Senioren - Stiftung Diakoniestation Kreuztal
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Im Jahre 1945 kam ich als junges Mädchen in die Damenschneiderei.<br />
Der Krieg war gerade vorbei und es herrschte<br />
eine arme Zeit. In einer großen Nähstube war ich zusammen<br />
mit sieben, manchmal auch mehr Nähmädchen. Das<br />
Inventar bestand aus einem großem Zuschneidetisch, drei<br />
Nähmaschinen, die man mit eigener Kraft zum Laufen bringen<br />
musste und einer elektrischen Nähmaschine sowie weiteren<br />
Tischen und Stühlen, zwei Bügelbrettern, einem großen<br />
Kleiderschrank, einem Kohleofen, auf dem die Plätteisen<br />
in verschiedenen Größen standen. Unsere Meisterin war<br />
eine Respektsperson, aber nicht übermäßig streng. Sie war<br />
mit einem Italiener verheiratet, der vom ersten Weltkrieg in<br />
Deutschland geblieben war. Kinder hatten sie keine.<br />
Bei ihnen arbeitete auch Walli, eine liebenswerte Haushälterin,<br />
die uns Nähmädchen schon mal heimlich etwas zusteckte.<br />
Denn in diesem Haushalt war keine Not. Viele Kundinnen<br />
waren Bauersfrauen aus dem Wittgensteiner Land.<br />
Sie brachten Mehl, Eier, Butter, Speck, Kartoffeln und Holz<br />
für den Kohleofen. Da gab es dann schon mal Waffeln und<br />
Walli, die gute Fee, sagte uns heimlich Bescheid, dass wir so<br />
nacheinander an der Küche vorbeikommen und dann mit einer<br />
Waffel aufs Klo gehen konnten, um sie dort heimlich zu<br />
essen. Wenn dann alle Mädchen versorgt waren, dann wurde<br />
auch die Meisterin zum Kaffeetrinken (Kaffee hatte sie<br />
auch) in die Küche gerufen. Die Waffelaktion fiel nicht auf,<br />
denn unsere Meisterin saß so konzentriert am Zuschneidetisch.<br />
Sie hatte auch keine Ahnung vom Backen und Kochen<br />
und irgendwelchen Mengenangaben.<br />
Franz, ihr Mann, war immer zu Hause, er kümmerte sich um<br />
alle Neuigkeiten, die es gab, und um die fünf Birnen, die das<br />
junge Spalierbäumchen am Haus zum ersten Mal trug. Er<br />
war stolz und hatte sich viel vorgenommen mit den wirklich<br />
schönen Birnen. Eine wollte er beispielsweise sofort essen,<br />
um zu sehen, wie frisch sie schmeckt. Zwei wollte er auf den<br />
Schrank legen, um zu sehen, wie lange sie sich halten und<br />
zwei wollte er kochen. Aber, o weh, eines Morgens fehlten<br />
zwei Birnen. Zwei Nähmädchen, die Überstunden gemacht<br />
hatten, weil etwas schnell fertig werden musste, waren zur<br />
Hintertür hinausgegangen und hatten sich je eine Birne für<br />
den Heimweg mitgenommen. Nun wurden schnell die drei<br />
Birnen geerntet und die drei bösen Buben, die immer Streiche<br />
spielten, waren in Verdacht geraten.<br />
Lustige<br />
Begebenheiten<br />
Nähstube<br />
aus der Irmgard Knester<br />
In der Bäuerlichen gab es einmal begrenzt Kartoffelsäcke aus<br />
Jute zu kaufen. Franz hatte auch zwei Säcke bekommen und er<br />
kam freudig in die Nähstube und fragte: „Wer von de Mädcher<br />
stickde mir ne Programme in de Sacke?“ Seine Frau, ohne eine<br />
Regung am Zuschneidetisch, sagte nur: „Monogramm, Mann.“<br />
Ja, Franz war der deutschen Sprache nicht so mächtig.<br />
An dem großen Zuschneidetisch wurde viel zugeschnitten.<br />
Es gab noch viele gute neue Stoffe, die aus der Vorkriegszeit<br />
stammten. Aber auch nach dem Prinzip „Aus-alt-machneu“<br />
wurde manches hergestellt. So bekam ich einen Mantel<br />
zum Auftrennen, ein guter Wollstoff mit braun-beigem<br />
Fischgrätmuster. Es sollte ein Kleid daraus werden. Beim<br />
Bügeln mit dem heißen Plätteisen passierte mir eine kleine<br />
Brandstelle am Rückenteil. Meine Sorge war groß, ich<br />
habe dann in der Abfallkiste kleine Stoffrestchen gesucht<br />
und alles mit nach Hause genommen und mit beige und<br />
braunem Fädchen das Loch mit Fischgrätmuster bis in die<br />
Nacht hinein kunstgestopft. Es ist nicht aufgefallen. Es gehörte<br />
auch viel Fantasie dazu, aus aufgetrennten Sachen<br />
etwas Schönes zu machen.<br />
Der Krieg war nun Gott sei Dank endlich zu Ende und die<br />
Angst vor Bomben und Granaten war vorbei. Im Ort waren<br />
die Amerikaner und hatten ein herrschaftliches Haus gegenüber<br />
unserer Schneiderei besetzt. Später war dort das Amt zur<br />
Entnazifizierung eingerichtet. Langsam gab es wieder fröhliche<br />
Unterhaltung für die Menschen. Im Gasthof Rottmann<br />
(heute „Oberbayern“) gab es Filmvorführungen und die Leute<br />
standen Schlange vor der Kasse. Wenn wir Nähmädchen<br />
dann dazu kamen, scherzten die jungen Männer und sagten:<br />
„Jetzt kommt Taglientes Zoologischer Garten!“<br />
Im großen Saal des Gasthofes Beinhauer fand ein Tanzkurs<br />
statt. Mit drei oder vier Nähmädchen haben wir uns<br />
dort angemeldet. Die Bedingung war, ein Stück Holz oder<br />
Brikett mitzubringen, um den Ofen im Saal zu heizen.<br />
Franz hatte eine große Kiste Holz neben seinem Ofen<br />
stehen und jedes Mal, wenn er feuerte, dann fehlte ein<br />
Stück, das fiel nicht auf. In dem genannten Saal wurde<br />
dann auch eine Silberhochzeit gefeiert. Die Nachbarin<br />
unserer Meisterin hatte eingeladen. Nun überlegte sie<br />
zwei Tage vor der Hochzeit, ob die noch gerne ein neues<br />
Kleid hätte. Sie holte dunkelblauen Stoff aus der Schublade,<br />
schnitt zu und das Kleid wurde rechtzeitig fertig.<br />
Wir freuten uns, dass die Chefin einen langen Nachmittag außer<br />
Haus ging und hatten einen Plan, frei nach dem Motto:<br />
Ist die Katze erst fort, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Nun<br />
spielte der große Kleiderständer eine Rolle, der voller alter,<br />
guter Kleider hing, um die sich schon lange niemand mehr<br />
kümmerte. Charleston- und Sackkleider in bunt, uni und gestreift<br />
standen uns zur Auswahl. Es war die reinste kunterbunte<br />
Modenschau. Ich hatte ein grau-weiß-gestreiftes Sackkleid<br />
aus Seidenleinen an mit großen Perlmuttknöpfen. Unsere<br />
gute Fee, die Walli, spielte etwas widerwillig mit und machte<br />
den Kleiderschrank unserer Chefin auf und holte Hüte, die<br />
alle übereinander gestapelt auf dem Hutbrett lagen, heraus.<br />
So fand auch noch jeder „Topf“ den richtigen „Deckel“.<br />
Singen mit dem Lied „Emma, du hast ein Sackkleid an. Emma,<br />
wie kommste da denn dran“ tanzten wir ausgelassen in der<br />
Nähstube herum, aber nicht lange. Die große Haustüre fiel<br />
ins Schloss und schon stand unsere Chefin im Raum. Sie hatte<br />
etwas vergessen. Ohne etwas zu sagen, als hätte sie nichts gesehen,<br />
verschwand sie wieder. Wir waren geschockt und alle<br />
Kleider und Hüte hatten schnell ihren Bestimmungsort wieder.<br />
Jetzt wurde fleißig gearbeitet, denn wir hatten ja etwas<br />
gut zu machen. Auch am nächsten Tag wurde kein Wort über<br />
diesen Vorfall verloren. Einmal haben wir einen Betriebsausflug<br />
auf die Hohe-Bracht gemacht. Mit dem Zug sind wir bis<br />
Altenhundem gefahren und dann von dort, mit einem Korb<br />
voller Streuselkuchen beladen, auf die Hohe-Bracht gewandert.<br />
Von dort stammt dieses Bild. Heute treffen sich noch<br />
fünf Nähmädchen gelegentlich zu einer guten Tasse Tee.<br />
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