweise müssen wir heute den<br />
Begriff MINT nicht mehr erklären wie noch vor ein paar Jahren.<br />
Aktuell fehlen 154.000 MINT-Fachkräfte, und schon in weniger<br />
als zehn Jahren wird die Lücke auf 230.000 ansteigen. Dies ist<br />
etwas, was mit großen Wertschöpfungsverlusten einhergeht.<br />
Unternehmen werden Aufträge nicht annehmen können, die<br />
sie mit ausreichend Fachkräften erledigen könnten. Das ist<br />
nicht nur eine Frage der Wertschöpfung für den Einzelnen oder<br />
ein einzelnes Unternehmen. Hier geht es um die Grundlage<br />
unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit insgesamt, um<br />
unsere gesellschaftspolitische und soziale Leistungsfähigkeit.<br />
Deshalb müssen wir die Folgen der Demografie ernst nehmen<br />
und wirksam gegensteuern. Wichtig ist eine Gesamtstrategie,<br />
die nicht zulässt, wie es heute bisweilen passiert, dass man sagt:<br />
Zuerst müsst ihr die Menschen hier in Deutschland richtig<br />
qualifizieren und dann prüfen wir, ob wir uns auch in der Welt<br />
umschauen müssen nach guten Köpfen. Deutschland wird noch<br />
lange brauchen, bis es zu einem interessanten und begehrten<br />
Zuwanderungsziel wird. Wir werden noch sehr viele Werbeanstrengungen<br />
unternehmen müssen, um uns attraktiv zu<br />
machen für kluge, gut ausgebildete Menschen überall auf der<br />
Welt. Und da haben wir keine Zeit zu verlieren, damit müssen<br />
wir jetzt anfangen und dürfen dies nicht gegen die gleichzeitig<br />
zu leistende Aufgabe der besseren Qualifizierung unseres<br />
heimischen Potenzials ausspielen.<br />
Wo wir weniger werden, müssen wir besser werden.<br />
Altbundespräsident Köhler hat bei einer großen gesellschaftspolitischen<br />
Rede bei uns in der BDA gesagt: „… und wir müssen<br />
im globalen Wettbewerb um so viel besser sein, wie wir teurer<br />
sind.“ Das ist keine ideologische Aussage, das ist eine ganz<br />
nüchterne Analyse der Wettbewerbssituation. Und weil wir<br />
besser werden müssen – da bin ich wieder bei der <strong>Bildung</strong>spolitik<br />
–, kommt der <strong>Bildung</strong>spolitik strategische Bedeutung zu.<br />
Bund und Länder haben sich im Rahmen der Qualifizierungsinitiative<br />
konkrete Ziele gesetzt und auch schon viele Schritte<br />
auf dem Weg zu einer besseren <strong>Bildung</strong> in Deutschland vereinbart.<br />
Wichtig war uns dabei, dass konkrete, messbare Ziele und<br />
Zielgrößen vereinbart worden sind, denn der Fortschritt hin<br />
zu mehr Qualität im <strong>Bildung</strong>ssystem muss messbar sein. Nur so<br />
entsteht ein Veränderungsdruck, der allein von Sonntagsreden<br />
nicht ausgeht. Die deutschen Arbeitgeber verbinden deshalb<br />
ihre bildungspolitischen Forderungen seit Jahren mit konkreten
peteR cleveR<br />
21<br />
Messgrößen. Und wir haken bei den Verantwortlichen in den<br />
Ländern und beim Bund immer wieder nach, wie die Umsetzung<br />
vorankommt. Wichtig ist, dass wir die Defizite benennen,<br />
aber auch das nicht missachten, was auf der Habenseite schon<br />
verbucht werden kann. Dies heißt nicht Schönwetter machen<br />
oder Probleme wegdefinieren. Aber wenn man nicht auch den<br />
Fortschritt sichtbar werden lässt, dann erlahmt die Motivation,<br />
auf diesem Reformweg weiterzugehen.<br />
Erfreulich ist, dass die Quote der Schulabbrecher, die 2005<br />
noch bei 10 Prozent lag, jetzt auf aktuell 6,5 Prozent abgesenkt<br />
wurde. Aber wir sagen, das ist immer noch zu viel. Wir müssen<br />
die Quote weiter auf 4 Prozent senken bis 2015.<br />
Und die frühkindliche <strong>Bildung</strong> wird ausgebaut, jawohl, das<br />
ist sehr gut. Bis 2013 soll für über ein Drittel aller Kinder unter<br />
drei Jahren ein Betreuungsangebot vorzufinden sein. Aber wir<br />
fragen auch nach der Qualität der Betreuung, die gesichert<br />
werden muss. Ich komme nachher noch mal kurz auf dieses<br />
Thema zurück.<br />
Und es ist Konsens, dass mehr und besserer Unterricht in den<br />
MINT-Fächern stattfinden soll. Denn für ein Hochtechnologieland<br />
wie Deutschland ist es ausgeschlossen, dass wir die MINT-<br />
Thematik nicht wirklich nach vorne bringen. Und deshalb fragen<br />
wir auch, ob diese MINT-Fächer in den Schulen verbindlich<br />
belegt werden müssen und ob der Unterricht tatsächlich so<br />
anschaulich gestaltet wird, dass junge Menschen auch für MINT<br />
begeistert werden können. Ich weiß, dass Lehrer Angeboten,<br />
wie sie Unterrichtsgestaltung verändern können, grundsätzlich<br />
sehr offen gegenüberstehen. Sie brauchen vor allem praktische<br />
Tipps, die sie konkret im Unterricht anwenden können.<br />
Und die Kultusminister haben richtigerweise <strong>Bildung</strong>sstandards<br />
beschlossen. Wir fragen als BDA immer wieder nach,<br />
wie weit sie im Unterricht implementiert sind und ob der Erfolg<br />
auch überprüft wird.<br />
Insgesamt haben wir kein Defizit an Programmatik. Wir<br />
haben ein Defizit an Umsetzung in vielen Bereichen, und deshalb<br />
treiben wir als BDA auch nicht mehr die programmatische<br />
Diskussion an, sondern vor allem die Umsetzungsdiskussion.<br />
Neben den Fortschritten, die ich eben angedeutet habe, gibt es<br />
großen Handlungsbedarf.<br />
Frühkindliche <strong>Bildung</strong> stärken<br />
Die frühkindliche <strong>Bildung</strong> spielt eine zentrale Rolle. Denn<br />
wie fast überall gilt: Es kommt auf einen guten Anfang an. Das<br />
entscheidende Fundament für mehr <strong>Bildung</strong>s- und Chancengerechtigkeit<br />
wird in den jungen Jahren gelegt. Da muss<br />
an gesetzt werden, denn gerade hier steht das Fenster für das<br />
Lernen aufgrund der natürlichen Neugier der Kinder weit<br />
offen. Frühkindliche <strong>Bildung</strong> ist nicht die Universität für Kleine.<br />
Die Kinder werden auch nicht vom Spielen abgehalten und<br />
schon zu kleinen Schülern gemacht, die still sitzen und einem<br />
Vortrag folgen müssen. Die Kunst besteht eben darin, Anreize<br />
fürs Spiel so zu setzen, dass aus der entdeckenden Neugier<br />
oder dem neugierigen Entdecken Verständnis für sprachliche,<br />
naturwissenschaftliche, gesellschaftliche Zusammenhänge<br />
und Problemlösungen entwickelt wird. Das ist die Kunst der<br />
Frühpädagogen. Ich maße mir nicht an, zu sagen, ich weiß, wie<br />
es geht. Aber ich weiß, dass es viele gibt, die wissen, wie es geht,<br />
und die deshalb auch gestärkt werden müssen. Das gilt auch in<br />
der Frage einer angemessenen Bezahlung. Das wird man nicht<br />
von heute auf morgen regeln können, aber ich will es hiermit<br />
adressieren: Wir tun uns in Deutschland sehr schwer, die Dienstleistung<br />
von Mensch zu Mensch angemessen zu honorieren.<br />
Eine Maschine zu bedienen, wird hoch geachtet – dabei gibt<br />
es keine kompliziertere Maschine als den Menschen. Und<br />
diese Arbeit wird bei uns nicht wirklich wertgeschätzt. Das ist<br />
übrigens keine Frage nur an die Arbeitgeber, das ist eine Frage,<br />
die wir uns alle selbst stellen müssen. Und wer stolz sagt, für<br />
meinen letzten Haarschnitt habe ich 8 Euro bezahlt, der soll<br />
nicht nachher sagen, dass aber der, der mir die Haare geschnitten<br />
hat, 12 Euro die Stunde mindestens verdienen soll.<br />
Wir wollen, dass auch die Erzieher in den Einrichtungen<br />
professionell begleitet werden und dass sie in der Lage sind,<br />
den Kindern diese Anreize zu geben für Lernfortschritte schon<br />
im Kindergarten. Spätestens mit drei Jahren, in vielen Fällen<br />
auch schon mit zwei Jahren, ist der Besuch einer Kindertageseinrichtung<br />
für jedes Kind eine Bereicherung. Und noch mal:<br />
Es geht nicht darum, die Kinder den Eltern wegzunehmen. Im<br />
Gegenteil, es gehört zu einer guten frühkindlichen <strong>Bildung</strong>, dass<br />
es gelingt, eine <strong>Bildung</strong>s- und Erziehungspartnerschaft von<br />
Eltern und Erziehern mit dem gemeinsamen Ziel der optimalen<br />
Förderung der Kinder hinzukriegen. Ich weiß, wie schwer es<br />
ist, an manche Eltern heranzukommen. Aber man muss diese<br />
Bemühung auf sich nehmen und versuchen, die Menschen<br />
dort abzuholen, wo sie wohnen. Da geht der Lehrerberuf oder<br />
der Beruf der Erzieherin oder des Erziehers im Kindergarten<br />
über in sozialpädagogische Tätigkeit. Dafür muss man sich<br />
öffnen, sonst werden wir dieses große Wort der <strong>Bildung</strong>s- und<br />
Erziehungspartnerschaft zwischen der Einrichtung und den<br />
Eltern nicht wirklich mit Leben füllen können.
22 peteR cleveR<br />
Von zentraler Bedeutung ist die Sprachförderung. Dies<br />
gilt besonders, aber nicht nur für Kinder mit Migrationshintergrund.<br />
Hier ist es oft schwierig: Da bemühen sich die Eltern,<br />
deutsch zu reden, und sagen, wir probieren es. Aber sie können<br />
selbst nicht perfekt Deutsch. Gleichzeitig vernachlässigen sie<br />
ihre Herkunftssprache, die sie besser beherrschen. Resultat ist,<br />
dass die Kinder zum Beispiel weder gut türkisch noch gut deutsch<br />
sprechen können. Das ist die schlechteste Voraussetzung, überhaupt<br />
Sprache lernen zu können. Deshalb ist es ganz wichtig,<br />
dass man dort, wo die Eltern nicht gut deutsch sprechen können,<br />
sie natürlich ermuntern sollte, ihre Muttersprache mit den<br />
Kindern zu pflegen. Gleichzeitig muss an anderer Stelle nachgesteuert<br />
werden, was die Eltern eben nicht leisten können,<br />
und wo sie auch nicht mehr selbst hinentwickelt werden können.<br />
Da darf man kein Schwarz-Weiß-Bild zeichnen. Wie groß<br />
der Handlungsbedarf ist, zeigen die Sprachstandsfeststellungen,<br />
die glücklicherweise mittlerweile flächendeckend in unserem<br />
Land erhoben werden: Sie stellen immerhin bei 30 Prozent aller<br />
Vorschulkinder einen konkreten Förderbedarf fest.<br />
Schule muss Ausbildungsreife sicherstellen<br />
Der nächste Schritt hin zum Berufsabschluss muss von der Schule<br />
geleistet werden. Sie muss sicherstellen, dass junge Menschen<br />
mit dem erforderlichen Rüstzeug für eine Ausbildung ausgestattet<br />
werden. Das gelingt aktuell zu oft nicht. Wieder einmal<br />
sagt uns PISA: 19 Prozent der Schüler sind nicht ausbildungsreif,<br />
mehr als diejenigen ohne Schulabschluss. Ein Schulabschluss<br />
bedeutet nicht unbedingt auch schon Ausbildungsreife.<br />
Gleich zeitig bleiben immer mehr Ausbildungsplätze<br />
unbesetzt, der Arbeitsmarkt dreht sich hin zu einem Arbeitnehmerarbeitsmarkt.<br />
Arbeitgeber müssen sich ganz anders<br />
bemühen, sie können sich nicht nur die Besten aussuchen,<br />
denn die sind schon vergeben, sie müssen jetzt noch verstärkt<br />
ihr Radar öffnen für Gruppen, die man früher weniger stark<br />
im Blick hatte. Hier ändert sich vieles, der Arbeitsmarkt dreht<br />
sich, aus unserer Perspektive bleiben Ausbildungsplätze leider<br />
unbesetzt, weil geeignete Bewerber nicht da sind. Daher müssen<br />
wir alles tun, um mehr junge Menschen ausbildungsfähig<br />
zu machen.<br />
Im letzten Jahr gab es 60.000 nicht besetzte Ausbildungsplätze,<br />
und deshalb begrüßen wir es auch von der BDA aus,<br />
dass bei der Verlängerung und Weiterentwicklung des Ausbildungspaktes<br />
vor rund einem Jahr die Themen Ausbildungsreife<br />
und Berufsorientierung stärker in den Fokus gerückt worden<br />
sind. Sie waren zwar schon immer Gegenstand des Paktes, aber<br />
sie haben angesichts der demografischen Entwicklung nochmals<br />
an Bedeutung gewonnen. Daher ist es auch gut, dass die<br />
Länder offizieller Paktpartner geworden sind, weil wir hier<br />
über ein zentrales Thema sprechen, das in der Kompetenz der<br />
Länder liegt und in erster Linie dort angegangen werden muss.<br />
Ich erkenne auch ausdrücklich an, dass in den letzten Jahren<br />
einiges passiert ist, um Schulen besser aufzustellen. Erste Erfolge<br />
sind sichtbar: Die PISA-Ergebnisse 2009 zeigen einen klaren<br />
Trend zur Verbesserung, gerade auch bei den bislang schwächeren<br />
Schülern. So hat der Anteil von Schülern, die im Lesen<br />
zur Risikogruppe gehören, zwischen 2000 und 2009 von 22,6<br />
auf 18,5 Prozent abgenommen. Das ist spürbar, aber immer<br />
noch ein zu hohes Niveau. Das ist nicht zufriedenstellend, aber<br />
es zeigt sich, man kann etwas bewegen.<br />
Analysen zeigen zusätzlich, dass zwischen den Schulen,<br />
Ländern und Regionen zum Teil eklatante Unterschiede in der<br />
Schulqualität bestehen. Das ist nicht gerade ein Ausdruck von<br />
<strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit in unserem Land. Und wir beobachten<br />
mit großer Sorge, dass es bei bildungspolitischen Reformen oft<br />
an der Umsetzung hapert. Es werden zum Teil Modellversuche<br />
gemacht, ohne dass wirklich eine Breitenwirkung, von der man<br />
immer behauptet, dass sie intendiert sei, wirklich angegangen<br />
wird. Zum Teil dominieren Aktionismus und unausgegorene<br />
Schnellschüsse in der <strong>Bildung</strong>spolitik, ein zu starkes Hin und<br />
Her bis zum Zurückrudern bei längst gestarteten Maßnahmen,
peteR cleveR<br />
23<br />
je nach Regierungswechsel, ist zu beobachten. Das schafft<br />
übrigens in der <strong>Bildung</strong>slandschaft einen Reformunwillen,<br />
selbst bei den gutmütigsten Reformwilligen. Diese Unruhe<br />
geht oft von Nebenkriegsschauplätzen aus, und ich sage es<br />
jetzt bewusst auch mal sehr konkret und benenne auch Länder.<br />
... Es geht immer von den Themen „Schulorganisation“ und<br />
„Schulstruktur“ aus. Dies beschäftigt die Schulen heutzutage<br />
oft mehr als ihre eigentliche Aufgabe, guten Unterricht zu<br />
machen, zu bilden, individuell zu fördern und zu erziehen. So<br />
war es in Hamburg: Die Umstrukturierung der weiterführenden<br />
Schulen zur Stadtteilschule war noch nicht abgeschlossen,<br />
als schon die Primarschule eingeführt werden sollte.<br />
In Schleswig-Holstein wurde das achtjährige Gymnasium eingeführt.<br />
Nachdem man es flächendeckend etabliert hatte,<br />
dürfen Schulen jetzt wieder auf G9 umstellen. In Mecklenburg-<br />
Vorpommern hat sogar mehrmals ein Wechsel zwischen G8<br />
und G9 stattgefunden. In Baden-Württemberg wurde erst mit<br />
der Werkrealschule eine neue Schulform eingeführt, da soll<br />
sie schon wieder storniert werden.<br />
Die Politik muss überlegen, was sie eigentlich Schülern<br />
und Eltern zumutet, wenn sie dieses oft nur parteipolitisch<br />
motivierte Hin und Her weiter betreibt. Wenn man zutiefst<br />
überzeugt ist, dass eine Regierung einen absolut falschen Schritt<br />
gegangen ist, muss man ihn korrigieren. Ich will keinem Politiker<br />
etwas zumuten. Aber ich will anmahnen, mehr Distanz zu<br />
den reinen Organisations- und Institutionsfragen herzustellen<br />
und Raum zu schaffen für die inhaltlichen Fragen der <strong>Bildung</strong>spolitik.<br />
Darauf kommt es an. Und das ist das, worauf sich<br />
Politik konzentrieren muss. Ich war auch lange ein Anhänger<br />
des dreigliedrigen Schulsystems. Wenn ich ehrlich bin, es ist<br />
egal, ob dreigliedrig oder zweigliedrig. Es gibt gute Hauptschulen<br />
und es gibt schlechte Hauptschulen. Lasst uns ganz<br />
pragmatisch die Organisationsfragen ohne großes politisches<br />
Gerede, entsprechend der demografischen Entwicklung,<br />
erledigen. Wenn eine Hauptschule zu klein wird, weil die kritische<br />
Masse nicht mehr da ist, muss sie in der Folge mit einer<br />
anderen Schule zusammengelegt werden. Daraus muss keine<br />
große Debatte gemacht werden, sondern es ist Konzentration<br />
auf die inhaltlichen Fragen der <strong>Bildung</strong>spolitik gefragt. Verlässliche<br />
Rahmenbedingungen für Schulen sind auch eine der<br />
Voraussetzungen für den <strong>Bildung</strong>serfolg in den Schulen.<br />
Reformen müssen stringent und langfristig ausgerichtet<br />
sein und erfordern übrigens auch von der Parteipolitik bisweilen,<br />
einen Weg weiter mitzugehen, den man selbst vielleicht anders<br />
gegangen wäre. Aber da es nicht eine völlig andere Richtung<br />
ist, sollte man um der Langfristigkeit und Berechenbarkeit<br />
willen auch hier über den eigenen Schatten springen und die<br />
parteipolitischen Vorlieben zugunsten der wirklich wichtigen<br />
inhaltlichen Fragen beiseitestellen. Denn wir müssen daran<br />
arbeiten, dass die Quote der Schulabbrecher jetzt im nächsten<br />
Schritt auf 4 Prozent halbiert wird, dass der Anteil der leistungsschwächsten<br />
Schüler weiter gesenkt werden kann auf höchstens<br />
15 Prozent und der der leistungsstärksten vielleicht auf<br />
15 Prozent gesteigert werden kann.<br />
Und wir brauchen vier Grundorientierungen, die ich gerne<br />
in jedem Bundesland gleichermaßen gefördert sehen will:<br />
1. eine starke, individuelle Förderung von Schülern:<br />
Das setzt voraus, dass Unterrichtsmethoden verändert<br />
werden und in der Qualifizierung der Lehrer die<br />
methodisch-didaktischen Fähigkeiten stärker in<br />
den Blick genommen werden.<br />
2. Wir brauchen ganz eindeutig mehr Ganztagsangebote:<br />
Dies ist nicht nur eine Frage von <strong>Bildung</strong>, sondern<br />
eine gesellschaftspolitische Frage von großer Bedeutung.<br />
Wir sehen es in der Bundesagentur für Arbeit, wo ich im<br />
Verwaltungsrat sitze, immer wieder, wie sehr eine<br />
mangelnde ganztägige Kinderbetreuungseinrichtung<br />
dazu führt, dass Arbeitskräfte nicht in Erwerbsarbeit<br />
kommen, obwohl sie wollen.<br />
3. Wir brauchen mehr Selbstständigkeit für die Schulen:<br />
Da muss auch ein Druck auf die Finanzminister ausgeübt<br />
werden, damit Schulen nicht mehr nach Stellenplänen<br />
arbeiten müssen, sondern ihnen mehr zugetraut wird,<br />
zum Beispiel auch in der Auswahl ihres Personals<br />
oder ihres Profils, je nach Umfeld, in dem sie ihre<br />
<strong>Bildung</strong>saufgabe zu erledigen haben.<br />
4. Wir brauchen eine praxisnähere Lehrerausbildung,<br />
die, wie bereits gesagt, stärker auf die methodischdidaktischen<br />
Kompetenzen abzielt.<br />
Berufsorientierung stärken<br />
Zur Ausbildungsreife gehört eine fundierte Berufsorientierung.<br />
Ich habe bisher nur über Forderungen an die Politik und<br />
an andere gesprochen. Ich sage ganz klar: Berufsorientierung<br />
geht nicht ohne die Unternehmen. Da müssen die Unternehmen<br />
mitmachen. Wenn heute Lehrer nicht wissen, wie die Arbeitswelt<br />
aussieht, wenn Schüler keine Vorstellung haben, was wirklich<br />
im Unternehmen passiert, wie ein Unternehmen funktioniert,<br />
welche Art von Berufen es gibt – wenn ganz viel Unwissenheit<br />
herrscht, die dazu führt, dass sich alle auf nur fünf oder sechs<br />
Ausbildungsberufe stürzen, dann steht dahinter auch ein Mangel<br />
an Austausch zwischen Schule und Wirtschaft.
24 peteR cleveR<br />
Wir bieten über unser Netzwerk SCHULEWIRTSCHAFT<br />
mit rund 450 regionalen Arbeitskreisen an, dass Schulen die<br />
Garantie haben, mindestens einen Partner aus der Wirtschaft<br />
vermittelt zu bekommen, meistens sind es sogar mehrere. Hier<br />
sind die Unternehmen gefordert, aber sie sind auch sehr offen<br />
dafür, sich zu engagieren.<br />
Wo die Kooperation funktioniert, wo zum Beispiel Schülerpraktika<br />
organisiert werden, beobachtet man oft eine Art von<br />
„Klebeeffekt“, der etwas mit Chancengerechtigkeit zu tun hat.<br />
Da werden Leute entdeckt, die man sonst über ein formales<br />
Bewerbungsverfahren mit Zeugnissen oft nicht entdeckt hätte.<br />
Denn die Aussage von Zeugnissen kann oft etwas völlig anderes<br />
sein als das Erleben des Menschen vor Ort. Dann sieht man auf<br />
einmal jemanden, der zwar ein, zwei schlechte Noten hat, der<br />
aber leistungsbereit ist, gut mit Menschen umgehen kann, handwerklich<br />
geschickt ist und ins Unternehmen passt. Was meinen<br />
Sie, was da für eine Kraft gerade auch von kleinen Unternehmen<br />
entwickelt wird, bei dem, was noch nicht passt – etwa dem<br />
Dreisatz –, nachzuschulen, sich mit dem Mädchen oder dem<br />
Jungen hinzusetzen und das gemeinsam zu lernen. Die Persönlichkeit<br />
kann man nicht mehr nachjustieren im Unternehmen,<br />
aber bestimmte Dinge kann man nachlernen. Viele Unternehmer<br />
sind bereit, den jungen Menschen zu helfen. Wir wissen aus<br />
Erfahrungen mit Schülerpraktika, dass ein sehr ordentlicher<br />
„Klebeeffekt“ möglich ist. Das ist in beiderseitigem Interesse,<br />
im Interesse der Schülerinnen und Schüler und im Interesse<br />
der Unternehmen.<br />
Übergänge verbessern<br />
Wir müssen den Übergang von der Schule in die Ausbildung,<br />
wenn er nicht auf Anhieb gelingt, durch passgenaue Angebote<br />
versuchen zu erleichtern. Aus meiner Sicht fehlt es hier nicht<br />
an engagierten und vielfältigen Angeboten. Ganz viele von<br />
Ihnen hier im Saal sind in diesem Bereich engagiert. Aber es<br />
fehlt an einem Überblick über die verschiedensten Maßnahmen<br />
und an einer sinnvollen Abstimmung und Koordination,<br />
auch an Erkenntnissen über die Erfolge und Wirksamkeit von<br />
Übergangsmaßnahmen. Deshalb mein klares Plädoyer für die<br />
Evaluation der verschiedenen Maßnahmen und für den Versuch,<br />
zu einem besseren Koordinieren vor Ort zu kommen. In<br />
der Bundesagentur für Arbeit haben wir den regionalen Arbeitsmarktmonitor<br />
RAMON entwickelt, der auf eine sehr interessante<br />
Art und Weise tagesaktuell die statistischen Daten zu<br />
Strukturentwicklungen auf der lokalen Ebene zusammenführt.<br />
Er ist eine gute Basis dafür, zu einem Netzwerk zu kommen,<br />
bei dem die Bundesagentur für Arbeit moderieren kann – und<br />
übrigens auch kooperieren kann mit denen, die in diesem<br />
Übergangssystem tätig sind. Ich lade jeden ein, dazu mit der<br />
örtlichen Agentur für Arbeit Kontakt aufzunehmen. Wir müssen<br />
diesen regionalen Arbeitsmarktmonitor bekannter machen.<br />
Denn es kommt auf eine gute regionale Koordinierung an.<br />
Mehr differenzierte Angebote in der Ausbildung<br />
schaffen<br />
Für diejenigen, die trotz intensiver Förderung Schwierigkeiten<br />
am Übergang in Ausbildung haben oder beispielsweise Spätzünder<br />
sind, müssen wir wegkommen vom Alles-oder-nichts-<br />
Prinzip in der Ausbildung. Deshalb plädiere ich hier nochmals,<br />
wissend, wie brisant das Thema gerade im Verhältnis zu den<br />
Kammern ist, für eine modulare Vorgehensweise. Wer das volle<br />
Programm einer Berufsausbildung noch nicht geschafft hat,<br />
kann es aber eventuell noch später schaffen und sollte, wenn<br />
er abgebrochen hat, zertifiziert bekommen, was er bisher an<br />
Kompetenzen erworben hat. Zu sagen, die Ausbildung wurde<br />
abgebrochen und damit war alles „für die Katz“, ist weder<br />
menschlich anständig noch dient es den Unternehmen. Ihnen<br />
werden diese Menschen nur als Ungelernte präsentiert, anstatt<br />
zu sagen: Da hat jemand 50 Prozent des geforderten Ausbildungsprofils<br />
geschafft. Ich plädiere sehr dafür, modulares Vorgehen<br />
zu enttabuisieren. Das <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong><br />
und Forschung hilft uns sehr mit den Modellversuchen, in<br />
denen diese modulare Vorgehensweise erprobt wird. Wir sind<br />
der festen Überzeugung, dass dies der richtige Weg ist.<br />
Ähnlich steht es um ein anderes Thema, das politisch insbesondere<br />
im Verhältnis zu den Gewerkschaften hochbrisant<br />
ist. Die Gewerkschaften nennen es die Schmalspurausbildung,<br />
wenn wir von Berufen sprechen, die ein weniger hohes theoretisches<br />
Anforderungsprofil haben und damit vor allem Jugendlichen<br />
mit (zunächst) weniger stark ausgeprägten Begabungen<br />
und Talenten eine Chance eröffnen. Sie sollten mit einer dreijährigen<br />
Berufsausbildung kombinierbar sein, damit bei entsprechender<br />
Leistung der Durchstieg möglich ist. Ein gutes<br />
Beispiel gibt es im Einzelhandel: Es gibt den Kaufmann im<br />
Einzelhandel als dreijährige Berufsausbildung; dann gibt es die<br />
zweijährige Ausbildung im Verkauf, die identisch ist mit den<br />
ersten beiden Jahren des dreijährigen Berufs. Ich habe mir<br />
gerade für den jetzigen Vortrag die Zahlen geben lassen. Die<br />
Zahl derer, die aus der Ausbildung zum Verkäufer zu jener zum<br />
Kaufmann im Einzelhandel aufgestiegen sind, ist von 1.000<br />
im Jahre 2005 auf 3.500 im Jahre 2010 gestiegen. Das heißt, hier<br />
zeigt sich eine große Dynamik bei der Durchlässigkeit. Ich verkenne<br />
nicht, dass dies immer noch nur ein begrenzter Prozentsatz<br />
vom Gesamtvolumen der Neuverträge ist, das bei 27.000<br />
liegt, aber wir haben hier eine positive Gesamtentwicklung. Dies<br />
zeigt, dass wir uns viel menschengemäßer verhalten, wenn wir<br />
die Möglichkeit eines differenzierten, schrittweisen Vorgehens<br />
und der Modularisierung in der Berufsausbildung versuchen zu<br />
perfektionieren, anstatt dieses zu tabuisieren. Das ist keine<br />
Ab kehr von einer Breitenausbildung und vom Berufsprinzip.<br />
Wir brauchen Persönlichkeitsbildung und die Menschen müssen<br />
so weit wie möglich und so breit wie möglich ausgebildet<br />
werden. Aber wir wollen sie eben auch nicht überfordern.
peteR cleveR<br />
25<br />
fühlen in unserer Gesellschaft. Denn wir wollen in einer Gesellschaft<br />
leben, die eben nicht nur aus Deutschen besteht, sondern<br />
die sich in einer sich stärker globalisierenden Welt immer<br />
mehr durch Vielfalt auszeichnen wird. Deshalb müssen wir hier<br />
zu Kompetenzfeststellungsverfahren kommen.<br />
Peter Clever im Gespräch mit Judith Schulte-Loh, WDR<br />
Zweite Chance eröffnen<br />
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Bemerkung machen<br />
zu denjenigen, die vielleicht die zweite, dritte oder vierte<br />
Chance benötigen. Nachqualifizierung ist eine zweite Förderlinie<br />
des Programms „Perspektive Berufsabschluss“ und sie<br />
ist sicherlich nicht immer einfach. Formale Lernprozesse<br />
sind für viele ungelernte Erwachsene nicht selbstverständlich<br />
und haben auch oft etwas Beängstigendes. Die Aktivierung<br />
und richtige Ansprache sind deshalb wichtige Elemente von<br />
Nachqualifizierung und wichtig ist zudem der richtige Methodenmix.<br />
Formale, trockene Lernangebote im Klassenzimmer<br />
helfen oft überhaupt nicht weiter, sondern sehr oft bringt die<br />
Praxisnähe die Menschen dazu, dass sie sogar über sich hinauswachsen,<br />
dass sie auf einmal merken, wofür man eigentlich<br />
lernt. Das habe ich übrigens von Regina Görner, die bis jetzt noch<br />
im geschäftsführenden Vorstand der IG Metall ist, gelernt. Sie<br />
hat gesagt, die duale Berufsausbildung in Deutschland hat<br />
bei den mehr praktisch begabten Menschen deshalb einen so<br />
großen Erfolg, weil sie auf das Prinzip Ernstfall setzt: Man sieht<br />
sofort, wofür man etwas lernt, ist sofort im Kundenkontakt.<br />
Und deshalb ist der Lernort Betrieb auch von großer, großer<br />
Bedeutung.<br />
Anerkennung ausländischer Abschlüsse<br />
verbessern<br />
Glücklicherweise haben wir jetzt das Anerkennungsgesetz<br />
in Aussicht. Ich hoffe, dass es sich nicht zum bürokratischen<br />
Monstrum entwickelt. Den Versuch ist es allemal wert, und<br />
richtig ist auch der Ansatz zu sagen: Man hat in einer bestimmten<br />
Zeitspanne einen Anspruch auf eine Entscheidung darüber,<br />
anzuerkennen und zu dokumentieren, was man kann und was<br />
man nicht kann. Es darf nicht länger so gehen, wie ich es noch<br />
im letzten Jahr erlebt habe: Einem ausländischen Arzt, der nach<br />
vielen Hürden den Weg in eine Stelle bei einer Rehabilitationsklinik<br />
in Oberfranken gefunden hat, wurde eine Oberarztstelle<br />
in Oberbayern, also innerhalb desselben Bundeslandes, angeboten.<br />
Dafür musste er sich von Punkt null an einer neuen Prüfungsprozedur<br />
des dann zuständigen Regierungspräsidiums<br />
stellen.<br />
Föderalismus – das ist meine letzte Bemerkung zum Thema<br />
meines Vortrags – ist gut, aber er ist nicht der Freibrief für eine<br />
Kleinstaaterei in einer sich globalisierenden Welt. Deshalb muss<br />
das Kooperationsverbot nach meiner persönlichen Meinung<br />
auch aus der Verfassung gestrichen werden, damit wir die<br />
finanziellen Ressourcen des Bundes und der Länder in einer<br />
vernünftigen Art und Weise koordinieren. Was der Föderalismus<br />
uns an Vielfalt bietet, sollten wir pflegen. Aber wir müssen<br />
auch die Kraft aufbringen, Dinge einheitlich zu regeln, die<br />
einheitlich geregelt werden müssen – das sind viele, auch Schulstrukturfragen.<br />
Denn es darf nicht sein, dass der Umzug von<br />
Eltern mit ihren Kindern zum Hindernislauf wird und neue<br />
<strong>Bildung</strong>sungerechtigkeiten schafft. Hier hat die Politik die<br />
Pflicht, die Hürden niedriger zu machen, und deshalb plädiere<br />
ich für ein Stück mehr Entgegenkommen auch seitens der<br />
Kultusministerkonferenz hin zu einheitlichen Regeln da, wo<br />
es die Lebenswirklichkeit verlangt.<br />
Vielen Dank!<br />
Ich wünsche mir, dass wir – verbunden mit dem Bild der Gesellschaft,<br />
in der wir leben – deutlich besser werden in der Frage<br />
der Kompetenzfeststellungen. Dies gilt insbesondere mit Blick<br />
auf die ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />
in unserem Lande: Frau Schulte-Loh hat gerade ein Beispiel<br />
genannt mit der polnischen Ärztin, die als Pflegerin gearbeitet<br />
hat. Es gibt noch viel dramatischere Fälle: Da sind Ärzte aus der<br />
Ukraine, die Toiletten putzen. Das ist zwar keine ehrenrührige<br />
Arbeit und das hat nichts mit dem Wert des Menschen zu tun.<br />
Aber wir haben zu wenig Wissen und sitzen bisweilen noch auf<br />
einem hohen Ross im Hinblick auf die Anerkennung dessen,<br />
was im Ausland an Wissen und Kompetenz erworben worden<br />
ist. Hier müssen wir ein Potenzial heben, auch damit sich diese<br />
ausländischen Menschen wirklich gewollt und angenommen
26 facHDISKuSSIon<br />
Fachdiskussion<br />
Chancen verbessern – Strukturen optimieren –<br />
Fachkräfteentwicklung fördern<br />
Eva Strobel und Andreas Haberl mit Moderatorin Judith Schulte-Loh<br />
Teilnehmende:<br />
• Hulisi Bayam, Unternehmer und Mitglied des Integrationsbeirats des Landes Hessen<br />
• Andreas Haberl, Hauptabteilungsleiter Berufliche <strong>Bildung</strong>, Handwerkskammer Wiesbaden<br />
• Martin Peußer, Personaldirektor VINCI Energies Deutschland GmbH<br />
• Prof. Dr. Sylvia Rahn, Professorin für Berufspädagogik an der Westfälischen<br />
Wilhelms-Universität Münster<br />
• Eva Strobel, Vorsitzende der Geschäftsführung der Regionaldirektion<br />
Baden-Württemberg der Bundesagentur für Arbeit<br />
Moderation: Judith Schulte-Loh, WDR
facHDISKuSSIon<br />
27<br />
Zentrales Thema dieser Fachdiskussion waren die Fragen,<br />
wie junge, aber auch ältere Menschen systematisch beim Einstieg<br />
in das Berufsleben unterstützt werden können und wie<br />
Menschen mit Migrationshintergrund besser, also auch zielgruppengerechter<br />
angesprochen werden könnten. Der Einsatz<br />
von <strong>Bildung</strong>sbeauftragten im Begleitprojekt „Mit Migrant-<br />
Innen für MigrantInnen“ der MOZAIK gGmbH wurde gleich zu<br />
Beginn als sehr guter Weg herausgestellt, Migrantenorganisationen<br />
partnerschaftlich einzubeziehen. Betrachtet wurde des<br />
Weiteren der Bereich der allgemeinbildenden Schulen, da schon<br />
dort mit Maßnahmen zur Erreichung von Chancengerechtigkeit<br />
begonnen werden muss. Auf diesen Maßnahmen müssen<br />
die Fördermaßnahmen im Übergangsbereich Schule/Beruf<br />
aufbauen. Transparenz, Orientierungswissen und regionale<br />
Koordination seien gefragt, um mit der Vielfalt der Förderprogramme<br />
beim Übergang Schule/Beruf besser umgehen zu<br />
können.<br />
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels<br />
zeichne sich ein großer Bedarf an Nachwuchskräften ab, und<br />
dementsprechend groß sei die Bereitschaft, zu kooperieren und<br />
sich an Förderprogrammen zu beteiligen. Auch wenn weniger<br />
leistungsstarke Jugendliche dadurch beim Berufseinstieg neue<br />
Chancen bekommen könnten, müsse ihnen weiterhin geholfen<br />
werden, die für sie passende Berufsausbildung zu finden, auf<br />
eine Ausbildung gut vorbereitet zu sein und diese auch erfolgreich<br />
abzuschließen. Regionale Koordination aller Beteiligten<br />
des Übergangsbereichs Schule/Beruf und der Wirtschaft führten<br />
hierbei zu mehr Erfolg und Effektivität.<br />
Chancen verbessern – schon in der Schule<br />
Prof. Dr. Sylvia Rahn griff den Umstand auf, dass die soziale<br />
Herkunft nach wie vor die Chancen der Jugendlichen beeinflusst.<br />
Aufgrund dieser Unterschiede, die sich auf die schulischen<br />
Leistungen auswirken, vermag regionales Übergangsmanagement<br />
allein kaum Chancengerechtigkeit herzustellen.<br />
Ziel sollte es sein, benachteiligten Jugendlichen über ihre<br />
Herkunftsfamilien hinaus Hilfe zu bieten und mehr Praxisbezug<br />
auch in die Lehramtsausbildung zu bringen.<br />
In der Schule müsse mehr über die Berufspraxis und die<br />
Arbeitswelt informiert werden, forderte Andreas Haberl von<br />
der Handwerkskammer. Martin Peußer, der Unternehmensvertreter,<br />
wünschte sich längere als die üblichen 14-tägigen<br />
Schulpraktika. Eva Strobel, Bundesagentur für Arbeit, sah es als<br />
Aufgabe, „dass den Schülerinnen und Schülern Ausbildungsreife<br />
und Berufswahlkompetenz mitgegeben werden“.<br />
Strukturen verbessern, Netzwerke stärken<br />
Häufig wird die Vielfalt der Fördermaßnahmen und -programme<br />
für den Berufs(wieder)einstieg als nicht übersichtlich<br />
genug angesehen. Mehr Transparenz – zum Beispiel über<br />
Internetangebote – ist ein Weg, regionale Koordinierung ein<br />
weiterer. Herr Haberl nannte in diesem Zusammenhang das<br />
Programm „OloV“, in dessen Rahmen in Hessen Standards für<br />
die regionale Zusammenarbeit vereinbart wurden. Frau Strobel<br />
fasste zusammen, dass Netzwerke nötig seien, „die eine anerkannte<br />
Größe in der Region sind“. Sie regte an, sich deutschlandweit<br />
über erfolgreiche Ansätze und ihre Inhalte auszutauschen.<br />
„Das föderalistische System in Deutschland zwingt<br />
uns geradezu, regional zu bleiben“, betonte Hulisi Bayam.<br />
„Das Problem ist, herauszufinden, was für einen selbst das<br />
Beste ist. Und da ist die persönliche Ansprache sehr wichtig.“<br />
Als Beispiele nannte er die Elternarbeit und die Ansprache<br />
von türkischen Betrieben. Die Frage, wie ein gutes, abgestimmtes<br />
Unterstützungsprogramm in der Region aussieht,<br />
sei weiterhin nicht beantwortet. Nach Ansicht von Frau Prof.<br />
Dr. Rahn ginge es vor allem um eine gute Kombination, also<br />
aufeinander aufbauende Angebote und Maßnahmen in einem<br />
transparenten und verbindlichen Fördersystem. Weiterer<br />
Wissensaufbau sei hierfür nötig.<br />
Fachkräfteentwicklung nachhaltig fördern<br />
Herr Peußer, der auf dem Podium ein Unternehmen mit rund<br />
59.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vertrat, davon 5.200<br />
in Deutschland mit 300 Auszubildenden, berichtete von seinen<br />
Erfahrungen mit Arbeitssuchenden. Für 150 offene Stellen<br />
wurden mit Hilfe der Arbeitsagenturen ca. 10.000 Arbeitslose<br />
und Empfänger von Arbeitslosengeld II angesprochen. 100 Personen<br />
waren zur Einführungsveranstaltung gekommen, nur<br />
zehn konnten eingestellt werden. Er hat daraus den Schluss<br />
gezogen, dass für viele Arbeit nicht attraktiv sei und die Sozialisierung<br />
für die Arbeitswelt früher ansetzen müsse. Auch seine<br />
Erfahrungen mit der Bundesagentur seien sehr unterschiedlich:<br />
„Wenn die richtigen Menschen an bestimmten Positionen sitzen,<br />
dann passiert auch etwas, wenn die nicht an den richtigen<br />
Stellen sitzen, dann wird das sehr schwierig.“ Er mahnte des<br />
Weiteren, dass bei den Strukturdiskussionen die Inhalte nicht<br />
vergessen werden dürften.<br />
Herr Haberl stellte klar, dass es im Handwerk bei Nachqualifizierung<br />
nicht darum gehe, Arbeitslose in Beschäftigung<br />
zu bringen. Auch seien Jugendliche hierfür keine Klientel – sie<br />
sollten und könnten eher in eine Ausbildung gehen. Nachqualifizierung<br />
bedeute im Handwerk, ungelernte oder angelernte<br />
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insbesondere in<br />
betrieblichen Prozessen weiter zu qualifizieren. Aufgrund der<br />
kleinen Betriebsgrößen im Handwerk sei es eine Zukunftsaufgabe,<br />
die Kräfte hierfür zu bündeln.
28 facHDISKuSSIon<br />
Eva Strobel Hulisi Bayam Martin Preußer Prof. Dr. Sylvia Rahn<br />
Nachhaltigkeit werde im Programm „Perspektive Berufsabschluss“<br />
in der Einschätzung von Herrn Haberl dann erzielt,<br />
wenn die entscheidenden politischen Akteure diese Aufgaben<br />
als Teil der regionalen Wirtschaftsförderung sehen und als ein<br />
positives Strukturmerkmal in ihrer Region. Dann sei die Bereitschaft<br />
auch zu finanziellem Engagement gegeben. Herr Peußer<br />
appellierte aus Unternehmens sicht an die Politik: „Es ist ganz<br />
wichtig, dass Sie bitte nicht wieder ein neues Projekt machen,<br />
eine neue Initiative, sondern wirklich die Themen weiter bearbeiten,<br />
die Sie gut angefangen haben.“ Wenn es wirtschaftlich<br />
Sinn macht, seien auch die Unternehmen dabei.<br />
Frau Prof. Dr. Rahn wies nochmals darauf hin, dass es trotz<br />
aktuell günstiger Zahlen in einigen Regionen nicht gelinge,<br />
Jugendliche in eine Berufsausbildung zu bringen. Sie plädierte<br />
für mehr Aufmerksamkeit innerhalb der Regionen. Um Maßnahmenkarrieren<br />
zu verhindern, seien transparente und kohärente<br />
Fördersysteme notwendig.<br />
Weitere Aspekte<br />
Aus dem Plenum wurde darauf hingewiesen, dass es in<br />
Deutschland 7,5 Millionen funktionale Analphabeten gebe,<br />
mehr, als Hessen Einwohner hat. „Eine Bankrotterklärung<br />
unseres <strong>Bildung</strong>ssystems“, sagte Frau Prof. Dr. Rahn und führte<br />
aus, dass es auch noch immer keine klaren Mindeststandards<br />
zum Begriff Ausbildungsreife gebe – und dazu gehöre die<br />
Grundbildung als Basiskompetenz.<br />
die Fläche zu bringen. Berufsorientierung müsse früh einsetzen<br />
und das pädagogische Personal müsse für diese Aufgaben<br />
geschult werden.<br />
Auf die Frage, wie sich sein Unternehmen den speziellen<br />
Zielgruppen öffne, nannte Herr Haberl als Beispiel den „Tag<br />
der Orientierung“, bei dem es um praktische Übungen und um<br />
die Vermittlung von Praktika gehe. Auch in neuen Testverfahren<br />
werde mehr Wert auf Praxiserfahrung gelegt. Jugendliche mit<br />
schlechteren Startchancen zu stärken sei, so Frau Strobel, auch<br />
das Ziel der Bundesagentur für Arbeit. Im Rahmen der Kampagne<br />
„Ich bin gut“ sollen diese Jugendlichen unmittelbar in<br />
eine Ausbildung vermittelt werden. Die Bundesagentur stelle<br />
außerdem im nächsten Haushaltsjahr 80.000 Plätze für ausbildungsbegleitende<br />
Hilfen zur Verfügung.<br />
Auch Herr Bayam sieht „Probearbeiten“ im Betrieb als einen<br />
guten und chancenreichen Einstieg für leistungsschwächere<br />
Jugendliche: „Ich glaube, das letzte Jahrzehnt hat die Unternehmerschaft<br />
ganz schön verwöhnt, weil sie sehr, sehr viele<br />
Abiturientinnen und Abiturienten für Ausbildungsberufe zur<br />
Verfügung hatte. Wir sind heute in der Phase, dass die Industrie<br />
sich umgewöhnen muss.“<br />
Ein weiterer Hinweis aus dem Plenum beleuchtete die<br />
Schnittstelle in der individuellen Begleitung der Jugendlichen<br />
durch Lehrkräfte und andere Akteure des Übergangsbereichs.<br />
Ziel müsse es dabei sein, individuell für die Bedarfe jedes einzelnen<br />
Jugendlichen methodisch wie didaktisch eine sinnvolle<br />
Reihenfolge in der Begleitung aufzubauen. Hier wird ein großer<br />
Bedarf in der Aus- und Weiterbildung der Begleitpersonen,<br />
auch der Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter, gesehen. Es<br />
gelte auch, die Erfahrungen aus den geförderten Projekten in
facHDISKuSSIon<br />
29<br />
Fragen aus dem Plenum an die Diskussionsrunde<br />
Fazit<br />
Herr Haberl resümierte, dass der kommunale Ansatz des<br />
Programms „Perspektive Berufsabschluss“ für die Regionen<br />
sehr wichtig sei: „Der demografische Wandel entschärft zwar<br />
einige Probleme. Jugendliche mit schlechteren Startchancen<br />
wird es aber weiterhin geben.“ Und für sie sei das Programm<br />
der richtige Ansatz. Auch für Frau Strobel stand die regionale<br />
Koordination der vielfältigen Akteure für eine erfolgreiche und<br />
effektive Unterstützung derer, die Hilfe benötigen, im Mittelpunkt.<br />
Die Regelangebote der Agenturen für Arbeit und die<br />
Maßnahmen der einzelnen Förderprogramme müssten effektiv<br />
genutzt werden.<br />
„Ich halte es für sehr wichtig, dass man die Ergebnisse aus<br />
der bisherigen Tätigkeit gut analysiert und die zur Verfügung<br />
stehenden finanziellen und personellen Ressourcen punktgenauer<br />
einsetzt.“ – Diesen Schluss zog Herr Bayam und forderte<br />
mehr Aufklärung und Informationen, die auch an der Basis<br />
ankommen. Frau Prof. Dr. Rahn betonte noch einmal: „Es ist<br />
wichtig, die Maßnahmenkarrieren in der jeweiligen Region zu<br />
analysieren und daraus für die Verbesserung der Integration<br />
in die berufliche <strong>Bildung</strong> die richtigen Schlüsse zu ziehen.“<br />
Herr Peußer wünschte sich mehr Dialog: „Involvieren Sie uns<br />
Unternehmen noch mehr, ich glaube, wir vertragen das.“
30 FACHFOREN<br />
Forum 1<br />
Herkunft, soziales Umfeld,<br />
geschlechtsspezifische Hürden<br />
und Berufswahlverhalten:<br />
Optimierung durch das Regionale<br />
Übergangsmanagement<br />
Impulse:<br />
• Prof. Dr. Sylvia Rahn,<br />
Westfälische Wilhelms-Universität Münster<br />
• Dr. Tim Brüggemann,<br />
Westfälische Wilhelms-Universität Münster<br />
• Ingmar Petersohn,<br />
Regionales Übergangsmanagement<br />
Mittelsachsen<br />
Moderation: Anna-Maria Wagner, Regionales<br />
Übergangsmanagement Kreis Düren<br />
Die Auseinandersetzung mit dem Thema dieses Forums erfolgte<br />
in zwei Schritten. Im Anschluss an einen Impulsvortrag von<br />
Prof. Dr. Sylvia Rahn und Dr. Tim Brüggemann und eine Aussprache<br />
über die präsentierten wissenschaftlichen Befunde<br />
im Plenum traten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des<br />
Forums im Zuge eines Expertenkarussells in einen Erfahrungsaustausch<br />
über den Umgang mit den sozialen und geschlechtsspezifischen<br />
Hürden im Regionalen Übergangsmanagement ein.<br />
Am Beginn des Impulsvortrags stand die Überlegung,<br />
dass nicht jede soziale und geschlechtsabhängige Disparität im<br />
Übergang Schule/Beruf als Ausdruck mangelnder <strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit<br />
aufzufassen sei und zudem nicht jedes Ungleichheitsphänomen,<br />
das als Ausdruck von <strong>Bildung</strong>sungerechtigkeit<br />
aufgefasst werden kann und muss, sinnvoller Gegenstand<br />
des Regionalen Übergangsmanagements an der Schnittstelle<br />
von der Schule in den Beruf werden kann. Vor diesem Hintergrund<br />
präsentierten Frau Prof. Dr. Rahn und Dr. Brüggemann<br />
Befunde der jüngeren Übergangsforschung. Sie verdeutlichten<br />
am Beispiel einer unter ihrer Leitung laufenden regionalen<br />
Paneluntersuchung der Ergebnisse der PISA-Untersuchungen<br />
und der Hamburger Untersuchungen von Leistungen, Motivation<br />
und Einstellung von Schülerinnen und Schülern in den Ab -<br />
schlussklassen der Berufsschulen (ULME-Studien) sowie der<br />
Bewerberbefragung von Bundesagentur und Bundesinstitut<br />
für Berufsbildung, dass<br />
Prof. Dr. Sylvia Rahn, Universität Münster<br />
• die geschlechtsspezifischen Disparitäten im Übergang<br />
Schule/Beruf schon früh im beruflichen Orientierungsprozess<br />
entstehen,<br />
• das Regionale Übergangsmanagement Schule/Beruf für<br />
die Ungleichheits- und Ungerechtigkeitsphänomene,<br />
die sich in den primären Herkunftseffekten niederschlagen,<br />
zu spät kommt,<br />
• das Regionale Übergangsmanagement aber nach<br />
Lösungen für die erheblichen sekundären Herkunftseffekte<br />
suchen kann und sollte.<br />
Als Gründe für die Entstehung sekundärer Herkunftseffekte<br />
stellten Frau Prof. Dr. Rahn und Dr. Brüggemann die<br />
„Erwartungen“, die die Eltern nach dem „Prinzip der Abstiegsvermeidung“<br />
an die <strong>Bildung</strong>s- und Berufskarrieren ihrer Kinder<br />
richten, die empirisch nachweislich hohen <strong>Bildung</strong>s- und Ausbildungsaspirationen<br />
von Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />
der ersten und zweiten Generation sowie die geringe<br />
Neigung der Eltern, geschlechtsuntypische Berufswahlen ihrer<br />
Kinder zu fördern, heraus. Diese Einflussfaktoren stellen wichtige<br />
Bedingungen des Regionalen Übergangsmanagements dar.<br />
Dass die Eltern vermittels ihrer Erwartungen, aber auch<br />
durch direkte Unterstützungsleistungen eine hohe Bedeutung<br />
für das Übergangsgeschehen haben, wurde in Beiträgen aus<br />
dem Plenum nachdrücklich bestätigt. Es wurde berichtet, dass<br />
Eltern solchen Maßnahmen, in denen Jugendliche, die den<br />
Hauptschulabschluss voraussichtlich nicht erreichen werden,<br />
in separaten Angeboten gefördert werden sollen, die Unterstützung<br />
versagen. Darüber hinaus wurde hervorgehoben,<br />
dass sich in Regionen mit einer dramatisch hohen SGB-II-Quote<br />
die Frage der Abstiegsvermeidung für viele Familien nicht<br />
mehr stellt und das Regionale Übergangsmanagement mit<br />
dem Problem der „doppelten Benachteiligung“ der Jugendlichen<br />
zu kämpfen hat.
FACHFOREN<br />
31<br />
Über solche Ungleichheitsphänomene hinaus, an deren<br />
Entstehung das Orientierungsverhalten der Jugendlichen und<br />
ihre Eltern selbst beteiligt sind, verwiesen Frau Prof. Dr. Rahn<br />
und Dr. Brüggemann zudem im Rückgriff auf die Befunde einer<br />
Untersuchung der Universität Konstanz auf die Bedeutung der<br />
Signalwirkung des Migrationshintergrunds. Er wirke sich im<br />
Rekrutierungsverhalten der Betriebe mindernd auf die Chancen<br />
aus, eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch zu erhalten.<br />
Dass es sich lohnt, im Regionalen Übergangsmanagement auch<br />
an dieser „Stellschraube“ anzusetzen, unterstrich eine Teilnehmerin<br />
des Forums, die aus eigener Projekterfahrung zu berichten<br />
wusste, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund, die<br />
es mit externer Unterstützung bis zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch<br />
geschafft hatten, ihre Einstellungschancen<br />
deutlich verbessern konnten.<br />
Angeregt durch kurze Texte und Grafiken wurde in Kleingruppen<br />
diskutiert, welche Konzepte und Einzelmaßnahmen<br />
in den Regionen zur Studien- und Berufswahlorientierung erprobt<br />
werden, um einen Beitrag zu mehr <strong>Bildung</strong>sgerechtigkeit<br />
zu leisten. Hier flossen die Erfahrungen von Herrn Ingmar<br />
Petersohn als Projektleiter des Regionalen Übergangsmanagements<br />
Mittelsachsen mit ein. Es wurden die durchaus divergierenden<br />
Erfahrungen der Forumsteilnehmerinnen und -teilnehmer<br />
erörtert, was sich vor Ort bewährt oder eben noch<br />
nicht bewährt hat, um den Einfluss des Geschlechts und des<br />
Migrationshintergrunds auf den Übergang Schule/Beruf zu<br />
reduzieren.<br />
Im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Maßnahmen<br />
zur Reduzierung geschlechtsspezifischer Hürden wurde in den<br />
Expertengruppen kritisch diskutiert, welche Relevanz diesem<br />
Aspekt für das Regionale Übergangsmanagement vor Ort überhaupt<br />
beigemessen werde. So wurde mit dem nachfolgend<br />
wörtlich wiedergegebenen Zitat einer Forumsteilnehmerin auf<br />
die „verblassende“ Bedeutung des Gender-Mainstreamings<br />
hingewiesen: „Das Thema Gender ist doch quasi nicht mehr auf<br />
der Tagesordnung; es ist schon schwer, das Thema an den<br />
Mann und die Frau zu bringen. Einmal im Jahr gibt es so etwas<br />
wie einen ,Girls’ Day‘ und dann nichts mehr.“ Mit Blick auf die<br />
Eignung der zum Abbau geschlechtsbedingter Disparitäten<br />
eingesetzten Instrumente wurde diskutiert, ob es über den<br />
„Girls’ Day“ hinaus weiterer Instrumente zur Berufswahlorientierung<br />
bedürfe. Das Meinungsbild fiel tendenziell gegen die<br />
Etablierung weiterer Maßnahmen aus. Es gelte, die bestehenden<br />
Ansätze weiter zu optimieren und einzelne Maßnahmen<br />
in das allgemeine Berufsorientierungskonzept einzubinden.<br />
Daran anknüpfend wurde diskutiert, wie das zu bewerkstelligen<br />
sei. Betont wurde die Not wendigkeit einer gründlichen<br />
Vor- und Nachbereitung der Maßnahmen in der Schule. Allerdings<br />
sei es den Lehrkräften nur schwer zu verdeutlichen, wie<br />
ein Konzept zur Berufswahlorientierung konzipiert und umgesetzt<br />
werden könne. Hierzu wurden mehrere Vorschläge ge -<br />
nannt: Ausbau der Fort- und Weiterbildung sowie die Nutzung<br />
von Handreichungen und Leitfäden, die Lehrkräften zur Planung<br />
der Berufswahlorientierung zur Verfügung gestellt werden<br />
könnten. Darüber hinaus wurde die Relevanz der Arbeitsagentur<br />
als wichtiger Partner im Kontext der Berufswahlorien tierung<br />
angesprochen.<br />
Nach den Erfahrungen der Forumsteilnehmerinnen und<br />
-teilnehmer gestaltet sich die Zusammenarbeit der Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter des Regionalen Übergangsmanagements<br />
mit den Schulen in den Regionen nicht immer friktionslos. Es<br />
fehle in den Schulen an Akzeptanz, so dass die Möglichkeiten,<br />
die schulische Berufsorientierung durch das Regionale Übergangsmanagement<br />
zu beeinflussen, letztlich begrenzt seien.<br />
Dr. Tim Brüggemann, Universität Münster Ingmar Petersohn, RÜM Mittelsachsen
32 FACHFOREN<br />
Der Erfahrungsaustausch an den Stationen, die dem Einfluss<br />
des Migrationshintergrunds auf das Übergangsgeschehen<br />
gewidmet waren, ließ einmal mehr die großen Unterschiede<br />
zwischen den Herausforderungen und Problemlagen deutlich<br />
werden, die sich dem Regionalen Übergangsmanagement in<br />
den Regionen stellen oder eben auch nicht stellen. Die Repräsentanten<br />
solcher Kreise und Kommunen, in denen der Anteil<br />
von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte quantitativ<br />
bedeutungslos ist, sahen im Unterschied zu den Vertreterinnen<br />
und Vertretern solcher Regionen, in denen die Jugendlichen<br />
mit Migrationshintergrund einen Anteil von 30 Prozent und<br />
mehr an den Adressaten des Regionalen Übergangsmanagements<br />
haben, nur geringe Handlungsrelevanz, so dass das<br />
Thema in der Diskussion auf die „soziale Herkunft“ von Schülerinnen<br />
und Schülern erweitert wurde.<br />
Die Einschätzungen, welche Maßnahmen sich vor Ort bewährt<br />
haben, um Unterschiede im Übergang von der Schule in<br />
den Beruf, die aus der sozialen Herkunft und/oder dem Migrationshintergrund<br />
der Jugendlichen resultieren, abzubauen,<br />
variierten in den Kleingruppen erheblich. Als zentraler Diskussionspunkt<br />
und kontrovers eingeschätzter Gegenstand kristallisierte<br />
sich die Rolle der Schulsozialarbeit heraus. Während in<br />
einigen Regionen die Schulsozialarbeit als erfolgreicher Akteur<br />
in der Berufswahlvorbereitung der Jugendlichen und im Regionalen<br />
Übergangsmanagement wahrgenommen wird, ist dies<br />
in anderen Regionen nicht der Fall. So wurde berichtet, dass<br />
Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter die Berufsorientierung<br />
der Schülerinnen und Schüler nicht oder nur widerwillig als<br />
ihre Aufgabe annähmen. Zudem wurde erörtert, ob die Berufsorientierung<br />
angemessen in den Stellenbeschreibungen des<br />
Personals der Schulsozialarbeit verankert sei. Kritisch wurde<br />
gesehen, dass die vielfältigen Unterstützungsmaßnahmen für<br />
die Jugendlichen vor Ort zuweilen dazu führen, dass die Akteure<br />
geradezu um die Jugendlichen zu konkurrieren beginnen.<br />
Positiv wurden Multiplikatorenschulungen für Migrantenorganisationen<br />
und einzelne Patenschaftskonzepte gewürdigt.<br />
Gerade weil die Erfahrungen, von denen die Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter des Regionalen Übergangsmanagements<br />
berichteten, disparat waren und sich nicht zu einem einheitlichen<br />
Meinungsbild verdichten ließen, wurde jedoch zu zwei<br />
Aspekten ein gemeinsamer Tenor deutlich: Erstens wurde im<br />
relativen Konsens der Bedarf an verlässlichen Daten zur Wirksamkeit<br />
der eingesetzten Instrumente formuliert und zweitens<br />
wurde betont, dass die starke Fluktuation des Personals kontraproduktiv<br />
für eine kontinuierliche Qualitätsentwicklung des<br />
Regionalen Übergangsmanagements sei.<br />
Dr. Birgit Reißig, DJI<br />
Forum 2<br />
Regionales Übergangsmanagement<br />
als bildungspolitische<br />
Koordinierungsstrategie:<br />
Kooperationen von Programmen zur<br />
Verbesserung der Übergänge von<br />
der Schule in die Berufsausbildung<br />
Impulse:<br />
• Regionale <strong>Bildung</strong>spolitik – Gestaltungsmöglichkeiten<br />
durch die Kooperation mit<br />
Landesprogrammen – Dr. Birgit Reißig,<br />
Deutsches Jugendinstitut, Halle<br />
• Produktive Widersprüche? Ergebnisse einer<br />
Schülerbefragung der einjährigen Berufsfachschule<br />
im Kontext einer Landesstrategie<br />
Carsten Welker, Regionales Übergangsmanagement<br />
Berlin<br />
• Lokale Koordinierung eines Landesprogramms<br />
Marx Harder, Regionales Übergangsmanagement<br />
Kiel<br />
• Integration von Landesprogrammen in die<br />
Arbeit des Regionalen Übergangsmanagements<br />
am Beispiel „OloV“/Initiative<br />
JUGEND STÄRKEN in Hessen – Ralph Kersten,<br />
Regionales Übergangsmanagement<br />
Offenbach<br />
Moderation: Anke Meyer,<br />
Regionales Übergangsmanagement Salzlandkreis
FACHFOREN<br />
33<br />
Zu Beginn unterstrich die Moderatorin des Forums, Anke<br />
Meyer, die Bedeutung der Kooperation des Regionalen Übergangsmanagements<br />
mit anderen Programmen für eine gelingende<br />
Gestaltung des Übergangs im regionalen Kontext.<br />
In ihrer Einführung ging Dr. Birgit Reißig auf die koordinierende<br />
Rolle von Kommunen und Landkreisen für die Um -<br />
setzung des Regionalen Übergangsmanagements ein. Da der<br />
Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf aber vor<br />
allem auch ein <strong>Bildung</strong>sthema ist, rückte die für <strong>Bildung</strong>spolitik<br />
zuständige Landesebene ebenfalls in den Blickpunkt. Frau<br />
Dr. Reißig verwies darauf, dass sich in den letzten Jahren viele<br />
Bundesländer der Ausgestaltung des Übergangs und seinen<br />
Schwierigkeiten im Rahmen ihrer <strong>Bildung</strong>spolitik verstärkt<br />
zugewendet haben. Davon zeugt eine Vielzahl von zum Teil<br />
langfristig angelegten Landesprogrammen.<br />
Obwohl regionale Koordinierung im Bereich des Übergangs<br />
von der Schule in die Ausbildung oder den Beruf zunehmend<br />
als wichtige Aufgabe erkannt werde, verdeutlichen<br />
Erfahrungen aus der Förderinitiative „Regionales Übergangsmanagement“<br />
die Notwendigkeit einer verstärkten Abstimmung<br />
und Kooperation zwischen der kommunalen und der<br />
Landesebene sowie zwischen den unterschiedlichen beteiligten<br />
Landesressorts. Dies gelte insbesondere auch für die Einbezie -<br />
hung der zuständigen Regionaldirektion der Bundesagentur<br />
für Arbeit, die in der Regel für die Agenturen für Arbeit vor Ort<br />
organisatorisch zuständig ist. Das „Regionale Übergangsmanagement“<br />
sollte bei der Entwicklung regional angepasster<br />
Umsetzungsstrategien die Chance und die Initiative ergreifen<br />
und seine Beobachtungen und Erfahrungen mit der Umsetzung<br />
von Landesvorgaben in der Region regelmäßig und aktiv<br />
an die zuständigen Stellen der Landesebene rückkoppeln.<br />
Die Verfahren und Inhalte der Kooperation zwischen Land und<br />
„Regionalem Übergangsmanagement“ sollten „verbindlich –<br />
beispielsweise in Form von Kooperationsvereinbarungen – geregelt<br />
werden“, präzisierte Frau Dr. Reißig. An einigen Standorten<br />
des „Regionalen Übergangsmanagements“ seien solche<br />
Vereinbarungen zwischen Land und Kommunen oder Land<br />
und der zuständigen Regionaldirektion der Bundesagentur für<br />
Arbeit geschlossen worden.<br />
Trotz vieler Herausforderungen habe sich gezeigt, dass<br />
sowohl die Landespolitik regionale Initiativen für das Übergangsmanagement<br />
inhaltlich bereichern könne als auch<br />
umgekehrt „Regionales Übergangsmanagement“ wichtige<br />
Impulse für die Landespolitik liefere.<br />
Carsten Welker berichtete aus der Praxis und stellte das<br />
„Regionale Übergangsmanagement Berlin“ in den Kontext der<br />
Landesstrategie „Übergänge mit System“. Er machte die Einbettung<br />
anhand einer Befragung von Schülerinnen und Schülern<br />
der Berufsvorbereitung deutlich. Im ersten Schritt sei im Projekt<br />
ein Leitsystem entwickelt worden, mit dem die Vielfalt der<br />
Angebotslandschaft im Übergang Schule/Beruf in Berlin strukturiert<br />
und in einer Übersicht dargestellt werden konnte.<br />
Darauf aufbauend, ging es in einem zweiten Schritt um eine<br />
Umstrukturierung des Übergangssystems auf Länderebene.<br />
Carsten Welker, RÜM Berlin<br />
Auf der Grundlage einer Befragung von ca. 300 Schülerinnen<br />
und Schülern wurden differenzierte Kenntnisse darüber<br />
gewonnen, wie viele von ihnen aktuell in der einjährigen<br />
Berufsfachschule sind und warum sie sich für diese Schulform<br />
entschieden haben. Hier zeigte sich, dass im Wesentlichen<br />
Motive wie Verbesserung des Schulabschlusses oder Erlangen<br />
des nächsthöheren Schulabschlusses im Vordergrund stehen<br />
und nicht die Vorbereitung auf die berufliche Ausbildung, die<br />
aber gemäß Schulverordnung in der Berufsfachschule eigentlich<br />
oberste Priorität hat.<br />
Marx Harder, RÜM Kiel<br />
Vor dem Hintergrund der anstehenden Neuausrichtung<br />
des Übergangssystems sowie der Ergebnisse der Befragung<br />
wurde dann seitens der Stadt die Frage gestellt, wie beide<br />
Aspekte miteinander verzahnt werden könnten. Im Projekt<br />
„Regionales Übergangsmanagement Berlin“ sind deshalb in<br />
den institutionen- und ressortübergreifend zusammengesetzten<br />
Schnittstellenkonferenzen Qualitätsstandards für die schulische<br />
Berufsvorbereitung entwickelt worden. Qualitätskriterien<br />
wurden diskutiert und konkretisiert und fließen in die zukünftige<br />
Umgestaltung der Maßnahmen im Übergangsbereich ein.<br />
Resümierend betonte Herr Welker, dass – ungeachtet der<br />
Relevanz der Einigung auf ein politisches Metaziel – sowohl die
34 FACHFOREN<br />
regionalen Ausgangsbedingungen als auch die Motivationslagen<br />
der sich im Übergangsbereich befindenden Jugendlichen<br />
Beachtung finden müssen.<br />
Auf Fragen zum Migrationsaspekt bei der beschriebenen<br />
Schülerbefragung erläuterte Herr Welker, der Anteil von Befragten<br />
mit Migrationshintergrund habe ca. 60 Prozent betragen,<br />
was auch als repräsentativ anzusehen sei. Die meisten der<br />
befragten Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund<br />
hatten einen Hauptschulabschluss. Der Frage, warum Jugendliche<br />
mit Migrationshintergrund nach der allgemeinbildenden<br />
Schule häufig einen schulischen <strong>Bildung</strong>sweg einschlagen, sei<br />
in dieser Befragung nicht nachgegangen worden. Dies – so<br />
eine Forumsteilnehmerin – würde sich aber durchaus lohnen,<br />
gerade weil Eltern aus den Einwanderungsländern das duale<br />
Ausbildungssystem oft nicht oder nur schlecht kennen: „Für<br />
diese Eltern ist es wichtig, dass ihre Kinder aus dem ,Arbeiterstatus‘<br />
herauskommen. Man muss den Eltern erklären, dass<br />
die duale Ausbildung eine wichtige, anerkannte Qualifikation<br />
bedeutet.“<br />
Nach Herrn Welker berichtete Marx Harder, wie „Regionales<br />
Übergangsmanagement Kiel“ auf Grundlage und in Kooperation<br />
mit einem landesweiten Programm erfolgreich arbeiten kann.<br />
Das 2007 begonnene landesweite Handlungskonzept „Schule<br />
und Arbeitswelt“ verfolgte zunächst das Ziel, die hohen Quoten<br />
von Schulabsolventinnen und -absolventen ohne Abschluss<br />
und von arbeitslosen Jugendlichen durch entsprechende Förderungen<br />
in den <strong>Bildung</strong>seinrichtungen nachhaltig zu senken.<br />
Dieses Konzept werde durch ein umfangreiches Personalqualifizierungsprogramm<br />
flankiert. Von Beginn an wurden den<br />
koordinierenden regionalen <strong>Bildung</strong>strägern auch regionale<br />
Steuerungsgremien an die Seite gestellt, zusammengesetzt<br />
aus den maßgeblichen Akteuren am Übergang Schule/Beruf<br />
(Schulämter, Agenturen für Arbeit, Jobcenter, beteiligte Schulen<br />
und <strong>Bildung</strong>sträger, Jugend- und Sozialämter und zunehmend<br />
auch die Kommunen selbst). Unter Leitung des „Regionalen<br />
Übergangsmanagements“ habe das Kieler Gremium sein Aufgabenspektrum<br />
über die regionale Steuerung beziehungsweise<br />
Umsetzung des Handlungskonzepts hinaus erweitert.<br />
Das Land Schleswig-Holstein verfolge das Ziel, landesweit<br />
die regionale Verantwortung für den Übergang von der Schule<br />
in den Beruf zu unterstützen und zu fördern. Da dies genau<br />
den Zielen des „Regionalen Übergangsmanagements Kiel“ entspricht,<br />
habe sich eine Kooperation zur Nutzung der Synergien<br />
fast selbstverständlich ergeben.<br />
Frau Meyer beschrieb diese Kooperation auch als ein gutes<br />
Beispiel für die Verzahnung von „Regionalem Übergangsmanagement“<br />
und Landesprogramm: „Im dargestellten Fall hat das<br />
Landesprogramm schon vor dem Start des ,Regionalen Übergangsmanagements’<br />
begonnen, das ,Regionale Übergangsmanagement’<br />
ist in die Kooperation eingestiegen.“ Somit konnte<br />
auch die an Herrn Harder herangetragene Frage – wie die Verzahnung<br />
der 15 regionalen Steuerungsgremien und die Rückkopplung<br />
an das Land erfolgen – beantwortet werden: „Die<br />
Steuerungsgremien waren bereits eingerichtet, auf diese greift<br />
das ,Regionale Übergangsmanagement’ zurück. Die Rückkopplung<br />
erfolgt durch Kooperationspartnerschaften.“<br />
Ralph Kersten schloss die Reihe der Erfahrungsberichte<br />
und schilderte die konkrete Zusammenarbeit des „Regionalen<br />
Übergangsmanagements Offenbach“ mit Landes- und Bundesprojekten.<br />
Diese finde auf verschiedenen Ebenen statt: Bereits<br />
bei der Beantragung von Förderprojekten werde auf mögliche<br />
Überschneidungen und Abstimmungen der unterschiedlichen<br />
Arbeitsbereiche geachtet, so dass auf Dauer aus „Puzzleteilen<br />
ein Gesamtes“ wird. Dabei sei ein gleichberechtigtes ergänzendes<br />
Miteinander anzustreben: gemeinsame Steuerungsrunden,<br />
frühzeitige Absprachen, Veranstaltungen gemeinsam planen<br />
und umsetzen. Letztlich sei es – und dem schlossen sich alle<br />
Forumsteilnehmerinnen und -teilnehmer an – zur Vermeidung<br />
von Doppelstrukturen und für den Aufbau einer kohärenten<br />
Förderstruktur für die Jugendlichen im kommunalen Kontext<br />
unerlässlich, die Kooperation zwischen den Projekten zu<br />
fördern und zu fordern.<br />
Wichtiges Element für eine erfolgreiche Kooperation der<br />
relevanten Akteure ist die durch das Land Schleswig-Holstein<br />
begründete landesweite Entwicklungspartnerschaft zwischen<br />
den beiden beteiligten Ministerien (Ministerium für <strong>Bildung</strong><br />
und Kultur des Landes Schleswig-Holstein und Ministerium für<br />
Arbeit, Soziales und Gesundheit des Landes Schleswig-Holstein),<br />
der Regionaldirektion Nord der Bundesagentur für Arbeit und<br />
den Städten und Kreisen.<br />
Ralph Kersten, RÜM Offenbach
FACHFOREN<br />
35<br />
Laima Rui, <strong>Bildung</strong>sbeauftragte<br />
Zur Einstimmung in das Thema dieses Forums führte Anette<br />
Noll-Wagner aus, es sei ein großes Ziel der Integrationsbemühung,<br />
die Ausbildungs- und Arbeitsmarktbeteiligung von<br />
Migrantinnen und Migranten zu erhöhen, deren Partizi pation<br />
am Ausbildungsmarkt noch immer zu niedrig sei. Außerdem<br />
würden Migrantinnen und Migranten weniger an Weiterbildungsmaßnahmen<br />
teilnehmen, und die Arbeitslosenquote sei<br />
im Vergleich zu der der Mehrheitsgesellschaft immer noch zu<br />
hoch. Um diese Situation zu verändern, sollten daher neue<br />
Wege beschritten werden. Migrantinnen und Migranten müssten<br />
verstärkt als Akteurinnen und Akteure in die Netzwerkarbeit<br />
eingebunden werden. Anhand der zwei bundesweiten Begleitprojekte<br />
(„Mit MigrantInnen für MigrantInnen“ und „biz –<br />
<strong>Bildung</strong> ist Zukunft“) wurden in dem Forum beispielhaft zwei<br />
mögliche Wege dargestellt.<br />
Forum 3<br />
Beteiligung an beruflicher<br />
<strong>Bildung</strong> erhöhen: interkulturelle<br />
Netzwerke zur Erschließung der<br />
Potenziale von (jungen) Menschen<br />
mit Migrationsgeschichte<br />
Impulse:<br />
• Die Bedeutung von interkulturellen Netzwerken<br />
für die erfolgreiche berufliche Integration von<br />
Menschen mit Migrationsgeschichte – Dipl.-Ing.<br />
Cemalettin Özer, MOZAIK gemeinnützige<br />
Gesellschaft für interkulturelle <strong>Bildung</strong>s- und<br />
Beratungsangebote mbH<br />
• Erfahrungsbericht einer <strong>Bildung</strong>sbeauftragten<br />
des Netzwerkes in Saarbrücken – Laima Rui,<br />
<strong>Bildung</strong>sbeauftragte, Ortsverband Saarland der<br />
Litauischen Gemeinschaft in Deutschland<br />
• Das interkulturelle Netzwerk „biz – <strong>Bildung</strong> ist<br />
Zukunft“, türkisches Mediennetzwerk für Ausbildung<br />
– Dr. Andreas Goldberg, Geschäftsführer<br />
der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und<br />
Integrationsforschung<br />
• Praxiserfahrungen eines Netzwerkpartners des<br />
interkulturellen Netzwerkes „biz – <strong>Bildung</strong> ist<br />
Zukunft“, türkisches Mediennetzwerk für Ausbildung<br />
– Tamer Ergün, Geschäftsführer der METROPOL FM<br />
GmbH & Co. KG<br />
Moderation: Anette Noll-Wagner,<br />
Internationaler Bund (IB) – freier Träger der Jugend-,<br />
Sozial- und <strong>Bildung</strong>sarbeit e. V.<br />
Anhand des Projektes „Mit MigrantInnen für MigrantInnen“<br />
stellte der Projektleiter Cemalettin Özer in seinem Referat dar,<br />
wie die Einbindung von Migrantenorganisationen in die jeweiligen<br />
regionalen Netzwerke gelingen könne.<br />
Zunächst stellte er klar, es dürfe in der Arbeit mit Migrantinnen<br />
und Migranten nicht von den Migranten ausgegangen<br />
werden. „Es handelt sich schließlich nicht um eine homogene<br />
Gruppe. Daher kann auch nicht nur ein Konzept existieren und<br />
angewendet werden. Vielmehr müssen für unterschiedliche<br />
Migrantengruppen (zum Beispiel Akademiker, Ältere, Jugendliche)<br />
unterschiedliche differenzierte Konzepte entwickelt<br />
werden, um die Gruppe besser zu erreichen“, so Herr Özer.<br />
Das Ziel des im Rahmen des Programms „Perspektive<br />
Berufsabschluss“ von der MOZAIK gGmbH als Pilotierung um -<br />
gesetzten Konzepts des Intercultural Mainstreamings sei es,<br />
Gleichheit zu erreichen. „Um diese Gleichheit herzustellen,<br />
müssen neue Lösungen geschaffen werden“, betonte Herr<br />
Özer. Die MOZAIK gGmbH berate im Rahmen des Begleitprojektes<br />
die Netzwerkkoordinatorinnen und -koordinatoren<br />
von zehn Projektstandorten darin, wie sie die Einbindung von<br />
Migrantenorganisationen umsetzen könnten. Zur Vorbereitung<br />
und zum Einstieg habe es sowohl Schulungen auf der Personalebene,<br />
Entwicklung von migrationssensiblen Angeboten<br />
als auch Kooperationen mit Migrantenorganisationen und<br />
Öffentlichkeitsarbeit gegeben. Vor der Zusammenarbeit mit<br />
den Migrantenorganisationen wurden Kriterien für deren Eignung<br />
zur Kooperation entwickelt. So ist es wichtig, dass die<br />
Migrantenorganisationen Interesse an den Themen <strong>Bildung</strong>,<br />
Ausbildung, Übergangsmanagement, Elternarbeit etc. haben.<br />
Vor allem sollten sie integrativ und interkulturell offen sein.<br />
Es gebe schließlich auch nationalistische und fundamentalistische<br />
Organisationen, genau wie bei deutschen Vereinen<br />
auch. Weiterhin solle darauf geachtet werden, dass viele Herkunftsländer<br />
vertreten sind. Wichtig sei vor allem zu prüfen,<br />
ob die potenziellen Kooperationsorganisationen verfassungsrechtlich<br />
problematisch sein könnten.
36 FACHFOREN<br />
Hierzu hätten zumeist die Integrationsbeauftragten in<br />
der Stadt hilfreiche Informationen. Das Begleitprojekt „Mit<br />
MigrantInnen für MigrantInnen“ ist 2009 ins Leben gerufen<br />
worden und unterstützt insgesamt zehn Projekte in acht<br />
Regionen. So sei es gelungen, in enger Abstimmung mit den<br />
Projektleiterinnen und Projektleitern und den Akteuren der<br />
Regionen insgesamt 63 ehrenamtliche so genannte <strong>Bildung</strong>sbeauftragte<br />
aus Migrantenorganisationen zu gewinnen, auf<br />
diese Aufgabe vorzubereiten und zu schulen. Sie nehmen eine<br />
Brückenfunktion ein und dienen als Multiplikatoren der jeweiligen<br />
Migrantenorganisationen.<br />
Die Ausführungen von Herrn Özer wurden durch den<br />
Praxisbericht der <strong>Bildung</strong>sbeauftragten aus Saarbrücken, Frau<br />
Laima Rui, veranschaulicht. Frau Rui ist Vorsitzende des Ortsverbandes<br />
Saarland der Litauischen Gemeinschaft in Deutschland<br />
e.V. Sie habe schnell bemerkt, dass das Thema der Schulund<br />
Berufsbildung die Mitglieder des Vereins sehr interessiere<br />
und viele Fragen unbeantwortet blieben. Zunächst aber musste<br />
sie auch selbst ihre Kenntnisse in diesen Bereichen erweitern.<br />
Diese Möglichkeit habe sie als <strong>Bildung</strong>sbeauftragte im Regionalverband<br />
Saarbrücken durch das Projekt „Mit MigrantInnen<br />
für MigrantInnen“ erhalten. Der nächste wichtige Schritt müsse<br />
nun eine nachhaltige partnerschaftliche Vernetzung von<br />
Migrantenorganisationen und <strong>Bildung</strong>sinstitutionen sein.<br />
Aktuell beteiligten sich 15 Migrantenorganisationen und 18<br />
<strong>Bildung</strong>sbeauftragte an diesem Projekt. Es fänden bisher Elternveranstaltungen,<br />
Dialogveranstaltungen sowie interkulturelle<br />
Schulungen für die Netzwerkpartner und <strong>Bildung</strong>sbeauftragten<br />
statt. Durch die Projektarbeit seien Kontakte zu wichtigen<br />
Netzwerkakteuren entstanden. Sie selbst habe bisher 36 Einzelund<br />
Gruppenberatungen mit insgesamt 181 Personen durchgeführt,<br />
freute sich Frau Rui: „Der Beratungsbedarf war sehr<br />
vielfältig. Von Sprachkursen, Schulsystem, Ausbildungen, Jobsuche<br />
bis hin zu Bewerbungen, Weiterbildung, Anerkennung<br />
und Begleitung zu Institutionen. “ Sehr positiv sei das gegenseitige<br />
Kennenlernen. Manche Behördenvertreterinnen und<br />
-vertreter hätten erstmals die Möglichkeit bekommen, mit<br />
Migrantenorganisationen in Kontakt zu treten. Obwohl viele<br />
Hemmschwellen abgebaut werden konnten, gebe es auch<br />
noch einige Hürden. So sei es hin und wieder schwierig, Schulen<br />
beziehungsweise <strong>Bildung</strong>seinrichtungen die kultursensible<br />
Elternarbeit mit Migrantinnen und Migranten als Unterstützung<br />
näherzubringen – und nicht als Einmischung in interne<br />
Angelegenheiten. Frau Rui wünschte sich, dass das entstandene<br />
Netzwerk professionell begleitet und so der weitere Austausch<br />
zwischen <strong>Bildung</strong>sbeauftragten und <strong>Bildung</strong>sakteuren fortgeführt<br />
werden könnte. Vor allem seien aber auch eine weitergehende<br />
Professionalisierung der Migrantenorganisationen<br />
als Interessenvertretungen sowie die finanzielle Absicherung<br />
wichtiger Aufgaben wünschenswert. „In dem Begleitprojekt<br />
wurde mit den <strong>Bildung</strong>sbeauftragten eine Aufwandsentschädigung<br />
von 50 Euro im Monat vereinbart. Das war sehr effektiv.<br />
Damit können sie ihre Telefonkosten, Fahrtgeld etc. bezahlen.<br />
Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass das immer noch<br />
Ehrenämtler sind“, so Herr Özer.
FACHFOREN<br />
37<br />
Tamer Ergün stellte vor, wie sich diese Berichterstattung<br />
und Informationsverbreitung anhört. Das Format des Radiosenders<br />
teile sich auf in Nachrichten, Service und Spezialsendungen.<br />
Ganz wichtig bei der Arbeit sei die Berücksichtigung<br />
des Sprach- und Informationsniveaus der Deutschtürkinnen<br />
und -türken in der Redaktionsarbeit. METROPOL FM verstehe<br />
sich vor allem als Sprachrohr zum Erreichen der Haushalte, also<br />
der Eltern beziehungsweise der Familien. Die Informationen<br />
werden in deutscher und die Unterhaltung wird in türkischer<br />
Sprache gesendet. Themen rund um duale Ausbildung und<br />
Nachqualifizierung könnten in die Sendung integriert werden.<br />
Tamer Ergün, METROPOL FM<br />
Die sich anschließende rege Diskussion zeigte, dass die in<br />
diesem Forum vorgestellten Wege zur partnerschaftlichen Einbeziehung<br />
der Migrantenorganisationen durch den Einsatz<br />
von <strong>Bildung</strong>sbeauftragten mit Migrationshintergrund und zur<br />
Verbesserung der Informationsverbreitung durch die Nutzung<br />
türkischer Medien auf großes Interesse stießen. Beiden Handlungsfeldern<br />
wurde eine gute begleitende Unterstützung sowohl<br />
für das „Regionale Übergangsmanagement“ als auch für die<br />
„Abschlussorientierte modulare Nachqualifizierung“ bestätigt.<br />
Das zweite Begleitprojekt „biz – <strong>Bildung</strong> ist Zukunft“ wurde<br />
von Dr. Andreas Goldberg vorgestellt. „biz – <strong>Bildung</strong> ist Zukunft“<br />
ist eine Plattform für türkische Medien und wird von der Stiftung<br />
Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung in<br />
Essen durchgeführt. Herr Dr. Goldberg erläuterte einführend,<br />
die Idee zum Projekt sei aus der Erkenntnis heraus entstanden,<br />
dass es eine Vielzahl von türkischsprachigen Medien in Deutschland<br />
gebe. Diese seien eine ideale, aber noch zu wenig genutzte<br />
Möglichkeit, wichtige Informationen zu den Themen Schulund<br />
Berufsausbildung und berufliche Qualifizierung zu verbreiten.<br />
Zusammenfassend stellte Herr Dr. Goldberg kurz dar,<br />
dass sieben überregionale Tageszeitungen, über 40 Regionalzeitungen/Periodika,<br />
13 Fernsehsender – speziell für Türkinnen<br />
und Türken in Europa –, ein Radiosender und zahlreiche<br />
Internetseiten existieren. Diese Medien hätten eine hohe<br />
Bedeutung für die türkischen Migrantinnen und Migranten in<br />
Deutschland.<br />
„Die erste Zielsetzung des Projektes war es, eine systemati<br />
sche Expertise zu schaffen, die differenziert darlegt, wie<br />
das Thema duale Ausbildung und Nachqualifizierung in den<br />
türki schen Medien bisher verankert ist“, so Herr Dr. Goldberg.<br />
Die zweite Zielsetzung des Projektes sei die Vernetzung aller<br />
Akteure, die in den Themenbereichen arbeiten. Ein Zwischenergebnis<br />
der Studie habe gezeigt, dass über die Themen der<br />
Schul- und Berufsausbildung sehr wenig berichtet werde. „Es<br />
war wichtig, die türkischen Medien in ein Netzwerk einzubinden.<br />
Das Netzwerk ,biz‘ besteht momentan aus zehn verschiedenen<br />
türkischsprachigen Medien, die sich dazu bereit erklärt haben,<br />
ihre Berichterstattung und Information über die Themen duale<br />
Ausbildung und Nachqualifizierung zu intensivieren“, so Herr<br />
Dr. Goldberg.
38 FACHFOREN<br />
Zur Einführung in das Thema des Forums stellte Christoph<br />
Eckhardt den künftigen Fachkräftebedarf im Kontext der demografischen<br />
Entwicklung in Deutschland heraus. Er betonte,<br />
dass es zur Deckung des Fachkräftebedarfs nicht die eine Strategie<br />
gebe, sondern dass ein Bündel von möglichen Maßnahmen<br />
ergriffen werden müsse. Der Bedarf sei so groß, dass es gelte,<br />
alle Potenziale zu erschließen.<br />
Ursula Krings, f-bb<br />
Forum 4<br />
Fachkräftebedarf von Unternehmen<br />
sichern: mit Nachqualifizierung<br />
Personalentwicklung An- und<br />
Ungelernter betreiben<br />
Impulse:<br />
• Einführung in das Thema, Daten und Fakten<br />
Ursula Krings, Forschungsinstitut betriebliche<br />
<strong>Bildung</strong> (f-bb)<br />
• Nachqualifizierung im Unternehmen<br />
Christiane Alter, bfz Augsburg,<br />
Projekt „NaNo – Nachqualifizierung Nordbayern“<br />
Daniela Auerbacher, bfz Kempten,<br />
Projekt „Perspektive Südbayern“<br />
• Nachqualifizierung in der Altenpflege<br />
Dr. Martina Hörmann, INBAS,<br />
Projekt „Servicestelle Nachqualifizierung Altenpflege<br />
Niedersachsen und Rheinland-Pfalz“<br />
Solveigh Schneider, Mitglied der Geschäftsführung<br />
der Diakonie Pfalz, Vorsitzende der Pflegegesellschaft<br />
Rheinland-Pfalz<br />
Moderation: Christoph Eckhardt, qualiNETZ Beratung<br />
und Forschung GmbH<br />
Ursula Krings präzisierte die Bedarfsfrage und stellte den<br />
Zusammenhang zwischen der demografischen Entwicklung<br />
und den Anforderungen der Wirtschaft her. Sie verwies auf<br />
Studien, die den wachsenden Fachkräftebedarf bis zum Jahr<br />
2020 prognostizieren. Anhand der Alterspyramide bis zum Jahr<br />
2030 verdeutlichte sie, dass die Zahl der Erwerbstätigen rückläufig<br />
und der Fachkräftebedarf in Deutschland nicht durch die<br />
künftigen Generationen zu decken ist. Befragungen zeigten,<br />
dass die Unternehmen sich mit dem Thema auseinandersetzen<br />
und bereits neue Wege bei der Personalentwicklung beschreiten.<br />
Eine bisher zu wenig genutzte Möglichkeit sei es, An- und<br />
Ungelernte so zu qualifizieren, dass sie als Fachkräfte eingesetzt<br />
werden könnten. In Deutschland gibt es aktuell rund zwei<br />
Millionen junge Erwachsene zwischen 20 und 34 Jahren ohne<br />
Berufsabschluss. Trotz vielfältiger Initiativen ist die Situation<br />
seit 1996 stabil geblieben: Der Anteil der Bevölkerung in dieser<br />
Altersgruppe ohne Berufsabschluss liegt seit 1996 kontinuierlich<br />
bei rund 15 Prozent.<br />
Es gab bisher kaum Angebote und Förderstrukturen, den<br />
Berufsabschluss im Erwachsenenalter nachzuholen, so Frau<br />
Krings. Die Förderinitiative „Abschlussorientierte modulare<br />
Nachqualifizierung“ biete die Möglichkeit, regionale Netzwerke<br />
unter Einbindung aller relevanten Akteure zu schaffen.<br />
Wichtigstes Ziel der Projekte sei es, Nachqualifizierungs- und<br />
Beratungsangebote in Kooperation mit <strong>Bildung</strong>sdienstleistern<br />
und Unternehmen zu entwickeln und Förderangebote strukturell<br />
zu verankern.<br />
Zum Abschluss ihres Vortrags ging Frau Krings auf die im<br />
Rahmen der Förderinitiative bereits erreichten Erfolge und<br />
Ergebnisse ein. Unter anderem wurden im Laufe der Projektzeit<br />
etwa 1.000 Nachqualifizierungs- und Beratungsangebote<br />
entwickelt – sowohl in Branchen mit guten Beschäftigungschancen<br />
wie Metall, Verkehr, Lager, Logistik als auch in Wachstumsbereichen<br />
wie den Dienstleistungsberufen.<br />
In Diskussionsbeiträgen wurden zwei wichtige Merkmale<br />
der Nachqualifizierung nochmals hervorgehoben: Der Qualifizierungsprozess<br />
kann aufgrund der Modularisierung unterbrochen<br />
und zu einem späteren Zeitpunkt zum Abschluss geführt<br />
werden, und die Abschlussorientierung muss immer im Mittelpunkt<br />
stehen. Zur nachhaltigen Eingliederung in Erwerbstätigkeit<br />
und für eine langfristige Perspektive am Arbeitsmarkt sei<br />
der Berufsabschluss unerlässlich.
FACHFOREN<br />
39<br />
Zum Thema Nachqualifizierung in Unternehmen wurden<br />
zwei bayerische Projekte, die bereits Nachqualifizierungsmaßnahmen<br />
in Kooperation mit Betrieben etabliert haben, vorgestellt:<br />
Daniela Auerbach vom Projekt „Perspektive Südbayern“<br />
und Christiane Alter, Leiterin des Projektes „NaNo“ (Nachqualifizierung<br />
Nordbayern), erläuterten ihre Konzepte.<br />
Bei der Akquise für Nachqualifizierung in Unternehmen<br />
konnte „NaNo“ auf starke Partner, wie den Arbeitgeberservice<br />
der regionalen Agenturen für Arbeit, bauen. Die Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter des Projektes kooperierten eng mit<br />
Vertreterinnen und Vertretern von Unternehmensverbänden,<br />
Branchenverbänden und der Wirtschaftsförderung und gingen<br />
gemeinsam mit den genannten Partnern auf Unternehmen zu.<br />
Die Kontaktaufnahme zu Betrieben erfolgte bei dem Projekt<br />
„Perspektive Südbayern“ eher über persönliche Ansprache. Das<br />
Vorhaben suchte gezielt den Kontakt zu kleinen und mittelständischen<br />
Unternehmen. Erst das unmittelbare Eingehen auf<br />
den individuellen Bedarf eines Unternehmens und die an der<br />
betrieblichen Praxis orientierte Organisation von Nachqualifizierung<br />
ermögliche die erfolgreiche Umsetzung von Nachqualifizierungsmaßnahmen,<br />
so Frau Auerbacher. Die Entwicklung<br />
einer Qualifizierungsmaßnahme erfolge stets in Kooperation<br />
mit dem Meister sowie der zuständigen Stelle. Die Modulentwicklungen<br />
waren Ergebnisse eines kooperativen und abgestimmten<br />
Arbeitsprozesses.<br />
Zur Frage, ob eine erfolgreiche Nachqualifizierung zu<br />
höherer Eingruppierung führe, erläuterte Frau Alter, nach den<br />
Erfahrungen des Projektes würden in den meisten Fällen zwar<br />
nicht gleich höhere Löhne gezahlt, bei der Neubesetzung von<br />
Fachkraftstellen werde die Nachqualifizierung aber beachtet<br />
und berücksichtigt.<br />
Der Bedarf an Fachkräften ist in der Altenpflege heute<br />
schon höher als in anderen Branchen. Als Expertinnen für<br />
das Thema Nachqualifizierung in der Altenpflege standen<br />
Dr. Martina Hörmann und Solveigh Schneider Rede und Antwort.<br />
Die Nachqualifizierung in der Pflege sieht Frau Schneider<br />
als eine Möglichkeit unter vielen, auf den wachsenden Fachkräftebedarf<br />
zu reagieren. Mit der Nachqualifizierung bestehe<br />
die Chance, etwas für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in<br />
der Pflege zu tun und auch für die Menschen, die ihnen anvertraut<br />
sind. Nachqualifizierung in der Pflege zu etablieren, entspreche<br />
durchaus dem Bedarf der Pflegeeinrichtungen. Auch<br />
sei die Bereitschaft, sich an Nachqualifizierung zu beteiligen,<br />
höher als in anderen Branchen. In der Pflege werden insgesamt<br />
sehr viele Maßnahmen initiiert, die zu einer besseren Personalsituation<br />
in den Einrichtungen führen sollen: Förderung der<br />
Erstausbildung, Imagekampagnen zur Gewinnung junger Leute<br />
für diesen Beruf, Nachqualifizierung, Rekrutierung von Fachkräften<br />
aus dem Ausland, Maßnahmen zur Förderung eines<br />
längeren Verbleibs in der Pflegeeinrichtung etc. Nachqualifizierung<br />
allein könne das Problem der Personalknappheit<br />
natürlich nicht lösen, sei aber ein wichtiger Bestandteil einer<br />
weitergehenden Strategie, um dem Fachkräftebedarf in der<br />
Altenpflege zu begegnen. Das Ausbildungssystem in der Pflege<br />
sieht bislang keine Nachqualifizierung vor. Daher sei es notwendig,<br />
neue Strukturen zu schaffen und die erforderlichen<br />
Qualifizierungsinstrumente bereitzustellen. Die Komplexität<br />
der Ausbildungsregelungen betone die Wertigkeit des Berufes,<br />
an der sich die Nachqualifizierung orientieren müsse.<br />
Die Pflegeeinrichtungen sind in dem von Frau Dr. Hörmann<br />
vertretenen Projekt bei der Gestaltung der modularen Nachqualifizierung<br />
von Anfang an beteiligt. Auch das der Qualifizierung<br />
vorausgehende Verfahren zur Kompetenzbilanzierung<br />
wurde in Expertenarbeitskreisen mit Pflegeeinrichtungen und<br />
einer Altenpflegeschule entwickelt. Durch die enge Kooperation<br />
mit den Unternehmen konnte die anfängliche Skepsis der<br />
Fachleute gegenüber dem Konzept der Nachqualifizierung<br />
weitestgehend ausgeräumt werden.<br />
Auch die zweijährigen Berufe böten gute Chancen der<br />
Aufstiegsqualifizierung durch abschlussbezogene Anschlussqualifizierung.<br />
So könne bei der Qualifizierung zum Fachlageristen<br />
der Abschluss zum dreijährigen Beruf „Fachkraft für<br />
Lagerlogistik“ angeschlossen werden.<br />
Zu den Finanzierungsmöglichkeiten von Nachqualifizierung<br />
wurden verschiedene Möglichkeiten beschrieben. Genutzt<br />
wurden Mittel des Europäischen Sozialfonds, Landesmittel, das<br />
Programm „WeGebAU“ der Bundesagentur für Arbeit oder die<br />
<strong>Bildung</strong>sprämie des Bundes und die Kofinanzierung durch die<br />
beteiligten Unternehmen.<br />
Christiane Alter, bfz Augsburg
40 FACHFOREN<br />
Daniela Auersbach, bfz Kempten, im Gespräch mit Christiane Alter,<br />
bfz Augsburg, und Christoph Eckhardt, qualiNETZ<br />
Diskussion im Forum<br />
Zu den Darstellungen von Frau Dr. Hörmann und Frau<br />
Schneider gab es viele Fragen und Ergänzungen aus dem Publikum.<br />
Eher skeptisch beurteilten die Referentinnen die Tendenz,<br />
ausländische Pflegekräfte nach Deutschland zu holen. So gebe<br />
es hohe Hürden bei der Anerkennung der Abschlüsse, außerdem<br />
müssten Pflegekräfte in der individuellen Betreuung<br />
Pflegebedürftiger der deutschen Sprache mächtig sein. Auch<br />
sei es ethisch nicht vertretbar, Pflegekräfte aus Ländern ab -<br />
zuwerben, in denen die Anzahl von alten und pflegebedürftigen<br />
Menschen ebenfalls rapide ansteige.<br />
Durch die Vorarbeit der „Pflegeprojekte“ im Programm<br />
„Perspektive Berufsabschluss“ konnten bereits einige Hürden<br />
genommen werden, was anderen, die sich auch in diesem<br />
Handlungsfeld engagieren wollen, den Einstieg erleichtert, so<br />
Frau Dr. Hörmann. Äußerst wichtig bei dem Bestreben, Nachqualifizierung<br />
zu etablieren, sei es, die jeweiligen Gegebenheiten<br />
in den Bundesländern zu beachten und frühzeitig den<br />
Kontakt zu den zuständigen Stellen zu suchen.<br />
Die Finanzierung der Nachqualifizierung in der Pflege ist<br />
länderspezifisch unterschiedlich gestaltet. In Rheinland-Pfalz<br />
wird, da die Ausbildung zur Altenpflegerin und zum Altenpfleger<br />
nach Schulrecht geregelt ist, der schulische Teil der<br />
Nachqualifizierung komplett vom <strong>Bildung</strong>sministerium finanziert.<br />
In Niedersachsen erhalten die Teilnehmenden eine Vergütung<br />
am Lernort Betrieb, müssen aber Schulgeld bezahlen.<br />
Dieses beträgt insgesamt 140 Euro monatlich, davon bekommen<br />
sie 100 Euro vom Land erstattet. Die Unternehmen erhalten<br />
einen Arbeitsentgeltzuschuss. Die Vorbereitung auf die Externenprüfung<br />
findet beim <strong>Bildung</strong>sträger statt und kann über<br />
<strong>Bildung</strong>sgutscheine finanziert werden.
FACHFOREN<br />
41<br />
Im Forum 5 wurden die vielfältigen Facetten der Kompetenzfeststellung<br />
auf dem Weg zum Berufsabschluss aus Sicht der<br />
zuständigen Stellen, aus dem Blickwinkel der regionalen Projekte<br />
und aus der Perspektive von zwei Teilnehmerinnen an<br />
solchen Feststellungsverfahren dargestellt. Darüber hinaus<br />
war auch die Abgrenzung zur Bewertung beruflicher Qualifikationen<br />
nach dem für Anfang nächsten Jahres erwarteten<br />
Anerkennungsgesetz ein zentrales Thema der Forumsdiskussion.<br />
Dr. Beate Kramer, ZWH<br />
Forum 5<br />
Erwachsene auf dem Weg zum<br />
Berufsabschluss: berufliche<br />
Kompetenzen feststellen,<br />
dokumentieren, anerkennen<br />
Impulse:<br />
• Bedeutung der Kompetenzfeststellung für die<br />
Zulassung zur Externenprüfung<br />
Dr. Beate Kramer, Zentralstelle für die Weiterbildung<br />
im Handwerk e. V. (ZWH)<br />
• Bewertung der Qualifikation von Menschen<br />
mit Migrationshintergrund im Rahmen des<br />
„Anerkennungsgesetzes“<br />
Sabine Schröder, Entwicklungsgesellschaft für<br />
Berufliche <strong>Bildung</strong> (EBB)<br />
• Kompetenzerfassung in der Praxis<br />
Andreas Vogler, Ausbilder, GFBM e. V., mit den<br />
Nachqualifikantinnen Saiyora Ruzmetova und<br />
Neslihan-Sema Koyuncu<br />
• Individuelle Qualifizierungswege ermöglichen,<br />
Kompetenzfeststellung in der Nachqualifizierung<br />
Dominique Dauser, Forschungsinstitut betriebliche<br />
<strong>Bildung</strong> (f-bb)<br />
In ihrem Referat zur Bedeutung der Kompetenzfeststellung<br />
für die Zulassung zur Externenprüfung skizzierte Dr. Beate<br />
Kramer eingangs die Rechtsgrundlagen der Externenprüfung.<br />
Sie stellte dann kurz das Begleitprojekt der ZWH zur abschlussbezogenen<br />
Nachqualifizierung vor, in dem das Vorgehen der<br />
zuständigen Stellen bei der Zulassung zur Externenprüfung<br />
analysiert und die Ergebnisse in einem Bericht zusammengefasst<br />
wurden. Darauf aufbauend wurden Empfehlungen<br />
für Kammern erarbeitet mit dem Ziel, mehr Transparenz im<br />
Zu lassungsprozess zu erreichen. In Handreichungen für die<br />
Projektpraxis wurde ergänzend dargestellt, welches Vorgehen<br />
bei abschlussbezogener Nachqualifizierung aus Sicht der<br />
zuständigen Stellen hilfreich sei und was den Zulassungsprozess<br />
erleichtern könne. Des Weiteren wurde eine Studie zum<br />
Verfahren der Kompetenzfeststellung in der beruflichen Nachqualifizierung<br />
erstellt.<br />
Frau Dr. Kramer erklärte, dass im Zulassungsprozess<br />
immer zunächst die Erfassung vorhandener Kompetenzen<br />
anhand der vorgelegten Nachweise erfolge. Diese könnten<br />
vielfältig sein. Zentral seien qualifizierte Arbeitszeugnisse, aber<br />
auch Arbeitsverträge oder Arbeitsbescheinigungen, und auch<br />
andere Nachweise könnten relevant sein. Bewertungskriterien<br />
sind die Inhalte und die Dauer der Berufstätigkeit. „Inhalte“<br />
bedeutet, es müssen die Schwerpunkte der bisherigen Berufstätigkeit<br />
abgedeckt sein; die Dauer der Berufstätigkeit muss<br />
dem Eineinhalbfachen der Ausbildungszeit im gewählten<br />
Beruf entsprechen. Wenn die vorhandenen Nachweise nicht<br />
ausreichen beziehungsweise nicht aussagefähig sind oder<br />
wenn keine Nachweise vorliegen, muss die berufliche Handlungsfähigkeit<br />
auf andere Weise glaubhaft gemacht werden.<br />
In diesen Fällen können auch Zertifikate von beruflichen Qualifizierungen<br />
herangezogen werden oder andere Verfahren zum<br />
Tragen kommen, wie Fachgespräche oder Arbeitsproben.<br />
Insgesamt, so resümierte Frau Dr. Kramer, liege das Problem<br />
aus Sicht der zuständigen Stellen weniger in der Zulassung zur<br />
Externenprüfung als vielmehr in der Vorbereitung auf die<br />
Prüfung.<br />
Die Bewertung der Qualifikationen von Menschen mit<br />
Migrationshintergrund im Rahmen des „Anerkennungsgesetzes“<br />
war Thema des Impulsreferats von Sabine Schröder.<br />
Ausgangsfrage war, wie Potenziale von Migrantinnen und<br />
Migranten künftig besser erkannt, bewertet, gewürdigt und<br />
für den Arbeitsmarkt erschlossen werden könnten. Nach dem<br />
„Gesetz über die Feststellung der Gleichwertigkeit von Berufsqualifikationen“<br />
(BQFG) besteht ein individueller Rechtsan-<br />
Moderation: Joachim Dellbrück, GFBM e. V.
42 FACHFOREN<br />
spruch auf ein Verfahren bei der zuständigen Stelle zur Bewertung<br />
von im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen. Dabei<br />
geht es um einen Vergleich der ausländischen Berufsqualifikation<br />
mit bundesrechtlich geregelten Berufen. Berücksichtigt<br />
werden hierbei sowohl die „reglementierten“ (zum Beispiel<br />
Krankenpfleger, Erzieher) als auch die „nicht reglementierten“<br />
Berufe (zum Beispiel duale Ausbildungsberufe).<br />
Die Verfahren zur Bewertung der ausländischen Berufsqualifikation<br />
im Hinblick auf den deutschen Referenzberuf<br />
erfolgt anhand der vorgelegten Abschlusszeugnisse oder weiterer<br />
Zeugnisse. Die Feststellung der Gleichwertigkeit ist gegeben,<br />
wenn keine wesentlichen Unterschiede hinsichtlich Inhalt und<br />
Ausbildungsdauer zur deutschen Berufsqualifikation vorliegen.<br />
Frau Schröder erklärte, dass in den Fällen, in denen keine Unterlagen<br />
vorgelegt werden könnten oder diese zu wenig aussagefähig<br />
seien, zur Beurteilung und Bescheinigung der beruflichen<br />
Gleichwertigkeit auch geeignete Verfahren wie Arbeitsproben,<br />
Fachgespräche, Begutachtungen und Prüfungen Anwendung<br />
finden könnten. Bei Abweichungen sehe das Gesetz Möglichkeiten<br />
zur Anpassungsqualifizierung vor. Für die Durchführung<br />
des Verfahrens wären, so Frau Schröder, Prozessstandards<br />
wünschenswert.<br />
In der sich anschließenden Diskussion wurde die Frage<br />
gestellt, ob die Feststellung der Gleichwertigkeit bedeute, dass<br />
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ausländischen Abschlüssen<br />
im Unternehmen auch in gleiche tarifliche Gehaltsstrukturen<br />
wie ihre Kolleginnen und Kollegen mit deutschen<br />
Berufsabschlüssen eingebunden würden. Frau Schröder er -<br />
läuterte, dass die Tarifeinordnung bekanntermaßen an den<br />
Berufsabschluss gebunden sei, es aber noch keine definitiven<br />
Aussagen zur tariflichen Behandlung bei Gleichwertigkeit von<br />
Berufsabschlüssen gebe.<br />
Diskutiert wurde auch, ob die Feststellung der Gleichwertigkeit<br />
mit einem deutschen Ausbildungsberuf, zum Beispiel<br />
Bäckergeselle, die Aufstiegsfortbildung, zum Beispiel zum<br />
Bäckermeister, ermögliche. Frau Schröder bestätigte, dass bei<br />
Fortbildungsordnungen diese Zielgruppe im Rahmen der<br />
weiteren Zulassungsmöglichkeiten berücksichtigt werde und<br />
dass die Berücksichtigung ausländischer <strong>Bildung</strong>sabschlüsse<br />
für die Zulassung zur Meisterprüfung in der Handwerksordnung<br />
bereits explizit geregelt sei (§ 49 Abs. 4 HwO).<br />
Eine Nachfrage bezog sich auf die im Impulsreferat dargestellte<br />
Unterscheidung von Anpassungsqualifizierung und<br />
Nachqualifizierung. Anpassungsqualifizierung, so Frau Schröder,<br />
diene dazu, das im Bescheid festgestellte Delta zwischen<br />
der ausländischen Berufsqualifikation und dem deutschen<br />
Referenzberuf auszugleichen. Nachqualifizierung dagegen<br />
käme dann zum Zuge, wenn der Antragsteller oder die Antragstellerin<br />
nach einem ablehnenden Bescheid die Möglichkeit<br />
ergreifen möchte, eine Zulassung zur Externenprüfung zu<br />
erreichen.<br />
Aus der Praxis der Kompetenzfeststellung berichtete<br />
Andreas Vogler. Unterstützt wurde er von Saiyora Ruzmetova<br />
und Neslihan-Sema Koyuncu, zwei Teilnehmerinnen von<br />
Nachqualifizierungsmaßnahmen, die bereits Kompetenzfeststellungsverfahren<br />
durchlaufen haben. Am Beispiel der<br />
Nachqualifizierung im Bereich Bürokommunikation stellte<br />
Herr Vogler dar, wie Qualitätsstandards bei der Feststellung<br />
von Kompetenzen in den verschiedenen Phasen der modularen
FACHFOREN<br />
43<br />
Nach qualifizierung zu realisieren sind. Im Berliner Nach -<br />
quali fizierungsnetzwerk SANQ wurden Qualitätskriterien zur<br />
Kompetenz bilanzierung und Feststellung des Nachqualifizierungsbedarfs<br />
entwickelt und festgelegt sowie Verfahrensstandards<br />
zur <strong>Dokumentation</strong> des Kompetenzerwerbs im<br />
Nachqualifizierungsprozess definiert und mit den Kammern<br />
abgestimmt. Ein wesentliches Instrument zur <strong>Dokumentation</strong><br />
der erworbenen Kompetenzen ist in diesem Prozess der Qualifizierungspass.<br />
In der anschließenden Diskussion wurde die Frage gestellt,<br />
inwieweit die im Netzwerk SANQ entwickelten Konzepte und<br />
Instrumente der Kompetenzfeststellung und -dokumentation<br />
von nicht in das Projekt eingebundenen <strong>Bildung</strong>strägern<br />
genutzt werden könnten. Herr Vogler erklärte, alle <strong>Bildung</strong>sträger<br />
könnten sich an dem Netzwerk beteiligen und von den<br />
Entwicklungen profitieren, wenn sie bereit seien, sich an den<br />
vereinbarten Qualitätsstandards zu orientieren. Derzeit würden<br />
etwa 30 <strong>Bildung</strong>sträger im Netzwerk mitwirken. Unter bildungspolitischen<br />
und wirtschaftlichen Gesichtspunkten sei es jedoch<br />
wünschenswert, so Herr Vogler, dass sich alle relevanten<br />
Berliner <strong>Bildung</strong>sträger anschließen und kooperieren würden.<br />
Dies würde den Vorteil bieten, dass <strong>Bildung</strong>sanbieter Module<br />
„trägerversetzt“ anbieten könnten. Hiervon würden diejenigen,<br />
die Nachqualifizierung anstreben, wie auch die <strong>Bildung</strong>sdienstleister<br />
profitieren. Nach Ansicht von Herrn Vogler würden Standards<br />
in diesem Bereich das Nachfrageverhalten stärken.<br />
Diskutiert wurde auch die Bedeutung des Portfoliotableaus<br />
bei der Beantragung der Förderung von Nachqualifizierungsmodulen.<br />
Herr Vogler erklärte, das Portfoliotableau werde bei<br />
der Beantragung von Mitteln eingereicht und sei eine akzeptierte<br />
Grundlage für die Entscheidung im Jobcenter oder in der<br />
Arbeitsagentur. Erfahrungsgemäß beschleunige ein solches<br />
Vorgehen das Verfahren.<br />
Dominique Dauser gab in ihrem Impulsreferat einen Überblick<br />
über die im Bereich der Nachqualifizierung favorisierten<br />
Konzeptansätze individueller Qualifizierung und der Kompetenzfeststellung.<br />
Die Heterogenität der Zielgruppen erfordere<br />
einen großen, am Zielgruppenbedarf orientierten Beratungsaufwand.<br />
Dies sei eine große Herausforderung für die im Rahmen<br />
des Programms „Perspektive Berufsabschluss“ geförderten<br />
regionalen Nachqualifizierungsprojekte. Auch die Ausrichtungen<br />
und Funktionen der Kompetenzfeststellung müssten<br />
die Interessen unterschiedlicher Zielgruppen berücksichtigen.<br />
Frau Dauser erläuterte die Bedeutung von Kompetenzfeststellungsverfahren<br />
aus individueller Sicht (An-/Ungelernte,<br />
Betriebe) sowie aus institutioneller Sicht (zuständige Stellen,<br />
<strong>Bildung</strong>sdienstleister usw.). Danach ging Frau Dauser auf die<br />
Funktion der Kompetenzfeststellung ein und stellte die wesentlichen<br />
Anforderungen an die eingesetzten Verfahren heraus.<br />
Auch sie verwies – wie ihr Vorredner – auf die Bedeutung von<br />
Qualifizierungspässen für die <strong>Dokumentation</strong> von im Nachqualifizierungsprozess<br />
erworbenen Kompetenzen.<br />
In der anschließenden Diskussion wurde nochmals hervorgehoben,<br />
dass die Erstberatung zur Kompetenzbilanzierung<br />
von der Qualifizierungsplanung getrennt werden sollte, um<br />
eine unabhängige Beratung für die Teilnehmenden sicher -<br />
zustellen. An Frau Dauser wurde die Frage gerichtet, welche<br />
Verfahren zur Kompetenzbilanzierung besonders zu empfehlen<br />
seien. Sie erklärte, da es bisher keine wissenschaftlich ge -<br />
sicherten Erkenntnisse zu den jeweiligen Verfahren in der Nachqualifizierung<br />
gebe, erscheine es als umso sinnvoller, sich in<br />
regionalen Netzwerken auf Standards für geeignete Verfahren<br />
zu verständigen.<br />
Sabine Schröder, EBB Joachim Dellbrück, GFBM e. V.
44 GeSpRäcHSRunDe<br />
Gesprächsrunde<br />
Das Programm „Perspektive Berufsabschluss“:<br />
Rückblick und Ausblick, Ergebnisse und Handlungsempfehlungen<br />
Von links: Simone Flach, Dr. Birgit Reißig, Dr. Malgorzata Mielczarek, Cemalettin Özer, Marion Kranz, Ursula Krings im Gespräch mit der Moderatorin<br />
Judith Schulte-Loh<br />
Teilnehmende:<br />
• Simone Flach, <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung<br />
• Dr. Birgit Reißig, Deutsches Jugendinstitut München, Außenstelle Halle<br />
• Ursula Krings, Forschungsinstitut Berufliche <strong>Bildung</strong>, Nürnberg<br />
• Dr. Malgorzata Mielczarek, Regionales Übergangsmanagement Kiel (RÜM Kiel)<br />
• Marion Kranz, Abschlussorientierte modulare Nachqualifizierung in Suhl/BTZ Rohr<br />
• Cemalettin Özer, Begleitprojekt „Mit MigrantInnen für MigrantInnen“,<br />
MOZAIK gGmbH, Bielefeld<br />
Moderation: Judith Schulte-Loh, WDR
gesprächsrunde<br />
45<br />
Simone Flach eröffnete die Gesprächsrunde mit einer positiven<br />
Bilanz: „Es kann festgestellt werden, dass die Projekte es geschafft<br />
haben, in weiten Teilen einen Überblick, eine Transparenz<br />
in den Regionen zu schaffen.“ In beiden Förderinitiativen<br />
„Regionales Übergangsmanagement“ und „Abschlussorientierte<br />
modulare Nachqualifizierung“ seien bereits in der ersten<br />
Förderrunde gute, beispielhafte und zum Teil auch nachhaltige<br />
Ergebnisse erzielt worden. In der regionalen Förderlandschaft<br />
seien diese zum Beispiel durch die Bestandsaufnahmen zu<br />
Angeboten und Maßnahmen, ergänzt durch Schüler- beziehungsweise<br />
Betriebsbefragungen, erreicht worden. In den Projekten<br />
seien wichtige Datengrundlagen für die regionalen<br />
Abstimmungen der Akteure des Übergangsmanagements und<br />
der beruflichen <strong>Bildung</strong> geschaffen und Klärungsprozesse<br />
angestoßen worden. Für die Verbesserung des Übergangs<br />
Jugendlicher von der Schule in Ausbildung sei entscheidend,<br />
dass Kommunen verantwortlich zeichnen. Auch die<br />
Chancen der Nachqualifizierung als Teil unternehmerischer<br />
Personalentwicklung und Instrument zur Stärkung des Fachkräftenachwuchses<br />
seien erkannt worden. Entscheidende<br />
Impulse hierzu seien vom Programm „Perspektive Berufsabschluss“<br />
ausgegangen.<br />
Aktuell gehe es im Programm „Perspektive Berufsabschluss“<br />
auch darum, Erfahrungen, Ergebnisse, entwickelte Instrumente<br />
und Materialien in die seit letztem Herbst laufende zweite Förderrunde<br />
zu transferieren. Durch Transferworkshops, „Patenschaften“<br />
und bilaterale Beratung zwischen „neuen“ und „alten“<br />
Projekten werde Erfahrungswissen zu entwickelten Produkten<br />
und Methodiken des Regionalen Übergangsmanagements<br />
zielgerichtet vermittelt. Im Programmbereich Nachqualifizierung<br />
wurden die Projekte aus beiden Förderrunden regional<br />
beziehungsweise branchenspezifisch geclustert, um den Transferprozess<br />
sicherzustellen. Auch dort erfolgt ein intensiver<br />
Ergebnisaustausch. So werden Synergien genutzt, wodurch die<br />
Entwicklungen in der zweiten Förderrunde vorangetrieben<br />
werden sollen.<br />
Frau Flach ging auch auf die Begleitprojekte der Zentralstelle<br />
für die Weiterbildung im Handwerk (ZWH), des Zentrums für<br />
Türkeistudien und Integration (ZfTI) und der MOZAIK gGmbH<br />
ein. Durch das Projekt der ZWH sei das Verfahren zur Zulassung<br />
zur Externenprüfung kammerbezirksübergreifend vereinheitlicht<br />
und verschlankt worden. Denn die Vorschläge aus<br />
dem Begleitprojekt wurden vom Zentralverband des Handwerks<br />
aufgenommen und mündeten in eine Handlungsempfehlung<br />
für bundesweit alle Handwerkskammern ein.<br />
Die vom <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung<br />
ins Leben gerufene und finanzierte Gründung des Mediennetzwerkes<br />
„biz – <strong>Bildung</strong> ist Zukunft“ durch das ZfTI sei ein<br />
wichtiger Schritt, die türkischsprachige Community besser<br />
über bestehende Ausbildungsmöglichkeiten und -zugänge,<br />
insbesondere die duale Ausbildung in Deutschland, zu informieren.<br />
Neue Wege zu mehr Chancengerechtigkeit für<br />
Migrantinnen und Migranten werden so erschlossen. Das<br />
Begleitprojekt der MOZAIK gGmbH verfolgt das Konzept, <strong>Bildung</strong>sbeauftragte<br />
aus Migrantenorganisationen als Multiplikatorinnen<br />
und Multiplikatoren zu gewinnen und zu schulen.<br />
Sie fungieren in ihren Regionen als erste Ansprechpartnerinnen<br />
und -partner für alle Fragen rund um Ausbildungschancen<br />
und -bedingungen in Deutschland. Dieser Ansatz<br />
zielt auf eine partnerschaftliche und gleichberechtigte Kooperation<br />
der regionalen Ausbildungs- und Arbeitsmarktakteure<br />
mit den Migrantenorganisationen.<br />
Handlungsempfehlungen für das Regionale<br />
Übergangsmanagement<br />
Dr. Birgit Reißig ging auf die Fragen ein, wie die strukturelle<br />
Nachhaltigkeit der Projektergebnisse nach Ablauf der ersten<br />
Förderrunde im März 2012 gelingen könne und welche Veränderungen<br />
die Projekte im Regionalen Übergangsmanagement<br />
bewirken konnten. Bei aller Unterschiedlichkeit der Rahmenbedingungen<br />
der einzelnen Projekte gab es aus Sicht der wissenschaftlichen<br />
Begleitung der Förderinitiative „Regionales Übergangsmanagement“<br />
drei zentrale Aufgabengebiete:<br />
• Schaffung von Transparenz in den Angeboten, deren<br />
Akzeptanz bei den Jugendlichen sowie die Benennung<br />
von „Stolpersteinen“ beim Übergang<br />
• Entwicklung von nachhaltigen Strukturen und<br />
Verfahren durch die Zusammenarbeit der regionalen<br />
Akteure<br />
• die Bereitschaft, Entscheidungen und Veränderungen<br />
herbeizuführen, die das Regionale Übergangsmanagement<br />
verbessern<br />
Dr. Malgorzata Mielczarek berichtete aus der Praxis des<br />
RÜM in Kiel. Durch gezielte Ansprache sei es möglich geworden,<br />
alle allgemeinbildenden Schulen vor Ort in die Partnerschaft<br />
des RÜM Kiel zu integrieren. Im Mittelpunkt stand die Frage,<br />
wie die einzelnen Schulen gestärkt werden und wie sie aus ihren<br />
Stärken ein eigenes Profil entwickeln können: „Zu sagen, wir<br />
machen etwas gemeinsam, das ist ein Schlüsselwort. Und wir<br />
machen es so, dass du als Schule einen Nutzen davon hast.“ So<br />
sei es gelungen, das Netzwerkangebot des RÜM Kiel als Stärkung<br />
für die Schule zu verstehen und anzunehmen. Auf der Basis der<br />
Analyse von Befragungen zum Verbleib der Schülerinnen und<br />
Schüler nach dem Schulabgang wurden Instrumente geschaffen,<br />
wie der Entwicklungstag für Schülerinnen und Schüler, Fortbildungen<br />
für Lehrkräfte oder Standards für das Berufsorientierungscurriculum,<br />
die zu einem festen Grundgerüst im RÜM<br />
Kiel geworden sind.
46 GeSpRäcHSRunDe<br />
Cemalettin Özer Ursula Krings Marion Kranz Simone Flach<br />
Stärkung der Chancengerechtigkeit durch die<br />
partnerschaftliche Einbeziehung der Migrantenorganisationen<br />
und die Kooperation mit Migrantenorganisationen zukünftig<br />
verbindlich gestaltet würde, wäre das ein richtiger Schritt zu<br />
mehr Chancengerechtigkeit für Migrantinnen und Migranten.<br />
Auf die Frage, was das Regionale Übergangsmanagement<br />
mit Blick auf die Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />
„gebracht“ habe, betonte Cemalettin Özer, „Perspektive Berufsabschluss“<br />
sei das erste Programm, in dem die Beteiligung von<br />
Migrantinnen und Migranten beziehungsweise von Migrantenorganisationen<br />
in den Netzwerken bereits in der Richtlinie festgelegt<br />
worden sei. MOZAIK gGmbH arbeitet im Begleitprojekt<br />
„Mit MigrantInnen für MigrantInnen“ an acht Referenzstandorten<br />
mit jeweils fünf Projekten aus dem „Regionalen Übergangsmanagement“<br />
und der „Abschlussorientierten modularen<br />
Nachqualifizierung“ intensiv an der aktiven und nachhaltigen<br />
Einbindung der Migrantenorganisationen in die regionalen<br />
Netzwerke. Gemeinsam mit den Projektleiterinnen und -leitern<br />
und, wo immer möglich, auch mit den Integrationsbeauftragten<br />
wurden zu Beginn der Konzeptumsetzung diese Fragen<br />
diskutiert: Wie und wo erreicht man Migrantinnen und Migranten?<br />
Wer ist in den Organisationen verantwortlich, und wer<br />
ist als Kooperationspartner besonders geeignet? Das waren die<br />
ersten und wichtigsten Schritte zur Entwicklung regionaler<br />
interkultureller Netzwerke. Das Konzept wird im Rahmen des<br />
Begleitprojektes auch in Leipzig, Saarbrücken, Darmstadt, Bielefeld<br />
und Schwerin umgesetzt. In Kiel konnte mit den Akteuren<br />
eine Interessengemeinschaft gegründet werden, die eigene<br />
Themen in die Arbeit des RÜM einbringt, zum Beispiel das Thema<br />
Diskriminierung von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte.<br />
In Marburg wurde ein Konzept zur interkulturellen Elternarbeit<br />
mit den Vertretungen der Migrantenorganisationen entwickelt<br />
und umgesetzt.<br />
Angeregt durch diesen kooperativen Prozess, wurde von<br />
einem türkischen Frauenverein in eigener Regie ein Elternabend<br />
zur Berufsorientierung organisiert, dessen Zuspruch<br />
alle Erwartungen übertraf – ein positives Beispiel unter vielen.<br />
Herr Özer regte an, Mittel, die kommunal häufig zweckgebunden<br />
für kulturelle Dinge zur Verfügung stehen, auch für<br />
gezielte Integrationsförderung durch <strong>Bildung</strong>sförderung zu<br />
erschließen. Wenn der im Programm des <strong>Bundesministerium</strong>s<br />
für <strong>Bildung</strong> und Forschung vertretene Ansatz Schule machen<br />
Besonderheiten der Nachqualifizierung<br />
Die strukturelle regionale Verankerung von Nachqualifizierung<br />
als Regelangebot sei, so Ursula Krings, eine besondere<br />
Herausforderung für die Projekte. Im Gegensatz zur Ausbildung<br />
nach dem Schulabschluss, die seit vielen Jahrzehnten<br />
eine Selbstverständlichkeit sei, müsse die Nachqualifizierung<br />
als eine Möglichkeit des Erwerbs eines Berufsabschlusses für<br />
Erwachsene erst intensiv bei den notwendigen Akteuren am<br />
Arbeitsmarkt erklärt und beraten werden. Zum Aufbau der<br />
erforderlichen Netzwerke brauche es neben den Akteuren der<br />
Arbeitsförderung unbedingt die Beteiligung der Wirtschaft,<br />
der Unternehmen der Region sowie der zuständigen Stellen,<br />
die für die Abnahme der Externenprüfung verantwortlich sind.<br />
Darüber hinaus müssten die <strong>Bildung</strong>sträger, die gute und bedarfsgerechte<br />
Angebote vorhalten, und natürlich die vorhandenen<br />
Beratungsstellen eingebunden werden.<br />
Aus Sicht der Projektpraxis berichtete Frau Kranz über<br />
die guten Voraussetzungen für den Aufbau von Nachqualifizierungsstrukturen<br />
im Handwerkskammerbereich Südthüringen.<br />
Sie ging aber auch auf Problematiken ein. In Thüringen sei der<br />
Fachkräftebedarf in allen Branchen bereits virulent. Insbesondere<br />
das Handwerk, die Industrie, aber auch die Pflegebranche<br />
seien davon betroffen. Diese Entwicklung befördere die Projektumsetzung.<br />
Als Ergebnisse kann Frau Kranz auf ein von den<br />
zuständigen Stellen in Thüringen anerkanntes Konzept zur<br />
Kompetenzfeststellung, auf verbindliche Qualitätsstandards<br />
und auf für Thüringen einheitliche, modularisierte Nachqualifizierungskonzepte<br />
verweisen. Instrumente wie der „Weiterbildungscheck“<br />
können von Personen genutzt werden, deren<br />
berufliche Handlungsfähigkeit den erfolgreichen Abschluss<br />
der Externenprüfung erwarten lässt. Problematischer sei die<br />
Situation bei an- und ungelernten Langzeitarbeitslosen. Die<br />
bisherigen Instrumente der Bundesagentur für Arbeit sehen<br />
eher kurzfristige Anpassungsmaßnahmen vor. Aus Sicht von<br />
Frau Kranz sollten die Partner in den regionalen Netzwerken –<br />
und hierzu gehören notwendigerweise immer auch die regio-
GeSpRäcHSRunDe<br />
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Im Bereich des Regionalen Übergangsmanagements,<br />
das die Aufgabe hat, nachhaltige Strukturverbesserungen zu<br />
schaffen, seien durch die Projekte wichtige Planungsgrundlagen<br />
und organisatorische Voraussetzungen für kooperative<br />
Netzwerkarbeit geschaffen worden. Zur nachhaltigen Implementierung<br />
des Regionalen Übergangsmanagements und für<br />
Veränderungen in den kommunalen Strukturen reiche nach Ansicht<br />
mancher Projekte die geförderte Projektlaufzeit nicht aus.<br />
Dr. Birgit Reißig<br />
Dr. Malgorzata Mielczarek<br />
Fazit<br />
nalen Agenturen für Arbeit und die Jobcenter – gemeinsam<br />
Finanzierungsstrategien entwickeln, die auch diesem Personenkreis<br />
den Erwerb eines Berufsabschlusses ermöglichen. „Denn<br />
nur mit einem erfolgreichen Berufsabschluss ist die Nachhaltigkeit<br />
der Integration in den Arbeitsmarkt auch gegeben“, so<br />
Frau Kranz.<br />
Eine weitere Besonderheit der Nachqualifizierung sei die<br />
Individualisierung der Lerninhalte, damit dem Stand der beruflichen<br />
Handlungskompetenz und dem Lernverhalten jedes<br />
Einzelnen zielführend entsprochen werden kann. Durch das<br />
Thüringer Netzwerk sei ein Konzept für individuelle Qualifizierungspläne<br />
entwickelt worden, das sich genau auf die beruflichen<br />
Handlungskompetenzen bezieht, die noch erforderlich<br />
sind zum erfolgreichen Bestehen der Externenprüfung.<br />
Der Qualifizierungsplan bilde auch die Basis für die<br />
Ab sprachen mit den regionalen Agenturen für Arbeit oder<br />
den Jobcentern zur Erstellung eines passgenauen Finanzierungsplans.<br />
Der Ansatz im Thüringer Netzwerk ziele darauf<br />
ab, Nachzuqualifizierende ohne Arbeit möglichst frühzeitig<br />
bei der Aufnahme einer Beschäftigung zu unterstützen und<br />
die Nachqualifizierung begleitend im Betrieb fortzusetzen.<br />
Das habe den Vorteil, dass das Unternehmen, das den Nachzuqualifizierenden<br />
beschäftigt, selbst ein Interesse am erfolgreichen<br />
Abschluss habe, und es sichere gleichzeitig die Nachhaltigkeit<br />
der Qualifizierung. Herr Özer ergänzte, dass die<br />
Herausforderungen der Individualisierung der Nachqualifizierung<br />
bei Menschen mit Migrationsgeschichte noch weiter<br />
steigen werden.<br />
Weitere Aspekte<br />
Bei der Einbeziehung des Plenums in die Gesprächsrunde<br />
wurde noch einmal deutlich, dass es für die Zielgruppe der<br />
an- und ungelernten Beschäftigten keine allgemein verbindlichen<br />
Standardangebote geben kann, da die individuellen<br />
Voraussetzungen sehr unterschiedlich sind. Bedarfsgenau<br />
abgestimmte Finanzierungsmodelle und kreative individuelle<br />
Förderansätze seien erforderlich.<br />
Frau Flach gab abschließend einen Ausblick zur Verstetigung<br />
und nachhaltigen Sicherung der Programmergebnisse. Auch<br />
wenn vor Ort teilweise eine längere Projektförderung durch<br />
das <strong>Bundesministerium</strong> für <strong>Bildung</strong> und Forschung gewünscht<br />
würde, so sei eine Förderdauer von vier bzw. drei Jahren hinreichend<br />
lang, zumal von Anfang an auf eine nachhaltige Umsetzung<br />
des Programms Wert gelegt wurde. Ziel der Förderung des<br />
Programms „Perspektive Berufsabschluss“ sei es, Strukturentwicklungen<br />
anzustoßen und strukturelle Grundlagen zu schaffen,<br />
auf denen nachhaltig weitergearbeitet werden könne.<br />
Wie wichtig es der Bundesregierung sei, in der <strong>Bildung</strong><br />
mehr Chancengerechtigkeit zu erzielen, zeige sich auch in der<br />
geplan ten weiteren Aufstockung des Etats des <strong>Bundesministerium</strong>s<br />
für <strong>Bildung</strong> und Forschung im kommenden Jahr. Mit den<br />
Mitteln des BMBF und des ESF sei es den Projekten gelungen,<br />
vorhandene Strukturen auszubauen, Netzwerkkooperationen<br />
zu festigen beziehungsweise zu initiieren, wo vorher noch<br />
keine vorhanden waren. Zu einer effektiven Umsetzung des<br />
Programms gehöre auch, Synergien durch Kooperationen mit<br />
anderen Programmen zu nutzen. Auch der Zusammenschluss<br />
von Projekten im Programm „Perspektive Berufsabschluss“ zu<br />
Landesnetzwerken – zum Beispiel in Hessen, Sachsen, Sachsen-<br />
Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Berlin<br />
und Thüringen – sei ein richtiger und überaus erfreulicher<br />
Weg, nachhaltige Strukturen in den Regionen auch nach Auslaufen<br />
der Projektförderung dauerhaft zu etablieren.<br />
Frau Flach bedankte sich zum Abschluss ganz herzlich<br />
bei den Projekten und den Programmakteuren für die bisher<br />
ge leistete Arbeit. Die erreichten Ergebnisse belegten, dass<br />
die Fördermittel des <strong>Bundesministerium</strong>s für <strong>Bildung</strong> und<br />
Forschung sehr sinnvoll investiert seien. Denn im Programm<br />
„Perspektive Berufsabschluss“ arbeitete man gemeinsam<br />
intensiv daran, die Chancengerechtigkeit in Deutschland<br />
weiter zu verbessern.
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