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Steinige Lektüre Ferdinand Althoff, "Ein gewisser ... - Paul Niemeyer

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<strong>Steinige</strong> Lektüre<br />

<strong>Ferdinand</strong> <strong>Althoff</strong>, "<strong>Ein</strong> <strong>gewisser</strong> Herr Wertz oder Warum Herr Stein eine andere Identität<br />

annehmen wollte"<br />

Als Sven Stein eines Tages wiederholt mit "Tag, Herr Wertz" gegrüßt wird, bleibt ihm,<br />

nach anfänglichem Zweifeln ("Nein, er war Sven Stein, da gab es gar kein Vertun. Was<br />

sollte das alles? War er verrückt, oder waren es die Leute?") bald nichts anderes übrig als<br />

der Entschluss, selbst Herr Wertz zu sein bzw. zu werden. Sven, "ein leidenschaftlicher<br />

Hasardeur, ein ausgeprägter Opportunist, leichtlebig und unberechenbar [...] Musische<br />

Begabung, manuelle Geschicklichkeit und ein hoher IQ kennzeichneten die Habenseite<br />

seiner Charaktereigenschaften", setzt nun seine gesamte Frührentnerkraft ("eine<br />

heimtückische Krankheit zwang ihn im vergangenen Jahr, mit 57 vorzeitig in Rente zu<br />

gehen") daran, Herr Wertz zu "übernehmen", "So müsste er sich mit der Psyche von<br />

Wertz auseinandersetzen. Wie empfindet dieser für ihn doch völlig fremde Mensch? Ist er<br />

gutmütig oder hartherzig, egoistisch oder hilfsbereit, autoritär oder kommunikativ? Ist er<br />

ein religiöser oder ein säkularisierter Mensch? Dann war die mentale Welt des Herrn<br />

Wertz. Dachte er analytisch oder synthetisch? War er ein Schnellsprecher, oder<br />

formulierte er bedächtig? Operierte er gerne mit Zahlen, oder fabulierte er lieber? Waren<br />

seine Entscheidungen vom Intellekt oder von der Emotion bestimmt?".<br />

Der echte Dieter Wertz hat eine internationale Spedition inne; da Sven Stein im Import-<br />

Exportwesen nicht sehr beschlagen ist, versucht er, inzwischen als Privatdetektiv Menke<br />

Erkenntnisse sammelnd, Dieter Wertz über dessen musische Neigung an sich zu binden.<br />

Selbstredend gelingt es Stein, gelingt so gut, das Wertz und Stein resp. Wertz und Wertz<br />

zu Brüdern-im-Geist werden und der echte Dieter Wertz dem ambitionierten Wertz<br />

anbietet, zu ihm in den Hotzenwald zu ziehen; wenige Momente nachdem Dieter Wertz<br />

dieses Angebot ausspricht, stirbt er, plötzlich. Auf diesen paar Seiten erreicht das Buch<br />

seine peinlichen Höhepunkte, angefangen bei der verzweifelten Darstellung Steins<br />

Gerührtheit über das Angebot Wertz` ("Im Moment möchte ich Dich nur wissen lassen,<br />

dass du mir sehr viel bedeutest, und zwar insofern, als du auf mich dermaßen stark<br />

einwirkst, dass ich mich auf meine alten Tage noch ummodeln lasse, nämlich Dinge<br />

anders sehe als zuvor, Entscheidungen nach ganz anderen Gesichtspunkten fälle, nicht<br />

mehr alles so apodiktisch beurteile, leben lasse und nicht so sehr das Lebenlassen<br />

bestimme, den Menschen und Dingen mehr Laissezfaire in ihrer Entscheidung und<br />

Entwicklung gewähre. Du, Dieter, bist sehr gut zu mir.") bis zu sinnlosen Nachdenkereien<br />

a la "Bin ich als Bürger der gesetzestreue Diener, oder bin als Bürger auch der Souverän<br />

des Staates?".<br />

<strong>Ferdinand</strong> <strong>Althoff</strong>s "<strong>Ein</strong> <strong>gewisser</strong> Herr Wertz oder warum Herr Stein eine andere Identität<br />

annehmen wollte" ist ein Buch, das an -keiner Stelle vorankommt; es fehlt an<br />

erzählerischer Intensität, belangvollem Inhalt und packenden Figuren.


<strong>Ein</strong>fach schön<br />

Elizabeth von Arnim, "Der Garten der Kindheit"<br />

Es war nicht die Absicht Elizabeth von Arnims, in ihrem "Der Garten der Kindheit" ihre<br />

eigene Chronistin zu spielen; nein, sie verzichtet auf genaue <strong>Ein</strong>zelheiten, und schafft<br />

stattdessen eine seltsam schöne, bezwingende Atmosphäre; man liest dieses Buch, und<br />

das liegt nicht an nur 76 Seiten Umfang, sondern vor allem an "einer verzweifelten<br />

Sehnsucht nach den guten Dingen der Kindheit, den Liebkosungen, dem Trost, dem<br />

wärmenden Glauben an die unfehlbare Weisheit der Erwachsenen", flott, ohne<br />

unterbrechen zu wollen, gebannt, vielleicht zunehmend melancholisch mit einem Mal<br />

durch. "Zurück zur Vergangenheit mit all ihren Geistern" geht's, zwei wichtige Abschnitte<br />

bilden die liebenswerten Spleens des orakelnden Großvaters, und die Beziehung zum<br />

Vater, "meinem Spielgefährten, Bewunderer und Freund". Mehrmals löst sich das<br />

Vergangene im Hier und Jetzt auf, die beiden Zeitebenen wechseln sich ohne Verwirrung<br />

des Lesers ab, "ich stand mit klopfendem Herzen im Garten meiner Kindheit" heißt es,<br />

nachdem sich die Protagonistin durch das "Törchen" [zum Garten] gestohlen hat. <strong>Ein</strong> nicht<br />

aufgeklärtes Ärgernis mit der Verwandtschaft gibt dem heimlichen, unbemerkten Besuch<br />

der Erzählerin zusätzlichen Auftrieb, die Suche nach Bildern der Kindheit wird zu etwas<br />

mit diebischer Freude Verbundenem - - Freude über die Angst, ertappt zu werden.<br />

"Ich glaube, jedes Kind, das viel allein ist, durchlebt eine gewise Zeit, in der es stündlich<br />

den Tag des Jüngsten Gerichts erwartet" - - vieles dieses unübertrefflich kindlichen<br />

Glaubens hat Arnim in wenigen Worten sehr gut wiedererzählt.


Erlebnis-Dichter<br />

Hans C. Artmann, "Sämtliche Gedichte"<br />

Hans Carl Artmann, 1921 in Wien geboren, schreibt seine ersten Gedichte 1945. 1954<br />

unternimmt er seine erste große Reise, sie führt ihn von Belgien nach Holland über<br />

Frankreich bis Italien. In den Jahren 1961 bis 1968 wohnt er in fünf verschiedenen<br />

europäischen Metropolen. Artmanns Kultivertheit und breite Bildung merkt man schon<br />

seinem ersten Gedichtband "med ana schwoazzn dintn herau" (Wiener Dialektgedichte),<br />

1958, an. Die nächsten vier Jahrzehnte treffen fast alle Lyrik-Formen in seinem Werk<br />

zusammen: Alexandriner, Haiku, Kinderlied, Satire, Dialektgedicht, Epigramm, Ballade,<br />

Fabeln, Fabelhaftes. Diese Vielzahl verwendeter Gedichtformen verwirrt nicht, ebenso<br />

wenig die erfundenen und nachempfundenen Sprachen, vielmehr hebt Artmann den<br />

Leser in seine Gedichte hinein. Artmann ist "Dichtersmann", nicht "Künstlermann".<br />

Artmann ist sinnlich, Artmann ist Sprache, Witz, Helligkeit, Artmann ist Wissen, Methodik,<br />

Moderne. Anders gesagt: man sieht was von der Welt in Artmanns Werk, welches seinen<br />

Anfang am Ende des Zweiten Weltkrieges nimmt, und nach mehreren unbestrittenen<br />

Höhepunkten lyrischen Sprach-könnens seine letzten Züge zur Jahrtausendwende erhält.<br />

Dieser Band verschafft Hartmanns Werk eine etwas länger dauernde Ewigkeit; neben der<br />

chronologisch-thematischen Ordnung (bisher einmalig in der Bibliografie Artmanns), dem<br />

unter den Händen entschwindend schönem Papier, der Authenzität (Artmann hat diese<br />

Ausgabe in die Wege geleitet) überzeugt die Handlichkeit und der Anspruch, "Sämtliche<br />

Werke" Artmanns versammelt zu haben.


Schön bizarr<br />

<strong>Paul</strong> Auster, "Das Buch der Illusionen"<br />

Sehr gutes Buch. Erzählt wird die Geschichte David Zimmers, dessen Familie, d. h. seine<br />

Frau und die beiden gemeinsamen Kinder, tödlich verunglückt ist. Zimmer verkraftet<br />

diesen schlagartigen Verlust nicht, er droht dem Alkohol zu verfallen. Sein Leben nimmt<br />

erst wieder Sinn an, als er, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft, sich mit<br />

Hector Mann beschäftigt, der als letzter Slapstick-Komiker der 20er Jahre, in denen er<br />

auch unauffindbar verschwindet, gilt. Mann wird für Zimmer Passion, Mann gibt Zimmer<br />

Halt, Beschäftigung, Ziele, und dieser bastelt nun an "Die stumme Welt des Hector<br />

Mann", ein, wie es heißt, "Werk über seine Filme, keine Biografie". In sagenhaften 9<br />

Monaten stellt er das Buch fertig.<br />

So weit, so einfach. Ab jetzt wird der Leser in wild oder zart, wilkürlich oder konsequent<br />

miteinander verwobene Geschichten eingeschachtelt. Den beunruhigenden Rahmen<br />

liefert dabei die Arbeit an eben jener Biografie, die mal "fertig", mal "unfertig", einmal am<br />

Ende und immer wieder neue, ungeahnte Anfänge nimmt. Verunsichert, zugleich angeregt<br />

in seiner Phantasie dürfte ein Leser schon nach den einleitenden Sätzen des Buches<br />

sein, "Alle dachten, er sei tot. Als 1988 mein Buch über seine Filme erschien, hatte man<br />

von Hector Mann seit fast sechzig Jahren nicht mehr gehört.". Aber zurück. Zimmer<br />

bekommt einen Brief, mit "einem kaum noch spürbaren Duft von Lavendelwasser": "Sehr<br />

geehrter Professor Zimmer, Hector hat Ihr Buch gelesen und würde sie gerne kennen<br />

lernen. Haben Sie Interesse, ihn zu besuchen? Hochachtungsvoll, Frieda Spelling (Mrs.<br />

Hector Mann)". Viele bizarre Umwege, und zwölf Mann-Filme, verstreut in Europa und den<br />

USA, und eine lauwarme Liebesbeziehung des Protagonisten mit Alma, der Gesandten<br />

Hectors, die wiederum in den schrillen Lebens-Schaffens-Film-Kosmos des Hector Mann<br />

meilenweit besser eingeweiht als Zimmer, später, gelingt das Zimmer. Nun beginnt der<br />

dritte und letzte Teil der Geschichte: Zimmers Aufenthalt auf dem Land- und<br />

Produktionsgut Manns.<br />

Beeindruckt hat mich am "Buch der Illusionen" besonders die gegenseitige, groteske<br />

Abhängigkeit Zimmers und Manns; zwar führen beide eine unwirkliche Existenz, jener im<br />

Andenken an seine Familie, dieser in selbstgewähltem, extremen Kunstdasein ("Soweit<br />

ich weiß, ist Hector der erste Künstler, der seine Werke in der bewussten, vorher<br />

festgelegten Absicht produziert, sie wieder zu vernichten[...]Die Filme waren im Geheimen<br />

auf die Welt gekommen und sollten auch im Geheimen wieder verschwinden"), doch dient<br />

ihnen dieses Aneinanderhängen als Schritt zurück ins Leben.<br />

<strong>Paul</strong> Auster hat ein Buch geschrieben, sehr unterhaltsam, überaus intelligent und<br />

mitreißend schön, einen Liebes-, Rätsel-, Kunst- und Philosophieroman.


Gegen die Arroganz<br />

Majgull Axelsson, "Rosarios Geschichte"<br />

Hat man in "Rosarios Geschichte", die anfangs mehr Verwirrung als Berührtheit stiftet,<br />

erste Zusammenhänge entdeckt, dürfte auch der letzte Leser dieses Buch nicht aus den<br />

Händen legen. Rosario Baluyot, eines der vielen Opfer des Sextourismus auf den<br />

Philippinen, stirbt mit elf Jahren auf erschreckende Weise, "man fand einen<br />

abgebrochenen Massagestab. In Ihrem Unterleib.". Dazu entwirft Majgull Axelsson einen<br />

Dokumentarroman, der <strong>Ein</strong>blicke in das kurze, grausame Leben Rosarios gewährt.<br />

Axelsson vermeidet es, mit Rosario sämtliche Mißhandlungen, die philippinischen Kindern<br />

von europäischen oder amerikanischen Sextouristen angetan werden, zu typisieren;<br />

Axelsson wehrt sich gegen einen Schlußstrich unter das sehr aktuelle Thema<br />

Kinderprostitution; stattdessen beschreibt sie die knappen Lebensläufe mehrerer<br />

Nebenprotagonisten, die Rosario mehr oder weniger verbunden sind; erst das letzte Drittel<br />

des Buches gehört Rosario. Axelsson wühlt auf, sie schildert eine Wirklichkeit, die in ihrer<br />

Rohheit ans 4., in ihrer Zerrissenheit ans 17.und in ihrer Grausamkeit ans 20. Jahrhundert<br />

erinnert; sie legt hier einerseits eine seriöse Studie über die Verwobenheit von<br />

Zuhälterketten und bestechlichem Staatstreiben, andererseits einen engagierten Roman<br />

gegen die westliche Arroganz vor.


Außen pfui - innen hui<br />

Katharina Erna Baumgartl, „Die Geschichte einer bayerischen Bauerntochter“<br />

Weil ihr Buch als erster Titel des Frieling-Verlages die 7. Auflage erreicht hat, kaufte ich<br />

mir Katharina Erna Baumgartls „Die Geschichte einer bayerischen Bauerntochter“. Schon<br />

am Namen der Autorin ist unschwer zu erkennen, dass es sich hier um ihre Erinnerungen<br />

handelt. Die meiste Beachtung erhalten dabei die 50er Jahre: da bringt die Protagonistin,<br />

verlassen von ihrem zukünftigen Ehemann, ein uneheliches Kind zur Welt - - in einem<br />

bayerischen Dorf damaliger Zeit ein ungeheurer Skandal. Mutter und Tochter finden aber<br />

bald einen Lebenspartner und Ersatz-Vater. Der Lebensweg der Ich-Erzählerin wird flott<br />

und nachvollziehbar geschildert, dabei treffen Annektode („Ich kann mich noch gut<br />

erinnern, wie zwei Frauen unseres Dorfes sich gestritten haben. Die eine schrie: ‚Was<br />

bildest du dir ein, mein Mann ist Feldwebel!’ Die andere hielt ihr entgegen: ‚Und meiner ist<br />

Unteroffizier.’ Jede wollte was Besseres sein als die andere. Es hat nicht lange gedauert,<br />

da ist der Feldwebel ‚für Großdeutschland gefallen’, der Unteroffizier hat den Krieg<br />

überlebt.“.), kindlich Märchenhaftes („In der Maikäferzeit haben wir als Kinder die Bäume<br />

geschüttelt, wenn die Käfer schliefen. Dann fielen sie herunter.“), Spracheigentümlichkeit<br />

(Salzzelten, Scheß, Grottenlecke), Geheimrezept („Während des Krieges wurde viel<br />

Schnaps schwarz gebrannt. <strong>Ein</strong> junger Mann, der bei uns zu Gast war, bestellte sich<br />

mehrere Stamperl von dem Selbstgebrannten. Er hatte offensichtlich die Wirkung<br />

unterschätzt. Plötzlich fiel er um und hatte Schaum vor dem Mund. Wir meinten, es ginge<br />

mit ihm zu Ende. Vater und einige andere Männer gruben schnell im Misthaufen ein Loch<br />

und steckten den jungen Mann dort hinein. Bis zum Kopf war er im Mist verpackt. Es hieß,<br />

das sei gut, sonst würde durch den Schnaps innerlich verbrennen. Nach ein paar Stunden<br />

wurde er wieder ausgebuddelt, er hatte sich relativ gut erholt.“), und bayerische Sagenund<br />

Bräuchewelt aufeinander. Baumgartl hat mit ihrer „Geschichte“ ein solides Werk<br />

verfasst; „um innerlich frei zu werden“ enthüllte Baumgartl ihre Vergangenheit, das heißt:<br />

kein blutarmes, sondern ein authentisches Buch; für die Lektüre sollte man sich von dem<br />

etwas ausladenden Titel nicht abhalten lassen.


Überschätzt<br />

Samuel Beckett, "Warten auf Godot"<br />

Vor 50 Jahren, im September 1953, wurde „Warten auf Godot“ in Berlin zum ersten Mal in<br />

deutscher Sprache aufgeführt. Zehn Jahre später erschien das Stück als Band 3 in der<br />

neu gegründeten edition suhrkamp (es). In die Reihe „40 Jahre edition suhrkamp“ wurde<br />

es ebenfalls, in revidierter Übersetzung, aufgenommen. Der Übersetzer damals wie heute:<br />

Elmar Tophoven. In Samuel Becketts gerne als „absurd“ bezeichnetem Drama harren die<br />

beiden Protagonisten Wladimir und Estragon zwei Akte lang vergebens auf eine Gestalt<br />

namens Godot. Dabei werden das Ausziehen eines Schuhes, die Gier auf<br />

Hühnerknochen, das Tragen von Blättern der Bäume ausführlich besprochen. Die<br />

Sprache kargt, die Themen sind banal, die Bühne bietet keinen Blickfang. Wie das Stück<br />

anfängt, so endet es, die beiden kommen nicht von der Stelle. Ich habe "Godot", dank<br />

einer (anderen) Ausgabe des Suhrkamp-Verlages, bereits auf Deutsch, Englisch und<br />

Französisch gelesen, und fühle mich diesem Text gegenüber bei jedem Lesen und in<br />

jeder Sprache hilflos; daran ändert auch diese Neuauflage wenig; schon nach der zweiten<br />

Lektüre habe ich aufgehört nach einem „Sinn“ zu fragen, geholfen hat es wenig, pardon,<br />

ich halte Godot für eines der überschätzten Werke der Weltliteratur, zu viel Nichts-<br />

Betonung, zu wenig Spiel steckt darin; doch ein wichtiges Stück war es, wird es bleiben.<br />

Seine Aufnahme in die Jubiliämsreihe ist ein editorisches Dankeschön,schließlich verkauft<br />

sich Godot seit je hervorragend.


Drei Frauen, eine Geschichte<br />

"Prune Berge", Du bist nicht meine Mutter<br />

Prune Berge versteht es, das Leben dreier außerordentlicher Frauen in 10 Briefen<br />

wiederzuspiegeln. Den Mittelpunkt bildet Stéphanie Bouvier, "sehr lebendig, sehr groß,<br />

blond, mit dunkelblauen Schlitzaugen", eine junge, etwas rastlose Frau, die gerade dabei<br />

ist, "ihr Leben einzurichten". Stéphanie bekommt zwanzig Jahre nach ihrer Geburt und 17<br />

Jahre nachdem sie von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben wurde, von eben der einen<br />

Brief; Anne Vallio schreibt "Meine liebe Tochter, sicher habe ich nicht das Recht, Dich so<br />

zu nennen. Aber es gibt Dich, gerade habe ich es erfahren, und Du bist zwanzig Jahre<br />

alt...". Auf diesen Brief antwortet allerdings nicht Stéphanie, sondern deren "soziale"<br />

Mutter Colette Bouvier. Zwischen diesen drei Frauen entspinnt sich nun eine, geprägt von<br />

Versöhnung und Neubeginn, ungewöhnliche Korrespondenz, deren Höhepunkt die<br />

Verabredung eines Treffens zwischen Stéphanie und Anna ist. Die Frage nach der<br />

"Schuld" Annes spielt eine große Rolle; als Anna und Stéphanie sich zum ersten mal nach<br />

17 Jahren widerbegegnen, fragt Stéphanie lakonisch wie sicher "Warum haben Sie das<br />

gemacht?"; in einem Brief Colettes an Anna heißt es: "Ich habe es Ihnen übel genommen,<br />

Madame, dieses Kind so wenig gewollt zu haben, dass es ständig versuchte, sich<br />

zurückweisen zu lassen. Ich habe es Ihnen übel genommen, wie es den Richtern,<br />

Polizisten, Lehrern und meiner Familie übel nahm, dass sie mich nicht hörten, als ich um<br />

Hilfe schrie und mein Kopf schon unter Wasser war. Als ich einfach nur mal eine Nacht<br />

schlafen wollte".<br />

"du bist nicht meine mutter", eine sehr ansehnliche, ganz und gar nicht weinerliche<br />

Auseinandersetzung mit dem ewigen Themen Mutter-Tochter, Identiät, Selbstbestimmung<br />

und Herkunft.


Hetze aus München<br />

Georg Diez u. a., "Hier spricht Berlin - Geschichten aus einer barbarischen Stadt"<br />

Alles quatscht über Berlin, also kommt der Titel "Hier spricht Berlin!" totrichtig. Seltsam<br />

herbe, etwas spießige Verbitterung (Die Straßenbahn kommt zu spät, ITler trinken Latte,<br />

die Restaurantkost ist nicht perfekt, ein Berliner bekommt einen Strafzettel verpasst…)<br />

gepaart mit überspitzten Beobachtungen, ein bißchen annektodistisch da, ein bißchen<br />

lieblos dort, ein bißchen überbissig, überflüssig, übereilt, überspannt.<br />

Repräsentativ ist das Ganze, trotz der Vielzahl von Geschichten und Meinungen (!), nicht;<br />

kein Stadtführer, kein <strong>Ein</strong>drücke-über-Berlin-Gewinnbringer, kein Anti-Berlin-<br />

Schaumschläger, nein, einfach ein Buch, dessen Autoren vor kurzem nach Berlin<br />

gezogen sind, und nun, zutiefst unzufrieden mit wer-weiß-was-für-Berliner-Freunden-<br />

Berliner-Wohnung-Berliner-Sexaffäre, ihrer Sehnsucht nach München und Hamburg ein<br />

papiernes Horn gebastelt haben; O-Ton: Jeder Berliner ist unfreundlich + intrigant +<br />

gelangweilt + arrogant + barbarisch; Berlin ist „im Grunde unbewohnbar“, eine fiese Stadt,<br />

gepflastert mit Denkzetteln für die zivilisierte Welt, Berlin ist nie und nimmer Hamburg<br />

oder München, Berlin ist was-auf-die-Fresse, Berlin ist nicht lustig, nicht witzig, nicht<br />

ironisch, und allein schon deshalb wie zum Auslachen erbaut. Was macht Berlin aus?,<br />

was war Berlin einmal?, was denkt Berlin sich eigentlich?, Fragen, die dieses Buch, für<br />

Berlin-Gegner von Berliner Berlin-Skeptikern geschrieben, weder stellt noch beantwortet.<br />

„Hier spricht Berlin!“ hört sich anders an als (diese) 220 Seiten dämliche Konsumkritik.


<strong>Ein</strong>e Entdeckung wert<br />

Armin Berninghaus, "Kiepenkerls unernste Sicht der Tatsachen"<br />

Mit dem Titel "Kiepenkerls unernste Sicht der Tatsachen" wusste ich erst einmal wenig<br />

anzufangen. Interessant wurde Kiepenkerls Kompendium, als ich feststellte: sein<br />

Verfasser, Armin Berninghaus, kommt aus der Wirtschaft und nimmt die Wirtschaft aufs<br />

Horn - - bemerkenswert! Man kennt zwar die Spötteleien der tagtäglichen Feuilletons über<br />

optimalitätsorientierte Manager, Banker, die uns an den Rand des Geldsegens treiben,<br />

Nadelstreifen aufsaugende Startups und die überschwängliche Kosumgeilheit des trögen<br />

Pöbels, aber Armin Berninghaus dringt tiefer, und die Satire drängt ihn, Berninghaus, zu<br />

immer bissigeren, lebhafteren, gewaltigeren Sticheleien - - es zähle "zu den<br />

herausragenden Leistungen der Volkswirte, die wirtschaftlichen Modelle durch Prämissen<br />

so zu verfremden, dass sie mit der Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmen. Erstaunlich ist<br />

nur, dass die Makro-Ökonomen ceteris paribus (unter diesen Umständen) selbst an die<br />

luftschlossorientierten Erkenntnisse glauben. Vermutlich heiligt der Zweck die Mittel. Wie<br />

sonst könnte man ganz nach Belieben die Anbieter oder Verbraucher mit vollkommener<br />

Markttransparenz ausstatten, die Produkte ohne Transaktionskosten in <strong>Ein</strong>heit von Zeit<br />

und Raum mit unendlicher Geschwindigkeit substituieren oder alle Marktteilnehmer nach<br />

dem ökonomischen Prinzip handeln lassen, gerade so, als würden Scheinleistung und<br />

Blindleistung in der betrieblichen Praxis keine Rolle spielen. In der Praxis sieht alles<br />

anders aus. Dort handeln Menschen auf der Grundlage unzureichender Informationen<br />

unter dem Druck realitätsfremder Vorgaben, sind ausgestattet mit schlechten<br />

Produktionsmitteln und werden terrorisiert von Nachfragemonopolisten oder<br />

unausstehlichen Chefs". Nicht nur in diesem Beispiel gelingt Berninghaus eine bravouröse<br />

Verknüpfung von Wirtschaftssatire und Wirtschaftswissenschaft. Anfangs fühlt man sich<br />

leicht überrannt von der Ideengewalt in "Kiepenkerls Sicht", zusätzlich schreibt<br />

Berninghaus sehr verdichtet, sein Vokabular lebt von Innovationen, Vorwissen scheint<br />

nötig; kein Leser wird dieses famose Buch in einem Zug durchlesen, Berninghaus ist<br />

inhaltlicher und formaler Artist zugleich. Aber die Lektüre lohnt sich!, Kiepenkerls gut 80<br />

Satiren und Glossen bilden vielleicht das derzeit amüsanteste Wirtschaftsbuch; nicht nur<br />

für BWLer eine viel versprechende Investition.


Bravo!<br />

Martina Bick, "Die Spur der Träume"<br />

März 1927: Nina Norge überdiedelt nach Danzig, um dort als Ärztin in der Praxis ihres<br />

Onkels zu arbeiten. Nina, die, "solange sie zurückdenken konnte, fest entschlossen war,<br />

Ärztin zu werden", war zuvor im Landeskrankenhaus Wien als Assistenzärztin tätig; in<br />

dieser Stadt begegnet sie Sigmund Freud, besucht seine Vorlesungen, liest alles, was er<br />

je veröffentlichte, und "hätte sie das Geld gehabt, wäre sie sofort seine Patientin und<br />

Schülerin geworden". <strong>Ein</strong>mal nimmt sie ihren Mut zusammen, spricht Freud nach<br />

Vorlesung an, er entdeckt in ihr eine begabte Schülerin, und sie lernt dessen Haus und<br />

Familie in der Wiener Berggasse kennen; in Danzig hält sie regen Briefkontakt mit Freud;<br />

dessen Theorie der Psychoanalyse ihr bei ihrem ersten großen "Fall", Almut Levendiek,<br />

hilft. Almut leidet, seitdem ihr Verlobter tödlich vom Pferd stürzte, unter, so lautet Ninas<br />

Diagnose, "Depressionen"; für die Behandlung sieht Nina folgendes vor: "Wir werden<br />

einfach miteinander sprechen. Wir sprechen über Ihre Träume". Kurz, nachdem sich erste<br />

Verbesserungen im Zustand Almuts andeuten, wird Greta, 17 Jahre jung, "das Mädchen<br />

für alles" bei Levendieks, ermordet; unmittelbar verschwindet Almut, und gerät damit unter<br />

Mordverdacht; die Untersuchungen zu diesen beiden Vorfällen bestimmen die zweite<br />

Hälfte des Romans. Dabei werden zwei Personen besonders wichtig: Charlottte, die<br />

jüngere Schwester Almuts, zugleich verschlossen und explosiv, patzig und verträumt,<br />

frühreif und unschludig wie Konfitüre; "hysterisch und frech", wie ihr Vater Gusatv sie<br />

nennt; und Peter Jordan, seit kurzer Zeit "Kriminalkommissar bei der Polizeidirektion des<br />

Freistaates Danzig", der "mit der zukunfstweisenden Aufgabe betraut ist, in Danzig einen<br />

Mordinspektion nach dem Berliner Vorbild aufzubauen". Jordan hat nicht zuletzt seines<br />

Namens wegen mit anschwellendem Antisemitismus zu kämpfen; Nina muss sich als<br />

Ärztin behaupten, denn 1927 war, wenn man das so sagen kann, ein Arzt noch ein Mann;<br />

Jordan nutzt bei der Aufklärung der Fälle neueste kriminalistische Methoden; sie orientiert<br />

sich an den Prämissen des bis heute umstrittenen Sigmund Freud. Nina und Jordan sind<br />

sich bereits im Zug, Strecke Berlin-Danzig, begegnet, und treffen nun als Hausärztin und<br />

Untersuchungsleiter wieder aufeinander; dieser Zufall hat die schönsten Konsequenzen - -<br />

Jordan verliebt sich in Nina ("Er wollte sie heiraten, schlicht und einfach. Jetzt, wo erschon<br />

geglaubt hatte, sie nie mehr zu finden, stand sie plötzlich vor ihm: Die Frau, mit der er<br />

leben wollte"), in Nina erblüht eine große Sehnsucht nach ihm, zögert jedoch, denn "sie<br />

war nicht zum Heiraten geschaffen. Sie liebte ihren Beruf. Was war daran so schlimm?<br />

Anders konnte man ihn vielleicht gar nicht ausüben.". "Die Spur der Träume", ein<br />

exzellenter Kriminalroman samt Liebesgeschichte, Danziger Coleur und, was sonst?,<br />

unerwartetem Ende.


Arbeit mit Klasse<br />

Bertolt Brecht, "Kalendergeschichten"<br />

Wer T sagt, muß auch E sagen: Bertolt Brecht war Theater-dichter und Erzähler.<br />

Hunderttausende Mal verkauften sich seine Kalendergeschichten nach ihrem Erscheinen<br />

1949 (1975 über eine Million Exemplare); sie waren die erste Veröffentlichung des<br />

Nachkriegs-Brecht in Deutschland. Nun legt der Suhrkamp Verlag, in dem Brecht<br />

Hausmacht hat, mit einer Neuauflage nach. 152 Seiten oder 17 Kapitel oder acht<br />

Erzählungen + acht erzählerische Gedichte + 39 „Geschichten vom Herrn Keuner“. Trotz<br />

des enormen Absatzes seiner Kalenderkuriositäten, dürfte jeder Brecht-Laie in ihnen viel<br />

Neues finden, und der Brecht-Kenner wird einmal mehr verblüffen, der reife Brecht ist<br />

gefühlvoll, anregend, rätselhaft, raffiniert, vergnüglich, intelligent!, „geschichtlich“, d. h.<br />

Geschichte korrigierend, mitreißend, präzise, unaufdringlich weise, wahr; kurz: Brecht<br />

prall, und Brecht besser als O. M. Graf oder E. Strittmatter. Den Start nimmt „Der<br />

Augsburger Kreidekreis“, eine fabelhafte Auseinandersetzung mit der Frage, ob die<br />

biologische Mutter mehr Recht auf ihr Kind habe als dessen soziale Mutter. Anschließend<br />

die „Ballade von der Judenhure Marie Sanders“, Zeilen, die inhaltlich herber und<br />

bedrohlicher ausfallen als der Kreidekreis; Brecht ordnete seine Texte „komplementär“<br />

(Nachwort) an, weswegen man sich in die Ballade nicht sofort hineinfindet, man steht<br />

noch als Anna (Kreidekreis), der vermeintlichen Hure, vor dem Richter, während Marie<br />

(Ballade) als „Judenhure“ von spottendem Hitlervolk umjohlt wird. <strong>Ein</strong>er der großen<br />

Brecht-Entdecker unserer Zeit, Jan Knopf, rundet mit seinem Nachwort einen nach wie<br />

vor aktuellen Brecht ab.


Berührung der Unberührbaren<br />

Sabine Büssing, "Die nackte Wahrheit hinterm Notenschlüsselloch "<br />

Quicklebendige 160 Seiten. Sabine Büssing stellt pikante Lebenshinter- und abgründe elf<br />

deutscher Komponisten, von J. S. Bach bis G. Mahler, vor. Zwar frönt die Autorin ihrer<br />

gewaltig klingenden Vorankündigung, „in der folgenden Untersuchung werden wir<br />

Geheimnisse lüften, die transzendentalerer Natur sind: die Mysterien der schicksalhaften<br />

Verknüpfung von Leben und Werk“, doch verpackt sie ihre Texte nicht in Elfenbein,<br />

sondern charmant, kriminalistisch, forschend; wie viel Fisch und wie viel Fleisch war<br />

Schubert, 31jährig, seine letzte Forelle verzehrend? Wieder und wieder lässt Büssing das<br />

Diabolische im Schaffen der Tonkunstmeister aufblitzen, zum Beispiel dichtet sie C. M.<br />

Weber in graziöser Weise einen Geist Samiel an, der in prophetischer Manier zur Seite<br />

steht, sie lässt „Wolfgang Mozart mit zwölf Jahren zum ersten Male das Zeitliche segnen“<br />

und ihn seine letzten 23 Jahre als magnetisierten Pralinennascher durchsausen, Mahler<br />

sei gar kein Mensch, sondern "Gott oder Dämon" gewesen. Büssing gibt in jedem Porträt<br />

„nackte“, peppige, erfundene Wahrheiten drauf; so habe Beethoven sein Leben an „eine<br />

vom vielen Limonadentrinken herrührende Leberzirrhose“ verloren, Schuberts Vita fasst<br />

sie zusammen als „eines echten Gourmets Leidensweg, vom ‚Roten Krebsen’ bis zum<br />

‚Roten Kreuz’“. Der Musikkritiker wird bei diesen und anderen Passagen aufspringen,<br />

Büssing, selbstironisch, beschreibt das; allerdings ist die Autorin Musikkennerin genug,<br />

um zu wissen, wo sie verstellt, d. h. spielt, und wo sie, was sie nicht tut, entfremdet,<br />

überzieht. Büsssing spielt, -weil sie viel weiß; sie stellt Verknüpfungen her zwischen dem<br />

„pyknischem Charakter“ im Körperbau Schuberts und Beethovens und dem „sogenannten<br />

asthenischen Habitus“ Webers; elegant sind unscheinbare Unterscheidungen zwischen<br />

Mozart, dem Halbgott, und Weber, dem Halbmensch; Mahler habe sich bei seinen vielen<br />

Wohnungswechseln in Wien vom unsteten Beethoven inspirieren lassen. sie empfindet<br />

der Musik ihrer Künstler nach, sie verfasst das Heiligenstädter Testament Beethovens<br />

neu, sie „ergänzt“ Webers Freischütz, sie nimmt Teil an der Entstehung der Partitur des<br />

Ungarischen Tanzes Nr.5 Brahms’. Wunderbar bizarre Panorama, vergnüglich, überdreht,<br />

neu.


Philosophie, erzählt<br />

Horst Dreyer, "Geliebter Narr"<br />

Phil, der Philosoph wie -man sich ihn denkt: verwahrlost, Arbeit und Besitz<br />

verabscheuend, mit sich und der Welt mal hoffnungsvoll, mal verzweifelt hadernd,<br />

theorieverliebt, tändelnd zwischen „Körper und Geist“, von guten Geistern verlassen, von<br />

bösen Geistern geplagt, ein ewiger Anfänger; Phil - „Geliebter Narr“ Horst Dreyers. Die<br />

erste Hälfte spielt bis Phils Verschwinden, zum Schluss erfahren wir Details seiner<br />

Biografie.<br />

Horst Dreyer hat hier einen konsequent philosophischen Roman geschrieben, d. h. zum<br />

Beispiel: „Und weil ich so bin, wie ich nun mal bin, und weil ich finde, der liebe Gott werde<br />

sich bei meiner Erschaffung schon was gedacht haben, sage ich immer nur, was ich<br />

denke, dass es die Wahrheit ist – und was es in den meisten Fällen ja auch tatsächlich ist<br />

-, und weil ich glaube, das gehe total in Ordnung, wofür ich eigentlich gelobt werden<br />

müsste, was aber leider nie geschieht.“, sagt sich Gabriele (…sie „erzählt“ dieses Buch),<br />

15jährig, die, als einzige Freundin Phils, dafür sorgt, dass er nicht verhungert, nicht<br />

erfriert, nicht von zu viel Denkerei erdrückt wird. Konsequent philosophisch, für -Handlung<br />

bleibt kein Platz, entweder wird Gabriele von Phil und Fred, einem zweiten Philosophen,<br />

von der Schule abgeholt, oder sie trifft beide auf dem Marktplatz, oder sie nimmt den Weg<br />

zum Forsthaus, wo sie Phil eine Unterkunft beschafft hat.<br />

Bis ins kleinste wird Kleines auf große Zusammenhänge untersucht, dabei entsteht ein<br />

Geben und Nehmen von Sentenzen. Dreyer zieht seine philosophische Welt also „voll<br />

durch“, nächstes Beispiel: „Nun ist aber nichts von Dauer, auf Erden nicht: Auf jede<br />

mondkalte Nacht folgt ein sonnenwarmer Tag. Wobei meinem Freunde Phil an so einem<br />

sonnenwarmen Tage mitunter sogar zwei Sonnen aufgingen -hatte ich ‚Sonne’ gerade<br />

mal einen guten Tag erwischt-, und das machte ihn dann doppelt warm, auf dem Rücken<br />

wie im Herzen. Bescheidenerweise sah ich mich dabei viele Millionen mal kleiner als das<br />

Tagesgestirn, aber dennoch mit der gleichen Wirkung, was ich mir auch für diesen Tag<br />

erhofft hatte, ohne jedoch so recht davon überzeugt zu sein; denn ich hatte was auf dem<br />

Herzen, auf dem Herzen und im Körbchen.“. Alle, die bei der Lektüre einen handfesten<br />

Inhalt verlangen, dürfte „Geliebter Narr“ nicht ansprechen. <strong>Ein</strong>e charmante „Erzählung“ ist<br />

es trotzdem, außerdem nicht wenig spannend: erst auf den letzten Seiten klärt sich Phils<br />

Verschwinden auf, kurz vorher werden wir über seine nebulöse Herkunft aufgeklärt, und<br />

woher Gabriele das Geld nimmt, mit welchem sie Phil stützt, erfahren wir auch. Weil<br />

dieses Buch, auf eine leicht daherkommende Weise, auf viele Fragen (Bin ich schön?, Bin<br />

ich klug?, Warum nutzen manche Menschen andere Menschen aus?, Was ist Bildung?,<br />

Wozu gibt’s Besitz?, Haben Tiere eine Seele?), die sich ein 7 bis 12jähriger stellt, viele<br />

Antworten gibt, halte ich es für die fragedurstigen 7 bis 12jährigen gut geeignet.


Empfehlung<br />

Jakob Arjouni, „Hausaufgaben“<br />

Hinter dem spröden Titel des neuesten Werks Arjounis verstecken sich drei hoch<br />

populäre Themen: der (Schul)Lehrer als Pädagoge, der Umgang der Deutschen mit dem<br />

Dritten Reich, und, Achtung!, Pädophilie. Protagonist Joachim Linde ("könnte auch leicht<br />

als Mitte 30 durchgehen") unterrichtet am Schiller-Gymnasium in Reichenheim<br />

(..."Provinz"). Das ist auch alles zum Thema Idylle - Kleinstadt - Familiensegen. Zustand<br />

von Lindes Ehe: seit Jahren zerrüttet; die Frau "siecht depressiv dahin", heißt es von ihm;<br />

sie sagt über ihn, er "wäre gerne ein ewig junger rumbatanzender Draufgänger".<br />

Zerrüttung, Entfremdung, Ablehnung. Was ist passiert? Linde soll, und um diesen<br />

ungeklärten Vorwurf drehen sich drei Viertel der Geschichte, versucht haben, sich an der<br />

gemeinsamen Tochter Martina zu vergehen ("und seitdem glaubt meine Familie offenbar,<br />

ich sei pervers oder so was"). Und nicht nur seiner Tochter, auch Schülerinnen gegenüber<br />

scheint er nicht abgeneigt, was gleich im ersten Kapitel deutlich gemacht wird.<br />

Bedrückende Frage: Hat er sich schuldig gemacht? Falls ja, kommt ein weiteres<br />

Engagement als Lehrer in Frage? Falls nein, findet die Familie wieder zusammen? Der<br />

Roman selbst spielt in nur drei Tagen, an nur zwei Schauplätzen (Schule - Haus und Heim<br />

- Schule). Die novellistische Grundstimmung wird verstärkt dadurch, daß Auslöser der<br />

Katastrophenkette (unter anderem wird Linde von seiner Frau verlassen, seinem Sohn<br />

verprügelt, und als "antisemtischer Scheißer!" beschimpft) eine harmlose Diskussion<br />

seines Deutsch-Oberstufenkurses ist: wie wirkt sich das Dritte Reich auf das Leben der<br />

Deutschen heute aus? Die Diskussion eskaliert, ein Schüler wünscht einem anderen<br />

Schüler die Vergasung seiner Großeltern. Brüskiert ordnet Linde eine Konferenz zur<br />

Klärung dieser "Ungeheuerlichkeit" in drei Tagen an, und ahnt nicht, daß zu diesem<br />

Zeitpunkt seine eigene "Ungeheuerlichkeiten" ans Licht treten; das Thema der Konferenz<br />

wird schließlich er selbst sein. Die besonders dichte Atmosphäre, die sehr elegante<br />

Beantwortung der Dritte-Reich-Frage, und die schörkellose Sprache in Arjounis<br />

"Hausaufgaben" lassen nichts zu als: zweistündiges Lesefieber. Prima!


Himmlisch schlecht<br />

Hans Magnus Enzensberger, „Die Geschichte der Wolken“<br />

99 Gedichte fassen Hans Magnus Enzensbergers „Meditationen“ zusammen. Zwei, drei<br />

gute Gedichte findet man, „Kleiner Abgesang auf die Mobilität“ zum Beispiel, wo es<br />

innerhalb weniger Zeilen von Bogota über Turin nach Helsinki geht, bis das Gedicht unter<br />

einem Birnenbaum zur Ruhe kommt. Oder „Die Geschichte der Wolken“, was allerdings<br />

an dessen Ähnlichkeit mit der Lyrik des frühen Brechts liegt. Mehr Entdeckungen gibt’s<br />

nicht, der Auftrieb beim Lesen bleibt gering, Altes und Bekanntes in altersmilder, schaler<br />

Schale. In seiner „Motivationsdichtung“ zählt der Dichter Enzensberger 14 wenig originelle<br />

Gründe auf, warum „mir nichts anderes übrig bleibt, als Euch umzubringen“. „Der<br />

gemütliche Abend“, Zeilen, in denen der Protagonist „Endlich Ruhe!“ stöhnt, und sich Gogo-Girls,<br />

WC-Reiniger, Massaker, Fernseher zu einem missglückten Irgendwas fügen.<br />

„Arbeitsteilung“, nichts als Boulevard-Poetismus; „Vor dem Techno und danach“, ein<br />

banal-halbherziger Versuch, „im tauben Ohr unserer Kinder“ den „Herrn Eichendorff“<br />

wachzurütteln, für jenes „Unbekanntes, das früher Wehmut hieß“; „Je nachdem“, ein<br />

Loblied auf das „Mittelmaß“, ein Gedicht, sicherlich ironisch angelegt, aber dilletant<br />

ausgearbeitet. In „Die Knöpfe“ habe ich mich gar nicht finden können, erzählt da eine<br />

Schneiderin, ein Frauenarzt oder eine Reinigungskraft? Enzensberger hat es nicht<br />

unterlassen, seine Gedichte intellektuell einzufetten. In der „Kleinen Theodizee“ steht ein<br />

„Jetzt seid Ihr beleidigt, nur weil Gott gähnt und von Euch absieht.“; wer möchte wissen,<br />

dass „Gott gähnt“, wer will hören, Gott sehe von uns ab, und wozu diese ewige Koketterie<br />

mit einem ewig sterbenden Gott? Die weiteren Themen: Sprachbarrieren oder Sprache<br />

als zwischenmenschliche Barriere, Krieg und Frieden,Vergänglichkeit, Liebe, Evolution,<br />

Astronomie, Theologie. Unterteilt ist das Buch in 6 Kapitel, allerdings sticht nur das letzte,<br />

„Die Geschichte der Wolken“, ein Ur-Abgesang auf die voluminösen Wasserkörper, ab.<br />

<strong>Ein</strong>ziger Trost nach der Lektüre: die Gewißheit, daß Enzensberger anders und besser<br />

kann; wenn er auch, so scheint es, nicht mehr will.


Schräg und sonnig<br />

Nick Evans, "VIP - very impertinent people"<br />

Vielleicht beschreibt man dieses Buch am besten, indem man diejenigen aufzählt, für die<br />

es geschrieben zu sein scheint. Nick Evans „VIP“ also eignet sich für Menschen, die es<br />

erzählerisch so mögen: „Die Bar war kalt und düster und stank nach Tod. Aber Jim fühlte<br />

sich hier wohl, weil der Wirt, Moe, einer von diesen Typen war, die auch mal eine Auge<br />

zudrückten, wenn man nicht genug Geld dabei hatte.“; es eignet sich für diejenigen, die<br />

wissen möchten, wie „verdorrte Pussies am Pinkeln gehalten“ werden, „die mexikanische<br />

Nationalhymne in C-Dur zu rülpsen“, und wie man einem 60jährigen, dessen „Teil seine<br />

besten Zeiten schon hinter sich hat“ zu „einer phantastischen Zunge“ verhilft; es eignet<br />

sich für Leute, die über impertinence today (= Bosheit(en) (von) heute) behelligt werden<br />

möchten; es eignet sich für Leser, denen folgenden Namen nicht überdrüssig werden:<br />

Nick, Sally, Luke, Lenny, Jenny, Al, George, Ned, Ray, Mike; es eignet sich für alle<br />

Sofafletzer, alle Freunde kurzer, herber Krimis, für alle Fans der „Streets of San<br />

Francisco“, für alle Liebhaber ratternder, dröhnender, brummiger Vehikel, für alle<br />

Pokerspieler, für alle Box-, Gangster-, unhappy-end-Filmfans; es eignet sich für Freunde<br />

des verfassten Wortes, die am Ende ihrer Lektüre Umwälzendes erwarten, Leser, die sich<br />

von einer dezent unheitlichen Sprache nicht abhalten lassen, Leser, die zum Schluss<br />

eines literarischen Werkes sagen können „Das war aber stark!“.


Erstaunlich menschlich<br />

Theodor Fontane, „Mathilde Möhring“<br />

Spät, 1969 gelingt die erste authentische Veröffentlichung von Theodor Fontanes<br />

„Mathilde Möhring“. Nun legt der dtv-Verlag mit einer 158seitigen Neuauflage nach, die<br />

Hintergründe zum Text bietet, leserfreundlich gestaltet und außerdem preiswert ist.<br />

Mathilde, „quick, findig, praktisch“, vermietet Hugo, dessen 1. Staatsexamen ansteht, in<br />

ihrer Berliner Wohnung ein Zimmer. Der Vater Mathildes verstarb vor Jahren, und da die<br />

Mutter halb krank, halb siech liegt, braucht es Geld. Fontane stellt die Protagonisten<br />

Mathilde und Hugo unausweichlich in den Mittelpunkt, die Verlobung und Heirat der<br />

beiden, die Ernennung Hugos zum „Burgemeister“, schließlich sein plötzlicher Tod sind so<br />

überraschend wie lakonisch wie selbstverständlich geschrieben. Mathilde, 23jährig,<br />

seltsam kühl, alles und jeden berechnend, unschön („ein Gemmengesicht“, „Blechblick“),<br />

herb, nicht verführerisch, und Hugo, wenig strebsamer Oberbürgermeisteraspirant, hin<br />

und her geworfen zwischen juristischer, d. h. anerkannter, und literarischer (besonders<br />

Lenau, Schiller und Lessing), d. h. chaotischer, Neigung, bequem, „ein eigentlich sehr<br />

hübscher Mensch“, „ein weiches Herz“, „ein ästhetisch fühlender Mensch mit einer<br />

latenten Dichtkraft ausgerüstet“: diese beiden geben ein unvergleichlich menschelndes<br />

Paar ab. Nicht verzichtet hat Fontane in diesem Roman auf ironisierende Momente;<br />

ebenso wenig auf das 1880’er-Berlin-Vokabular; Sozialkritisches klingt an, wenn die Rede<br />

auf die Aussichten des jungen Paares kommt, Mathilde habe „auf ihren Geburtsstolz<br />

verzichtet“, heißt sie ist keine geborene „Burgemeister“, und Hugo ist<br />

„Burgemeisterssohn“. Dieser Fontane ist ein echter Fontane, mit abgründig liebevollen<br />

Charakteren, mit zwingender Unbefangenheit geschrieben, und mit einer latent<br />

kriminalistischen Stimmung angefüllt. Erstaunlich fand ich besonders die pädagogische<br />

Verwegenheit Mathildes Hugo gegenüber, in diesem Erziehen-Müssen-des-Ehemannes<br />

wird sich die eine oder andere Leserin wieder entdecken.


Alles drin<br />

W. R. Frieling, "Wörterbuch der Verlagssprache"<br />

Bereits in der vierten Auflage erscheint „der aktuelle Führer durch das Fachchinesisch der<br />

Verleger, Redakteure und Drucker“. Sein Verfasser W. R. Frieling, erfolgreicher Verleger<br />

in Berlin, weiß, wovon er schreibt, das Lexikon schöpft aus langjähriger journalistischer<br />

und editorischer Praxis. Mit aufgenommen werden diesmal „nützliche Begriffe<br />

angrenzender Fachsprachen aus der Welt der Sprachwissenschaftler und Journalisten,<br />

der Computerexperten, Grafiker, Drucker, Buchbinder und Werbeleute“, so das Vorwort;<br />

zum Beispiel sind im Anhang die wichtigsten Internet-Akronyme und Internet-Smileys<br />

aufgelistet. Frieling fasst sich in seinen Begriffserläuterungen kurz, klar, kopf-un-lastig,<br />

Besseres kann ein Lexikon nicht bieten; das „Copyright“ erklärt er in drei, „Farbe“ in vier,<br />

„Papierformate“ in zwei Sätzen. Interesse wird dieses Buch auch beim Verlags-<br />

Redaktions-Laien wecken, denn dem alltäglichen Delirium im Medienvokabular folgt es<br />

nicht, will es nicht folgen, von @ bis Zyklus bleibt es kompetent, fassbar, nützlich. Frielings<br />

Wörterbuch: ein Wissensschaffer, -tester, -wisser.


Staubfrei<br />

Rolf Fuchs, "Zitate ohne Tabus"<br />

<strong>Ein</strong>e Zitatensammlung, oder wenn ein Spruch Goethes, eine Erbaulichkeit aus der Bibel,<br />

und einige indische, griechische, französische Weisheiten zu tausend Seiten<br />

Kopfschwindeln werden. Rolf Fuchs, ein Österreicher, hat es besser, d. h. unterhaltsamer<br />

gemacht. Auf knapp 1000 Seiten versammelt er den „größten und aktuellsten provokanten<br />

Zitatenschatz“, „Zitate ohne Tabus“ betitelt, was sogleich die Aufgabe nennt, der sich der<br />

Herausgeber stellt. Anders als in anderen Sprüchesammlungen verzichtet Fuchs auf<br />

seichte, versandete, stumpf gewordene Denkkünsteleien („Philosophen habe ich nur<br />

zitiert, soweit ihre Äußerungen nicht in einer unverständlichen Geheimsprache verfasst<br />

sind“, Vorwort), er möchte nicht nur Kluges und Gutes vermitteln, sondern mit<br />

Stacheligem, Witzigem und Schnurrigem aufwecken. Neben Oscar Wilde viel Nietzsche,<br />

Kraus und Ebner-Eschenbach, S. J. Lec, auch Goethe, und viele kleine Große wie<br />

Gerhard Roth, Werner Schneyder, <strong>Paul</strong> Feierabend, E. M. Cioran, Gösta Maier und Rolf<br />

Fuchs, der in seinem Sprüchebuch sein eigenes Sprüchegut neu editiert. Jeder Leser wird<br />

bei der Lektüre etwas für sich entdecken, sei es etwas Nachdenken, oder eine lange<br />

gesuchte Formulierung, oder einen neuen Lieblingsautor. Die „Zitate ohne Tabus“ lassen<br />

sich zwar schwer durch die Gegend herumtragen, trotzdem bieten sie in jeder Lebenslage<br />

Antworten, Fuchs hat exzellent ausgewählt, fern aller Ideologie und allem<br />

Übermenschlichem.


Nette Aufmachung vs. öder Text<br />

Nikolaj Gogol, "Die Nase"<br />

In Nikolaj Gogols "Die Nase" findet der Barbier Ivan Jakovlevic in seinem Frühstücksbrot<br />

die Nase eines seiner Kunden, des Kollegienassessor Kovalev ("<strong>Ein</strong> außerordentlich<br />

merkwürdiger Vorfall"), "es war eine Nase, eine richtige Nase! und noch dazu, wie ihm<br />

schien, eine bekannte Nase". Um allen Konflikten zu entgehen, wirft er die Nase in die<br />

Neva. Kovalev hat sich inzwischen auf die panische Suche nach seiner Nase begeben,<br />

die sich unerklärlicherweise zu einem Staatsrat gemausert hat. Beide begegnen sich, und<br />

das gilt als eine der Höhepunkte dieser seltsamen Geschichte, in der Kazaner Kathedrale,<br />

die sprechende Nase in Uniform, Kovalev sprachlos, "'Sie sind doch meine eigene Nase!'<br />

Die Nase musterte den Major und runzelte die Brauen. 'Sie irren, sehr geehrter Herr. Ich<br />

bin mir selbst genug. Außerdem kann es zwischen uns keinerlei engere Beziehungen<br />

geben. Nach den Knöpfen Ihrer Vizeuniform zu urteilen, müssen Sie in einem anderen<br />

Departement dienen.'" Der eigentliche Höhepunkt der Erzählung ist sicher der Moment, in<br />

dem Kowaljow im Spiegel den Verlust seiner Nase bemerkt, "die Nase fehlte!".<br />

Diese dreizehnte <strong>Ein</strong>deutschung des Goglschen Werkes bietet neben munteren<br />

Illustrationen (Aquarell und Radierungen von Horst Hussel) einen umfangreichen<br />

Kommentar über Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der "Nase", außerdem bislang<br />

nicht übersetzte Entwürfe und das Vorwort der Erstveröffentlichung. Die Aufmachung des<br />

Buches ist seine Stärke; die angeblich groteske Satirik des Textes entpuppt sich als<br />

Gefasel.


Erschüttert, aber nicht zu erschüttern<br />

Lea Goldberg, "Briefe von einer imaginären Reise"<br />

Die 24jährige Ruth nimmt 1934 Reißaus vor einer Liebe, die sie unglücklich macht; "dem<br />

Mann, den sie mehr liebt als er sie", Immanuel, schreibt sie Briefe, die auf einer, wie<br />

schnell klar wird, imaginären Reise entstehen. Die Reisestationen einer Fahrt, die in<br />

Wirklichkeit nach Palästina führt, sind: Berlin, Köln, Brüssel, Brügge, Ostende, Paris und<br />

Marseille; die kulturelle Bedeutung dieser Metropolen nutzt Lea Goldberg, die Autorin,<br />

meisterhaft aus: die Protagonistin Ruth äußert sich blitzgescheit, mit einem Schuß<br />

Melancholie, über Geschichte, Literatur, Musik, politische Verhältnisse des damals<br />

erkrankenden Herzens Europas; immer behält sie vor Augen, worüber sie berichtet,<br />

besonderes in Paris taucht sie noch einmal ein in die rauschende Kunst- und Künstlerwelt.<br />

Allerdings: die nationalen Eitelkeiten, kurz vor Ausbruch der modernen Katastrophe 1933,<br />

schwellen in grausamen Wechselspiel mit den Armeeindustrien Europas an; zunehmende<br />

allgemeine Ablehnung, Befremdung, Verneinung, besonders ihrer jüdischen Herkunft<br />

wegen, stoßen ihr entgegen, lassen sie ihre Wurzeln verlieren, nach Liebe suchen, nach<br />

Heimat dürsten; Immanuel, der mit wenig Gegenliebe Geliebte, ist, kann ihr keine Hilfe<br />

sein - Ruth schreibt, und sie lebt für ihr Schreiben. Fremdheit macht sich breit in ihr,<br />

Fremdheit sich selbst, bisher Geglaubtem und Gelebtem gegenüber; das unvergleichlich<br />

schöne Dasein im goldenen, wenn auch selbstverliebtem, 20er-Jahre-Berlin scheint<br />

verloren, "ich gehe hier weg als Fremde, und es gibt nichts, wonach man sich<br />

zurücksehnen könnte".<br />

"Briefe einer imaginären Reise", ein literarisches Tandem über tiefste Gewißheit und<br />

exentiellste Angst, liegt hier erstmals in einer deutschen Übersetzung vor.


Schnalzer beim Walzer<br />

Günter Grass, "Letzte Tänze"<br />

Grass` eigentlichstes Metier ist bekanntlich der Roman; deswegen und weil nicht alle<br />

Gedichte seines neuesten Gedichtebandes "Letzte Tänze" geglückt sind, eignet sich<br />

dieses Buch für Grassliebhaber und für jene, die auf Gedichte, die an die Brillanz der<br />

1956er "Die Vorzüge der Windhühner" nicht anknüpfen, nicht verzichten wollen.<br />

Dieses Buch kostet, für den Umfang, den es bietet, ein kleines Vermögen; dafür erhält<br />

man neben Grasscher Dicht- Grassche Bildkunst - - ekstatisch tanzende, wild ineinander<br />

verschlungene, sich erschöpfende, kopulierende Paare, die etwas komisch Halbtotes an<br />

sich haben, Cicrcus spielen, mit dem Kopf unter Arm Purzelbäume schlagen; vielleicht<br />

muß man das mögen, mich langweilte es. Nicht überzeugt hat mich die orangene<br />

<strong>Ein</strong>färbung der "Liebesgedichte", das entspricht weißen Buchstaben in einem Gedicht<br />

über Wolken.<br />

In seinen "letzten Tänzen" hat Grass sich bemüht, sexuelle Kleinstbegebenheiten<br />

prägnant zu verkürzen; auf eine einheitliche Form hat Grass wie in seinen anderen<br />

Gedichtbänden verzichtet; ähnlich früheren Werken fällt die Wahl einiger Motive aus:<br />

Tanz, Hund, Schwan, Schnee, Pilze. Vieles habe ich in diesem 96seitigen Werk nicht<br />

verstanden, z. B. die "breitbeinige" Maria in "Lästerlich", einem Gedicht, welches auf<br />

Grass' "katholische Herkunft" anspielt. Insgesamt bleibt zu hoffen, dass dies weder Grass'<br />

letzte Tänze noch seine letzten Gedichte sind.


Mutig und ehrlich<br />

Maarten`t Hart, "Gott fährt Fahrrad"<br />

Maarten`t Hart ist ein ausgezeichneter Autor, und "Gott fährt Fahrrad" eines seiner<br />

besten, vielleicht sein persönlichstes Buch. In ihm würdigt er seinen verstorbenen Vater.<br />

In berührenden, nahezu zerfließenden Worten wird der Kindheit und Jugend Maartens<br />

gedacht, immer in Hinblick auf die existenzielle Angst über den baldigen Verlust des<br />

Vaters. Der Vater, "Grabmacher" von Maassluis, wird mal mürrisch, boshaft,<br />

schonungslos, mal verständnisvoll, mal zärtlich und eigensinnig, mal verspielt und<br />

wiederum wortkarg, klotzig, dumpf, in sich gekehrt, als "ein so humorvoller, fröhlicher Kerl,<br />

der noch so verflixt jung aussieht, man würde ihn auf Ende Fünfzig schätzen", dargestellt.<br />

Schon im ersten Kapitel wird klar, dass es sich hier nicht um einen besonders<br />

"wunderlichen Vater", sondern um "die wunderliche Welt meines Vaters" dreht. Ihre<br />

liebenswert düstere Atmosphäre beziehen die zwölf Kapitel des Romans aus der Fülle an<br />

Todesantizipationen; allein der Beruf des Vaters gibt da viel her; Maarten, der als einziger<br />

der Familie über das unabwendbare Ende des Vaters unterrichtet ist, stellt sich in immer<br />

beklemmenderen Ausmaß die Frage, ob er diejenigen, die er so sehr liebt, einweihen soll<br />

oder nicht, "tat ich wirklich gut daran, ihm nicht zu sagen, was ihn erwartete? Hatte man<br />

kein Recht darauf zu wissen, was los war? Würde ich selbst es wissen wollen, wenn<br />

meine Ende nahte?"; wieder und wieder machen sich Verzweiflung ("Solange ich es für<br />

mich behalten mußte, war es nicht sein, sondern mein Tod"), Fragen nach Glaube und<br />

Bestimmung ("Wenn er starb, gab es die einzige Person nicht mehr, die zwischen mir und<br />

dem Tod stand"), das Bewußtsein eigener Ohnmacht breit. Doch ist dieser Roman kein<br />

Klagelied; er hat zweifellos seine melodramatischen sowie fast melancholischen<br />

Momente, aber das verwechsele man nicht mit Gefühlsduselei. Maarten schreibt ehrlich,<br />

fern jeglichen Affekt; der virtuosen Beschreibung seiner niederländischen Heimat räumt er<br />

viel Platz ein; die fruchtbare Beschäftigung des Protagonisten mit Musik (Bach, Mozart, R.<br />

Strauss) und Literatur (Obe Postma, J. C. Bloem, Matthias Claudius, Annette von Droste-<br />

Hülshoff, Dickens) ist Hart, wie in anderen seiner Bücher, exzellent gelungen.


Lichtbringer<br />

André Heller, "Schattentaucher"<br />

In André Hellers „Schattentaucher“ verfolgt man in blitzartigen, kurz fackelnden<br />

Aufnahmen die Existenz des Komponisten („Klavierstimmer, eigentlich Komponist“)<br />

<strong>Ferdinand</strong> Alt. Mit hoher Sensibilität ausgestattet, intelligent, interessiert, offenbart er 61<br />

Momente seines mit Momenten gefüllten Lebens. Alt verliert sich auf hinreißende Weise<br />

an die unverbindlichsten Begebenheiten; und dieses Zerrinnen ins verschwindend Zarte<br />

verleiht ihm neue Schaffenskraft. Umgekehrt verlieren sich fast alle Figuren an Alt, das<br />

Ganze ist, wenn man so will, ein fesselndes Voneinander-Zueinander Wiener Originale.<br />

In der ersten Erzählung bietet ein Bekannter Alts verstorbenen Vaters „tausend Schilling<br />

die Stunde, wenn sie manchmal zuhören.“ – „Wie kommen Sie denn darauf?“, fragt<br />

<strong>Ferdinand</strong>, - „Weil es soweit ist.“ – „Wie weit?“ – „Soweit, dass ich einsam bin.“. Die<br />

bedrohlich bis erfreulich scheinende Verwobenheit zwischen Traum und Gefühl gibt den<br />

jeweils ein- bis zwei Seiten zählenden Erzählungen etwas märchenhaft Kafkaeskes; z. B.<br />

in seinem 24. Bild berichtet <strong>Ferdinand</strong> über die Wiener Stallungen der Spanischen<br />

Hofreitschule; der Anblick der Lipizzaner lässt ihn dort bis zum Morgengrauen ausharren,<br />

lässt, nachdem „das Komponieren aufs Trostloseste misslang und die Ablenkungen ihn<br />

nicht abzulenken vermochten“, ihn aufs Neue Schöpfer sein. Nicht nur da steht ein<br />

prächtiges, umfeiertes Wien im Mittelpunkt, vergegenständlicht dessen Architektur,<br />

Atmosphäre, Atem, besonders die legendären Cafehäuser haben es Alt („sein<br />

Stammtisch im Café Stern“) angetan. <strong>Ein</strong>ige der fünf dutzend Schattentaucher Miniaturen<br />

wurden mir schon beim ersten Lesen unvergesslich, und die übrigen sind nicht weniger<br />

schön; Heiterkeit und Melancholie, Traurigkeit und Vergnügen, Charme und Rohheit,<br />

Lebensfreude und Lebensabschied geben sich 61mal wie selbstverständlich das Wort.


Gekünstelt<br />

Alexa Hennig von Lange, "Woher ich komme"<br />

Zum einen nutzt Alexa Hennig von Lange in, ihrem inzwischen vierten Roman, „Woher ich<br />

komme“, betont plastische Sätze („Meine Mutter sitzt vor dem Kuhstall, beißt auf der<br />

Hornhaut ihres Daumens herum.“ – „Nach dem Essen mäht Papa unseren Rasen. Kräftig<br />

muss er sich gegen die hellgrüne Nähmaschine stemmen, damit sich die verrostete<br />

Trommel mit den scharfen Klingen über den unebenen Boden bewegt.“-„Wenn sie im Bett<br />

lagen, mein Bruder schlief, ging ich raus auf die Veranda, riss mir manchmal einen Splitter<br />

ein, das Holz war roh, der Himmel über dem Meer sehr hell.“.). Zum anderen hält von<br />

Lange die Stimmung und das Ziel des Romans vage; das erreicht sie über ein Splitting<br />

des Geschehens in vier Ebenen. Diese „Verebnung“ (Zeit- und Raumsprünge) entpuppt<br />

sich allerdings als Kunstgriff. Langes Roman fehlt die Substanz, um in vier Sphären<br />

wirken zu können. In „Woher ich komme“ versucht die 30jährige Ich-Erzählerin, sich über<br />

ihre Vergangenheit klar zu werden; Vergangenheit, das war und ist in ihrem Fall Familie,<br />

und da die Mutter („Es gibt kein festes Bild von meiner Mutter, das immer wieder aus der<br />

Erinnerung auftaucht. Es sind eher Körperpartien, die ich sehr genau vor Augen habe.“)<br />

und der um Jahre jüngere Bruder („Ich war süchtig danach, ihn anzufassen. ‚Komm her’.<br />

Seine weiche, duftende Haut. Mein Bruder. Ich hätte ihn immer umarmen, immer fassen,<br />

fangen mögen, um ihn am mich zu drücken. Genauso ging es meiner Mutter.“) bei einem<br />

Unglück im Watt („…und plötzlich füllten sich die Priele…Mein Vater kam allein zurück.“)<br />

ums Leben kamen, bleibt ihr nur ihr Vater; der allerdings „sieht müde aus…der Ehering<br />

scheint viel zu eng“, er wirkt abgelebt, ratlos, im Stillstand, verstummt, weit weg, ein erster<br />

Dialog über die Geschehnisse vor einem viertel Jahrhundert will nicht aufkommen. Die<br />

gemeinsame Fahrt im Auto samt Ankunft im Ferienhaus ist geprägt von gegenseitiger<br />

Hilflosigkeit; die Tochter, d. h. die Ich-Erzählerin, fühlt sehr viele Fragen in sich, sogleich<br />

merkt sie, ihr Vater ist nicht mehr der Vater von damals; Ungewissheiten bestehen weiter.<br />

Dieses mit-ihren-Fragen-alleine-bleiben bei parallelem Erinnerungsstrom bildet eines der<br />

nostalgischen Momente im Roman. Andere Momente folgen folgenden Themen:<br />

Schlachten von Schafen, die erste Schulstunde, Autogenes Training, Tschernobyl,<br />

Pädophilie.<br />

Ich war etwas verwirrt bei der Lektüre, denn in „Woher ich komme“ treffen schlichtes<br />

Thema und schwer nachvollziehbare Aufmachung aufeinander. Unglücklich machte mich<br />

auch das verzweifelte Fährten-Legen von Langes, z. B. „ sie hatte viele Sommersprossen,<br />

im Gesicht und auf den Armen“. Von Langes Roman ist in autobiografischen Ton gefasst,<br />

ja; mit seiner Autorin hat er nichts zu tun, nein. Zwar bietet die Lektüre Unterhaltsames,<br />

aber nichts Nachhaltiges; nach dem Buch ist vor dem Buch.


Irre und besoffen<br />

E. T. A. Hoffmann, "Prinzessin Brambilla"<br />

Entfesselt, explosiv, eskapadenreich - Hoffmanns Erzählung steckt voll schriller Possen;<br />

Kapitelüberschriften wie "Von der nützlichen Erfindung des Schlafs und des Traums",<br />

"Freimaurerei eines Mädchens und neu erfundener Flugapparat" und "Wie jemand eines<br />

Augenübels halber verkehrt sah, sein Land verlor und nicht spazieren ging" halten, was<br />

sie versprechen. Den Rahmen bilden zum einen Schauspiel, Karneval, Lust, Putz und<br />

Tand, Liebe, Verkennung, Traum, zum anderen zwei Liebespaare, die sich längst lieb<br />

gewonnen, aber noch so manche Hoffmannsche Verwirrung durchzustehen haben, bevor<br />

sie beglückt und in aller Ruhe aufatmen. Der mäßig talentierte Schauspieler Giglio,<br />

selbstherrlich, mehr affektiert als liebenswürdig, und die kokette Giacinta, "das holde<br />

hübsche Kind" werden erst am Ende dieser turbulenten Geschichte klug aus sich,<br />

erkennen, dass sie nicht in die kuriose Prinzessin Brambilla ("aus dem fernen Äthiopien,<br />

ein Wunder an Schönheit und dabei so reich an unermesslichen Schätzen, dass sie ohne<br />

Beschwerde den ganzen Korso pflastern lassen könnte, mit den herrlichen Diamanten<br />

und Brillanten") bzw. den Prinzen Cornelio, sondern ineinander verguckt sind. "Prinzessin<br />

Brambilla", zu sehr Capriccio für ein Märchen, zu verstrickt, um bloße Romantik zu sein,<br />

zu schwindelerregend, um „hier einen recht verständigen Verstand zu behalten“.


Rasend gut<br />

Wolfgang Hohensee, "Getroffen. Ultrakurzgeschichten."<br />

Für die Freunde minimalistischer Erzählkunst ist dieser Band ein Muss: Wolfgang<br />

Hohensee lässt aufhorchen, knapp tausendmal auf 190 Seiten. Nie länger als 7 Zeilen,<br />

verstehen es seine „Ultrakurzgeschichten“ den Leser über die Angelegenheiten Ehe,<br />

Arbeitsleben, Aus- und Ansehen etc. neu nachdenken zu lassen; nein, das stimmt nicht,<br />

Hohensees <strong>Ein</strong>blicke sind teils derart gescheit, dass man sich das Nachdenken (teils)<br />

ohne Bedenken schenken kann; dabei geht er nicht einmal betont nachdenklich und<br />

großartig gehoben vor, denkbar einfach sind seine Bilder, Beispiel (Titel „Reinfall“): „Sie<br />

heiratete, um ein Kind zu bekommen. Ihr Mann war arbeitsscheu und wurde Hausmann.<br />

Als sie geschieden wurden, wollte die Tochter beim Vater bleiben.“. Also unerhört schlicht<br />

die Szene, anspruchslos hintergründig die Aussage, Schicksale mikroskopisch verdichtet.<br />

Schlau bis auf-den-Kopf-gefallen, tragisch bis unverbindlich, fröhlich bis unglücklich geht<br />

es zu im diesem Buch, „Er fühlte sich zum Künstler berufen. Doch wurde er nur Lehrer.<br />

Seinen Frust vermittelte er großzügig.“ (Titel: „Keine Kunst“). Hohensee hängt keiner<br />

soziologischen oder politischen Schule (…kann man das schreiben?) an, man lese das<br />

allererste Bonmot (Titel: „Motto“): „Die Ehe ist – genau wie der Sozialismus – eine schöne<br />

Sache. Aber die Menschen sind leider nicht dafür geschaffen.“; wer wüßte hier zu sagen,<br />

ob der Autor Sozialismus-freundlich / -unfreundlich, Ehe-feind / -Verfechter ist? Die<br />

Sprache steigert sich stellenweise ins subtilere Höhen („Ohne ihn ging es nicht. Jedenfalls<br />

nicht ganz so gut. Erst einmal.“; Titel: „Unersetzlich“), auch seine Verfremdungen gängiger<br />

Redewendungen sind geglückt, viele der Texte eignen sich für größere Erzählungen, was<br />

zum Beispiel liesse sich aus einem „Jahrelang verehrte er eine Frau, ohne es ihr zu<br />

sagen. Als sie einen anderen heiratete, war er IHR gram, nicht sich“ (Titel: „Der<br />

Schüchterne“) schreibend alles machen! Hohensees „Ultrakurzgeschichten“ halte ich für<br />

einen literarischen Geheimtip.


Der kleine Kästner<br />

Erich Kästner, „Als ich ein kleiner Junge war“<br />

„Ich wollte erzählen, wie ein kleiner Junge vor einem halben Jahrhundert gelebt hat“, so<br />

Erich Kästner über seine 1957 erschienene autobiografische Erzählung „Als ich ein kleiner<br />

Junge war“. Kästners Kindheit heißt vor allem Dresden, „eine wunderbare Stadt“.<br />

Detailreich geschildert wird der Familienweg in „die königlich-sächsische Haupt- und<br />

Residenzstadt“, wobei Kästner sehr sorgsam recherchierte (er schrieb während der Arbeit<br />

am Text zahllose Briefe, überhäuft mit Fragen zu Familie und Herkunft, an seinen Vater<br />

Emil), bis auf den Vater seines Vaters seines Vaters; bei seiner Mutter deckt er<br />

Verzweigungen bis ins 16. Jahrhundert hinein auf. Die Beschäftigung mit Dresden reicht<br />

bis zum 13. Februar 1945, dem Tag (vor) der Bombennacht, die 35.000 Menschen ihr<br />

Leben nahm. Kästners Kindheit heißt auch Familie und Herkunft. Seine „handwerkliche<br />

Sorgfalt“, sein „turnerisches Talent“, „die echte und unbelehrbare Abneigung vorm Reisen“<br />

(nicht ernst zu nehmen) seien den sächsischen Kästners veranlagt. Kästners Kindheit ist<br />

eine strebsame, eine lehr- und lernreiche. Es bleibt, das ist bekannt, nicht bei der Freude<br />

am Lernen (Kästner über sich: „Der beste Schüler und der bravste Sohn.“), die<br />

Begeisterung fürs Lernen-Lehren kommt dazu, Kästners Freundschaft mit den beiden<br />

Lehrern Franke und Schurig hat „es hinter den Ohren“: „Ich wollte Lehrer werden, nichts<br />

anderes.“. Nichts anderes? „Ich kann nicht Lehrer werden!“ - „Gut, mein Junge! Studiere!“,<br />

sagt die Mutter (Ida Kästner), Jahre später, kurz vor seiner Lehramtsprüfung; Kästner<br />

promoviert mit 26 Jahren.<br />

„Als ich ein kleiner Junger war“ ist ein charmantes, geistreiches, heiteres und ernstes, für<br />

Groß und Klein fassbares Buch; Kästner schreibt wie die wenigsten deutschen Dichter:<br />

perfekt –und humorvoll. Seine Kindheitserinnerungen eignen sich nicht nur für Dresdner<br />

Stadtliebhaber, nicht allein für 1899 Geborene, sondern für alle, die in ihrer Familie ihre<br />

Heimat und in ihrer Herkunft sich selbst sehen.


Unbekannt. Na und?<br />

Helmut Kellerhoff, "Frauen, Flak und Fantasie"<br />

Erstaunliches Buch. Helmut Kellerhoff erzählt die Geschichte seines alter Ego, Heinrich.<br />

Angefangen bei der Kindheit im Ruhrgebiet, weiter zur Schul- und Studiumszeit im<br />

süddeutschen Raum bis zur Niederlassung in Berlin; zeitlicher Rahmen: Mitte der 20er bis<br />

Ende der 60er Jahre. Heinrichs grundlegender Konflikt besteht in der Frage nach Identität:<br />

Bin ich Mediziner oder Künstler? <strong>Ein</strong> positives Ende nimmt diese Suche in Berlin.<br />

Kellerhof besticht durch einen ununterbrochen belangvollen Erzählstil, der auch über<br />

idiomatische Ausflüge ins Rheinische oder Bayerische charmant hinweghilft. Geschrieben<br />

in schnörkelloser Sprache, sind viele Passagen gespickt, besser überspickt mit<br />

ironisierenden Momenten, "und so gegen zwölf war samstags im Saal ganz schön was<br />

los. Alle merkten, dass der liebe Gott zwei Geschlechter erfunden hatte, und wenn man<br />

beim Tanzen mit entsprechendem Anfassen feststellte, dass die Körper doch sehr<br />

unterschiedlich waren, dann fragte man sich montags wirklich, warum man deswegen zur<br />

Beichte gehen sollte. Rein erkenntnis-theoretisch sozusagen. Aber Pastor Stracke würde<br />

das einem schon erklären, nur wenn er im Beichtstuhl zu diesem Thema fragte, allein<br />

oder mit anderen, dann merkte man eben, dass er wohl selten tanzen ging.". Heinrichs<br />

"Reaktion" auf die Nachricht des ausbrechenden Zweiten Weltkrieges: "Heinrich<br />

schwamm am 1. September 1939 im moorigen Waldsee und hörte im lautgestellten Radio<br />

des Seecafés den Führer schreiend verkünden: AB 5 UHR WIRD<br />

ZURÜCKGESCHOSSEN! Aha, die Polacken hatten also geschossen, um die<br />

Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu verhindern. Typisch, dachte Heinrich und<br />

zeigte dadurch Verständnis, weil er sich bei der <strong>Ein</strong>schulung auch entschieden gegen die<br />

Veränderung seiner Lebensgewohnheiten schreiend gewehrt hatte, und wenn er einen<br />

Knallfrosch bei sich gehabt hätte, wäre der losgegangen und alle hätten sein Verhalten<br />

respektiert.".<br />

Leser, die nach "Bedeutendem" suchen, finden eine unwiderstehliche Darstellung Martin<br />

Heideggers, oder die innige Auseinandersetzung mit dem Bamberger Reiter, der "als<br />

kunsthistorische Konstante den Krieg überlebt hatte". "Frauen, Flak und Fantasie" - - ein<br />

reiches, flüssiges, vom ersten W bis zum letzten Punkt ansehnliches Buch, der mir<br />

wahrscheinlich beste unbekannte Roman, und eines, dessen Autor sich immerhin das Lob<br />

Martin Walsers einfing. Kaufempfehlung.


Gut und wichtig<br />

Gertrude Komar, "Das lyrische Werk"<br />

Sie gilt, zusammen mit Nelly Sachs und Else Lasker-Schüler, als bedeutendste<br />

deutschsprachige Lyrikerin der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Erschließung ihres<br />

Werkes gipfelt mit den sämtlichen Gedichten in drei Bänden in einem nächsten<br />

Höhepunkt. Damit hat der Wallenstein-Verlag sich nicht nur selbst, sondern vor allem<br />

allen, d. h. den wenigen Kolmar-Liebhabern einen Gefallen getan. Vom den drei<br />

einzelnen, nebeneinander gestellte Bänden strahlen uns schöne, zugleich furchtsame<br />

Augen an, die in ihrer seltsamen Entrückheit "Frau Kafka" vermuten lassen; die starken<br />

Augenbrauen multiplizieren den Ernst des Gesichtes; und das pechschwarze Haar<br />

(pechschwarz - - ich schreibe das, ohne zu vergessen, dass Kolmar 1943 in Ausschwitz<br />

umkommt) macht ihren Ernst finsterer und ihre Schönheit dämonischer. Was ihr Gesicht<br />

verrät, verraten ihre Gedichte doppelt: mythische Begebenheiten, Auseinandersetzungen<br />

mit Geschichte, Ausgrenzung, Toleranz, Traum und Schattenwelt, Liebe, Sünde,<br />

Begehren, Verbot, Beziehungen zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen usw. Diese<br />

Fülle an lyrischem Schaffen wird hinterleuchtet von einem soliden Werkkommentar, der,<br />

glücklicherweise, nicht akademisch verschroben, sondern leicht, flüssig, jedem zugänglich<br />

und gerade dadurch tief daherkommt. Diese drei Bände sind keine kleine Kostbarkeit; und<br />

sie werden sicher nicht viele Käufer finden; wer jedoch Kolmars Zeilen begegnet, wird<br />

merken, es sind mehr als Zeilen, und es ist mehr ein Buch, was er sich hier zulegt.


Wo ein Urteil erlaubt ist<br />

Michael Krüger, „Kurz vor dem Gewitter“<br />

Michael Krüger hat mit „Kurz vor dem Gewitter“ einen sehr guten Gedichtband verfasst. In<br />

„Schatten und Licht“, dem ersten Gedicht, fasst er die positive Feindschaft zwischen<br />

Erkennendem und Erkanntem auf eine derart nahe liegende Weise in Worte, dass man<br />

schnell, begierig, sorglos zu einem der nächsten Gedichte, zum Beispiel „Rede des<br />

Reisenden“, blättert, in dem die charmante Unverbindlichkeit, die allen (Vorüber)reisenden<br />

anhaftet, in leichte, jedem zugängliche Worte eingefangen ist. Hier im ersten von vier<br />

Buchkapiteln dreht sich alles um Reisen, also Reisende, Hotels, Bahnhöfe, Ankommen,<br />

Weiterkommen, Besuche und Abschiednehmen. Die einzigen Zeilen, über die ich mir auf<br />

den insgesamt 111 Seiten nicht klar wurde, stehen auch hier; „Zwei rote Fische, ein<br />

schwarzer“ heißen sie, und in ihnen geht Krüger etwas zu sehr ins Bildhafte, die zu vielen<br />

Ideen, die einem zu diesem Gedicht kommen, stehen sich im Wege. Im zweiten Kapitel<br />

Schönes (!), zugleich Solides und dezent Gewaltiges zu Nacht, Tod, Vergehen, im<br />

„Englischen Garten“ wird in unaufdringlicher Dynamik dem Übergang von Sommer zu<br />

Herbst nachempfunden, ähnliches in „Ende des Sommers“. Erleichternderweise spielt<br />

Krüger in seinen Gedichten nicht den soziologischen Übervater, er beanstandet und<br />

bemängelt keine gesellschaftlichen Zustände, nein, seine Gedichte sind berührende Ichund<br />

nicht hohle Man-zeugnisse. In der „Umfrage“ stellt eine Zeitung dem Gedicht-Ich die<br />

Frage, ob es seine Stadt liebe, und anstatt über Man-zustände brütend sitzen zu bleiben,<br />

geht es los in den Park, achtet auf die Bücher, die auf den Tischen der Schlafenden<br />

liegen, postiert sich auf einer Brücke, um deren Vibrieren bei der nächsten Zugdurchfahrt<br />

abzuwarten; Stadtgefühle, Stadtmomente; und „unter der Obhut des Dunkels schlich ich<br />

zurück in mein Zimmer, wo ein Urteil erlaubt ist.“. Das nächste Kapitel versammelt eine<br />

Reihe persönlicher, meist gewidmeter Gedichte. Nachrufe, mal sehr persönlich, mal<br />

weniger persönlich, stehen im vierten und letzten Kapitel. Die Anordnung der Kapitel<br />

überzeugt, es geht sukzessive von Unternehmungen und Reisen über Jahreswechsel und<br />

Heimkehr zu Dunkelheit und Mystik bis schließlich zum Gedenken an Geliebtes. Michael<br />

Krüger lebt als Verleger, Herausgeber einer Literaturzeitschrift und Autor in München; bei<br />

Suhrkamp erschien bereits der Gedichtband „Archive des Zweifels“; „Kurz vor dem<br />

Gewitter“ ist eines der stillen Literatur-Großereignisse des Jahres 2003.


Jungs und ihre Fehler<br />

Benjamin Lebert, "Der Vogel ist ein Rabe"<br />

„Ich muss nach Berlin. Ich habe gar keine andere Wahl.“, sagt Henry zu <strong>Paul</strong>; beide<br />

fahren los, vier Tage nach Silvester; für die zwei, die sich nie vorher begegneten, wird es<br />

eine an Worten reiche Nacht, die nach ca. 8 Stunden überraschend ernst endet. 8<br />

Stunden, in denen Henry wie berauscht, d. h. in einem Zug (s)eine Geschichte erzählt.<br />

Henry „hatte zwei Freunde, Jens und Christine“; um dieses Paar und sich („nichts deutete<br />

darauf hin, was wir für ein unheilvolles Gespann sein würden“) dreht sich seine sich<br />

zuspitzende, novellistische Erzählung. Christine ist die erste Frau, in die Henry sich<br />

verliebt; natürlich ist auch Jens-, und natürlich hat Christine auch andere Männer-, und<br />

natürlich möchte Henry seine erste Liebe zur größten machen-, und so brechen aus<br />

dieser Dreierbezeihung nach und nach gefährliche Abgründe herauf. Neben Liebe werden<br />

dabei Sex, Magersucht, Fettsucht, Kosenamen, Durchfall und Schönheit bedeutend. <strong>Paul</strong>,<br />

der Wahl-Berliner, mimt den Zuhörer; Henrys naiv hingebungsvolle Schilderung der<br />

Liebes- und Freundschaftsereignisse aber rüttelt in ihm die Gedanken an Mandy wach;<br />

Mandy ist zum einen <strong>Paul</strong>s erste Liebe („ihr Bild, das ich immer immer immer im Kopf<br />

habe“), zum zweiten Grund seiner den Leser verstörenden Reserviertheit, drittens Anlass<br />

zu einem beunruhigendem Buchschluss. Verblüffend: die schonungslose Beschreibung<br />

Berlins durch <strong>Paul</strong>, von falschem Funkeln, Glitzern und Leuchten ist da die Rede, Berlin,<br />

die Stadt, „wo es leuchtet“, wo „Goldstaub“ umherflirrt, an der nichts bunt außer ihrer<br />

Werbung ist, und „sich jeder so verkauft, als hätte er ununterbrochen den besten Sex<br />

seines Lebens“; ebenso erstaunlich, dass die beiden Protagonisten –nicht zu Freunden<br />

werden. Vielleicht unterscheiden sich die beiden darin, dass der eine, <strong>Paul</strong>, seine große<br />

Liebe, Mandy, schon „hinter sich hat“, während Henry alle Dinge nur über den Hintergrund<br />

Liebe fass- und begreifbar werden. Dieser vermeintliche Kontrast wird stellenweise zu<br />

offensichtlich gemacht, besonders in den fast hymnischen Reden Henrys über<br />

<strong>Ein</strong>samkeit, Liebe, Schönheit, Menschen, Zeit. Damit wollte der Autor wohl klar stellen:<br />

einer, der erzählt, ist einer, der –nicht träumt. Über den Titel des Buches bin ich mir erst<br />

am Ende der Lektüre klar geworden; er ist, wie der Kauf dieses leider etwas konstruierten<br />

Romans, eine gute Wahl.


Power-Lette!<br />

Kathy Lette, "Zu gut für diese Welt"<br />

Kathy Lettes überaus humorvoller Roman "Zu gut für diese Welt" unterhält bis zur<br />

Unglaublichkeit. Mit sexisitsch sprühendem, politisch temporeichem, sehr makabren, teils<br />

sarkastischen Witz werden die Abgründe der Beziehung zwischen (Ehe)Frau und (Ehe)<br />

Mann beäugt. Kein Kapitel bleibt ohne dieses-Buch-ist-für-Leser-unter-18-Jahren-nichtgeeignet-Stelle.<br />

Beispiel: "Ich habe den <strong>Ein</strong>druck, dass alle Frauen über neununddreißig<br />

sich wider Erwarten in geistesgestörte Möchtegern-Barbiepuppen verwandeln und<br />

verzweifelt nach einem Eleixier suchen, mit dem sie jene schreckliche, unheilbare<br />

Frauenkrankheit bekämpfen können - das Alter"; "Wenn sie nicht gerade Sex haben oder<br />

ein Kind gebären, tun die meisten Frauen so, als hätten sie keine Vagina"; "das große<br />

Geheimnis besteht darin, dass verheiratete Frauen Sex verabscheuen.".<br />

Das Problem, dem sich die Protagonistin Lizzie stellen muss, lautet: 39. Mit ihrem 39.<br />

Geburtstag (...also dem drohenden 40.) beginnt das Buch, und exakt ein Jahr und ein<br />

Happyend später endet es. In diesem Jahr wird sie betrogen, arbeitslos, von ihrem Mann<br />

verlassen, erleidet einen Blitzschlag, zieht heftigst über Gott und das Böse im Mann her,<br />

blamiert sich so krass, dass man das Buch weglegen möchte, und findet schließlich über<br />

alle Turbulenzen zu sich, 40jährig, wieder "mit kleinen Titten", einer "Methode, wie man<br />

jung bleiben kann", und der großen Liebe. "Englands beliebtestes Enfant terrible" legt hier<br />

ein Buch vor, das sich eignet erstens für -alle- Frauen, zweitens besonders für Frauen, die<br />

sich von Männern nur so viel sagen lassen wollen wie sie selbst sagen, und ganz<br />

besonders für jene Frauen, die auch dann lachen können, wenn nicht sie, sondern eine<br />

wundervolle Autorin das letzte Wort hat.


Mein Kind ist ein Gedicht<br />

P. F. Thomese, "Schattenkind"<br />

Dieses Buch hat zwei Themen: erstens ALLES (!), zweitens die literarische Verarbeitung<br />

des Kindtodes. Was heißt ALLES? Thomese schreibt in höchst allegorischen Stil, er setzt,<br />

ein letztes mal!, ALLES, was ihm kurz nach dem Tod seines Kindes, Isa Thomese,<br />

widerfährt, zu ihr in Beziehung. Beispiel dafür sei Literatur: wir dürfen auf 110 Seiten<br />

mitverfolgen, wie Thomese Schnittstellen zu Rilke, Heidegger, T. S. Eliot, Stefan George,<br />

Goethes "Erlkönig", Flaubert, sogar Livius zieht, denn diese hätten sich alle mit Tod<br />

auseinandergesetzt. Ja, daran kann kaum gezweifelt werden . . . Literatur ist ein ernste<br />

Sache! . . . aber gibt es Autoren, die das nicht tun? Man fühlt sich dieses Thema beim<br />

Lesen etwas aufgedrängelt, und gibt es nicht mindestens im Werk Goethes mehr heitere<br />

als düstere Stellen?<br />

Thomeses Sprachstil ist nicht einheitlich; er schwankt zwischen Telegramm und Epos;<br />

einiges wirkt schnell hingeschrieben, anderes überdreht; manches hätte seinen Platz im<br />

Poesiealbum, wieder anderes in einem Sachbuch verdient. Floskelhaft angeschnitten<br />

werden folgenden Dinge: Hoffnung, Liebe, Katastrophe, Zukunft und Vergangenheit,<br />

Unbewußtsein, Identität, Schicksal, Gottheit, Mensch, Leid-bewältigung, Beschränkung,<br />

Begrenzung, Kontrolle. Viele Aufgaben, unter denen dieses Buch, nur 110 Seiten lang,<br />

eindeutig zusammenbricht. Zu unbestimmt sind Thomeses Antworten auf seine Frage<br />

"Mädchen, was soll nur aus der Welt werden, jetzt, wo du nicht mehr bist?".<br />

Der guten Presse, die dieses Werkchen erhalten hat, kann ich mich nicht anschließen.<br />

Die wenigen Pluspunkte sind: die nicht ungeschickte Unterteilung in kurze Kapitel (damit<br />

wird allzugroße Poesie vermieden), der authentische Hintergrund, und die<br />

Auseinandersetzung mit der Frage nach Grenzen von Sprache und Ausdruck ("das<br />

sprachliche Problem, das Problem der Mitteilbarkeit").


Fast brillant<br />

Robert Menasse, "Die Vertreibung aus der Hölle"<br />

Viktor Abravanel, Historiker und Spezialist für Frühe Neuzeit, hält einen Vortrag über das<br />

Thema „Wer war Baruch Spinozas Lehrer?“; am Abend vor seiner Abreise nach<br />

Amsterdam nimmt er teil am fünfundzwanzigjährigen Maturajubiläum, er trifft Schul- und<br />

Klassenkameraden von damals, seine große Jugendliebe Hildegund, und seine Lehrer;<br />

diese spricht er auf ihre Nazivergangenheit an, es kommt zum Desaster, zu rüden<br />

Beschimpfungen, Hassbekenntnissen, man trennt sich, übrig bleiben Hildegund und<br />

Viktor. Nun setzt die Geschichte ein, das heißt zwei Geschichten; zum <strong>Ein</strong>en verfolgt der<br />

Leser Viktors Werdegang von 1955 bis zu jenem Maturafest; zum Anderen werden wir<br />

(und das sehr detailliert und hintergründig) eingeweiht in das Leben des Rabbiners<br />

Samuel Manasseh bin Israel, der, 1604, zur Hochzeit der Inquisition, in Portugal geboren,<br />

zusammen mit seinen Eltern nach Amsterdam flüchten muss. Dem Autor Robert Menasse<br />

gelingt diese von-weit-hergeholt-scheinende Verstrickung österreichischer 70er Jahre und<br />

spanisch-niederländischen 17. Jahrhunderts (=vier europäische Jahrhunderte) verblüffend<br />

gut; um es sehr einfach zu sagen: die eine Biografie liest sich wie die zweite, d. h. jene<br />

Intoleranz, jene Religionsenge, jenes Glaubens-, Lebens- und Anpassungsdiktat des<br />

Rabbi Manasseh ähnelt den Lebensumständen Viktors, der zusätzlich unter<br />

Spießbürgerlichkeit, Konsumnarrheit und Maskenhaftigkeit der Menschen leidet. Weil der<br />

junge Viktor durchweg seiner marxistischen Weltanschauung nachhängt, bleibt er als<br />

literarische Figur etwas blass, er ist, wenn man so will, mehr Roman- als Lebenssinn, er<br />

wirkt konstruiert, leicht erzwungen, ein Abbild seiner Ideologie. Die ständigen Kalauer<br />

Viktors stehen, wie ich meine, stellvertretend für die grundsätzliche Sprachohnmacht des<br />

Menschen; überhaupt entwickelt der Roman ein sehr interessantes Verhältnis dazu, was<br />

Sprache leisten kann; zum Beispiel hat Menasse auf eine gewöhnliche <strong>Ein</strong>teilung in<br />

Kapitel verzichtet, statt dessen liest man unter „Inhalt“ „1. Kapitel: Amok“ – „2. Kapitel:<br />

Koma“ – „3. Kapitel: Komma“ – „4. Kapitel: Makom“; keine Seitenzahlenangabe also, jeder<br />

Leser mache sich seinen Reim auf Kapitelende und –anfang. Weitere Fragen, die die<br />

„Vertreibung“ aufwirft: Warum werden die Menschen aus ihrer Geschichte nicht klüger?,<br />

wer darf sich woran erinnern und was darf dieser anderen an Erinnern und Gedenken<br />

abverlangen?, ist „Die Vertreibung aus der Hölle“ akut?, d. h. sind Krieg, Machthaberei,<br />

Diktatur, Intoleranz, Unfreiheit, Verfolgung und Emigration von der Erde verschwunden?<br />

Menasses Roman ist sehr gut geschrieben, die Spannung flacht auf keiner der 500 Seiten<br />

ab, die aufwendige Gestaltung bleibt bis zum Schluss plausibel; geeignet ist er für<br />

anspruchsvolle Leser; die Gestaltung des Covers mit dem Porträt des Rabbi Menasseh<br />

nach dem Ölgemälde von Rembrandt war ein so nahe liegender wie guter <strong>Ein</strong>fall.


Kuriositätenkabinett<br />

Matthias Politycki, "Ratschlag zum Verzehr der Seidenraupe"<br />

Mit "aller Zeit der Welt" richtet sich ein alter Chinese auf, um "Schleim, tief aus dem<br />

Schlund" auszurotzen; paar Zeilen später schmückt asiatischen Boden eine "runde<br />

Sache, gewaltig grün in seiner Art", zum Berühren verführend. So, nur viel rhythmischer<br />

und eleganter, beginnt Matthias Polityckis Gedichtband "Ratschlag zum Verzehr der<br />

Seidenraupe". Es folgen andere "Fernöstliche Konfusionen", später verheißungsvolle<br />

Kapitel wie "Beim nächsten Bier wird alles anders" oder "Abträgliche Nebenwirkung von<br />

Kioskbesuchen", in dem sich "Miss Schüttelkorb", eines der phantastischsten unter 66<br />

phantastischen Gedichten, versteckt - - "Miss Schüttelkorb", irgendwo zwischen flottem<br />

Naturgedicht, Besprechung eines Playboy-Covers, und dokumentierter Erektion, ein<br />

raffiniertes, lieblich böses, zugleich leicht atmendes und sofort zugängliches Gedicht. Im<br />

Titelgedicht erfahren wir, zu welchem Seidenraupensuppenkochzeitpunkt man mit<br />

welchen Zahnstocher in welchen Teil der farbig unterschiedlich gearteten<br />

Raupenanatomie steche. Politycki treibt seine Gedichte hart an die Grenzen des<br />

Sinns/Unsinns, vielleicht bestes Beispiel "Drei <strong>Ein</strong>wanderer im Okavango-Delta, einen<br />

Khakihosenträger flussabwärts befördernd" - - sechs mal "Hmmm" plus fünf mal "nice<br />

eat!" plus ein unerklärliches 51-Buchstabenwort tun hier jedem gewitzten Leser seine<br />

Freude an. Er schreibt artistisch, doch verliert sich an keiner Stelle in den scheinbaren<br />

Sprachwirrsal, seine Verfremdungen bestechen auch durch ihre Solidität; er ist<br />

musikalisch, ohne posaunen und trompeten zu müssen; er schreibt Gedichte für Männer,<br />

sanft und kräftig, melancholisch und beherzt, verrückt -und schlüssig, exotisch bis<br />

vertraut.<br />

Mit den Kantschen Grundsatzfragen "Was dürfen wir hoffen? Was sollen wir glauben?<br />

Was können wir tun?", mit denen die Sammlung eröffnet wird, hat das Ganze viel zu tun,<br />

nur unterlässt es Politycki, auf Kant -mit Kant zu antworten, Politycki ist heute, und diese<br />

Gedichte werden auch in Jahrzehnten vergnügen, Lachen machen, aufwecken.


Zersaust<br />

Jürgen Reimer, "Jahre eines Unbehausten"<br />

Jürgen Reimers "Jahre eines Unbehausten": hier werden keine Konflikte, sondern Frustund<br />

Depressionszustände geschildert. Der Anfang liest sich harmlos, "Ich hatte mich,<br />

bevor ich damals in die Ferien reiste, auf ein Ziel hin entworfen: als ein anerkannter Autor<br />

nach Hause zurückzukehren. Der Glaube an mich selbst ist in den letzten beiden Jahren<br />

ein wenig verlorengegangen". Im nächsten Kapitel ist schon vom "Schicksal eines<br />

<strong>Ein</strong>zelgängers" die Rede; und, es äußert sich der dichtende Protagonist über DAS<br />

Schreiben: "Ich habe seit Monaten nicht geschrieben, weil ich mich vor dem Schmerz<br />

fürchte, welchen mir das Schreiben bereitet. Beim Schreiben reißt man verkrustete,<br />

seelische Wunden aus dem eigenen Fundus erlebter Vergangenheit wieder auf. Die<br />

schon fast vernarbte Wunde muß erneut zum Bluten gebracht werden", und, selber<br />

Abschnitt!, "Depressionen beruhen auf einem Gefühl des Unerlöstseins - unerlöst von<br />

dem Gefühl der Vergänglichkeit, der existentiellen <strong>Ein</strong>samkeit . . . unerlöst von dem<br />

schleichenden Gefühl der Sinnlosigkeit allen Tuns. Der Grund: Gott kann nicht mehr<br />

geglaubt werden"; ein paar Sätze später wird die diesen Roman unseelig prägende<br />

Verknüpfung zwischen Schreiben und Depressionen vollzogen, "Ich muß gegen mein<br />

mangelndes Selbstwertgefühl anschreiben". Mal abgesehen davon, dass in einem Roman<br />

nicht seitenweise über DAS Schreiben fabuliert werden sollte, sind vermeintliche Analysen<br />

über vermeintliche Depressionen nicht interessant; zweifellos gibt und gab es viele<br />

Autoren, die eine depressive Stimmung -beschreiben-, doch ist es etwas anderes, dies<br />

ständig mit "Depression" zu -bezeichnen- ("Heute: depressive Stimmung, die lähmt,<br />

einschnürt, fast würgt. Himmel wirkt kälter, die Sonne unnahbar", "Mit einem Wort: Ich<br />

wurde krank, depressiv, bekam erhebliche psychosomatishe Beschwerden",<br />

"Depressionen haben ihre Ursache in unausgelebten Leidenschaften, hat mir mal ein<br />

Psychologe gesagt. Ich bin von der Richtigkeit dieser These überzeugt", "Ich befinde mich<br />

in einem seelischen Niemandsland. Apathie läßt meine Seele erlahmen").<br />

Bei all diesem bunten Philosophieklatsch ("Lohnt es sich noch, wesentlich zu werden? Ist<br />

es nicht besser, von sich weg zu leben?", "Ist es in meinem Falle nicht besser, wenn ich<br />

nicht ich selbst sein will?"), unglaublichem Bildungsgepose ("<strong>Ein</strong>mal sagte ich zu ihm: 'Ich<br />

habe eine Doppelnatur: eine vitale und eine spirituelle. Obwohl Du kein gelernter<br />

Psychologe bist, habe ich das Bedürfnis, dir das einmal zu sagen. Was mich angeht, so<br />

stehen beide Naturen einander im Wege. Ich bejahe zum Beispiel den Geschlechtstrieb<br />

und doch auch wieder nicht. Ich liebe zu essen und hasse es zugleich. Deshalb artete das<br />

Essen früher bei mir zum Fressen aus. Ich schlief mit Frauen, begehrte sie, sehr sogar.<br />

Mein Trieb war stark. Das Verlangen nach körperlicher Liebe wurde fast zur Sucht. Es gab<br />

Jahre, in denen ich an nichts anderes dachte.'"), faust'scher Sehnsüchtelei ("Ich verachte<br />

die grobe Lebenslust und sehne mich doch heimlich danach, an ihr teilhaben zu können",<br />

"Gibt es etwas Unbedingtes, das nicht dem Kausalitätsprinzip unterliegt? <strong>Ein</strong>e Frage, die<br />

ich mir oft gestellt habe"), und luftleerer Suhrkampmentalität ("Wenn ich nur an den<br />

kulturlosen Kulturbetrieb denke[...]Unsere Zeit glaubt sich selbst zu genügen. Sie ist ohne<br />

transzendenten Bezug.") bleibt kein Platz für eine Erzählung, geschweige denn Handlung.<br />

Der Protagonist vagabundiert, und er will uns das als innere, übermenschliche<br />

Aufgewühltheit verkaufen. Der Buch endet, nach 50 Kapiteln, erbärmlich. Ich denke, dass<br />

Literatur persönlich sein darf, aber das darf man einem Buch nicht ansehen; die Kunst<br />

verliert alles, wenn man den Künstler sieht; "Jahre eines Unbehausten": ein ausufernder<br />

Leidensbericht, mehr nicht.


Danke für dieses Buch<br />

Claudia Rusch, "Meine freie deutsche Jugend"<br />

Als Witze über Honecker zu Arrest führten, Ernst Thälmann "für DDR-Kinder so etwas wie<br />

Robin Hood und Superman in Personalunion" war, als rot kandierte Weihnachtsäpfel<br />

einem Kind seine volle Aufmerksamkeit abverlangten, als sich Stasi-Leute, Kakerlaken<br />

ähnlich, zu ungeliebten Mitbewohnern machten, als es "keine Oliven, keinen Lachs,<br />

keinen richtigen Käse" gab, Neil Young oder Bob Dylan im geteilten Deutschland vor<br />

entzweiten Publikum auftraten, davon erzählt Claudia Ruschs bravouröses "Meine freie<br />

deutsche Jugend". Dieses Buch bietet einerseits eine literarische Wiederbegegnung mit<br />

Tschapka, Lada, Abba, Amiga, Vopo, Becherovka, Rias usw. Andererseits eine sehr<br />

subtile, zuckerfreie Schilderung gesellschaftlicher Gegensätze innerhalb der DDR; wie<br />

vertragen sich das Streben nach Freiheit bei gleichzeitig drohender Inhaftierung? Kann<br />

Solidarität darin bestehen, dass einer dem anderen gleichgemacht wird? Ist der<br />

Staatsbürger zuerst Bürger unter Bürgern oder Millionstel des Staates? Gewinnt man<br />

Horizont, wenn man Ja oder Nein sagt?<br />

"Meine freie deutsche Jugend", eine authentische, liebevolle, beneidenswert klare, lichte,<br />

pointierte, intelligente, niemals kitschige, schlüssige Auseinandersetzung mit jenen<br />

Zuständen, die Rusch bemerkenswert gute Szenen wie "Mauer mit Banane" oder "Die<br />

Musik meines Vaters" schreiben ließen. <strong>Ein</strong> Buch, geeignet für alle, die nichts, ein wenig,<br />

ein wenig mehr, viel und alles über DDR wissen.


ussian prime crime time<br />

Polina Daschkowa, "Nummer 5 hat keine Chance"<br />

Rußlands neue, junge Schriftstellergilde ist seit letztem Jahr in aller Munde. Auch Polina<br />

Daschkowas "Nummer 5 hat keine Chance" wird der Euphorie keinen Abbruch tun. <strong>Ein</strong><br />

Moskau-krimi, der auf authentischen Hintergrund ruht, spielend 1997.<br />

Wadik, der gerade "zwei Jahren gesessen hat", macht sich unmittelbar nach<br />

Haftentlassung auf den Weg nach Moskau; er möchte seine "einzigartige Begabung",<br />

einen übermenschlich feinen Sinn für sämtliche Speisen und Speise-zubereitungen zu<br />

besitzen, zu Geld machen; sein "größter Wunsch: ein eigenes Restaurant". Auf der Fahrt<br />

in die russische Hauptstadt, die für Wadik besonders geprägt ist von der Sehnsucht nach<br />

schnellen Sex mit einer "jungen Blondine", lernt er Walera, einen "Hühnen", finster und<br />

verschlossen, kennen. Walera, arbeitslos, und Wadik, mit wenig Aussicht auf Arbeit, eint<br />

folgendes: "Beide glaubten, sie würden viel Geld haben, eine große Wohnung, teure<br />

ausländische Wagen, schöne Mädchen". Tatsächlich stellt sich der monetäre Erfolg bald<br />

ein. Zuvor wird allerdings Onkel Kostja aus dem Weg geräumt. Der Initiator dieser Tat<br />

heißt Michlja, dritter und letzter im Bunde, "gebürtiger Moskauer, Sohn der Familie der<br />

Intelligenzija, hatte das Theaterinstitut absolviert". "Bei Wadim" heißt das erste Lokal, in<br />

günstiger Moskauer Innenstadtlage; schnell erwächst daraus eine Lokalkette; verkauft<br />

wird vor allem Schaschlik, Schaschlik, der einen solchen Hochgenuß (Wadiks<br />

sensationelle Gabe...) bereitet, daß die drei sich vor Kunden nicht retten können. Die<br />

"rasante Geschäftsentwicklung" ebnet die Idee für einen zweiten, unvergleichlich<br />

profitableren Verdienst: Glücksspiel. Die Masche ist stets dieselbe: Gästen, satt und<br />

glücklich, mit herrlichstem Schweinefleisch gefüttert, wird nach dem Essen mitgeteilt, sie<br />

hätten "schon jetzt einen Preis gewonnen", und sollten dem Verkünder der schönen<br />

Nachricht bitte in eine der Spielhallen um die Ecke folgen, um ihren Videorecorder,<br />

Fernseher oder Computer abzuholen. So glatt läuft es dann aber nicht, und auch Natalja,<br />

die eigentliche Hauptdarstellerin dieser Erzählung, wird um ihr Geld geprellt. Natalja, 40<br />

Jahre, soeben gekürt zu einer "der besten Lehrerinnen Rußlands", hat sich auf den<br />

langen Weg in die Hauptstadt gemacht, um von ihrem Preisgeld (für die Kür) ihrer<br />

gelähmten Tochter einen Rollstuhl zu kaufen.<br />

Die Katastrophe wird wahr, sie spielt, gerät in einen Sog, verliert alles; "sie, die Lehrerin<br />

Natalja, hatte noch nie in ihrem Leben gespielt. Seit ihrer Kindheit war sie der Meinung,<br />

dass nur leichtsinnige und habgierige Menschen um Geld spielen und ihr so etwas nie<br />

passieren könne". Scham, Widerwille, Existenzangst breiten sich aus in ihr, Unglaube,<br />

"alles" sei "nur ein Albtraum". Nein, es ist wahr - aber das Schicksal schlägt noch einmal<br />

in umgekehrter Richtung zu.<br />

Polina Daschkowa, 1960 geboren, darf sich Rußlands berühmteste Krimiautorin nennen.<br />

Mit "Nummer 5" hat sie eine, wenn man so will, zauberhafte Parabel auf das Gute und<br />

Schlechte in der Welt verfasst, die mit bestem Gewissen empfohlen werden kann.


Rätsel gelöst<br />

Susanne Schneider und Süddeutsche Zeitung, "Kann man im Handstand schlucken?"<br />

Über 600 „Rätsel des Alltags“ hat Susanne Schneider in 13 Jahren Tätigkeit im SZ-<br />

Magazin veröffentlicht. Über 100 dieser Rätsel sind nun, als eigenständige Publikation, im<br />

Heyne-Verlag erhältlich. Schneiders Auswahl der Alltags-Kniffe fällt alles andere als<br />

willkürlich aus, etymologische Fragestellungen wurden nicht berücksichtigt, auch populär<br />

gewordene Rätsel wie „Warum ist der Himmel blau?“ nicht, vielmehr Fragen, auf die jeder<br />

von uns Tag für Tag oder Woche für Woche –stößt, doch sich so vielleicht nie –stellte.<br />

Schneiders verblüffende „top 3“: „Warum bewegt sich der Handlauf bei einer Rolltreppe<br />

immer schneller als das Stufenband?“ – „Wie werden beim Mandarinenkompott die<br />

dünnen Häutchen von jeder einzelnen Mandarinenscheibe entfernt?“ – „Wieso trägt man<br />

die Armbanduhr links?“.<br />

Das Buch teilt sich in zehn Rätselrubriken, zum Beispiel „Essen und Trinken“, „Der<br />

menschliche Körper“, „Freizeit und Kultur“. Die Lösung zu einem Rätsel kommt immer<br />

„von höchster Stelle“; im Kapitel „Essen und Trinken“ kommt mal der Geschäftsführer der<br />

Bäcker-Innung München, mal der Inhaber des Instituts für Konserventechnologie, mal die<br />

Pressesprecherin für Nestle-Erzeugnisse zu Wort. <strong>Ein</strong> kurzlebiges Buch, erhellend,<br />

erklärend, erfrischend, eine unalltägliche Antworten-Sammlung zu alltäglichen<br />

Problemchen.


<strong>Ein</strong> Leben in Wien<br />

Arthur Schnitzler, "Therese"<br />

Arthur Schnitzlers "Therese" ist eines der berührendsten und schönsten Bücher, die ich<br />

bis heute gelesen habe. <strong>Ein</strong> beeindruckender, jedoch immer sanfter, schnörkelloser,<br />

wunderschöner Erzählfluss, gepaart mit einem Gesellschaftspanorama des ausklingenden<br />

(österreichischen) 19. Jahrhunderts, und der sehr charmanten, zugleich dekadenten<br />

Atmosphäre Wiens. 1880, mit der 16jährigen Therese Fabiani beginnt, was 30 Jahre und<br />

106 Erzählabschnitte später tragisch, fast melodramatisch endet. Zwar kommt Therese<br />

aus gutbürgerlichem Haus, doch ist dieses von eigenem Untergang gezeichnet. Ihr Vater,<br />

Oberstleutnant a. D., erleidet eine gesitige Verwirrung, stirbt nach Jahren armen<br />

Dahindämmers; ihre Mutter, nach der Erkrankung des Vaters besorgt um den<br />

gemeinsamen Lebensunterhalt, fängt an, dürftige Frauenromane zu schreiben, die in<br />

Boulevardblättern gedruckt werden. Therese, die für sich keine Zukunft mehr sieht in<br />

Salzburg, zieht ins große Wien und findet dort schnell Anstellung als Erzieherin in<br />

privilegierten Familien, in denen kaum zu verhehlende Konflikte immer wieder dazu<br />

führen, daß Therese kündigt bzw. gekündigt wird. In keiner Episode ihres Lebens kehrt<br />

Ruhe oder Stabilität ein, entweder nimmt eine neue Liebschaft sie mit, oder ihr<br />

"unwirscher" Sohn Franz ("ein rechtes Bauernkind") belästigt sie, oder sie kämpft mit ihrer<br />

letzten Entlassung, hat sie doch wieder einmal die zu erziehenden Kinder zu lieb<br />

gewonnen, oder Sorgen hindern sie daran, "zu einem richtigen Sichbesinnen zu<br />

gelangen", wie es im Buch heißt; ihr Sehnen "nach Ruhe, nach Heimat, nach einer<br />

eigenen Häuslichkeit" bleibt unerfüllt. Berührt an Schnitzlers "Chronik eines Frauenlebens"<br />

haben mich: die seltsam schöne Teilnahmslosigkeit Thereses am Verfall (insbesondere<br />

verwüstete Ehen, zerrüttete Familien) um ihr herum ("Sie war niemals im eigentlichen<br />

Sinne gläubig gewesen. Als Kind und junges Mädchen hatte sie an allen<br />

vorgeschriebenen Religionsübungen mit Beflissenheit, aber ohne tieferes Ergriffensein<br />

teilgenommen", "Vor allem hütete sie sich, ihr Herz an die jungen Wesen zu hängen,<br />

deren Erziehung ihr überantwortet war; eine Art von kühler Mütterlichkeit, die sie beinahe<br />

nach Belieben ein paar Grade höher oder niederer stellen konnte, blieb die<br />

Grundstimmung dieser Beziehungen", ) und ihre, wenn man so will, optimistischen<br />

Anfälle, die ihren Tod mehr verdüstern als aufhellen.


Hier hilft nur Ironie<br />

Lutz Seiler, "vierzig kilometer nacht"<br />

Den rar gesäten Freunden gehobener Dichtkunst rate ich zu Lutz Seilers "vierzig kilometer<br />

nacht". Brillanz, die an Unverstehbarkeit grenzt, schillernde Wortgefäße, die man vor<br />

Glanz kaum fassen kann, Liebes und Böses, Aufwendiges und Schlichtes, Glückliches<br />

und unglücklich Machendes: alles drin. Was z. B. würde ich darum geben, "Vertigo"<br />

einmal von Seiler gelesen zu hören bekommen. Und wie gut würde sich "Wir lagen vor<br />

Madagaskar und hatten" als Superkurzstück auf der Bühne schlagen? Und warum "aqua<br />

vitae" nicht auswendig lernen! Und B. Brecht würde sich freuen über "Der Schrifthund"!<br />

Und C. Morgenstern würde "Gelobtes Land", ein neunzeiliges Gedicht, das mit Begriffen<br />

wie Patenbusch, Eisenpilz und geschweißter Elefant zu sich findet, einsaugen wollen! Und<br />

T. Adorno würde aus seiner Suhrkamp-Ecke aufspringen, denn Seiler bringt den "beweis,<br />

dass von beginn musik vorhanden war"!<br />

Sehr kunstvolle Gedichte, die sich den meisten, d. h. den wenigen Lyrikliebhabern, für die<br />

dieser Band sich eignet, nur bei lautem Lesen ent-dichten dürften; laut lesen: das<br />

beherzige man besonders im "Hubertusweg", "umsolieber" und "Im Frühling".


Entdeckungsreisen quer durch den Kopf<br />

René Sommer, "<strong>Ein</strong>e Störung erreicht Westeuropa"<br />

Bizarre Wortwelten blühen in René Sommers "<strong>Ein</strong>e Störung erreicht Westeuropa";<br />

Beispiele für die Bilderflut bietet nicht nur die erste Zeile des Titelgedichtes - - "schon bald<br />

soll es/weiß gepolsterte kissenmonster geben/die ohne sonnenbrille & schminke/eine<br />

fantasie für orgel/& toilettenspülung spielen/hennen/die dem wolf die tür<br />

öffnen/&lackstiefel/welche ohne frau spazieren gehn". Das Gedicht wird zunehmend<br />

kritisch gegenüber denjenigen, die "auf der schaukel aus glas schweben" und sich "fragen<br />

woher eigentlich der wind kommt"; an dieser Stelle ist Sommer auf dem Sprung zur trögen<br />

Gesellschaftskritik heutiger Tage heutiger Autoren, doch, und das macht diesen<br />

Gedichtband zu einem guten, er -springt nicht-. Sommer bleibt in allen Gedichten kritisch,<br />

doch er moralisiert nicht; er ist intelligent, jedoch nicht altklug, nicht aus Kreide, Duden<br />

oder Elfenbein; "entdeckungsreisen quer durch den kopf", das möchte Sommer. In<br />

seinem Kopf hat er u. a. Andy Warhol, Jim Morrison, Godot, einen ungenannten<br />

Schuhputzer, Schubert, Goethe, Bach; Fragen zur "aktuellen lage des jazz" finden ihren<br />

Antworter; Briefträger, die seit "5 Jahren schwarz arbeiten", können ihr Gewissen kühlen;<br />

Leute, die beabsichtigen, "Fußgängerforscher" zu werden, werden auf die Berufsrisiken<br />

aufmerksam gemacht.<br />

Sommers "Ströung", verwegen, ein bißchen verkokst, vernagelt, verträumt, verschroben,<br />

insgesamt aber konsequent, dingfest, erlebbar; ein Augen- und Leseschmaus.


Kulturpanorama als Krimi<br />

Martin Walser, "Tod eines Kritikers"<br />

Der Autor Hans Lach gerät in Verdacht, den überaus mächtigen Literaturkritiker Andre<br />

Ehrl-König („In der ganzen Literaturgeschichte habe keiner soviel Macht ausgeübt wie er“)<br />

ermordet zu haben, nachdem dieser Tage lang unauffindbar bleibt und einziges<br />

Überbleibsel sein blutbefleckter Pullover ist. <strong>Ein</strong> Motiv ist schnell gefunden: Ehrl-König hat<br />

wenige Stunden vor bezeichneter Mordnacht Lachs neuestes Buch „Mädchen ohne<br />

Zehennägel“ vor laufender Kamera klein und lächerlich geredet, auf der Feier nach der<br />

Sendung kommt es zu wüsten Drohungen, herben Pöbeleien Lachs gegenüber Ehrl-<br />

König. Überzeugt von Lachs Unschuld ist nur der Ich-Erzähler, Michael Landolf. Dieser<br />

setzt, so gut er es als einer an „Von Seuse zu Nietzsche“-Abhandlung Schreibender, „im<br />

Fachkreis herumgeisternder“ Historiker versteht, alles in die Wege, die wahren, dass heißt<br />

Lach entlastenden Umstände aufzudecken.<br />

Besondere Aufmerksamkeit gilt den Hintergründen des (deutschen) Kulturbetriebes<br />

(München gibt hier stellvertretend die Bühne ab), seiner Eitelkeit(en), der öffentlichen<br />

Meinungsbildung, die nichts als die Meinung einiger Kritiker, schließlich die Unmündigkeit<br />

eines zum selbstständigen Kritisieren unfähigen Publikums.<br />

Martin Walser hat einen packenden Krimi verfasst, der mit Pointen und Knalleffekten<br />

geradezu bepflastert ist. Der nicht auszuweichenden Übermacht des Andre Ehrl-König<br />

stellt Walser einen Helden entgegen, der gegenüber der rhetorischen Virtuosität des<br />

Kritikermeisters nicht unempfindlich bleibt, doch sich sein eigenes Urteil (oder seine<br />

Sturheit?) bewahrt. Andre Ehrl-König, das literarische alter Ego Marcel Reich-Ranickis,<br />

wird in Szene gesetzt als Kritiker, nicht als ein Mensch jüdischer Herkunft; anders gesagt:<br />

Martin Walser ist der Verfasser von „Tod eines Kritikers“, nicht „Tod eines Juden“; von<br />

Antisemitismus keine Spur; ab und zu ein Klischee, ja, doch damit lebt Literatur, muss<br />

Literatur leben.


<strong>Ein</strong> großer Wurf<br />

Robert Walser, "Mikrogramme"<br />

526 Blätter, in feinster, kleinster, sorgsamster, geheim haltendster Weise überschrieben,<br />

hinterlässt Robert Walser nach seinem Tod 1956. Seitdem gelten sie als die<br />

rätselhaftesten Manuskripte deutschsprachiger Literatur. Rätselhaft, denn der Dichter<br />

Walser verstummt 1933, nachdem er seine Bleistiftgebiete „fertig“ hat. Rätselhaft, weil die<br />

Sütterlinbuchstaben von winziger Größe 1925 (ca. 6 mm) zur unglaublichen Größe von 1<br />

mm kommen (1933). Rätselhaft, weil man solche Kleinstarbeit keinem Menschen zutraut,<br />

auch keinem Schweizer.<br />

Walsers Sprache zu benennen ist weder in wenigen noch in vielen Worten möglich, er<br />

hat, einfach gesagt, geschrieben, was er geschrieben hat. Im zweiten Text des ersten<br />

Bandes liest sich das so: „Ich schlafe so brav. Ich glaube, ich kann sagen, ich sei im<br />

Schlaf das reine Schaf. Ich finde übrigens rührend schön, wie eine gewisse Judith vor<br />

nicht gar so schrecklich langer Zeit auf den <strong>Ein</strong>fall hat kommen müssen, zu erklären: er<br />

kann brav küssen. Sie entnahm diese Gewissheit aus meinen bisherigen Büchern, deren<br />

Inhalt sie in ihren stillen Stunden zu ihrem unfasslichen Vergnügen an die holde Seele zog<br />

und sog.“ - - Walser typisch, d. h. banal und phantastisch, sprunghaft und hart an der<br />

Szene, dichtend und Dichtung aufhebend, assoziativ und befremdend.<br />

Mit der vollständigen Übersetzung aller erhaltenen Mikrogramme ist dem Suhrkamp-<br />

Verlag ein großer Wurf gelungen; der „Räuber“ Roman und die „Felix“ Szenen zum<br />

Beispiel lassen sich nicht wegdenken aus literarischem Sein; und die seltsamen<br />

Spekulationen, wonach ein längst heilbedürftiger Walser seine letzten Texte verfasste,<br />

sind widerlegt, Dürftiges findet man in ihnen nicht, Walsers Mikrogramme bilden<br />

kilogrammweise Leselust.


Ich will geliebt werden<br />

Heide-Ulrike Wendt, „Du hast mich betrogen“<br />

„Offensichtlich gibt es nichts Komplizierteres als eine Partnerschaft“, weiß Heide-Ulrike<br />

Wendt. In ihrem „Du hast mich betrogen“ wird diese menschlichste Kompliziertheit aus<br />

Sicht der Frau, d. h. der Partnerin geschildert. Im Vordergrund stehen dabei Erlebtes zu<br />

Treue und Untreue. Fast jede der Du-hast-mich-Betrogenen ist Treue ein unverzichtbares<br />

Element in einer Partnerschaft, doch jede wurde betrogen, einige viele Jahre lang,<br />

manche mit der besten Freundin. Diese Frauen dachten in ihrem Mann den Mann ihres<br />

Lebens gefunden zu haben, sie zogen Kinder groß, schufen sich ein Zuhause, suchten,<br />

dass Liebe Glück, Sicherheit, Geborgenheit, Schutz werde, und „sie glaubten an Liebe,<br />

die Untiefen übersteht“ (Wendt). Allerdings ist keiner gelungen, verlorenes Vertrauen<br />

wieder zu finden, die 21 Geschichten der 21 Frauen (zwischen 23 und 61 Jahre jung)<br />

enden nicht happy. Grundmuster und Zusammenhänge sieht Wendt trotzdem nicht,<br />

„dieses Buch ist keine soziologische Studie – es nimmt weder Vollständigkeit noch<br />

Repräsentativität für sich in Anspruch. Aber es bietet einen Querschnitt.“.<br />

Rey, 23, Studentin, fand „die große Liebe meines Lebens“ in Marc; doch alles wird<br />

Tragödie, nach dem Fremdgehen Marcs mit seiner Ex liegt „ein ständiger Schatten über<br />

unserer Beziehung“; beide trennen sich, Rey sucht „Trost bei einem anderen Mann, der<br />

mich auffing. Wenn Marc durch die Welt vögelte, dann konnte ich das auch.“; nach fünf<br />

Wochen finden beide wieder zusammen, nun ist mehr Misstrauen, Hinterfragen, Unglaube<br />

da als Liebe; die Beziehung platzt ein zweites Mal, es gibt eine andere, „Du kennst sie<br />

nicht.“; Rey: „Mein Herz ist so vernarbt, dass ich vielleicht nie wieder Nähe zulassen kann.<br />

Ich will geliebt werden, aber die Liebe macht mich kaputt. Angst vor der Angst.“. Es lohnt<br />

nicht, ein nächstes Beispiel zu geben; entgegen Wendts Ankündigung parallelisieren die<br />

einzelnen Fälle deutlich miteinander; mal stellt sich der Mann geschickter an, seine<br />

Affären zu tarnen, mal hält die Frau länger zu ihm, mal ist ein Mann gemeiner, vervögelter,<br />

liebloser als der andere, mal die Frau konsequenter, kühler, kesser als eine andere.<br />

Fragen, die dieses Buch neu stellt: Wo hört Sex auf, und wo fängt Liebe an? Braucht,<br />

besser will Liebe Partnerschaft? Kann die Partnerin die Geliebte sein? Ist ein Leben ohne<br />

Partner weniger wert? Ist Liebe Freiheit, oder braucht Liebe Freiheit? Ist „Trautes Heim,<br />

Glück allein“ gleich „Trautes Heim, Mutter und Kind allein“?<br />

Fazit: ein bisschen Schmunzeln, ein bisschen Langeweile beim Lesen; ein fast ernstes<br />

Buch zu einem ständigen Thema.


Nichts als Grübeln<br />

Wilfried Wruck, "Zur Ruhe kommst du, Adrian Brügge, nie"<br />

Hätte Wilfried Wruck diese "Lebensbeschreibung" in eine Elegie gefasst, wäre eine gute<br />

Elegie entstanden; aber wer schreibt noch Elegien? So ist’s ein mäßiger, romanhafter<br />

Bericht geworden, unentschieden zwischen Autobiografie, Mein-Leben-am-Wendepunkt-<br />

Literatur ("Stehe ich noch zu meiner Tätigkeit als Beamter?"), Nachruf und<br />

Liebeserklärung an seinen Sohn Meinhard ("Aus einem zarten Wesen entwickelte sich ein<br />

Kind, das ganz anders war als seine Altersgenossen. Geschlagen hat er sich nie. Seinen<br />

Willen verstand er immer durchzusetzen, war ein gewaltloses Kind und dennoch<br />

willensstark."), der 16jährig bei einem Skiausflug ums Leben kam, "die Fotografie unseres<br />

Sohnes lässt mich nicht los". Besonders mit diesem Unglück, seinen Hintergründen und<br />

Folgen ("Nach Meinhards Unfall geriet unser Familienleben durcheinander.") setzt sich der<br />

Text auseinander, "wie es dem Jungen wohl ergangen ist, als er um sein Leben kämpfte,<br />

nachdem die Urgewalt sich gegen ihn gerichtet hat?"; dabei gleitet der Autor immer wieder<br />

in ein was-wäre-wenn ab ("Was wäre gewesen, wenn wir damals nicht nach München<br />

umgezogen wären? Ich glaube, passiert wäre es doch. Kommt die Stunde und mit ihr das<br />

Schicksal, lässt sich nichts aufhalten. Ernte folgt auf Saat. Unwiderruflich."). Immer wieder<br />

leuchtet die Verbundenheit des Vaters auf, "Ich war stolz auf den Jungen. Und Meinhard<br />

war auf seinen Vater stolz.". Berührend liest sich die Schilderung einer über den Alpen<br />

aufgehenden Sonne, für die Vater und Sohn frühmorgens zwischen Stein und Gras<br />

stakten. Nicht weniger rührend die beklemmenden Worte über das Ohnmachtsgefühl<br />

nach Benachrichtigung über Meinhards Tod. Fragen nach dem Leben nach dem Tod und<br />

der Angst vor dem Tod stehen also im Mittelpunkt. Da wundert es nicht, wenn der Autor<br />

mitteilt, er habe Schriften über menschliche Wiedergeburt gelesen, und sei dabei<br />

zunehmend skeptisch gegenüber der katholischen Kirche geworden, "Die Beschränkung<br />

auf ein <strong>Ein</strong>malgeborensein weist auf das Dogma hin, das der Christusbotschaft nicht<br />

gerecht wird. Ja, ihr widerspricht.". Diese Gedanken über DAS Verstehen und DAS<br />

Glauben nehmen viel Raum im Roman ein, "Als Kind habe ich einmal versucht, den<br />

Begriff von Ewigkeit zu verstehen. Schwindlig war mir dabei geworden, und ich hatte mich<br />

an solche Denkvorgänge nicht mehr herangewagt, bei denen ich ins Bodenlose fiel. Zu<br />

klein fühlte ich mich, dessen war ich mir sicher, Ewigkeit zu begreifen. Grübelte ich nicht<br />

nach, war mir wesentlich wohler. Zwar funktioniert das Leben ohne Verstand nicht, doch<br />

Grübeln ist für mich kein Weg, seelisch-geistige Erkenntnisse zu gewinnen. Mache ich<br />

mich gedanklich frei, geschieht es, dass ich in einer verfahrenen Sache plötzlich weiß, wie<br />

es weitergeht. Beim Sinnieren komme ich mir vor, als stiege ich in eine Grube. Daher<br />

stammt wohl der Begriff vom Grübeln.". Um seiner neu erwachten Religiosität ganz zu<br />

frönen, besucht er schließlich Israel, er spürt "ein Gefühl andachtsvoller Verbundenheit<br />

mit jenem Land, durch das der Gottessohn gewandelt war. [...] In erster Linie zog es mich<br />

dorthin, wo Jesus gewirkt hatte. Selbst wollte ich empfinden, was er gemeint hatte.". Zur<br />

Ruhe kommt er dort nicht, "Immer wieder Soldaten und Panzer. Das deprimiert. [...]<br />

Wohin das Auge reicht: Stacheldraht!".<br />

"Zur Ruhe kommst Du, Adrian Bruegge, nie": an einigen Stellen aufbrausend poetisch, an<br />

anderen Stellen meditativ glitzernd, im Ganzen halbherzig, temperamentlos, lauwarm,<br />

nicht Fisch, nicht Fleisch; zweifellos ein sehr wichtiges Buch für den Autor, aber für den<br />

Leser - - ?


<strong>Ein</strong> paar Lücken weniger?<br />

Anna Zimmermann, "Berühmte Leute gesucht"<br />

„<strong>Ein</strong> Buch, das eine große Lücke auf dem Büchermarkt füllen dürfte“, heißt es hier im<br />

Vorwort. Und jedem, der sich mit abendländischer Kultur auseinandersetzt, wird dieses<br />

Buch ein hübsches, schnell rauschendes Lesevergnügen bieten. 76 Porträts vorwiegend<br />

europäischer Persönlichkeiten liegen auf je einer Seite verrätselt und verschlüsselt vor<br />

uns.<br />

Zu schwer macht es einem die Autorin Anna-Luise Zimmermann nicht, wer eine<br />

mittelschwere Neigung zu Film, Literatur, Malerei, Musik, Politik gefasst hat, wird in<br />

diesem Buch Rätsel und Rätselspaß finden, und -kein Kopfzerbrechen. Dabei verhält es<br />

sich hier wie mit einem Band guter Aphorismen: eine Seite ist mehr als zwei; man lese,<br />

besser man löse, vielleicht fünf, sechs Rätsel, und lege das Buch aufgeheitert wieder weg;<br />

dann bleiben noch 70 Kopfnüsse.<br />

Im Anhang steht nicht nur die Nennung der gesuchten Person, sondern auch deren<br />

Konterfei und ein kurzer, erklärender Zusatz zu ihrem Wirken. Schwachpunkt des Buches:<br />

„mit neuem Wissen“ über interessante Personen werde der Leser „belohnt“, steht auf der<br />

Rückseite. Doch wo findet man Neues? Die Autorin selbst schreibt zu Friedrich von<br />

Schiller, dass „mehr über ihn aufzulisten nicht nötig“ sei, „denn das Leben und Werk<br />

dieses Großen der deutschen Literatur“ hätte „jeder unter uns in der Schule zu erlernen“<br />

gehabt. Das Vorwort gibt an, die Autorin hätte ausschließlich Nachschlagearbeit geleistet,<br />

„die verschiedenen Daten und Fakten (…) sind ein Vergleich vieler Lexika und<br />

Spezialbücher“. In den Quellenangaben stehen neben zwei Gesamtdarstellungen sechs<br />

Lexika. Man trage also Tatsachen dieses Buches, die von „Tatsachen“ eigener Lexika<br />

abweichen, nach. Oder? Die meisten ihrer Geschichten hat Zimmermann in diversen<br />

Zeitungen veröffentlicht, zu Recht und zum Glück wurden diese jetzt in einem Buch<br />

versammelt. Fazit: Wissen einmal „anders herum“, Bedeutendes unterhaltsam.


Platt, ermüdend, unausstehlich<br />

Nicole Riebling und Fabian Zonk, „Lexikon für Männer, Lexikon für Frauen“<br />

„Die natürliche Überlegenheit des Mannes basiert nicht zuletzt auf der Tatsache, nicht die<br />

Kinder gebären zu müssen“, eine von zahlreichen Plattitüden, nachzulesen im „Lexikon für<br />

Männer, Lexikon für Frauen“. Die Autoren Nicole Riebling und Fabian Zonk taten sich<br />

zusammen, um über die wichtigen Angelegenheiten der Frau und des Mannes zu<br />

informieren. Leider sind nicht nur die Schlagworte unerfreulich temperamentlos gewählt,<br />

auch die Sprache spricht nicht an. Im Männer-Lexikon erfahren wir über Rosa Luxemburg,<br />

sie „war voll am Rumnerven, furchtbar. Die eigentliche Arbeit, wenn’s kompliziert wurde,<br />

hat sie ihrem Gesprächspartner Karl Liebknecht überlassen.“. Das „ginge alles okay, wenn<br />

sie einigermaßen gut ausgesehen hätte. Hat sie aber nicht.“. Nichts Brisantes („Pamela<br />

Anderson – geile Tittenmaus“) also, nur wenig Kluges (Was ist der „der natürliche Zustand<br />

der Frau“? – „Die Hausfrau“) und viel alltäglicher Sprachrotz („Also, mehr als sowieso<br />

schon.“). Und leider hapert es bei aller missglückten Wortwahl an inhaltlicher Stringenz;<br />

ein Beispiel: Die „weibliche Form der Kommunikation“ sei das „Lügen“; im selben<br />

Abschnitt steht: „Wer einer Frau die Wahrheit sagt, ist erledigt.“. Heißt das nicht, dass<br />

Mann und Ehemann ständig lügen? Denn sonst gäbe es keine Ehemänner, resp.<br />

Ehepaare. Und leider haben in einem Männer-Lexikon Beiträge zu Harry Potter, Wolfgang<br />

Petri und „Hol mir mal `ne Flasche Bier“ (!) nichts verloren. Und leider und so weiter.<br />

Dieses Buch, gewollt ordinär, ist nicht lustig, nicht herb, nicht geeignet für Männer, nicht<br />

geeignet für Frauen; die Bezeichnung Lexikon ist fehl am Platz, schließlich schlägt man<br />

nach, um danach mehr zu wissen.

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