Das Müllern. Systematisches Fitness-Training zu Beginn ... - Palma3
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Maren Möhring<br />
<strong>Das</strong> Müllern.<br />
<strong>Systematisches</strong> <strong>Fitness</strong>-<strong>Training</strong><br />
<strong>zu</strong> <strong>Beginn</strong> des 20. Jahrhunderts<br />
Die Anfänge des aktuellen <strong>Fitness</strong>-Interesses lassen sich am<br />
Ende des 19. Jahrhunderts in der Körperkultur-Bewegung ausmachen.<br />
Spielte der Körper im Hinblick auf seine Arbeitskraft<br />
für weite Teile der Bevölkerung nur noch eine untergeordnete<br />
Rolle, so begann er verstärkt, andere Funktionen <strong>zu</strong><br />
übernehmen: Der Körper wurde im 20. Jahrhundert <strong>zu</strong> einem<br />
Medium der Kommunikation und der Selbstgestaltung. <strong>Das</strong> Bedürfnis<br />
nach Körperausbildung und -darstellung bedienend,<br />
entstand in den Jahren 1890 bis 1930 im Kontext von Lebensreform,<br />
Gymnastik-Bewegung und Naturismus eine Vielzahl<br />
von <strong>Training</strong>ssystemen, die Gesundheit und Schönheit des<br />
Körpers <strong>zu</strong> steigern versprachen.<br />
Ein neues <strong>Training</strong>ssystem: <strong>Das</strong> Müllern<br />
<strong>Das</strong> Angebot an <strong>Fitness</strong>-Programmen um 1900 war vielfältig<br />
und unübersichtlich. Bereits 1910 stellte der Bodybuilder Theodor<br />
Siebert die Frage: «Nach welchem System soll ich trainieren?»<br />
1 <strong>Das</strong> lange Zeit erfolgreichste <strong>Training</strong>sprogramm auf<br />
dem Markt war Jens P. Müllers «Mein System».<br />
Müller (1866–1938), ein dänischer Ingenieurleutnant und<br />
vielseitiger Sportler mit diversen Meisterschaftstiteln, hatte<br />
mit einem <strong>Training</strong> nach dem ‹Sandow-System› begonnen, bis<br />
er sein eigenes Gymnastikprogramm entwarf. 1904 kam «Mein<br />
System. 15 Minuten tägliche Arbeit für die Gesundheitheit» in
Titelblatt J.P. Müllers<br />
«Mein System» (ca. 1925)<br />
Dänemark auf den Markt, wurde bald in diverse Sprachen<br />
übersetzt und verkaufte sich millionenfach, wobei in Deutschland<br />
die Nachfrage am grössten war. 2 <strong>Das</strong> ‹Müllern› zählte <strong>zu</strong><br />
den «Systemen der Zimmergymnastik» 3 , d.h. <strong>zu</strong> denjenigen<br />
<strong>Fitness</strong>-Übungen, die nicht im Verein, sondern auch individuell<br />
<strong>zu</strong> Hause durchgeführt werden konnten. Als zeitsparende<br />
und kostengünstige Alternative <strong>zu</strong> anderen Formen der<br />
Leibesübung stand die Heimgymnastik potenziell allen offen;<br />
als Trainer fungierte das Anleitungsbuch. Hatte Müller sein<br />
System <strong>zu</strong>nächst für einen im Grunde allumfassenden Rezipientenkreis<br />
konzipiert, so spezifizierte er seine Übungen in<br />
der Folgezeit und brachte «Mein System für Frauen», «Mein<br />
System für Kinder» sowie eine Kurzversion, sein «Fünf-Minu-
ten-System», heraus. Zum ‹Müllern› gehörten neben der Gymnastik<br />
auch die so genannten Frottierübungen, eine Art Selbstmassage,<br />
sowie Anleitungen <strong>zu</strong>r Hygiene.<br />
Aufgrund des grossen Erfolgs von «Mein System» legte<br />
Müller seine Berufstätigkeit nieder, um sich völlig der Verbreitung<br />
seiner Gymnastik widmen <strong>zu</strong> können. Er gründete 1912<br />
eine <strong>Training</strong>sschule, das «Müller-Institut» in London, und veranstaltete<br />
europaweit zahlreiche öffentliche Vorführungen seiner<br />
Übungen. 4 Müller galt lange als einer der schönsten<br />
Männer seiner Zeit 5 – nicht schwergewichtig, wohl aber durchtrainiert<br />
und damit dem neuen Ideal des athletischen Jünglings<br />
entsprechend. ‹Müllern› wurde <strong>zu</strong>m Synonym für ein planmässig<br />
betriebenes <strong>Fitness</strong>-<strong>Training</strong>. Abgelöst wurde die Begeisterung<br />
für Müller erst im Laufe der 1920er Jahre, in denen<br />
sich andere, vor allem stärker sportlich orientierte Systeme<br />
wie Hans Suréns «Deutsche Gymnastik» (1922) mehr und mehr<br />
durchsetzten.<br />
Der Körper als System und das systematische <strong>Training</strong><br />
Die Bezeichnung «Mein System» verweist auf Müllers Anspruch,<br />
ein rationelles Körpertraining <strong>zu</strong> bieten. Noch heute<br />
ist dieser Anspruch allen <strong>Training</strong>sprogrammen – von der<br />
Gymnastik über das Bodybuilding bis hin <strong>zu</strong> Aerobic – gemeinsam.<br />
Die <strong>Training</strong>ssystematik basiert auf der Annahme,<br />
in ihrem Übungsaufbau den physiologischen Vorgängen im<br />
Körper am besten angepasst <strong>zu</strong> sein. Ihre Grundlage bildet<br />
das Modell des Körpers als System. Dieses Körperkonzept ist<br />
im Zuge der neuzeitlichen Naturwissenschaften entstanden,<br />
in denen – allen voran in der Anatomie – der menschliche<br />
Körper in seine Einzelteile zerlegt, aber auch nach deren Wirkungs<strong>zu</strong>sammenhang<br />
gefragt worden ist. 6 Im 18. Jahrhundert
egann sich dieses funktionale Körperverständnis <strong>zu</strong>nehmend<br />
durch<strong>zu</strong>setzen; im 19. Jahrhundert avancierte die Physiologie<br />
mit ihrem Modell des Körpers als funktionellem Ganzen<br />
schliesslich <strong>zu</strong>r Leitwissenschaft. 7 In den neuen <strong>Training</strong>ssystemen<br />
um 1900 ging es demnach nicht darum, «ein ‹System›<br />
an den Körper ‹heran<strong>zu</strong>tragen›, sondern darauf aufmerksam<br />
<strong>zu</strong> machen, dass der menschliche Organismus in seinem anatomischen<br />
Aufbau und seiner physikalischen Gesetzmässigkeit<br />
selbst ein ‹System› bildet». 8 Die Systematik der <strong>Training</strong>ssysteme<br />
wurde also als im Körperaufbau physiologisch<br />
und anatomisch vorgegeben betrachtet, das Gymnastiksystem<br />
somit <strong>zu</strong>m Abbild des Körpersystems erklärt: «Gymnastik ist<br />
angewandte Physiologie». 9<br />
Den Körper als System <strong>zu</strong> begreifen, impliziert seine Vervollkommnungsfähigkeit,<br />
entwirft das Bild einer perfekt funktionierenden<br />
Körpermaschinerie – weist aber <strong>zu</strong>gleich auch<br />
auf seine tatsächliche Unvollkommenheit, auf mögliche ‹Systemfehler›<br />
hin. <strong>Das</strong> <strong>Training</strong>ssystem verspricht, diese Fehler<br />
<strong>zu</strong> beheben und <strong>zu</strong>r Perfektionierung des Körpers bei<strong>zu</strong>tragen.<br />
Es übernimmt dafür die wissenschaftliche Zergliederung<br />
des Körpers, indem es pro Übung jeweils einen einzelnen<br />
Muskel oder eine einzelne Muskelgruppe <strong>zu</strong>r Bearbeitung<br />
vorgibt (Technik der Isolation). So werden die Bewegungen in<br />
Einzelbewegungen zerlegt, denen eine bestimmte Richtung und<br />
eine bestimmte Dauer <strong>zu</strong>geordnet wird. Die Systematik des<br />
<strong>Training</strong>s besteht in der Etablierung einer modernen, disziplinären<br />
Raum- und Zeitordnung, in die der Körper eingefügt –<br />
bzw. in der er neu <strong>zu</strong>sammengefügt wird. 10 Am Beispiel des<br />
‹Müllerns› soll diese Form der Körperbearbeitung veranschaulicht<br />
werden.
J.P. Müller bei seinen Übungen
Um Bewegungsrichtung und -ausdehnung möglichst genau<br />
<strong>zu</strong> bestimmen, gibt Müller beispielsweise für die aus<strong>zu</strong>führenden<br />
Kreisbewegungen des Oberkörpers exakte Gradzahlen an:<br />
«Drehe nun den Oberkörper ca. 90°»; bei Übung 13 ist der<br />
«Oberkörper gut 1 / 6 Kreis (ca. 60°) nach links» <strong>zu</strong> drehen. 11<br />
Ausserdem dienen imaginäre Markierungen als Richtpunkte<br />
für die Bewegungen: Bei Übung 17 empfiehlt Müller, sich «einen<br />
Punkt oder eine senkrechte Linie» hinter dem Rücken <strong>zu</strong><br />
merken, welche dann «erreicht oder von den Schultern abwechselnd<br />
passiert» werden müsse. 12 Der Körper wird auf diese Weise<br />
in ein Koordinatensystem eingefügt, das auch den Nahbereich<br />
des Körpers umfasst, ihn vermisst und so die Bewegungen<br />
kontrolliert.<br />
<strong>Systematisches</strong> <strong>Training</strong> (re)produziert aber nicht nur eine<br />
bestimmte Raum-, sondern auch eine spezifische Zeitordnung.<br />
Bei Müller sind die Übungen in mehrfacher Hinsicht zeitlich<br />
festgelegt. Nicht nur die Zahl der Wiederholungen und die<br />
Reihenfolge der Bewegungen werden in «Mein System» vorgegeben,<br />
sondern häufig auch die Dauer einer Bewegung. So<br />
nennt Müller in der Zeittafel am Ende von «Mein System» die<br />
genaue «Zeit in Sekunden» für jede einzelne Übung, gestaffelt<br />
nach Anfängern, «mehr Geübte[n]» und «sehr Geübte[n]». 13<br />
Gibt Müller <strong>zu</strong>nächst einfache Bewegungsfolgen vor, so werden<br />
diese in einem nächsten Schritt miteinander kombiniert:<br />
«Übung No. 16. Schnelles Seitwärtsbeugen des Rumpfes, mit<br />
Frottieren der Seiten von Rumpf und Oberschenkeln». Auch<br />
die Atmung muss synchronisiert werden. 14 Die kombinierten<br />
Einzelübungen werden dann <strong>zu</strong> umfangreichen Übungsserien<br />
organisiert. Auf diese Weise wird der Körper in eine zeitliche<br />
Ordnung eingepasst, die auf Steigerung ausgerichtet ist.
<strong>Systematisches</strong> <strong>Training</strong> ist, wie die Vervollkommnung des<br />
Körpers, <strong>zu</strong>dem nicht abschliessbar. Daher musste nach Müller<br />
«jede einzelne Übung in bestimmten Wiederholungen das<br />
ganze Leben hindurch geübt werden», und zwar täglich. Die<br />
tägliche Körperertüchtigung müsse <strong>zu</strong> einer «Gewohnheitssache»,<br />
<strong>zu</strong> einem «Bedarfsartikel» werden, «den man in einer<br />
geordneten Haushaltung ebensowenig entbehren will wie<br />
warmes Mittagessen oder Tischtuch». 15 <strong>Das</strong> geforderte tägliche<br />
<strong>Training</strong> war aber nicht als langwierige Freizeitaktivität konzipiert.<br />
Ganz im Gegenteil zeichnete sich das Müllersche 15-<br />
Minuten-System (und deutlicher noch das 5-Minuten-System)<br />
dadurch aus, dass «in einem Minimum von Zeit» alle Muskeln<br />
des Körpers durchgearbeitet werden konnten. 16 Müller widmete<br />
ein ganzes Kapitel dem «richtigen» Abtrocknen nach dem Bade,<br />
weil «viele mit dem Handtuch herumfuchteln» und dadurch<br />
«viel Zeit vergeudeten und doch nicht ordentlich trocken» würden.<br />
17 Durchdrungen von modernen zeitökonomischen Massstäben,<br />
galt im Müllerschen System Zeit, in der keine Leistung<br />
erbracht wurde, als unbedingt <strong>zu</strong> vermeidende Verschwendung.<br />
Haushalten mit den Körperkräften<br />
Die Angst vor «unnützer Verausgabung» betraf nicht nur die<br />
zeitlichen Ressourcen, sondern auch die körperlichen Energien.<br />
Um 1900 orientierten sich die <strong>Training</strong>ssysteme am<br />
energetischen Imperativ: «Vergeude keine Energie; verwerte<br />
sie!» 18 Mit einem «Wenigst an Kraftvergeudung ein Meist an<br />
Wirkung <strong>zu</strong> erzielen», lautete das Ziel einer systematischen<br />
Gymnastik. 19 Die im 19. Jahrhundert aufgestellten thermodynamischen<br />
Naturgesetze, vor allem die Lehre von der Entropie,<br />
schürten die Angst vor einem irreversiblen Energieverlust. 20
Mit den Körperkräften war daher in jeder Hinsicht vernünftig<br />
<strong>zu</strong> haushalten. So rät Müller:<br />
«Du darfst [...] nicht, wie ein rücksichtsloser Pächter, Deinen Körper<br />
auspressen, sondern sollst ihn, wie ein kluger Besitzer, <strong>zu</strong>m Gegenstand<br />
regelmässiger Pflege und sorgfältiger Kultur machen, wohl<br />
wissend, dass dies ein Einsatz ist, der gute Zinsen trägt». 21<br />
<strong>Das</strong> Müllersche System versprach, die Körperökonomie Gewinn<br />
bringend <strong>zu</strong> dirigieren. Es galt, sich einen «Fond von<br />
Gesundheit» an<strong>zu</strong>legen, von dem in Zeiten der Knappheit gezehrt<br />
werden konnte. 22 <strong>Systematisches</strong> <strong>Training</strong> diente somit<br />
nicht allein der Vermeidung von Verschwendung, sondern auch<br />
der Energieakkumulation. Innerhalb der als bürgerlich-kapitalistisch<br />
begriffenen Körperökonomie sollten Überschüsse nicht<br />
mehr (wie noch im Aderlass) «künstlich» verausgabt, sondern<br />
produktiv angelegt werden. Diese Investition hatte nach zeitgenössischem<br />
Verständnis auch positive Auswirkungen auf die<br />
Nachkommenschaft. Ein Mensch, der keine «rationelle Körperpflege»<br />
treibe, brauche das «Kapital von Lebenskraft, das er<br />
wahrscheinlich von gesunden Eltern geerbt hat», auf, und seine<br />
Kinder würden «um so schwächlicher» werden. 23<br />
Eine besondere Verantwortung übertrug Müller den Frauen,<br />
hänge von ihnen, als potenziellen Müttern, doch die «<strong>zu</strong>künftige<br />
physische Wohlfahrt einer Rasse» in weit höherem<br />
Masse ab als von den Vätern. 24 Wie für die <strong>Fitness</strong>- und Gymnastikbewegung<br />
insgesamt <strong>zu</strong> konstatieren, trat Müller vehement<br />
für die körperliche Ertüchtigung auch von Mädchen und<br />
Frauen ein – keineswegs typisch angesichts der <strong>zu</strong> <strong>Beginn</strong> des<br />
20. Jahrhunderts noch grossen moralischen und medizinischen<br />
Vorbehalte auf diesem Gebiet. Der zeitgenössischen Auffassung<br />
vom empfindlicheren und energetisch unausgeglicheneren
weiblichen Organismus entsprechend, wurden frauenspezifische<br />
Übungen oder Gymnastikarten (etwa die Ausdrucksgymnastik)<br />
entwickelt. <strong>Das</strong> in «Mein System für Frauen» von<br />
Müller vorgeschlagene Übungsprogramm hingegen war nicht<br />
grundsätzlich anderer Art als dasjenige in «Mein System»,<br />
wohl aber von seinem Schwierigkeitsgrad her reduziert. In allen<br />
Gymnastiksystemen erscheint der weibliche Körper als – graduelle<br />
oder grundsätzliche – Abweichung vom männlichen<br />
Normkörper. 25<br />
Der Zw ang <strong>zu</strong>r Schönheit und Gesundheit<br />
Um die «<strong>zu</strong>künftige physische Wohlfahrt», um Gesundheit<br />
und Schönheit auch für die Zukunft <strong>zu</strong> garantieren, formulierte<br />
Müller die «Pflicht einer jeden Frau», sich gymnastischen<br />
Übungen <strong>zu</strong> widmen. 26 Weibliche Körperertüchtigung<br />
wurde nicht nur von Müller biopolitisch begründet; die <strong>Fitness</strong>-Bewegung<br />
insgesamt partizipierte an den zeitgenössischen<br />
eugenischen, bisweilen auch rassenhygienischen Diskursen. Individuelle<br />
Körperökonomie und bevölkerungspolitische Menschenökonomie<br />
waren konstitutiv aufeinander bezogen.<br />
Im Gegensatz <strong>zu</strong> erbbiologisch-deterministischen Positionen<br />
wurde in der <strong>Fitness</strong>-Bewegung meist die Ansicht vertreten,<br />
das körperliche Ideal sei, <strong>zu</strong>mindest potenziell, für alle<br />
erreichbar. 27 Die Machbarkeit von Gesundheit und Schönheit<br />
zog (und zieht) allerdings auch die Verpflichtung nach sich,<br />
schweisstreibende Arbeit in den eigenen Körper <strong>zu</strong> investieren.<br />
Ist die körperliche Norm generell erreichbar, dann gelten<br />
mangelnde Schönheit und Krankheit als «selbst verschuldet». 28<br />
<strong>Fitness</strong>-Programme setzen auf die Selbstverantwortung des<br />
Menschen für seinen körperlichen Zustand. Sie sind angewiesen<br />
auf einen nie erlahmenden Willen, gesellschaftliche
Normen am und im eigenen Körper um<strong>zu</strong>setzen. In diesem<br />
Sinne versteht Müller seine Übungen als «Arbeit, die mit der<br />
bestimmten Absicht ausgeführt wird, Körper, Seele und Geist<br />
<strong>zu</strong> vervollkommnen» – während Sport des Vergnügens wegen<br />
betrieben werde. 29 Bedingung dieser kontinuierlichen Körperarbeit<br />
sind permanente Selbstüberwachung und Selbstkontrolle.<br />
Gerade «weil sie den Übenden auf sich selbst stellt», wurde die<br />
Zimmergymnastik als besonders effektive Körperübung betrachtet:<br />
«Hier gibt es keinen Befehl, kein Kommandieren –<br />
nur der freie Wille ist es, der frohgemut <strong>zu</strong>r Übung zwingt». 30<br />
Freier Wille und Zwang scheinen in dieser Äusserung Hans<br />
Suréns – völlig unproblematisch – <strong>zu</strong> konvergieren.<br />
Der durch die <strong>Fitness</strong>-Bewegung (mit)installierte Wille<br />
bzw. Zwang <strong>zu</strong>r Schönheit hat sich im 20. Jahrhundert vor<br />
allem hinsichtlich der Ideale Schlankheit und Jugendlichkeit<br />
ausgewirkt. In den 1920er Jahren avancierte Schlanksein <strong>zu</strong>m<br />
zentralen Attribut männlicher wie weiblicher Schönheit. Die<br />
Müllerschen «Entfettungsübungen» reagierten auf dieses neue<br />
Körperideal:<br />
«Nachdem man einige Wochen gearbeitet hat, wird man mit frohem<br />
Erstaunen bemerken, dass das Fett auf dem Bauche und um den<br />
Leib herum anfängt, durch feste Muskeln ersetzt <strong>zu</strong> werden. Ja, nach<br />
und nach entwickelt sich etwas, dem ich den Namen Muskelkorsett<br />
geben will und das die Basis für einen starken und gesunden Leib<br />
bildet.» 31<br />
<strong>Das</strong> «Muskelkorsett» ist noch heute Ziel von <strong>Fitness</strong>-Programmen<br />
wie z.B. dem Kieser-<strong>Training</strong>. 32 Statt des von aussen den<br />
Körper aufrecht haltenden, «künstlichen» Korsetts – auf dessen<br />
gesundheitsschädigende Wirkung die <strong>Fitness</strong>-Bewegung immer<br />
wieder hingewiesen hat – wurde in den <strong>Training</strong>ssystemen
eine selbstgeschaffene, «natürliche», das heisst muskuläre Straffheit<br />
propagiert. Brachte das Korsett den Körper weitgehend<br />
ohne Eigenleistung in Form, so müssen Schönheitsnormen<br />
nun am, im und durch den Körper selbst materialisiert werden.<br />
Zu Müllers Zeiten wie noch heute stellt der schlanke,<br />
durchtrainierte Körper nicht nur in ästhetischer Hinsicht ein<br />
Statussymbol dar; er steht für eine modern-rationale Lebensweise,<br />
für Willensstärke und Selbstkontrolle – kommuniziert<br />
also (vermeintlich) etwas über das Innenleben des Menschen.<br />
In der postindustriellen Gesellschaft wird der Körper <strong>zu</strong> einem<br />
zentralen Faktor der gesellschaftlichen Kommunikation. Um<br />
seine Aufgabe als Darstellungsmedium erfüllen <strong>zu</strong> können,<br />
muss der Körper unentwegt – systematisch – bearbeitet werden.<br />
Nur so kann er <strong>zu</strong>m «schönste[n] Konsumgegenstand» 33 werden.<br />
Anmerkungen<br />
1 Theodor Siebert, Nach welchem System soll ich trainieren?, Alsleben a.d.<br />
Saale 1910.<br />
2 Zu Müller vgl. Hans Bonde, I.P. Muller. Danish Apostle of Health,<br />
in: The International Journal of the History of Sport 8, 1991, S. 347–369.<br />
Der erfolgreichste, aber letztlich an die Beliebtheit des Müllerschen<br />
Systems nicht heranreichende <strong>Fitness</strong>-Leitfaden des Kraftsportlers Eugen<br />
Sandow (1867–1925) trug den Titel «Kraft und wie man sie erlangt».<br />
3 Vgl. Fritz Wirth Winter, Körperbildung als Kunst und Pflicht,<br />
München 1919, S. 18.<br />
4 Vgl. J.P. Müller, Mein System. 15 Minuten täglicher Arbeit für die<br />
Gesundheit, Leipzig/Zürich 1908, S. 4.<br />
5 1904 war Müller als «der körperlich am besten entwickelte Mann in<br />
Dänemark» siegreich aus einer Schönheitskonkurrenz in Kopenhagen<br />
hervorgegangen. Vgl. Vorwort <strong>zu</strong>r ersten deutschen Ausgabe, Nov. 1904,<br />
in: J.P. Müller, Mein System. 15 Minuten täglicher Arbeit für die<br />
Gesundheit, neue, erweiterte Ausgabe, Leipzig/Zürich ca. 1925, S. 7.
6 Wissenschaftshistorisch ist das anatomische Zergliedern im<br />
16. Jahrhundert als Gründungsakt der modernen Medizin und damit<br />
unserer aktuellen Körpervorstellungen <strong>zu</strong> verstehen. Vgl. Anna Bergmann,<br />
Töten, Opfern, Zergliedern und Reinigen in der Entstehungsgeschichte<br />
des modernen Körpermodells, in: metis 6, 1997, S. 45–64.<br />
7 Vgl. Philipp Sarasin/Jakob Tanner (Hg.), Physiologie und industrielle<br />
Gesellschaft. Studien <strong>zu</strong>r Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und<br />
20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1998.<br />
8 So die US-amerikanische Ärztin Bess Mensendieck, die mit ihrer<br />
«Körperkultur des Weibes. Praktisch hygienische und praktisch<br />
ästhetische Winke» auch in Deutschland sehr erfolgreich war<br />
(München 4 1909, S. V). <strong>Das</strong> ‹Mensendiecken› galt als weibliches Pendant<br />
<strong>zu</strong>m ‹Müllern›.<br />
9 Franz Kirchberg, Die Bedeutung der Physiologie für die künstlerische<br />
Körperschulung, in: Ludwig Pallat/Franz Hilker (Hg.), Künstlerische<br />
Körperschulung, Breslau 1923, S. 58–70, hier S. 62.<br />
10 Die folgenden Ausführungen <strong>zu</strong>r (produktiv verstandenen)<br />
Disziplinierung des Körpers beim <strong>Training</strong> sind an Michel Foucaults<br />
Überlegungen in «Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses»<br />
(Frankfurt/M. 8 1989) angelehnt.<br />
11 Müller, Mein System, 1908, S. 88 und S. 80.<br />
12 Ebd., S. 90.<br />
13 Ebd., S. 102f. Zusammen gerechnet ergeben sich 900 Sekunden = 15<br />
Minuten.<br />
14 Müller, Mein System, ca. 1925, S. 116; vgl. ebd., S. 86.<br />
15 Ebd., S. 94, S. 92 und S. 95.<br />
16 Ebd., S. 104.<br />
17 Ebd., S. 71.<br />
18 Der energetische Imperativ war, in Anlehnung an Kants kategorischen<br />
Imperativ, von dem Chemiker und Vorsitzenden des Monistenbundes<br />
Wilhelm Ostwald (1853–1932) aufgestellt worden und als sowohl<br />
(körper)technischer wie moralischer Grundsatz <strong>zu</strong> handhaben.<br />
19 Winther, Körperbildung, S. 31.<br />
20 Zur Konzeption des Körpers als thermodynamische Maschine um 1900<br />
vgl. Anson Rabinbach, The Human Motor. Energy, Fatigue, and the<br />
Origin of Modernity, New York 1990.<br />
21 Müller, Mein System, 1908, S. 95.
22 Müller, Mein System, ca. 1925, S. 18.<br />
23 Müller, Mein System, 1908, S. 9.<br />
24 J.P. Müller: Mein System für Frauen, Leipzig 1913, S. 9.<br />
25 Zu dieser Frage siehe Maren Möhring, «Wie erarbeitet man sich einen<br />
natürlichen Körper? Körpernormalisierung in der deutschen<br />
Nacktkulturbewegung um 1900», in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte<br />
des 20. und 21. Jahrhunderts 2, 1999, S. 86–109.<br />
26 Während Schönheit bei Männern lediglich «angenehm» sei, stelle sie bei<br />
Frauen «eine absolute Notwendigkeit» dar (Müller, Mein System für<br />
Frauen, S. 9).<br />
27 «Selbst erblichen Anlagen kann man mit Erfolg so entgegenarbeiten, dass<br />
die Entwickelung [sic] angeborener Krankheitskeime verhindert wird»<br />
(Müller, Mein System, ca. 1925, S. 11).<br />
28 Ebd., S. 12.<br />
29 Müller, Mein System, 1908, S. 15.<br />
30 Hans Surén, Surén-Gymnastik für Heim, Beruf und Sport. Für Männer,<br />
Frauen; alt und jung, Stuttgart 1927, S. 16.<br />
31 Müller, Mein System, ca. 1925, S. 42 und S. 20.<br />
32 «Mit richtig dosiertem Krafttraining bremst der Mensch die Abbauvorgänge<br />
seines Körpers und schafft sich ein natürliches ‹Muskelkorsett›»<br />
(Werner Kieser, Informationsbroschüre <strong>zu</strong>m Kieser-<strong>Training</strong>).<br />
33 Jean Baudrillard, Der schönste Konsumgegenstand: Der Körper, in:<br />
Claudia Gehrke (Hg.), Ich habe einen Körper, München 1981, S. 93–128.